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Das Wirtshaus von Schwarenbach ist wie alle hölzernen Unterkunftshäuser, die in den Hochalpen droben stehen am Fuße der Gletscher in den felsigen, nackten Hochthälern, die zwischen den weißen Gipfeln der Berge liegen. Es ist die Unterkunftshütte für die Reisenden, die über den Gemmipaß wollen.
Sechs Monate hindurch ist es offen und wird in dieser Zeit von der Familie Johann Hauser bewohnt; sobald der Schnee sich türmt, das Thal füllt und den Abstieg nach Leuk unpassierbar macht, brechen die Frauen, der Vater und die drei Söhne auf und lassen nur als Wächter im Hause zurück: den alten Kaspar Hari und den jungen Führer Ulrich Kunsi mit dem mächtigen Berghunde Sam.
Die beiden Männer und das Tier bleiben bis zum Frühjahr in dem Schneekerker dort oben, nichts weiter vor Augen als den riesigen Abhang des weißen Balmhorns, um das herum leuchtend bleiche Gipfel ragen, eingeschlossen und begraben vom Schnee, der sich um sie herum häuft, sie einhüllt und umfängt, das kleine Haus fast erdrückt, sich auf dem Dache türmt, sich gegen die Scheiben legt und die Thüren verbarrikadiert.
Es war an dem Tag, wo die Familie Hauser nach Lenk zurückkehrte, weil der Winter nahe war und der Abstieg gefährlich zu werden drohte.
Drei Maulesel gingen voraus, mit Kleidern und Gepäck beladen, von den drei Söhnen geführt. Dann bestiegen die Mutter Johanna Hauser und ihre Tochter Louise ein viertes Maultier und setzten sich ihrerseits in Bewegung.
Der Vater folgte ihnen und die beiden Hüter des Hauses gaben ihnen das Geleit. Sie wollten die Familie bis an den Weg bringen, der an der Felswand herabführt.
Zuerst zogen sie um den kleinen See herum, der nun gefroren dalag in dem Hochthal, das sich vor dem Wirtshaus dehnt. Dann schritten sie das Thal hinab, das weiß war wie ein Tischtuch, von allen Seiten von Schneegipfeln überragt.
Die Sonne strahlte herab auf diese weiße, glitzernde Eiswüste, überschüttete sie mit ihrem blendenden kalten Licht. In der unendlichen Weite der Berge schien alles Leben erstorben. Nichts rührte sich in der riesigen Einsamkeit, kein Ton unterbrach die tiefe Stille.
Allmählich schritt der junge Führer Ulrich Kunsi, ein großer Schweizer, schärfer aus und ließ bald den alten Hauser und den alten Kaspar Hari hinter sich, um das Maultier einzuholen, das die beiden Frauen trug.
Die Jüngere sah ihn kommen und schien ihn mit ihrem traurigen Blick zu rufen. Es war eine kleines, blondes Ding, dessen heller Teint und blondes Haar gebleicht schien durch den langen Aufenthalt in der Gletscherwelt.
Als er sie eingeholt hatte, legte er die Hand auf die Kruppe des Maultieres, das sie trug und verkürzte seinen Schritt. Frau Hauser fing an mit ihm zu sprechen, indem sie ihm noch einmal genau alles einschärfte, was die Ueberwinterung betraf. Er blieb zum ersten Mal dort oben, während der alte Hari schon vierzehn Winter bei Eis und Schnee im Wirtshaus von Schwarenbach zugebracht hatte.
Ulrich Kunsi hörte zu, aber er schien ihren Worten nicht zu folgen und blickte unausgesetzt das junge Mädchen an. Ab und zu sagte er einmal: »Jawohl, Frau Hauser!« aber seine Gedanken schienen weit entfernt zu sein und seine ruhigen Züge verrieten keine Bewegung.
Sie kamen an den Daubensee, dessen lange, gefrorene Oberfläche glatt und eben im Thalgrunde lag. Rechts türmten sich die schwarzen Felsen des Daubenhorns zur Spitze empor neben den riesigen Moränen des Lämmerengletschers, den der Wildstrubel überragte.
Als sie sich dem Gemmipaß näherten, wo der Abstieg nach Leuk beginnt, that sich plötzlich vor ihnen die riesige Kette der Walliser Alpen auf, von denen sie das tiefe, breite Rhonethal trennte.
Dort in der Ferne erhob sich ein ganzes Heer von weißen Gipfeln, verschieden hoch, breit oder spitz, die alle in der Sonne glitzerten: die Mischabelhörner, das mächtige Massiv des Weißhorns, das plumpe Brunnegghorn und die hohe, furchtbare Pyramide des Matterhorns, das soviel Menschenleben schon gekostet hat, endlich die gewaltige Kokette, die Dent-Blanche. Dann erblickten sie unter sich wie in einem riesigen Loch Leuk, dessen Häuser aussahen gleich Sandkörnern, die man in den gewaltigen Schlund hinuntergeschüttet, zu dem die Gemmi der Schlüssel ist und der sich dort unten zur Rhone öffnet.
Das Maultier blieb stehen am Rande des Weges, der in Schlangenlinien hinab führt, unausgesetzt in Kehren gehend, längs der senkrechten Felswand und einen phantastischen, ganz wundersamen Eindruck macht. Er führt hinab bis zu dem beinahe unsichtbaren Dorf unten an seinem Fuß. Die Frauen sprangen in den Schnee.
Die beiden Alten hatten sie eingeholt.
»Na,« sagte der alte Hauser, »nun lebt wohl und seid guten Mutes. Nächstes Jahr – auf Wiedersehen, lieben Freunde!«
Der alte Hari gab zurück:
»Nächstes Jahr.«
Sie umarmten sich, dann hielt ihm Frau Hauser ihrerseits die Wange entgegen und darauf das junge Mädchen.
Als Ulrich Kunsi an der Reihe war, flüsterte er Louise ins Ohr:
»Vergeßt nicht uns da oben.«
Sie antwortete so leise »nein,« daß er es nicht hören, nur erraten konnte.
»Na, nun lebt wohl!« wiederholte Johann Hauser, »und bleibt hübsch gesund.«
Dann ging er voraus an den Frauen vorüber und begann den Abstieg.
Bald verschwanden sie alle drei bei der ersten Biegung des Weges.
Und die beiden Männer kehrten zum Wirtshaus von Schwarenbach zurück.
Sie gingen langsam nebeneinander her, ohne zu sprechen. Jetzt war es aus, jetzt würden die beiden zusammen allein bleiben, vier oder fünf Monate.
Dann fing Kaspar Hari an, vom Leben zu erzählen in früheren Wintern. Er war damals mit Michel Canol oben gewesen, der nun dazu zu alt geworden; denn während dieser langen Einsamkeit kann irgend ein Unglück geschehen. Übrigens hatten sie sich nicht weiter gelangweilt, man mußte sich eben vom ersten Tage ab darein finden. Und endlich waren sie auf allerlei Zerstreuungen gekommen, Spiele und manchen Zeitvertreib.
Ulrich Kunsi hörte ihm zu mit gesenkten Blicken. Seine Gedanken waren bei denen, die zum Dorfe hinabstiegen auf dem Zickzackwege der Gemmi.
Bald gewahrten sie das Wirtshaus, das aber noch kaum zu erkennen war, so klein sah es aus, als schwarzer Punkt mitten auf der gewaltigen Schneefläche.
Als sie die Thür öffneten, umsprang sie Sam, der große wollige Hund.
»Na mein Sohn,« sagte der alte Kaspar, »jetzt haben wir kein Frauenzimmer mehr hier oben, jetzt mußt Du's Essen machen. Nu schäl mal Kartoffeln.«
Beide setzten sich auf Holzschemel und begannen die Suppe aufzugießen.
Der folgende Tag schien Ulrich Kunsi lang. Der alte Hari rauchte und spuckte in's Feuer, während der junge Mann durch das Fenster die Schneeberge dem Hause gegenüber betrachtete.
Nachmittags ging er aus und verfolgte denselben Weg wie am Tage vorher. Er suchte auf dem Boden die Hufspuren des Maultieres, das die beiden Frauen getragen. Als er dann am Gemmipaß war, legte er sich an den Rand des Abgrundes und blickte nach Leuk hinab.
Das Dorf dort unten in seinem Felsenloch war noch nicht unter der Schneedecke begraben, obgleich sie ihm schon ganz nahe gerückt war. Aber die Nadelholzwälder in der Nähe beschützten es noch. Von oben sahen die niedrigen Häuschen aus wie Pflastersteine auf einer Wiese.
Da unten war nun die kleine Hauser in einem dieser grauen Steinwürfel. In welchem? Die Entfernung war zu groß, als daß Ulrich Kunsi ein einzelnes Gebäude hätte unterscheiden können. Ach, er wäre zu gern hinuntergegangen jetzt, wo es noch möglich war.
Aber die Sonne war hinter dem großen Gipfel des Wildstrubels verschwunden und der junge Mann kehrte heim. Der alte Hari rauchte. Als er seinen Begleiter wiederkommen sah, schlug er ihm eine Partie Karten vor und sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch.
Sie spielten lange Zeit ein einfaches Spiel, Zehner und Aß genannt. Dann aßen sie zu Abend und legten sich zu Bett.
Die folgenden Tage waren wie der erste, klar und kalt, kein Neuschnee fiel. Der alte Kaspar spähte nachmittags immer nach Adlern aus oder nach den wenigen Vögeln, die sich in die Eiswüsten hier hinauf verirren, während Ulrich regelmäßig zum Gemmipaß ging, um das Dorf zu betrachten. Dann spielten sie Karten, Würfel, Domino, gewannen und verloren kleine Gegenstände, um ihrer Partie einen gewissen Reiz geben.
Eines Tages rief Hari, der zuerst aufgestanden war, seinen Gefährten. Eine bewegliche dicke, leichte Wolke weißen Schaumes sank auf sie nieder, um sie herum, lautlos und begrub sie allmählich unter dichter stummer Decke. Das dauerte vier Tage und vier Nächte. Sie mußten Thüren und Fenster freimachen, einen Gang in den Schnee graben und Stufen herstellen, um auf die Schneedecke hinauf zu gelangen, die zwölf Stunden währender Frost härter gemacht hatte, als die Steine auf den Moränen.
Nun lebten sie wie Gefangene und wagten sich kaum mehr aus ihrer Wohnung heraus. Sie hatten sich in die Dienstverrichtungen geteilt und besorgten sie regelmäßig. Ulrich Kunsi hatte die Reinigung übernommen, die Wäsche, kurz alles, was die Reinlichkeit betraf. Er mußte auch Holz klein machen, während Kaspar Hari kochte und das Feuer unterhielt. Ihre regelmäßige eintönige Thätigkeit unterbrachen sie nur durch lange Partien Karten oder Würfel. Sie stritten sich nie, beide waren ruhige, vernünftige Leute. Sie wurden sogar niemals ungeduldig, nie schlechter Laune, nie fielen böse Worte.
Manchmal nahm der alte Kaspar sein Gewehr von der Wand und ging davon, auf die Gemsjagd. Ab und zu schoß er eine, dann gab es großen Jubel im Wirtshaus von Schwarenbach und ein Festessen von frischem Fleisch.
So ging er eines Morgens davon. Der Thermometer draußen zeigte 18 Grad Kälte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der Jäger hoffte, sich an die Tiere an den Hängen des Wildstrubels anzupirschen.
Ulrich, der allein geblieben war, blieb bis zehn Uhr liegen. Er war etwas schläfriger Natur, nur in Gegenwart des alten Führers, der immer zeitig aufstand und thätig war, wagte er nicht sich seiner Neigung hinzugeben.
Er frühstückte bedächtig mit Sam, der auch Tag und Nacht am Feuer schlief. Dann kam Traurigkeit über ihn, die Einsamkeit schreckte ihn und das Bedürfnis nach der täglichen Partie Karten regte sich, wie es einem geht, wenn man eine unüberwindliche Gewohnheit hat.
Da ging er hinaus, seinem Gefährten entgegen, der gegen vier Uhr heimkehren mußte.
Der Schnee hatte die ganze Tiefe des Hochthals ausgefüllt, alle Unebenheiten ausgeglichen, die beiden Seen zugeschüttet und die Felsen eingehüllt. Zwischen den mächtigen Gipfeln dehnte sich ein einziges, regelmäßiges, weißes, augenblendendes, eisiges Schneefeld aus.
Seit drei Wochen war Ulrich nicht mehr an den Rand des Abgrunds gegangen, von wo aus er das Dorf sehen konnte. Ehe er die Hänge erklomm, die sich zum Wildstrubel hinanzogen, wollte er dorthin gehen. Jetzt lag Leuk auch unter dem Schnee begraben und die unter dem bleichen Mantel verborgenen Häuser waren gar nicht mehr zu erkennen.
Dann wandte er sich nach rechts zum Lämmerengletscher. Er ging mit dem langen, langsamen Schritt des Bergsteigers und sein eisenbeschlagener Stock traf auf den Schnee, der hart war wie Stein, und mit seinem scharfen Auge suchte er den kleinen, schwarzen, beweglichen Punkt in der Weite auf dem mächtigen, weißen Tuch.
Als er den Gletscher erreicht hatte, blieb er stehen und fragte sich, ob der Alte wohl diesen Weg genommen. Dann ging er die Moräne entlang mit eiligen Schritten, etwas Unruhe im Herzen.
Es fing an, dunkel zu werden. Der Schnee färbte sich rosa. Ein trockener, eisiger Wind blies in Stößen über die krystallene Oberfläche. Ulrich stieß einen scharfen, langgedehnten Schrei aus. Im Todesschweigen der Berge verhallte sein Ruf. Er ging in die Weite über die starren, gewaltigen Wellen des eisigen Schaumes wie ein Vogelschrei auf den Wogen des Meeres. Dann verklang er und kein Echo gab ihm Antwort.
Er setzte sich wieder in Gang. Die Sonne war drüben hinter den Bergspitzen untergegangen, die noch im Widerschein leuchteten. Aber in der Tiefe wurde das Thal schon dunkel. Und plötzlich empfand der junge Mann Angst. Es war ihm als dränge das Schweigen, die Kälte, die Einsamkeit, der winterliche Tod dieser Berge in ihn hinein, als ließe er sein Blut stocken und zu Eis werden, als erstarrte er seine Glieder und lähmte ihn.
Und er begann zu laufen und floh dem Hause zu. Er meinte, der Alte müsse während seiner Abwesenheit zurückgekehrt sein. Er würde wohl einen anderen Weg eingeschlagen haben und säße jetzt vor dem Feuer, die erlegte Gemse zu Füßen.
Bald sah er das Wirtshaus. Kein Rauch stieg daraus auf. Ulrich lief schnell und öffnete die Thür. Sam sprang ihm entgegen und umwedelte ihn, aber Kaspar Hari war nicht zurückgekehrt.
Kunsi drehte sich erschrocken im Kreise herum, als erwartete er irgendwo in einer Ecke seinen Begleiter versteckt zu finden. Dann zündete er das Feuer wieder an, machte Suppe, immer in der Hoffnung, der Greis möchte zurückkehren.
Ab und zu trat er hinaus, um nachzusehen, ob er denn nicht käme. Die Nacht war eingefallen, die fahle Nacht der Berge, die bleiche, matte Nacht, die nur am Rande des Horizontes durch den gelben Halbmond erhellt ward, der nahe daran war, hinter den Gipfeln zu verschwinden.
Dann kehrte der junge Mann zurück, setzte sich, wärmte sich Füße und Hände und dachte an alle möglichen Unglücksfälle, die etwa eingetreten sein konnten.
Vielleicht hatte sich Kaspar den Fuß gebrochen, war in ein Loch gefallen, hatte einen Fehltritt gethan, und sich dabei den Knöchel verrenkt. Und nun lag er dort warscheinlich auf dem Schnee, erstarrt vor Kälte mit Verzweiflung in der Seele, verloren, vielleicht um Hilfe rufend mit aller Kraft seiner Lungen im Schweigen der Nacht.
Aber wo? Das Bergrevier war so weit, so steil, so gefährlich ringsum, vor allem zu dieser Jahreszeit, daß man wenigstens zehn oder zwanzig Führer hätte aufbieten müssen, und acht Tage lang nach allen Richtungen suchen, um in dieser unendlichen Natur den Verunglückten zu finden.
Aber Ulrich Kunsi faßte den Entschluß, dennoch mit Sam aufzubrechen, wenn etwa Hari zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens noch nicht zurückgekehrt wäre.
Er traf seine Vorbereitungen.
Er steckte in den Rucksack für zwei Tage Lebensmittel, band die Steigeisen darauf, legte das lange, starke Seil um und prüfte noch einmal seinen Eispickel der dazu diente, Stufen in das Eis zu schlagen. Dann wartete er. Das Feuer glimmte im Kamin, der mächtige Hund schnarchte beim Scheine der Flammen. Die Wanduhr in ihrem hohlen Holzkasten tickte regelmäßig wie ein Herz.
Er wartete, aufmerksam in die Weite lauschend, und schauderte zusammen, wenn ein leiser Wind um Dach und Mauern blies.
Es schlug Mitternacht. Er zitterte. Und da ihn die Angst erschauern ließ, stellte er einen Topf mit Wasser auf das Feuer, um recht heißen Kaffee zu trinken noch vor dem Aufbruch.
Als die Uhr eins schlug, erhob er sich, weckte Sam, öffnete die Thür und ging davon in der Richtung nach dem Wildstrubel.
Fünf Stunden lang stieg er hinauf über die Felsen mit Hilfe seiner Steigeisen, schlug Stufen ins Eis und mußte öfters den Hund am Seil mit Gewalt nach sich ziehen, weil derselbe bei zu steilen Hängen ängstlich unten bleiben wollte. Es war gegen sechs Uhr, da erreichte er einen der Gipfel, den der alte Kaspar gewöhnlich bestieg, um nach Gemsen auszuspähen.
Er wartete, bis es Tag wurde.
Zu seinen Häupten erblich der Himmel und plötzlich klärte ein seltsames Licht, man wußte nicht, woher es kam, die weite Fernsicht der bleichen Gipfel, die sich im Kreise um ihn erhoben. Es war, als ob der Schnee selbst dies unbestimmte Licht ausstrahlte, das die Landschaft beleuchtete. Plötzlich färbten sich die entfernteren höchsten Gipfel mit zartem rosa und die rote Sonne tauchte hinter den mächtigen Häuptern der Berner Alpen auf.
Ulrich Kunsi setzte sich wieder in Marsch. Gekrümmt ging er dahin wie ein Jäger und suchte Spuren im Schnee zu finden, indem er den Hund antrieb:
»Such! Such! Such! Sam! Such!«
Nun stieg er den Berg wieder hinab, spähte in die Abgründe hinunter und rief ab und zu mit langgezogenem Schrei, der aber bald in der stummen Unendlichkeit erstarb. Da legte er das Ohr an die Erde, um zu lauschen. Es war ihm, als hörte er eine Stimme. Dann begann er seine Wanderung von neuem, rief wieder, aber er hörte nichts mehr und setzte sich erschöpft und verzweifelt nieder. Gegen Mittag aß er etwas und gab Sam zu fressen, der ebenso müde war wie er selbst. Dann fing er wieder an zu suchen.
Als der Abend hereinbrach, lief er noch immer. Er hatte schon fünfzig Kilometer Weges in den Bergen zurückgelegt. Da er zu weit vom Hause entfernt war, um noch dorthin zu gelangen und zu müde war, um sich weiter schleppen zu können, höhlte er ein Loch in den Schnee, legte sich mit seinem Hunde hinein und wickelte sich in eine Decke, die er mitgenommen. Sie schmiegten sich einer gegen den andern, der Mensch und das Tier, um gegenseitig den bis zu den Knochen erstarrten Leib zu erwärmen.
Ulrich schlief kaum. Allerhand Geschichten quälten ihn und er zitterte vor Kälte.
Als es Tag zu werden begann, erhob er sich. Die Beine waren ihm steif geworden wie Eisenstangen, und sein Mut war gesunken, daß er vor Angst hätte schreien können. Sein Herz klopfte heftig und wenn er in der Ferne nur den leisesten Ton zu hören glaubte, ward er aufgeregt, daß er hätte hinfallen können.
Plötzlich dachte er, er müsse auch sterben in dieser Einsamkeit und das Entsetzen vor dem Tode stachelte seine Thatkraft an und weckte seine Kräfte.
Er stieg jetzt wieder zum Wirtshaus hinab, fiel, erhob sich wieder und von Weitem folgte ihm der Hund, hinkend auf drei Beinen.
Erst gegen drei Uhr nachmittags kamen sie nach Schwarenbach. Das Haus war leer. Der junge Mann machte Feuer, aß und schlief ein. Er war so erschöpft, daß er an nichts mehr denken konnte.
Er schlief lange, lange in unüberwindlichem Schlummer. Aber plötzlich riß ihn eine Stimme, ein Schrei, der Name ›Ulrich!‹ aus seiner Erstarrung, daß er auffuhr. Hatte er geträumt? War es einer jener seltsamen Rufe, die furchtsame Menschen manchmal im Schlafe zu hören glauben? Nein, er hörte den zitternden Schrei noch, der ihm ins Ohr gedrungen, und ihn nun nicht wieder losließ. Ja gewiß, man hatte geschrieen, man hatte seinen Namen gerufen. Es mußte jemand da sein beim Hause. Er konnte nicht daran zweifeln. Er öffnete also die Thür und brüllte:
»Bist Du's, Kaspar!« – mit aller Kraft der Lungen.
Nichts antwortete, kein Ton, kein Murmeln, kein Stöhnen, nichts. Es war Nacht. Fahl glänzte der Schnee.
Der Wind hatte sich erhoben, ein eisiger Wind, der Steine brechen kann und auf diesen einsamen Höhen nichts am Leben läßt. Er kam in jähen Stößen daher geweht, die austrocknender und tötlicher sind, als der Feuerwind der Wüste. Ulrich rief von neuem:
»Kaspar! Kaspar! Kaspar!«
Dann wartete er. Alles blieb stumm in den Bergen. Da lief ihm ein Schauer über den Leib und er erstarrte bis ins Mark hinein. Mit einem Satz floh er wieder ins Haus, schloß die Thür und schob den Riegel vor. Dann fiel er zitternd auf einen Stuhl, fest überzeugt, daß ihn sein Kamerad in der Ferne gerufen, im Augenblick als er den Geist aufgab.
Dessen war er gewiß, so gewiß, wie man weiß, daß man lebt oder ißt. Der alte Kaspar Hari mochte zwei Tage und drei Nächte irgendwo im Sterben gelegen haben, in irgend einem Loch, in irgend einer nie betretenen Gletscherspalte, deren Weiß trauriger ist, als die schwarze Finsternis im tiefsten Schacht. Zwei Tage und drei Nächte hatte er im Sterben gelegen und eben mußte er den Geist aufgegeben haben mit dem Gedanken an den Gefährten. Und als seine Seele kaum frei geworden, war sie zum Wirtshaus geflogen, wo Ulrich schlief und hatte ihn vermöge der geheimnisvollen, fürchterlichen Kraft gerufen, die die Seelen der Toten haben, um die Lebendigen zu quälen. Diese Seele ohne Stimme hatte in der müden Seele des Schläfers getönt, sie hatte ihr letztes Lebewohl oder ihren Vorwurf oder ihren Fluch dem Manne zugerufen, der nicht emsig genug gesucht.
Und Ulrich meinte, sie ganz nahe zu fühlen hinter der Mauer, hinter der Thür, die er eben geschlossen. Jetzt irrte sie wie ein Nachtvogel umher, der mit seinem Gefieder an das erleuchtete Fenster schlägt. Und der junge Mann hätte beinahe vor Schreck laut gebrüllt. Er wollte entfliehen und wagte doch nicht hinaus zu gehen. Er wagte es nicht und würde es nie wieder wagen, denn das Gespenst blieb dort draußen Tag und Nacht, irrte um das Haus herum, solange der Leichnam des alten Führers nicht gefunden und in der geweihten Erde eines Kirchhofs beigesetzt war.
Der Tag brach an und Kunsi gewann ein wenig Mut beim Strahlen der Sonne. Er bereitete das Frühstück, machte Suppe für den Hund und dann blieb er unbeweglich in qualvollen Gedanken im Stuhl sitzen, immer den Alten vor dem geistigen Auge, wie er draußen auf dem Schnee lag.
Sobald die Nacht wieder auf die Berge sank, überfielen ihn neue Schrecken. Jetzt lief er in der dunklen Küche, die kaum die Flamme eines Lichtes erhellte, auf und ab von einem Ende des Raumes zum andern mit großen Schritten, lauschte hinaus, horchte, ob der fürchterliche Schrei, der die verflossene Nacht getönt, nicht wieder dort draußen die Todesstille unterbräche. Und der Unglückliche fühlte sich allein, allein wie noch nie ein Mensch gewesen. Er war allein in dieser unendlichen Schneewüste, allein zweitausend Meter über der bewohnten Erde, über Heimstätten, über dem Leben, das dort unten wogt, lärmt und zittert, allein unter dem eisigen Himmel. Eine fürchterliche Angst packte ihn zu entfliehen irgendwo hin, ganz gleich wie, hinunter zu eilen nach Leuk, indem er sich in den Abgrund stürzte. Er wagte aber nicht einmal die Thür zu offnen, er war gewiß, daß der Andere, der Tote, sich auf ihn stürzen würde, ihm den Weg zur Rückkehr abzuschneiden, um auch nicht allein zu bleiben dort oben.
Endlich warf er sich gegen Mitternacht, als er müde war vom Hin- und Herlaufen und ermattet von Angst und Furcht in einen Stuhl, denn er fürchtete sich vor seinem Bett, wie man sich fürchtet vor einem Ort, wo es umgeht.
Und plötzlich zerriß ihm der gellende Schrei von neulich wieder das Ohr so spitz und scharf, daß Ulrich die Arme ausstreckte, um das Gespenst zu verscheuchen, und mit seinem Stuhl hinten über fiel.
Sam, den der Lärm geweckt, fing an zu heulen wie plötzlich aufgeschreckte Hunde heulen, und lief in dem großen Zimmer umher, um zu wittern, woher Gefahr drohe. Als er an die Thür kam, schnupperte er darunter, prustete und schnob mit aller Kraft mit gesträubten Haaren, mit ausgestrecktem Schwanz und lautem Knurren.
Kunsi war erschrocken aufgestanden, faßte den Stuhl bei einem Bein und rief:
»Bleib draußen! Bleib draußen! Wenn Du reinkommst schlage ich Dich tot!«
Und der Hund, den diese Drohung noch mehr erregte, bellte wütend gegen den unsichtbaren Feind, den die Stimme seines Herrn herausforderte.
Sam beruhigte sich allmählich, kam zurück, und streckte sich neben dem Herde hin. Aber er blieb unruhig, hielt den Kopf erhoben, blickte mit leuchtenden Augen um sich und knurrte zwischen den Zähnen.
Ulrich seinerseits war wieder seiner Sinne mächtig. Aber da er fühlte, wie er ganz schwach geworden vor Schreck, holte er die Schnapsflasche aus dem Speiseschrank und trank schnell hinter einander ein paar Gläser. Seine Gedanken verwirrten sich, er gewann wieder Mut. Feurige Glut lief ihm durch die Adern.
Den andern Tag aß er kaum und beschränkte sich darauf, Alkohol zu sich zu nehmen. Und mehrere Tage lebte er so dahin in steter Trunkenheit. Sobald er an Kaspar Hari dachte, fing er wieder an zu trinken, solange, bis er zu Boden fiel, seiner Sinne nicht mehr mächtig. Und da blieb er auf dem Gesicht liegen, sinnlos betrunken, die Glieder wie zerschlagen, laut schnarchend, die Stirn am Boden. Aber kaum hatte er die Wirkung der brennenden trunkenmachenden Flüssigkeit überwunden, so weckte ihn wieder derselbe Ruf: ›Ulrich!‹ wie eine Kugel die ihn in den Kopf getroffen. Schwankend richtete er sich auf, tastete mit den Händen umher, um nicht zu fallen und rief Sam zu Hilfe. Und der Hund, der ganz verrückt zu werden schien wie sein Herr, stürzte zur Thür, kratzte mit den Krallen und nagte mit den langen, weißen Zähnen daran, während der junge Mann mit zurückgebogenem Kopfe in tiefen Zügen, wie frisches Wasser nach einem wilden Lauf, den Schnaps hinunter goß, der ihn bald wieder betäubte und ihm die Erinnerung an den fürchterlichen Schreck und das Entsetzen nahm.
In drei Wochen verbrauchte er den ganzen Vorrat an Alkohol. Aber diese fortwährende Trunkenheit hatte nur sein Entsetzen eingeschläfert, das nun, wo er es nicht mehr betäuben konnte, fürchterlicher zum Ausbruch kam denn je vorher. Diese fixe Idee, die noch stärker geworden war durch fortgesetztes Trinken und nun immer mehr in der vollständigen Einsamkeit wuchs, bohrte sich in ihn hinein wie ein Pfriem. Jetzt lief er in dem Zimmer wie ein wildes Tier im Käfig umher, legte das Ohr an die Thür, um zu lauschen, ob der Andere da sei und um ihn durch die Mauer hindurch zu erspähen.
Wenn die Müdigkeit ihn übermannte, hörte er die Stimme wieder tönen, daß er aufsprang.
Endlich stürzte er sich eines Nachts wie ein Feigling, der einen jähen Entschluß faßt, auf die Thür und öffnete sie, um den zu erblicken, der ihn rief und um ihn zum Schweigen zu zwingen.
Der eisige Wind blies ihm ins Gesicht und erstarrte ihn bis auf die Knochen. Er machte die Thür wieder zu, schob den Riegel vor, aber er hatte nicht bemerkt, daß Sam hinausgelaufen war. Dann warf er zitternd Holz ins Feuer und setzte sich davor, um sich zu wärmen. Aber plötzlich fuhr er zusammen. Etwas kratzte und heulte an der Mauer.
Er rief verzweifelt:
»Fort!«
Ein langes klagendes Geheul antwortete.
Da nahm ihm das Entsetzen alle Vernunft.
Und er rief wieder:
»Fort! Fort!« – und lief im Kreise herum, um irgend eine Ecke zu suchen, wo er sich verstecken könnte. Der andere heulte fortwährend und rannte um das ganze Haus und kratzte an der Mauer. Ulrich stürzte an den Eichenschrank, der voll Schüsseln und Gläsern und Vorräten war, hob ihn mit übermenschlicher Kraft empor, schleppte ihn bis zur Thür, um sie zu verbarrikadieren. Dann türmte er alles, was es an Möbeln gab: Matratzen, Strohsäcke, Stühle übereinander und verstopfte die Fenster wie gegen einen Feind in bestürmtem Hause.
Aber jetzt fing der da draußen an fürchterlich zu klagen und zu heulen und der junge Mann antwortete mit demselben Schrei.
Tage und Nächte vergingen und beide schrieen und brüllten. Der draußen lief fortwährend um das Haus herum, kratzte an der Mauer mit den Krallen, mit solcher Gewalt, als wollte er sie einreißen und der andere da drinnen folgte allen seinen Bewegungen, schlich, das Ohr an die Wand gelegt, gebückt umher und antwortete auf das Klagen draußen mit fürchterlichem Gebrüll.
Eines Abends hörte Ulrich nichts mehr und er setzte sich nieder, so gebrochen von Müdigkeit, daß er sofort einschlief.
Als er aufwachte, wußte er von nichts, hatte keine klaren Gedanken, als ob sein Kopf leer geworden während dieses lähmenden Schlafes. Er hatte Hunger und aß.
Der Winter war zu Ende. Der Gemmipaß ward wieder frei. Und die Familie Hauser machte sich bereit zum Wirtshaus hinaufzugehen.
Sobald sie oben auf der Höhe waren, bestiegen die Frauen das Maultier und sprachen von den beiden Männern, die sie jetzt wiedersehen sollten.
Sie wunderten sich, daß ein paar Tage vorher nicht einer von ihnen heruntergekommen sei, sobald nur die Straße passierbar geworden, um Nachricht zu geben von der langen Überwinterung.
Endlich sah man das Wirtshaus liegen. Es war noch von Schnee bedeckt und umgeben. Fenster und Thür waren verschlossen. Aus der Esse stieg ein wenig Rauch. Das beruhigte den alten Hauser. Aber als er herankam, sah er an der Schwelle ein großes, auf der Seite liegendes Tierskelett, das die Adler zerfleischt und abgenagt.
Alle betrachteten es.
»Das muß Sam sein«, sagte die Mutter. Und sie rief:
»He, Kaspar!«
Von drinnen antwortete ein Schrei, ein schriller Ruf, wie der eines Tieres. Der alte Hauser rief noch einmal:
»He, Kaspar!«
Wieder klang derselbe Laut zurück.
Da versuchten die drei Männer, der Vater und die beiden Söhne, die Thür zu öffnen. Sie widerstand. Sie nahmen aus dem leeren Stall einen langen Balken als Mauerbrecher und rannten mit aller Gewalt dagegen. Das Holz krachte, gab nach und die Bretter flogen in Stücken heraus. Dann klang ein mächtiger Lärm durch das ganze Haus und sie sahen hinter dem zusammengebrochenen Schrank einen Mann stehen, dessen Haare ihm bis auf die Schultern fielen, mit einem Bart bis auf die Brust. Seine Augen leuchteten, seine Kleider waren in Fetzen.
Sie erkannten ihn nicht. Aber Louise Hauser rief:
»Mutter, das ist ja Ulrich!«
Und die Mutter bestätigte es, daß es Ulrich sei, obgleich seine Haare weiß geworden.
Er ließ sie eintreten, er ließ sich berühren, aber er antwortete auf keine Frage, die man an ihn richtete. Man mußte ihn nach Leuk bringen, wo die Ärzte feststellten, daß er verrückt geworden sei.
Und nie hat jemand erfahren, was aus seinem Kameraden geworden.
Die kleine Hauser starb den folgenden Sommer an einer Art Auszehrung, die man der Kälte des Gebirges zuschrieb.