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Seit vierzig Tagen war er schon auf der Wanderschaft und suchte überall Arbeit. Er hatte seine Heimat Ville-Avaray im Departement La Manche verlassen, weil es dort keine Arbeit gab. Er war Zimmerergeselle, siebenundzwanzig Jahre alt, ein braver, arbeitslustiger Mensch, der zwei Monate lang seiner Familie auf der Tasche gelegen, er, der älteste Sohn, weil er bei der allgemeinen Arbeitsnot die kräftigen Arme ruhen lassen mußte. Das Brot wurde knapp im Hause. Die beiden Schwestern gingen auf Tagelohn, aber verdienten nicht viel, und er, Jakob Randel, der Kräftigste von allen, that nichts, weil es nichts zu thun gab, und aß den andern das Brot weg.
Da hatte er sich beim Ortsvorstand erkundigt, der Sekretär hatte geantwortet, daß es in Mittelfrankreich wohl Arbeit gebe.
Er war also auf die Wanderschaft gegangen mit seinen Papieren und Zeugnissen, sieben Franken in der Tasche und an einem Stock über der Schulter, in ein blaues Taschentuch geknotet, ein Paar Stiefel zum Wechseln, eine Hose und ein Hemd.
Ohne Ruh noch Rast hatte er Tag und Nacht die endlosen Wege durchmessen, bei Sonnenschein und Regen, aber nie hatte er das Wunderland entdeckt, wo der Arbeiter Arbeit findet.
Zuerst blieb er eigensinnig bei dem Entschlusse, nur Zimmererarbeit annehmen zu wollen, weil er doch Zimmermann war. Aber auf allen Zimmerplätzen, wo er nachfragte, ward ihm die Antwort, daß man wegen Mangel an Bestellungen eben erst Arbeiter entlassen. Und da er keine Mittel mehr besaß, beschloß er jede Arbeit zu übernehmen, die sich ihm unterwegs bieten würde.
Nacheinander war er Erdarbeiter, Stallknecht, Steinmetz. Er machte Holz klein, fällte Bäume, grub einen Brunnen, mischte Mörtel, band Reisig zusammen, hütete an einem Berge die Ziegen, alles um ein paar Groschen; denn er bekam nur ab und zu zwei oder drei Tage einmal Arbeit, wenn er sich, auf den Geiz der Arbeitgeber und Bauern spekulierend, für einen Hungerlohn anbot.
Und nun fand er schon seit einer Woche nichts mehr. Er besaß nichts mehr und aß nur irgendwo ein Stück Brot, dank der Barmherzigkeit irgend einer Frau, die er darum auf der Thürschwelle eines der Häuser an der Landstraße gebeten.
Es war Abend. Jakob Randel war abgetrieben, seine Beine waren wie zerbrochen, er hatte nichts im Magen, seine Stimmung war auf das Tiefste gesunken. Barfuß ging er auf dem Grase am Wegesrande hin, denn er wollte sein letztes Paar Schuhe schonen. Die anderen Stiefel hatte er schon längst nicht mehr.
Es war an einem Sonnabend gegen Ende des Herbstes. Graue, schwere Wolken trieben unter heftigen Windstößen, die durch die Bäume pfiffen, eilig am Himmel hin. Man fühlte, es würde bald regnen. Das Feld lag verödet da beim Sinken des Tages, am Vorabend des Sonntags. Hier und da erhoben sich in den Feldern gleich gelben, mächtigen Pilzen Strohfeimen. Die Erde sah kahl und nackt aus, denn die Wintersaat war schon bestellt.
Randel hatte Hunger, Hunger wie ein Vieh, wie ein Wolf, den der nagende Hunger auf den Menschen hetzt. Er fühlte sich schwach und streckte die Beine, um weniger Schritte machen zu müssen. Der Kopf war ihm schwer, das Blut hämmerte ihm in den Schläfen. Seine Augen waren gerötet, der Mund vertrocknet und er umfaßte den Stock, daß ihn die unbestimmte Lust anwandelte, den ersten Vorübergehenden, der heimkehrte, um sein Abendbrot zu essen, niederzuschlagen.
Er blickte rechts und links auf die Felder, und bildete sich ein, ausgebuddelte Kartoffeln am Boden zu sehen. Wenn er eine gefunden hätte, hätte er etwas trockenes Holz zusammengelesen und im Straßengraben ein Feuer angesteckt und weiß der Teufel, gut gegessen. Die runden, warmen Kartoffeln, die ihm die eisig kalte Hand gehitzt, hätten ihm wohlgemundet.
Aber die Kartoffelzeit war vorüber und jetzt konnte er höchstens wie Tags vorher eine rohe, rote Rübe abnagen, die er aus einer Ackerfurche gerissen.
Seit zwei Tagen sprach er laut vor sich hin, während er des Weges ging, so quälten ihn seine Vorstellungen. Bis dahin hatte er nur in seinem einfachen Verstande an sein Handwerk gedacht. Aber nun kam alles zusammen, die Müdigkeit, die fortwährende Jagd nach der Arbeit, die er doch nicht finden konnte, die Ablehnungen, die harten Zurückweisungen, die Nächte im Freien, der Hunger, die Verachtung, die er bei den Ortsansässigen gegen ihn den Landstreicher fühlte und die Frage, die er täglich hörte:
»Warum bleiben Sie denn nicht bei sich zu Haus?«
Der Kummer, die thätigen Arme nicht gebrauchen zu dürfen, die er kräftig straffte, die Erinnerung an die Eltern, die zu Hause geblieben waren und die auch nichts besaßen, – all das erfüllte ihn mit stiller Wut, die täglich wuchs, stündlich, jede Minute und die sich ganz von selbst in kurzen, brummigen Wutausbrüchen entlud.
Während er über die Steine stolperte, die unter seinen nackten Füßen rollten, brummte er:
»Elendes Dasein – – Schweinebande . . . einen Mann vor Hunger krepieren zu lassen . . . einen Zimmermann . . . Schweinechor . . . nicht vier Sous . . . nicht vier Sous. Nun regnets auch noch . . . Schweinebande . . . .«
Die Ungerechtigkeit des Schicksals empörte ihn und er verdachte es den übrigen Menschen, allen Menschen, daß die Natur, die große, blinde Mutter Natur, ungerecht, grausam und niederträchtig ist.
Mit zusammengebissenen Zähnen wiederholte er: »Schweinebande!« als er den dünnen, grauen Rauch jetzt zur Essensstunde aus den Schornsteinen steigen sah. Und ohne über die andere Ungerechtigkeit, die menschliche, die Gewalt und Diebstahl heißt, nachzudenken, überkam ihn die Lust, in eines dieser Häuser einzudringen, seine Bewohner niederzuschlagen und sich an ihrer Stelle an den Tisch zu setzen.
Er sprach zu sich:
»Jetzt habe ich nicht mal das Recht zu leben . . . denn man läßt mich krepieren vor Hunger . . . . Ich will ja gern arbeiten, aber . . . Schweinebande!«
Und der Schmerz in seinen Gliedern, das Grimmen in seinem Magen, sein Herzeleid stieg ihm zu Kopf wie eine fürchterliche Trunkenheit, sodaß in seinem Gehirn der Gedanke aufstieg:
»Da ich atme, habe ich auch das Recht zu leben, denn die Luft gehört allen. Man darf mich also nicht ohne Brot lassen.«
Ein feiner, dichter, eisiger Regen fiel. Er blieb stehen und brummte:
»Verflucht, vier Wochen muß ich noch laufen ehe ich nach Hause komme.«
Er war in der That auf dem Wege in die Heimat, denn er sah ein, daß er dort eher Arbeit finden könnte, wo man ihn kannte und wo er alles übernommen hätte, als auf der großen Heerstraße, wo ihn alle Welt mit verdächtigen Blicken ansah.
Da es mit der Zimmerarbeit nicht ging, so wollte er Handlanger werden, Maurer, Erdarbeiter, Steineklopfer. Und wenn er nur zwanzig Sous den Tag verdient hätte, er hätte wenigstens was zu essen gehabt.
Den Fetzen seines Taschentuches knüpfte er um den Hals damit das kalte Wasser ihm nicht Rücken und Brust entlang laufen sollte. Aber er fühlte bald, daß der Regen schon die dünnen Kleider durchnäßte und warf einen ängstlichen Blick um sich, wie ein verlorenes Wesen, das nicht mehr weiß, wohin es sich flüchten soll, wo sein Haupt niederlegen, da es auf dieser Erde kein Dach mehr besitzt.
Die Nacht kam und Dunkel sank über die Felder, Von weitem sah er auf einer Wiese einen schwarzen Punkt, eine Kuh. Er sprang über den Straßengraben und ging auf sie zu, ohne recht zu wissen, was er that.
Als er neben ihr stand, wandte sie den dicken Kopf nach ihm, und er dachte:
»Wenn ich nur einen Topf hätte, könnte ich etwas Milch trinken.«
Er besah die Kuh und die Kuh sah ihn an. Da gab er ihr plötzlich einen Stoß in den Leib und rief:
»Holla, auf! Steh auf!«
Das Tier erhob sich langsam und sein schweres Euter hing unter ihm. Da legte sich der Mann auf den Rücken zwischen die Beine des Tieres und trank lange, lange, indem er mit beiden Händen das dicke, warme, nach Stall duftende Euter zusammendrückte. Er trank, solange in der lebenden Quelle Milch war.
Aber der eisige Regen fiel immer dichter und auf der ganzen Ebene gab es keinen Zufluchtsort. Es war kalt und er sah ganz in der Ferne ein Licht am Fenster eines Hauses durch die Bäume blitzen.
Die Kuh hatte sich schwer wieder niedergelegt. Er setzte sich neben sie, streichelte ihr den Kopf, dankbar, daß sie ihn gelabt. Der schwere, mächtige Atem fuhr in zwei Dampfsäulen in der Abendluft aus den Nüstern des Tieres und streifte den Arbeiter, der sprach:
»Das glaub ich schon, da drinnen ists nicht kalt.«
Dann legte er seine Hände an die Brust des Tieres, und schob sie zwischen seine Beine um sich zu wärmen. Und da kam ihm ein Gedanke: er wollte sich an diesen warmen Leib schmiegen und dort die Nacht verbringen. Er suchte also eine Stelle, um möglichst gut zu liegen und lehnte die Stirne gegen das mächtige Euter, das er eben entleert. Und da er totmüde war, schlief er mit einem Mal ein.
Aber er wachte mehrmals auf mit eisigem Rücken oder eisigem Leibe, je nachdem er, so herum oder so, am Tiere gelegen. Dann drehte er sich jedesmal wieder um, um die Seite des Körpers, die ungeschützt der Nachtluft ausgesetzt gewesen, zu wärmen und schlief bald vor Müdigkeit wieder ein.
Ein Hahnenschrei schreckte ihn auf. Der Tag graute. Es regnete nicht mehr. Der Himmel war klar.
Die Kuh hatte den Kopf zu Boden gelegt und ruhte sich aus. Er bückte sich nieder, auf beide Hände gestützt, küßte die breite, nasse Schnauze der Kuh und sagte:
»Adieu, liebes Vieh, auf Wiedersehen! Du bist ein gutes Vieh. Adieu.«
Dann zog er seine Schuhe an und ging davon. Zwei Stunden lang schritt er fürbaß, immer dieselbe Straße entlang. Dann ward er so müde, daß er sich ins Gras setzen mußte.
Es war Tag geworden. Die Glocken in den Dörfern läuteten. Männer in blauer Blouse, Weiber in weißer Haube, zu Fuß oder zu Wagen, fingen an, die Wege zu beleben. Sie gingen zu Besuch auf die Nachbarorte, um bei Freunden oder Verwandten den Sonntag zu verbringen.
Ein dicker Bauer kam des Weges. Er trieb etwa zwanzig Stück blökende, furchtsame Schafe vor sich her, die ein Hund zusammenhielt.
Randel stand auf, grüßte und sprach:
»Haben Sie nicht vielleicht Arbeit für einen Menschen, der vor Hunger umkommt?«
Der andere warf dem Landstreicher einen bösen Blick zu und antwortete:
»Ich habe keine Arbeit für jemanden, den ich auf der Straße auflese.«
Und der Zimmermann setzte sich wieder an den Grabenrand.
Er wartete lange Zeit. Die Landleute strömten an ihm vorüber und er suchte nach irgend einem Gesicht, das ihm Vertrauen hätte einflößen können, ein Gesicht, dem er Mitleid zutraute, um seine Bitte zu wiederholen.
Endlich kam eine Art von Bürger in schwarzem Rock des Weges, mit großer goldener Kette über dem Leib. Den wählte er sich aus und redete ihn an:
»Ich suche seit zwei Monaten Arbeit. Und kann keine finden. Und habe nicht mehr zwei Sous in der Tasche.«
Der Städtische antwortete:
»Sie hätten die Bekanntmachung lesen sollen, die überall angeschlagen ist. Betteln und Hausieren ist in unserer Gemeinde verboten. Ich will Ihnen nur gleich sagen, daß ich der Ortsvorstand bin und wenn Sie sich nicht schnell auf die Strümpfe machen, werde ich Sie einstecken lassen.«
Randel packte die Wut und er brummte:
»Lassen Sie mich nur einstecken, wenn Sie wollen, das ist mir jedenfalls lieber, wie vor Hunger zu sterben.«
Und er setzte sich wieder an den Grabenrand.
Nach einer Viertelstunde erschienen in der That zwei Landgensdarmen auf dem Wege. Sie gingen langsam neben einander her, daß man sie von weitem sehen konnte, da der Lack der Dreimaster, das gelbe Lederzeug und die Metallknöpfe in der Sonne glänzten, als wollten sie den Übelthätern drohen und sie schon aus der Ferne in die Flucht jagen.
Der Zimmermann begriff, daß sie seinetwegen kamen. Aber er rührte sich nicht. Plötzlich war ihn die unbestimmte Lust angewandelt, ihnen zu trotzen und von ihnen mitgenommen zu werden: er würde sich später schon an ihnen rächen.
Sie näherten sich militärischen Schritts fest und gleichmäßig tretend, als sähen sie ihn gar nicht. Dann thaten sie plötzlich, wie sie ganz nahe waren, als hätten sie ihn jetzt erst entdeckt, blieben stehen und sahen ihn wütend und drohend an.
Der Wachtmeister trat auf ihn zu und fragte:
»Was thun Sie hier?«
Der Mensch antwortete gleichmütig:
»Ich ruhe mich aus.«
»Wo kommen Sie her?«
»Wenn ich alle Gegenden aufzählen wollte, wo ich gewesen bin, könnte ich 'ne Stunde reden.«
»Wo gehen Sie hin?«
»Nach Ville-Avaray,«
»Wo ist das?«
»Im Departement La Manche.«
»Ist das Ihre Heimat?«
»Meine Heimat.«
»Warum sind Sie von dort weg?«
»Um Arbeit zu suchen.«
Der Wachtmeister drehte sich zum Gensdarm um und sagte im wütenden Ton eines Mannes, den das ewige Betrogenwerden endlich zur Verzweiflung gebracht hat:
»Das sagen sie alle, die Ludersch. Aber das kenn' ich schon.«
Dann fuhr er fort:
»Haben Sie Papiere?«
»Ja wohl.«
»Geben Sie her.«
Randel nahm seine Papiere und Zeugnisse, abgebraucht und schmutzig, die fast zerfielen, aus der Tasche und hielt sie dem Wachtmeister hin.
Dieser durchsuchte sie, fand sie in Ordnung und gab sie mit der unzufriedenen Miene eines Menschen zurück, der von einem Schlaueren überlistet worden ist.
Dann dachte er ein paar Augenblicke nach und fragte von neuem:
»Haben Sie Geld bei sich?«
»Nein.«
»Nichts?«
»Nein.«
»Nicht einen Sou?«
»Nicht einen Sou.«
»Wovon leben Sie denn?«
»Von dem, was man mir giebt.«
»Sie betteln also?«
Randel antwortete entschlossen:
»Wenn ich kann, ja.«
Aber der Gensdarm erklärte:
»Ich ertappe Sie also hier auf frischer That, bei Landstreicherei und Betteln. Sie sind ohne Subsistenzmittel, ohne Arbeit auf der Landstraße betroffen und ich ersuche Sie also, mir zu folgen.«
Der Zimmermann stand auf und sprach:
»Wohin Sie wollen.«
Dann setzte er sich, ohne sogar den Befehl dazu bekommen zu haben, zwischen den beiden Beamten in Gang und sagte:
»Stecken Sie mich ein, dann habe ich wenigstens ein Dach über dem Kopfe, wenn es regnet.«
Und sie gingen dem Dorfe zu, dessen Häuser man von weitem durch die kahlen Bäume eine Viertelstunde entfernt schimmern sah.
Es war gerade Messezeit, als sie durch den Ort kamen. Der Platz stand voll Menschen und zwei Reihen Neugieriger bildeten sich sofort, um dem Übelthäter, dem eine Herde johlender Kinder folgte, nachzuschauen. Bauern und Bäuerinnen blickten den Festgenommenen, der da zwischen den beiden Gensdarmen dahinschritt, an mit haßerfüllten Augen, aus denen die Lust sprach, ihm Steine nachzuwerfen, ihm mit den Nägeln die Haut zu zerkratzen, ihn unter die Füße zu treten. Man fragte sich, ob er gestohlen hätte oder jemanden ermordet. Der Fleischer, ein ehemaliger Spahi, versicherte:
»'s ist 'n Deserteur.«
Der Tabakverkäufer behauptete in ihm einen Mann wieder zu erkennen, der ihm am selben Morgen ein falsches Fünfzig Centimes-Stück hatte aufschwatzen wollen. Und der Klempner versicherte, es gäbe gar keinen Zweifel, das wäre der bisher noch nicht entdeckte Mörder der Witwe Malet, auf den die Polizei schon seit einem halben Jahre fahndete.
Die Gensdarmen brachten Randel in den Sitzungssaal des Stadthauses und dort sah er den Ortsvorstand vor sich am Tische sitzen, den Schulmeister an seiner Seite.
»Aha,« rief der Beamte, »da sind Sie ja wieder, Verehrtester. Ich hatt' Ihnen ja gesagt, daß ich Sie einlochen lassen würde. Nun, Wachtmeister, was ist mit dem Mann?«
Der Wachtmeister antwortete:
»Herr Vorstand, es ist ein Landstreicher ohne Unterkommen, ohne Subsistenzmittel und Geld, wie er behauptet, den ich wegen Betteln und Landstreicherei festgenommen habe. Seine Zeugnisse und Papiere sind in Ordnung.«
»Geben Sie mal die Papiere her,« sagte der Vorstand.
Er nahm sie, las sie, las sie noch einmal, gab sie zurück und befahl dann:
»Nehmen Sie an ihm die Leibesvisitation vor.« Randel wurde visitiert. Man fand nichts.
Der Vorstand schien sehr erstaunt zu sein und fragte den Arbeiter:
»Was haben Sie heute morgen auf der Landstraße getrieben?«
»Ich suchte Arbeit.«
»Arbeit – auf der Landstraße?«
»Ja, wie soll ich denn welche finden, wenn ich mich im Walde verstecken wollte?«
Sie blickten einander an mit einem Hassesblick wie zwei Tiere, die verschiedenen, feindlichen Rassen angehören. Der Beamte fing wieder an:
»Ich werde Sie in Freiheit setzen lassen. Aber daß Sie nicht wieder abgefaßt werden.«
Der Zimmermann antwortete:
»Mir wär's lieber, Sie behielten mich hier. Ich habe von dem 'rumirren genug.«
Der Ortsvorstand antwortete mit strengem Ausdruck:
»Schweigen Sie!«
Dann befahl er den beiden Gensdarmen:
»Sie werden diesen Mann zwei hundert Meter aus dem Ort hinausführen und ihn dann seinen Weg fortsetzen lassen.«
Der Arbeiter sagte:
»Lassen Sie mir wenigstens was zu essen geben.«
Der andere war empört:
»Das wär' noch besser, Ihnen auch noch was zu essen zu geben. Das ist wirklich ein bißchen zu stark.«
Aber Randel antwortete bestimmt:
»Wenn Sie mich vor Hunger krepieren lassen, dann zwingen Sie mich zu einer bösen That. Schlimm genug für Sie, die Sie dick und satt gefressen sind.«
Der Vorstand war aufgesprungen und wiederholte:
»Bringen Sie ihn schnell fort, sonst werde ich böse.«
Die beiden Gensdarmen packten also den Zimmermann am Arme und stießen ihn hinaus. Er ließ es sich ruhig gefallen, ging durch das Dorf zurück und stand wieder auf der Landstraße. Als die beiden Männer ihn dann zweihundert Schritte vom ersten Kilometerstein auf der Straße hinausgeführt hatten, erklärte der Wachtmeister:
»So – und nun machen Sie, daß Sie fortkommen und daß man Sie hier nicht wieder sieht in unserer Gegend sonst kriegen Sie's mit mir zu thun.«
Und Randel setzte sich in Bewegung ohne ein Wort zu sagen und ohne zu wissen, wohin er ging. Fürbaß lief er eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten lang, stumpfsinnig ohne an irgend etwas zu denken.
Aber als er an einem kleinen Hause vorüberkam, dessen Fenster halb offen stand und von wo ihm Küchengeruch in die Nase zog, blieb er plötzlich vor dieser Wohnung stehen.
Und mit einem Male überkam ihn wahnsinniger, wütender, verzehrender Hunger und packte ihn, daß er beinahe gegen die Wand des Hauses gerannt wäre.
Er rief laut mit brummiger Stimme:
»Gott verdamm mich! Diesmal muß ich aber was zu essen bekommen.«
Und er donnerte mit seinem Stock gegen die Thür. Niemand antwortete. Er schlug stärker und rief:
»Heda! Heda! Aufgemacht! Aufgemacht!«
Nichts rührte sich. Da näherte er sich dem Fenster, stieß es mit der Hand ganz auf und die Luft, die in der Küche eingeschlossen war, die laue Luft, in die sich der Geruch der warmen Suppe aus gekochtem Fleisch und von Kohl mischte, zog in die Kälte hinaus.
Mit einem Sprung stand der Zimmermann im Zimmer. Auf dem Tisch war für zwei Personen gedeckt. Die Besitzer waren wahrscheinlich zur Kirche gegangen und hatten ihr Essen auf dem Feuer gelassen, das schöne Sonntagsrindfleisch mit dicker Gemüsesuppe.
Auf dem Kamin lag ein frisches Brot zwischen zwei Flaschen, die gefüllt zu sein schienen.
Randel stürzte sich zuerst auf das Brot und zerbrach es mit einer Kraft, als hätte er einen Menschen erwürgen wollen. Dann schlang er es gierig hinab, mächtige Stücke auf einmal schnell hinunter würgend. Aber bald zog ihn der Fleischgeruch zum Herde. Er nahm den Deckel vom Topf ab, fuhr mit einer Gabel hinein und ein großes Stück Rindfleisch, das mit einer Schnur zusammengebunden war, tauchte auf. Dann nahm er noch Kohl, Carotten, Zwiebeln bis sein Teller voll war, stellte ihn auf den Tisch, setzte sich davor, schnitt das Rindfleisch in vier Stücke und fing an zu essen, als ob er zu Hause wäre. Als er fast das ganze Stück Fleisch gegessen hatte und eine Menge Gemüse, merkte er, daß er Durst hatte und holte eine der Flaschen vom Kamin. Und kaum sah er die Flüssigkeit im Glase, als er erkannte, daß es Branntwein war.
Ach was, der war wenigstens warm und würde ihm Feuer in die Adern gießen. Das war eine Erquickung, nachdem er solange gefroren . . . . Und er trank.
Er fand in der That den Schnaps gut. Er war ihn nicht mehr gewöhnt und er goß von neuem ein Glas voll, das er in zwei Schlucken hinunterstürzte. Fast augenblicklich fühlte er sich heiter, zufrieden. Der Alkohol that seine Wirkung. Es war ihm, als ob ihm die größte Seligkeit in den Leib hinuntergeflossen.
Er fuhr fort zu essen, etwas weniger schnell, kaute langsamer und brockte das Brot in die Suppe. Es überlief ihn heiß und der Schweiß trat ihm auf die Stirn, seine Pulse schlugen.
Aber plötzlich klang von weitem eine Glocke. Die Messe war aus. Und mehr aus Instinkt als aus Angst, aus dem Instinkt der Vorsicht, die alle Wesen, die sich in Gefahr befinden, leitet und findig macht, sprang er auf, steckte den Rest des Brotes in die eine, die Schnapsflasche in die andere Tasche, floh zum Fenster, schwang sich auf das Fensterbrett und sprang hinab auf die Straße.
Die Chaussee war noch leer. Er setzte sich wieder in Marsch, aber statt der Landstraße zu folgen, floh er quer durch die Felder zu einem Gehölz, das er von weitem gesehen.
Er fühlte sich kräftig, flink, glücklich, zufrieden über das, was er gethan und so voll überströmender Lebenskraft, daß er mit geschlossenen Füßen hätte über die Einfriedigung der Felder springen können.
Sobald er sich unter den Bäumen befand, zog er die Flasche aus der Tasche und fing wieder an zu trinken in großen Zügen, während er langsam weiterschritt. Da verschwammen ihm die Gedanken. Er sah nicht mehr recht und fing an zu taumeln.
Er sang den alten Gassenhauer:
Ach, das Beerenpflücken,
Ach, das Beerenpflücken.
Ist doch zum Entzücken!
Er schritt jetzt auf dickem, nassem, frischem Moosboden dahin und dieser weiche Teppich unter den Füßen hauchte ihm die verrückte Idee ein, Purzelbaum zu schießen wie ein Kind.
Er nahm einen Anlauf, überschlug sich, stand wieder auf und fing von neuem an. Und zwischen jedem Purzelbaum sang er wieder:
»Ach das Beerenpflücken,
Ach, das Beerenpflücken
Ist doch zum Entzücken!«
Plötzlich stand er an einem Hohlwege und sah unten ein großes kräftiges Mädchen, eine Magd, die zum Dorfe zurückkehrte, und zwei Eimer Milch an einem Holzträger auf der Achsel trug.
Er betrachtete sie mit erregten Blicken wie ein Hund, der eine Wachtel äugt.
Sie entdeckte ihn, hob den Kopf, fing an zu lachen und rief:
»Haben Sie so gesungen?«
Er antwortete nicht, sprang in den Hohlweg hinab, obgleich er mindestens sechs Fuß tief war.
Sie sagte, als er plötzlich vor ihr stand:
»Nee, haben Sie mich aber erschreckt!«
Aber er hörte sie nicht. Er war betrunken, er war verrückt. Noch eine andere Begierde war in ihm erwacht, stärker als der Hunger, durch den Alkohol angestachelt, durch den unwiderstehlichen Trieb eines Mannes, dem alles seit zwei Monaten fehlt, der betrunken ist, jung, feurig und dem die Natur alle Gelüste eingegeben hat, die sie in einen kräftigen, männlichen Körper legt.
Das Mädchen wich vor ihm zurück. Sie war erschrocken über sein Gesicht, über seine Blicke, über den halb offen stehenden Mund und die ausgestreckten Hände.
Er packte sie bei den Schultern und warf sie, ohne ein Wort zu sagen, auf den Weg.
Sie ließ ihre Eimer fallen, die mit großem Getöse zu Boden fielen. Die Milch lief heraus und sie rief um Hilfe. Dann begriff sie aber, daß es ihr nichts nützen würde, hier in der Einsamkeit zu rufen und da sie sah daß es ihr nicht ans Leben ging, überließ sie sich ihm ohne zuviel Widerstand und nicht weiter böse, denn er war ein kräftiger Kerl, wenn auch etwas zu roh.
Als sie aufgestanden war, ward sie plötzlich wütend über die umgeschüttete Milch. Sie zog einen Holzschuh vom Fuß und warf sich nun ihrerseits auf den Mann, um ihm den Schädel einzuschlagen, wenn er nicht die Milch bezahlte.
Aber er war nicht auf den plötzlichen Angriff gefaßt, war nun etwas ernüchtert und entsetzt und erschrocken über das, was er gethan. So floh er davon, so schnell ihn die Beine trugen, während sie ihm Steine nachwarf, von denen ihn einige im Rücken trafen.
Er lief lange, lange Zeit. Dann fühlte er sich so müde, wie er es noch nie gewesen. Seine Beine wurden schlaff, daß sie ihn nicht mehr tragen konnten. Es drehte sich alles um ihn, er verlor die Erinnerung an alles und war nicht mehr imstande nachzudenken.
Und er setzte sich am Fuße eines Baumes nieder. Nach fünf Minuten schlief er ein.
Durch einen Stoß wurde er geweckt, schlug die Augen auf und sah zwei Dreimaster aus lackirtem Leder über sich gebeugt. Er gewahrte die beiden Gensdarmen, die er am Morgen gesehen. Sie hielten ihm die Arme und banden ihn.
»Ich wußte ja, daß ich Dich wieder kriegen würde,« sagte der Wachtmeister listig.
Randel erhob sich, ohne ein Wort zu sprechen. Die Männer schüttelten ihn und hätten ihn mißhandelt, wenn er nur eine Bewegung gemacht, denn jetzt war er in ihrer Hand, jetzt war er Gefängnisfutter, jetzt hatten ihn diese Verbrecher-Jäger abgefaßt und ließen ihn nicht mehr los.
»Marsch!« befahl der Gensdarm.
Sie gingen davon. Der Abend kam und hüllte die Erde in herbstlich schwere traurige Dämmerung.
Nach einer halben Stunde erreichten sie das Dorf.
Alle Thüren waren offen, denn man hatte schon von dem großen Ereignis Kunde.
Die Bauern und Bäuerinnen waren empört, als ob jeder einzelne von ihnen bestohlen und jede einzelne vergewaltigt worden sei, und sie wollten den Einzug des Verbrechers sehen, um ihn zu beschimpfen.
Am ersten Hause des Ortes fing das Gebrüll an und begleitete ihn bis zum Ortsvorstande, der ihn schon erwartete. Sobald er ihn sah, rief er von weitem:
»Na, was habe ich gesagt. Haben wir Dich endlich?«
Und er rieb sich die Hände so zufrieden wie er selten war und sprach:
»Ich hatt' es ja gesagt, ich hatt' 's ja gleich gesagt, als ich ihn auf der Straße sah.«
Dann fügte er mit erneutem Freudenausbruche hinzu:
»Warte Du, Lump verfluchter, Deine zwanzig Jahre hast Du jetzt sicher.«