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8. Mai. – Nein, ist der Tag schön! Den ganzen Morgen habe ich im Grase lang ausgestreckt vor meinem Hause gelegen unter der riesigen Platane, die es vollkommen beschattet, bedeckt und überragt. Ich liebe diese Gegend und lebe dort gern, weil dort meine Wurzeln sind, die tiefen, zarten Wurzeln, die einen Menschen an die Scholle knüpfen, wo seine Väter geboren und gestorben sind, die ihn mit dem verbinden, was man denkt, was man ißt, mit den Sitten wie mit der Nahrung, mit der Sprechweise der Bauern und ihrer Betonung, mit dem Erdgeruch, den Dörfern und sogar der Luft.
Ich liebe das Haus, wo ich groß geworden bin. Von meinen Fenstern aus sehe ich die Seine längs meines Gartens hinter der Straße, beinahe bei mir, die breite, große Seine, die von Rouen nach Havre fließt mit Schiffen bedeckt, die vorübergleiten.
Dort drüben links liegt Rouen, die große Stadt mit den blauen Dächern von einem Heer von spitzen, gotischen Türmen überragt. Sie sind nicht zu zählen, schmal oder breit und von der Zink-Spitze der Kathedrale beherrscht. Überall läuten die Glocken am schönen Morgen und ihre metallene Stimme klingt bis zu mir herüber, ihr Gesang aus Erz, den mir der Windhauch zuträgt, bald stärker bald schwächer, je nachdem der Ton sich erhebt oder abschwillt.
Es war so wundervoll heute morgen!
Gegen elf Uhr fuhr an meinem Gartenzaun ein langer Zug von Schiffen vorüber, die den Strom ein Schlepper herauf brachte, nur wie eine Fliege groß und der fortwährend vor Anstrengung stöhnte und dicken Dampf ließ.
Dann kamen zwei englische Schooner, deren rote Wimpel in der Luft flatterten, ein stolzer brasilianischer Dreimaster, ganz weiß, wunderbar sauber und leuchtend. Ich grüßte ihn, ich weiß nicht warum, so sehr gefiel mir das Schiff.
12. Mai. – Seit einigen Tagen habe ich etwas Fieber, ich fühle mich elend oder vielmehr traurig.
Woher stammen diese wunderlichen Eindrücke, die unser Glücksgefühl oft in Entmutigung, unser Vertrauen in Angst verwandeln? Es ist, als ob die Luft, die unsichtbare Luft voller Kräfte wäre, die wir nicht kennen, die uns nur manchmal nachbarlich streifen. Ich wache heiter auf, lustig, daß ich singen möchte. Warum? Ich ergehe mich an Wassers Rand und plötzlich kehre ich nach kurzem Spaziergange bedrückt heim, als ob mich zu Haus irgend ein Unglück erwartete. Warum? War es ein kalter Lufthauch, der, als er meine Haut streifte, meine Nerven erschüttert, meine Seele beschattet hat? Ist es die Form der Wolken oder das farbige Licht des Tages, die wechselnde Beleuchtung der Dinge was meine Gedanken beeinflußte, als meine Augen es sahen? Unsere ganze Umgebung, alles was wir gedankenlos betrachten, was wir unwillkürlich streifen, alles was wir unvermutet berühren, alles was verschwommen an uns vorüberzieht, macht auf uns, unsere Sinne und durch sie auf unsere Gedanken, sogar auf unser Herz den Eindruck des Plötzlichen, Überraschenden, Unerklärlichen.
Ein tiefes Mysterium ist das Unsichtbare. Mit unseren elenden Sinnen können wir es nicht fassen, nicht mit unsern Augen, die weder das zu Kleine sehen können, noch das, was zu groß ist, nicht das, was zu nahe ist, noch das, was zu weit, weder die Bewohner der Gestirne, noch die Infusorien im Wassertropfen, nicht mit unseren Ohren, die uns betrügen, denn das Zittern der Luft übersetzen sie uns in starke Töne. Sie sind Feen, die das Wunder zustande bringen, diese Bewegung in Geräusch zu verwandeln und durch diese Metamorphose die Musik erzeugen, die das stumme Weben der Natur ertönen läßt, – nicht mit unserem Geruchsinn, der schwächer ist als der des Hundes, nicht mit unserem Geschmack, der kaum das Alter eines Weines zu bestimmen vermag.
O, wenn wir andere Organe besäßen, die für uns andere Wunder thäten, was entdeckten wir wohl alles um uns herum.
16. Mai. – Ich bin unbedingt krank. Den letzten Monat ging es mir sehr gut. Aber nun habe ich Fieber, ein wildes Fieber oder vielmehr, ich fühle mich fieberhaft entnervt, sodaß meine Seele krank ist wie mein Körper. Auf mir lastet fortwährend das Gefühl, als sei ein Unglück nahe, die Besorgnis vor drohendem Unheil oder vor dem nahen Tode, dieses Vorgefühl, das ohne Zweifel eine Krankheit ist, die wir noch nicht kennen, die in Blut und Fleisch liegt und mich befallen hat.
18. Mai. – Ich habe eben meinen Arzt zu Rate gezogen, denn ich konnte nicht mehr schlafen. Er fand meinen Puls beschleunigt, die Pupillen erweitert, die Nerven erregt, aber sonst keine besonderen Symptome. Ich soll Douchebäder nehmen und Brom.
25. Mai. – Keine Änderung ist eingetreten. Mein Zustand ist wirklich eigentümlich: wenn es Abend wird, überfällt mich eine unbegreifliche Unruhe, als ob die Nacht eine fürchterliche Gefahr für mich berge. Schnell schlinge ich mein Essen hinunter, dann versuche ich zu lesen, aber ich verstehe die Worte nicht, ich kann kaum die Buchstaben unterscheiden. Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab und eine wundersame Angst lastet auf mir, die Angst schlafen zu gehen, die Angst vor dem Bett.
Gegen zehn Uhr gehe ich in mein Schlafzimmer hinauf. Sobald ich darin bin, schließe ich zweimal herum ab und riegle zu. Ich habe Angst. Wovor? Bis jetzt fürchtete ich mich vor nichts. Ich öffne die Schränke, sehe unter mein Bett, horche, lausche; wonach? Ist das nicht seltsam, daß ein einfaches Unwohlsein, vielleicht eine Blutstockung, vielleicht die Erregung eines Nervenzentrums, etwa eine Verdauungsstörung, irgend ein kleiner Fehler in dem so unvollkommenen und zarten Gange unserer lebenden Maschine aus dem lustigsten Menschen einen traurigen machen kann, aus dem tapfersten einen Feigling? Dann lege ich mich zu Bett und warte auf den Schlaf, wie auf den Henker. Ich warte auf ihn mit Entsetzen, daß er kommt; mein Herz schlägt, meine Kniee zittern, mein ganzer Körper bebt trotz der Wärme des Bettes, bis zu dem Augenblick, wo ich plötzlich in Schlaf falle, wie einer, der sich in ein Wasserloch stürzt, um sich zu ertränken. Ich fühle den Schlaf nicht allmählich kommen wie früher. Dieser Schlaf ist niederträchtig, er versteckt sich vor mir, er lauert mir auf. Plötzlich packt er mich beim Genick, drückt mir die Augen zu, und mir vergehen die Sinne.
Ich schlafe – lange, – zwei oder drei Stunden, – dann träume ich oder vielmehr, mich überkommt das Alpdrücken. Ich fühle genau, daß ich zu Bett liege und schlafe, ich fühle es, ich weiß es und ich weiß auch, daß jemand sich mir nähert, mich ansieht, mich betastet, auf mein Bett steigt, sich auf meine Brust kniet, den Hals zwischen seine Hände nimmt und zusammenpreßt mit aller Kraft, um mich zu ersticken. Ich wehre mich, aber diese entsetzliche Unfähigkeit mich zu bewegen, lähmt mich, wie im Traum, ich möchte schreien, ich kann nicht, ich will mich bewegen, ich kann nicht, ich versuche mit fürchterlicher Anstrengung, atemlos, mich herumzudrehen, dieses Wesen, das mich erdrücken und ersticken will, von mir abzuschleudern, aber ich kann nicht.
Und plötzlich wache ich auf, ganz verstört, in Schweiß gebadet. Ich stecke ein Licht an, ich bin allein.
Nach dieser Krisis, die mich jede Nacht befällt, schlafe ich endlich ruhig bis zum Morgengrauen.
2. Juni. – Mein Zustand ist schlimmer geworden. Was habe ich nur? Brom hilft nichts, die Douchen nützen nichts. Manchmal versuche ich, um meinen doch schon so erschöpften Körper noch mehr müde zu machen, im Walde von Roumare spazieren zu gehen. Zuerst dachte ich, daß die frische, linde, wonnige Luft voll Gras- und Blätterduft mir neues Blut in die Adern gießen würde, und neue Thatkraft ins Herz. Ich ging einen langen Jagdweg hinab, wandte mich dann durch eine enge Allee nach La Bouille zwischen zwei Gruppen riesiger Bäume, die ein grünes, dichtes, fast schwarzes Laubdach zwischen dem Himmel und mir wölbten.
Plötzlich überkam mich ein Schauer, kein Kälteschauer, sondern ein seltsamer Schauer des Entsetzens.
Ich ging schneller, weil ich mich fürchtete, allein im Walde zu sein, ängstlich ohne Grund, in der tiefen Stille.
Plötzlich war es mir, als ob mir jemand folgte, als ob jemand hinter mir herginge, ganz nahe, ganz nahe und mich beinahe berührte.
Ich drehte mich schnell um. Ich war allein. Hinter mir sah ich nur die gerade und breite Allee, öde, hoch, grausig leer, und vor mir dehnte sie sich ebenso aus, so weit das Auge reicht, furchtbar.
Ich schloß die Augen. Warum? Und ich drehte mich schnell auf dem Absatz herum wie ein Kreisel. Ich wäre beinahe gefallen, ich schlug die Augen auf, die Bäume tanzten vor mir, die Erde schwankte, ich mußte mich setzen. Und da, da wußte ich nicht mehr, von wo ich eigentlich gekommen sei, wunderliche Idee, wunderliche, wunderliche Idee, ich hatte keine Ahnung mehr. Ich ging nach rechts und kam wieder in den Weg, der mich mitten in den Forst geführt.
3. Juni. – Die Nacht war fürchterlich. Ich werde ein paar Wochen verreisen; eine kleine Reise wird mich ohne Zweifel wieder herstellen.
2. Juli. – Ich bin zurückgekehrt, bin geheilt. Übrigens habe ich eine wunderhübsche Reise gehabt: ich habe mir den Mont Saint-Michel, den ich noch nicht kannte, angesehen.
Welcher Anblick, wenn man, wie ich, von Avranches kommt gegen Sonnenuntergang! Die Stadt liegt auf einem Hügel und man wies mich in den öffentlichen Park am Ende des Ortes. Unwillkürlich entfuhr mir ein Ruf des Entzückens. Eine unendliche Bai dehnte sich vor mir aus, soweit das Auge reichte, zwischen den Küsten, die sich in der Ferne im Nebel verlieren; und mitten in dieser großen, gelben Bai unter einem gold- und lichtstrahlenden Himmel erhob sich düster und jäh ein seltsamer Berg mitten in den Dünen. Die Sonne war eben niedergetaucht und auf dem noch glühenden Himmel zeichnete sich das Bild dieses phantastischen Felsens ab, der auf seinem Gipfel die phantastische Burg trägt.
Sobald es Tag geworden war, ging ich hin. Es war Ebbe, wie den Abend vorher. Und ich sah die wunderbare Abtei, je näher ich kam, desto größer vor mir emporwachsen. Nachdem ich ein paar Stunden gegangen war, erreichte ich den gewaltigen Felsen, der die kleine Stadt oben trägt, über welche die große Kirche noch hinausragt. Nachdem ich die schmale, steile Straße hinauf geeilt, trat ich in das wundersamste gotische Gotteshaus, das je auf dieser Erde errichtet worden, groß wie eine Stadt, voll niedriger Säle, die erdrückt schienen trotz der Wölbungen und der hohen von schlanken Säulen getragenen Galerien. Ich trat in dieses gigantische Schmuckstück aus Granit, das so duftig dasteht wie Spitzengewebe mit Zinnen und schlanken Türmen, in denen Wendeltreppen hinaufsteigen und die in das himmlische Blau der Tage und das Dunkel der Nächte hinaus wundersam verzerrten Fratze von Ungeheuern, Teufelsköpfe, phantastische Tiere, Riesenblumen, die durch feine, durchbrochene Bogen verbunden sind, strecken.
Als wir ganz oben standen, sagte ich zu dem Mönch, der mich begleitete:
»Ehrwürdiger Vater, hier läßt sich's schon leben!«
Er antwortete:
»Ach es ist sehr windig bei uns!«
Und wir fingen an zu sprechen, während wir die Flut nahen sahen, die über den Sand lief und ihn wie mit einem Stahlpanzer umgürtete.
Und der Mönch erzählte mir Geschichten, alle alten Geschichten der Gegend, Legenden, immer Legenden.
Eine von ihnen machte mir Eindruck. Die Eingeborenen, die Bewohner des Berges behaupten, daß man nachts in den Dünen sprechen und dann zwei Ziegen meckern hört, die eine mit lauter die andere mit leiser Stimme. Ungläubige behaupten, es sei nichts als der Schrei der Möven der bald wie ein Meckern, bald wie eine menschliche Stimme klingt. Aber Fischer, die spät heimkehren, schwören in den Dünen, die um die kleine, dort in das Meer hinaus gebaute Stadt liegen, einem alten Hirten begegnet zu sein, dessen Kopf man nie sieht, da er den Mantel darüber gezogen hat und der hinter sich einen Bock herzieht mit einem Mannesgesicht und eine Ziege mit einem Frauenantlitz, beide mit langen, weißen Haaren. Sie schwatzen fortwährend und streiten sich in einer unbekannten Sprache, hören dann plötzlich auf zu sprechen, um laut zu meckern.
Ich sagte zum Mönch:
»Glauben Sie daran?«
Er murmelte:
»Ich weiß nicht.«
Ich fuhr fort:
»Wenn es auf der Erde andere Wesen gäbe als uns wie käme es dann wohl, daß wir sie nicht längst kennten? Warum würden Sie sie denn nicht schon gesehen haben? Warum nicht ich?«
Er antwortete:
»Gewahren wir denn wirklich den hundertsten Teil von all dem, was es giebt? Sehen Sie, der Wind, die größte Naturkraft, die Menschen umwirft, Häuser vom Boden fegt, Bäume entwurzelt, das Meer in Wasserbergen aufwühlt, Klippen und Felsen zermalmt und die mächtigsten Schiffe in die Brandung hinaus wirft, der Wind, der tötet, pfeift, stöhnt, brüllt – haben Sie den schon gesehen und können Sie ihn sehen? Und trotzdem ist er doch da.«
Ich schwieg vor dieser einfachen Begründung. Der Mann war ein Weiser oder vielleicht ein Thor. Ich wußte es nicht zu sagen und schwieg. Aber was er da gesagt, hatte ich selbst oft gedacht.
3. Juli. – Ich habe schlecht geschlafen. Es muß wohl irgend eine Ursache für das Fieber da sein, denn auch mein Kutscher leidet an den gleichen Erscheinungen wie ich. Als ich gestern nach Haus kam, fiel mir auf, wie bleich er war und ich fragte ihn:
»Was fehlt Ihnen denn, Johann?«
»Ja, gnädiger Herr, ich kann mich nämlich nicht mehr ausruhen. Die Nächte fressen die Tage auf! Seitdem der gnädige Herr fort waren, hat's mich ganz wunderlich gepackt. Aber den übrigen Dienstboten geht es gut. Ich habe nur große Angst, daß es wieder kommt!«
4. Juli. – Ich bin wirklich von neuem krank, das alte Alpdrücken kehrt wieder. Diese Nacht habe ich gefühlt, wie jemand auf mir saß, seinen Mund an den meinen gepreßt hatte und mir zwischen den Lippen heraus das Leben sog. Ja, er sog es mir aus der Brust wie ein Blutegel. Dann stand er auf gesättigt. Ich bin aufgewacht, so kaput, zerbrochen, zergeschlagen, daß ich mich nicht mehr bewegen konnte. Wenn es so noch ein Paar Tage fortgeht reise ich bestimmt wieder ab.
5. Juli. – Habe ich denn den Verstand verloren? Was ist nur geschehen? Ich habe die letzte Nacht etwas so Seltsames entdeckt, daß mir ganz schwindlig wird, wenn ich nur daran denke.
Wie jetzt jeden Abend schloß ich die Thür zu, dann trank ich, da ich Durst hatte, ein halbes Glas Wasser und bemerkte dabei zufällig, daß meine Wasserflasche voll war bis oben zum Stöpsel hinauf.
Da legte ich mich zu Bett und fiel in meinen fürchterlichen Schlaf, aus dem ich nach etwa zwei Stunden durch einen noch furchtbareren Schreck in die Höhe gejagt ward. Denkt euch, daß jemand im Schlaf überfallen wird, der dann aufwacht mit dem Messer in der Brust, der, Blut bedeckt, röchelt, nicht mehr atmen kann und stirbt ohne zu wissen was geschehen – so habt ihr meinen Zustand.
Als ich endlich die Besinnung zurück gewonnen hatte, war ich wieder durstig. Ich steckte ein Licht an und ging zum Tisch, wo die Wasserflasche stand. Ich hob sie, neigte sie zum Glase, es floß kein Tropfen heraus, – sie war leer, sie war völlig leer. Zuerst verstand ich das nicht, dann plötzlich überfiel mich eine so wahnsinnige Angst, daß ich mich setzen mußte oder vielmehr, ich fiel in einen Stuhl, dann sprang ich mit einem Satze wieder auf, um mich umzublicken und setzte mich wieder, ergriffen von Staunen und Angst, vor die leere Flasche. Mit starren Augen blickte ich sie an, um zu erraten, was da geschehen. Meine Hände zitterten. Jemand hatte also das Wasser getrunken. Wer? Ich? Wahrscheinlich ich, es konnte niemand anders sein wie ich.
Ich war also ein Nachtwandler? Ich lebte, ohne es zu wissen, dieses geheimnisvolle Doppelleben, das uns Zweifel erwecken muß, ob es nicht in uns zwei Wesen giebt oder ob nicht zeitweise ein anderes, fremdes unbekanntes und unsichtbares Wesen in uns lebt, in Augenblicken, wo unsere Seele schlummert, unser Leib in Banden liegt, der diesem anderen Wesen gehorcht wie uns selbst, ja mehr als uns selbst.
O, wer kann meine furchtbare Angst fassen, wer kann die Erregung eines Menschen fassen, der bei gesunden Sinnen, vollkommen wach und bei klarer Vernunft mit Entsetzen sieht, wie aus einer geschlossenen Flasche, zu der niemand kann, etwas Wasser verschwunden ist, während er geschlafen hat! Bis zu Tagesanbruch blieb ich so und wagte nicht wieder zu Bett zu gehen.
6. Juli. – Ich werde verrückt. Diese Nacht hat wieder jemand meine ganze Wasserflasche ausgetrunken oder vielmehr ich habe sie ausgetrunken! Aber bin ich's? War ich's? Wer sonst? Wer? O mein Gott! Ich bin wahnsinnig! Wer wird mich retten!
10. Juli. – Ich habe wundersame Entdeckungen gemacht.
Ja, ich muß verrückt sein! . . . Und dennoch . . .
Ich habe am 6. Juli, ehe ich zu Bett gegangen bin, auf meinen Tisch Wein, Milch, Wasser, Brot und Erdbeeren gestellt.
Jemand hat – ich habe – alles Wasser getrunken und ein bißchen Milch; der Wein war unberührt, ebenso das Brot und die Erdbeeren.
Am 7. Juli habe ich denselben Versuch wiederholt mit dem gleichen Ergebnis.
Am 8. Juli habe ich Wasser und Milch fortgelassen, es war nichts berührt.
Endlich habe ich am 9. Juli auf meinen Tisch wieder nur Wasser und Milch gestellt, habe sorgfältig die Flaschen in weißen Mousselin eingewickelt und die Stöpsel zugebunden. Dann habe ich mir Lippen, Bart, Hände, mit Graphit vom Bleistift eingerieben und mich zu Bett gelegt.
Der bleierne Schlaf hat mich überfallen und bald kam das fürchterliche Erwachen. Ich hatte mich nicht bewegt, sogar meine Bettücher zeigten keine Spuren, daß der Graphit abgefärbt. Ich stürzte auf den Tisch zu, der Mousselin, in den ich die Flaschen gewickelt, war unverletzt. Ich knüpfte den Bindfaden auf, zitternd vor Angst. Das ganze Wasser war ausgetrunken und die ganze Milch. O, mein Gott!
Ich werde sofort nach Paris reisen.
12. Juli. – Paris. – Ich hatte also diese letzten Tage völlig den Kopf verloren. Ich muß der Spielball meiner nervös überreizten Einbildungskraft gewesen sein, oder ich müßte wirklich Nachtwandler sein oder einer jener, übrigens wissenschaftlich durchaus festgestellten, Einwirkungen unterlegen sein, die man bisher nicht hat erklären können und die man Suggestion nennt. Jedenfalls näherte sich meine verrückte Stimmung dem Wahnsinn und vierundzwanzig Stunden in Paris haben mich wieder zur Vernunft gebracht.
Gestern habe ich, nachdem ich nachmittags Besuche und Besorgungen gemacht, die mir frische, belebende Luft in die Seele trugen, den Tag im Theater Français beschlossen. Man spielte ein Stück von Alexander Dumas dem jüngeren, und der muntere, lebenskräftige Geist der daraus wehte hat mich vollkommen wieder geheilt. Die Einsamkeit ist eben gefährlich für einen Grübler! Wir brauchen Menschen um uns, die denken und sprechen. Wenn wir lange allein sind, bevölkern wir die Einsamkeit mit Spukgestalten.
Ich bin sehr fröhlicher Laune über die Boulevards ins Hotel zurückgekehrt. Im Menschen-Gewühl dachte ich mit einiger Ironie an meine Schrecknisse zurück, an die Gedanken, denen ich vorige Woche nachgehangen. Denn ich dachte wirklich, jawohl, ich habe es gedacht, daß ein unsichtbarer Geist neben mir unter meinem Dach lebte. Wie schwach ist unser Verstand! Wie schnell verliert er sich, sobald uns irgend ein kleines, nicht gleich faßbares Ereignis begegnet!
Statt den Schluß zu ziehen, ich verstehe nicht, weil ich die Ursache nicht kenne, denken wir sofort an gräßliche Wunder und übernatürliche Mächte.
14. Juli. – Fest der Republik. – Ich bin auf den Straßen spazieren gegangen. Die Kanonenschläge und Fahnen machten mir Spaß, wie einem Kinde. Es ist doch eigentlich zu thöricht, zu einem bestimmten Termin auf Befehl der Regierung lustig zu sein. Das Volk ist eine Herde von Dummköpfen, manchmal unglaublich geduldig und manchmal empört wie wilde Tiere. Man spricht zu ihm: Lache! und es lacht; man sagt zu ihm: schlage dich mit deinem Nachbar – es zieht in den Kampf. Man sagt: Wähle den Kaiser – es wählt den Kaiser, und dann sagt man ihm wieder: gieb für die Republik deine Stimme ab, – und es stimmt für die Republik.
Die Menschen, die das Volk leiten, sind ebenso dumm, nur daß sie statt Menschen zu gehorchen, Grundsätzen folgen, die doch nicht anders als thöricht und falsch sein können, gerade, weil sie eben Grundsätze sind, das heißt, versteinerte, fest stehende Gedanken, die allgemein anerkannt sind in dieser Welt, wo man nichts sicher weiß, wie Licht und Schall nur Vorstellungen von uns sind.
16. Juli. – Ich habe gestern Dinge erlebt, die mich tief ergriffen haben.
Ich aß bei meiner Cousine, Frau Sablé, deren Mann Kommandeur der sechsundsiebzigsten Jäger in Limoges ist. Ich traf bei ihr mit zwei jungen Frauen zusammen, deren eine einen Arzt geheiratet hat, Dr. Parent, der sich vielfach mit Störungen des Nervensystems und jenen außergewöhnlichen Manifestationen der Nerven beschäftigt, zu denen augenblicklich die Erfahrungen auf dem Gebiete des Hypnotismus und der Suggestion Veranlassung geben.
Er erzählte uns ausführlich ganz wundersame Ergebnisse, die englische Gelehrte und Ärzte in Nancy erzielt.
Die Thatsachen, die er mitteilte, erschienen mir so seltsam, daß ich meiner Ungläubigkeit Ausdruck gab.
»Wir sind eben dabei«, sagte er, »eines der wichtigsten Geheimnisse der Natur zu ergründen, ich meine eins ihrer wichtigsten Geheimnisse auf unserer Erde, denn in der Sternenwelt da oben giebt es sicher noch viel wichtigere. Seitdem der Mensch denkt, seitdem er seine Gedanken ausdrücken und niederschreiben kann, fühlt er ein Geheimnis um sich, das er mit seinen unvollkommenen und viel zu grob empfindenden Sinnen nicht zu durchdringen vermag. Mit Anspannung aller Verstandeskräfte sucht er dem Unvermögen seiner Organe zu Hilfe zu kommen. Als dieser Verstand noch im rudimentären Zustand war, nahmen diese unsichtbaren Erscheinungen lächerliche schreckliche Formen an. Damals entstanden der Volksglaube an das Übernatürliche, Märchen von umherspukenden Geistern, von Feen, Gnomen Gespenstern, ich meine sogar das Märchen von Gott, denn unsere Vorstellung vom Schöpfer der Welt, sei es nun in dieser oder jener Religion, ist eigentlich nichts weiter, als eine recht mittelmäßige Erfindung und der thörichtste unannehmbarste Ausfluß des geängstigten Hirnes der Kreatur. Es giebt kein wahreres Wort, als was Voltaire einmal gesagt hat: Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, doch der Mensch hat's ihm wohl vergolten.
Aber seit länger als einem Jahrhundert meint man etwas ganz Neuem auf der Spur zu sein. Mesmer und einige andere haben uns einen ganz unerwarteten Weg gewiesen und wir sind wirklich, besonders seit vier oder fünf Jahren, zu ganz erstaunlichen Ergebnissen gelangt.«
Meine Cousine lächelte auch sehr ungläubig, Dr. Parent sprach zu ihr:
»Gnädige Frau, soll ich einmal versuchen, Sie einzuschläfern?«
»Meinetwegen.«
Sie setzte sich in einen Lehnstuhl und er begann sie starr anzublicken. Ich fühlte mich plötzlich erregt, das Herz schlug mir, die Kehle war mir wie zugeschnürt, ich sah, wie Frau Sablés Augenlieder schwer wurden, wie ihr Mund sich verzog, ihre Brust sich hob und senkte.
Nach zehn Minuten schlief sie.
»Stellen Sie sich hinter sie«, befahl der Arzt.
Und ich blieb hinter ihr. Nun gab er ihr eine Visitenkarte in die Hand und sagte:
»Dies ist ein Spiegel. Was sehen Sie darin?«
Sie antwortete:
»Ich sehe meinen Vetter.«
»Was thut er?«
»Er dreht sich den Schnurrbart.«
»Und jetzt?«
»Jetzt zieht er eine Photographie aus der Tasche.«
»Was ist das für eine Photographie?«
»Seine eigene!«
Es war in der That so und diese Photographie war mir eben erst in's Hotel abgeliefert worden.
»Welche Stellung hat er auf dem Bilde?«
»Er steht aufrecht und hat den Hut in der Hand.«
Sie sah also in dieser Visitenkarte, in diesem weißen Cartonblättchen wie in einem Spiegel.
Die jungen Frauen waren entsetzt und riefen:
»Genug! Genug!«
Aber der Arzt befahl:
»Sie werden morgen früh um acht Uhr aufstehen, dann werden Sie Ihren Vetter im Hotel aufsuchen und ihn anflehen, Ihnen fünftausend Franken zu borgen, um die Sie Ihr Mann bittet und die er von Ihnen zu seiner nächsten Reise verlangen wird.«
Dann weckte er sie auf.
Als ich ins Hotel zurückkehrte, dachte ich über diese wunderliche Sitzung nach und mich überkamen Zweifel, nicht an der absoluten, über allen Argwohn erhabenen Ehrlichkeit meiner Cousine, die ich wie eine Schwester von Kindheit an kannte, aber ich glaubte an einen möglichen Betrug des Arztes. Versteckte er nicht vielleicht in seiner Hand einen Spiegel, den er der eingeschläferten Frau gleichzeitig mit seiner Visitenkarte zeigte? Die Taschenspieler machen noch ganz andere Sachen.
Ich kehrte also heim und ging zu Bett. Da wurde ich am nächsten Morgen gegen ein halb neun Uhr von meinem Diener geweckt, der mir sagte:
»Frau Sablé möchte den gnädigen Herrn sofort sprechen.«
Ich kleidete mich eilig an und empfing sie.
Sie setzte sich in großer Verlegenheit, mit niedergeschlagenen Augen und sagte, ohne ihren Schleier abzulegen:
»Lieber Vetter, Du mußt mir einen großen Dienst leisten.«
»O, bitte, was denn?«
»Es ist mir sehr unangenehm, Dir das zu sagen, aber ich muß Dirs sagen: ich muß durchaus fünftausend Franken haben.«
»Was, Du?«
»Jawohl, ich, oder vielmehr mein Mann, der mich beauftragt hat, sie aufzutreiben.«
Ich war so erstaunt, daß ich nur irgend etwas stammelte. Ich fragte mich, ob sie sich nicht mit Dr. Parent über mich lustig mache, ob das nicht ein Scherz sei, den sie zusammen vorbereitet und den sie jetzt gut spielte.
Aber wie ich sie aufmerksam anblickte, verschwanden alle meine Zweifel, sie zitterte vor Angst, so schmerzlich war ihr der Schritt und ich merkte, daß sie den Thränen nahe war.
Ich wußte, daß sie sehr reich war und sagte:
»Was, Dein Mann hat nicht einmal fünftausend Franken zur Verfügung? Denk doch einmal nach, weißt Du denn ganz bestimmt, daß er Dir das aufgetragen hat?«
Sie zögerte ein paar Sekunden, als koste es sie große Anstrengungen in ihrem Gedächtnis zu suchen und antwortete dann:
»Ja, das weiß ich ganz bestimmt.«
»Hat er Dirs geschrieben?«
Sie zögerte wieder und dachte nach. Ich merkte, welche Qual es ihrem Gehirn verursachte, sie wußte es nicht, sie wußte nur, daß sie fünftausend Franken für ihren Mann von mir borgen sollte. Sie wagte es also, zu lügen:
»Ja, er hat mirs geschrieben.«
»Wann denn? Du hast mir doch gestern nichts davon gesagt.«
»Ich habe seinen Brief erst heute früh bekommen.«
»Kannst Du ihn mir nicht zeigen?«
»Nein, nein, er enthielt intime Dinge, ganz persönliche Dinge, ich habe – ich habe ihn verbrannt.«
»Da macht Dein Mann also Schulden?«
Sie zögerte wieder und sagte darauf:
»Ich weiß nicht.«
Ich erklärte energisch:
»Es thut mir sehr leid, liebe Cousine, aber in diesem Augenblick stehen mir fünftausend Franken nicht zur Verfügung.«
Sie stieß einen schmerzlichen Schrei aus:
»Ach, ach ich bitte Dich, ich bitte Dich, treibe sie auf!«
Sie wurde ganz erregt, rang die Hände, als wollte sie mich bitten und ich hörte, wie ihre Stimme den Ton wechselte. Sie fing an zu weinen und stammelte, gequält und beherrscht von dem unerbittlichen Befehle, den sie bekommen:
»Ach, ich bitte Dich, ich bitte Dich, wenn Du wüßtest, wie schlimm das für mich ist! Ich muß sie heute haben.«
Ich hatte Mitleid mit ihr:
»Du wirst sie nachher bekommen, ich verspreche es Dir.«
Sie rief:
»O, ich danke Dir, Du bist gut!«
Ich begann wieder:
»Weißt Du noch, was gestern abend bei Dir geschehen ist?«
»Ja.«
»Weißt Du noch, daß Dr. Parent Dich eingeschläfert hat?«
»Jawohl.«
»Nun, er hat Dir befohlen, heute früh von mir fünftausend Franken zu borgen und in diesem Augenblick gehorchst Du seiner Suggestion.«
Sie dachte ein paar Sekunden nach und sagte dann:
»Aber mein Mann schickt mich doch.«
Eine Stunde lang versuchte ich sie zu überzeugen, aber es gelang mir nicht.
Als sie fort war, lief ich zum Doktor. Er wollte eben ausgehen. Er hörte mich lächelnd an und sagte:
»Glauben Sie mir nun?«
»Ja, ich muß schon.«
»Kommen Sie, wir wollen zu Ihrer Cousine gehen.«
Sie ruhte auf einer Chaiselongue, ganz erschöpft und abgespannt. Der Arzt fühlte ihr den Puls, sah sie einige Zeit an, streckte eine Hand gegen ihre Augen aus, die sie allmählich unter dem zwingenden Einfluß seiner magnetischen Kraft schloß.
Als sie eingeschläfert war, sagte er:
»Ihr Mann braucht die fünftausend Franken nicht mehr. Sie werden also vergessen, daß Sie Ihren Vetter gebeten haben, sie Ihnen zu borgen, und wenn er mit Ihnen darüber spricht, werden Sie ihn nicht verstehen.«
Dann weckte er sie auf. Ich zog meine Brieftasche hervor und sprach:
»Hier, liebe Cousine, ist, um was Du mich heute früh gebeten hast.«
Sie war so erstaunt, daß ich es nicht noch einmal zu sagen wagte. Da versuchte ich ihr Gedächtnis aufzufrischen, sie jedoch leugnete standhaft, meinte, ich wollte mich über sie lustig machen und war endlich nahe daran, böse zu werden.
Das ist es. Ich bin eben nach Hause gekommen. Ich konnte nicht frühstücken, so hat mich die Sache erschüttert.
19. Juli. – Ich habe die Geschichte ein paar Leuten erzählt und sie haben mich alle ausgelacht. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Der Weise sagt: Kann es wohl möglich sein?
21. Juli. – Ich habe in Bougival zu Mittag gessen und den Abend auf dem Ball der Ruderer verlebt. Entschieden, es hängt Alles von Ort und Stunde ab. Auf der Insel der Grenouillière an Übernatürliches zu denken, wäre der Gipfel der Narrheit, aber oben auf dem Mont-Saint-Michel? Oder in Indien? Wir sind fürchterlich abhängig von unserer Umgebung. Nächste Woche kehre ich nach Hause zurück.
30. Juli. – Seit gestern bin ich wieder daheim. Alles geht gut.
2. August. – Nichts Neues. Das Wetter ist prachtvoll, ich sitze den ganzen Tag am Fluß und sehe die Wasser der Seine fließen.
4. August. – Zwischen meinen Dienstboten hat es Streit gegeben. Sie behaupten, daß jemand nachts in den Schränken die Gläser zerbricht. Der Diener schiebt es auf die Köchin, die Köchin auf das Mädchen und die wieder auf die anderen. Wer ist der Schuldige? Wer 's sagt müßte schlau sein!
6. August. – Jetzt bin ich aber nicht verrückt. Ich habe gesehen, ich habe gesehen – ich habe gesehen! Ich kann nicht mehr zweifeln, ich habe es gesehen. Ich zittere noch bis zu den Fußspitzen, mir läuft es noch über den Rücken, daß mir das Mark in den Knochen erstarrt. Ich habe es gesehen.
Um zwei Uhr ging ich in hellem Sonnenschein zwischen meinen Rosenbeeten spazieren, zwischen den Herbstrosen, die eben anfangen, zu blühen.
Als ich stehen blieb und eine Géanit des batailles betrachtete, die drei wundervolle Knospen trug, sah ich ganz deutlich, ganz nahe neben mir, einen der Stiele sich herumlegen, als ob eine unsichtbare Hand ihn gefaßt hätte, sah ihn abbrechen, wie wenn diese Hand ihn gepflückt. Dann hob sich die Blume und beschrieb einen Bogen, wie etwa ein Arm ihn beschrieben hätte, der sie zum Riechen an die Nase geführt. Dann blieb die Blume in der durchsichtigen Luft hängen, ganz allein, unbeweglich, ein fürchterlicher roter Fleck, drei Schritte von mir entfernt.
Ich stürzte mich ganz erschrocken auf die Rose, um sie zu packen. Ich fand nichts, sie war verschwunden. Da überkam mich eine fürchterliche Wut gegen mich selbst, denn ein vernünftiger, ernster Mann darf doch nicht solchen Einbildungen unterliegen.
Aber war es auch wirklich eine Einbildung? Ich drehte mich wieder um, um den Stiel zu suchen und fand ihn an dem Rosenstrauch mit einer frischen Bruchstelle zwischen zwei anderen Rosen, die am Zweige geblieben waren.
Da ging ich ganz außer mir nach Hause, denn nun weiß ich bestimmt, so bestimmt, wie Tag und Nacht einander abwechseln, daß in meiner Nähe ein Wesen existiert, das Milch und Wasser trinkt, das Dinge berühren, sie in die Hand nehmen, sie hier und dorthin thun kann, das demnach eine Art materieller Natur besitzen muß, obgleich unsere Sinne es nicht wahrnehmen können, ein Wesen, das wohnt wie ich, – unter meinem Dache.
7. August. – Ich habe ruhig geschlafen. Er hat das Wasser aus meiner Flasche getrunken, aber meinen Schlaf nicht gestört.
Jetzt frage ich mich: bin ich verrückt? Als ich vorhin im hellen Sonnenschein spazieren ging am Flusse, kamen mir Zweifel an meiner eigenen Zurechnungsfähigkeit, nicht allgemeine Zweifel wie bisher, sondern ganz bestimmte. Ich habe Wahnsinnige gesehen, ich habe welche gesehen, die sonst ganz klar und vernünftig waren und alle Dinge dieses Lebens scharf erfaßten bis auf einen Punkt. Sie konnten ganz klar, sogar sehr gewandt, über etwas sprechen, und dann plötzlich, wenn ihre Gedanken die Schwelle des Wahnsinns überschritten hatten, zerriß die Gedankenkette und sie tauchten unter in den fürchterlichen Ozean, wo Wellen steigen und fallen, Nebel brauen, Stürme tosen, den Ozean den man nennt: »Wahnsinn!«
Wenn ich nicht über mich selbst im reinen wäre, wenn ich nicht meinen eigenen Zustand kennte, wenn ich mich nicht selbst ganz klar und ruhig beobachten könnte, würde ich meinen, ich sei verrückt, vollkommen verrückt. Ich kann also nur ein Vernünftiger sein, der unter Wahngebilden leidet. In meinem Gehirn muß sich irgend eine Störung befinden, eine jener Störungen, denen heute die Physiologen auf den Grund zu kommen suchen und diese Störung müßte in meinem Geiste, in der Logik und Ordnung meiner Gedanken eine tiefe Kluft gerissen haben. Ähnliche Erscheinungen findet man im Traume, wenn wir die wundersamsten Wahngebilde vor uns sehen, ohne daß uns das weiter wundert, weil der Wahrheitssinn, die Möglichkeit uns zu kontrollieren, eingeschläfert ist, während die Einbildungskraft wach bleibt und arbeitet. Könnte nicht irgend eine jener Nerventasten des Gehirnes bei mir gelähmt sein? Es kommt vor, daß Menschen nach irgend einem Unglücksfall das Gedächtnis für Eigenennamen, bestimmte Worte und Ziffern oder auch nur für Jahreszahlen verlieren. Es ist heute vollkommen bewiesen, daß alle Momente des menschlichen Denkens an bestimmten Stellen unseres Gehirns lokalisiert sind. Es wäre also weiter nicht erstaunlich, wenn die Fähigkeit, etwa die Unwirklichkeit einzelner Erscheinungen festzustellen, gerade jetzt bei mir eingeschlafen wäre.
An all das dachte ich, als ich am Wasser entlang ging. Die Sonne schien hell auf den Strom. Die Natur war köstlich und ihr Anblick erfüllte mich mit Lebensfreude, ich sah vergnügt den Schwalben zu, deren schneller Flug mich immer entzückt, betrachtete die Gräser am Ufer, deren Rauschen mir wohlthut.
Und trotzdem überschlich mich allmählich ein unerklärliches Gefühl des Unbehagens, eine Gewalt überfiel mich, scheinbar eine geheime Kraft lähmte mich, daß ich nicht weiter gehen konnte, und zwang mich umzukehren. Ich empfand jenes schmerzliche Bedürfnis, nach Hause zu gehen, das einen manchmal überkommt, wenn man in der Wohnung einen geliebten Kranken zurückgelassen hat und man nun plötzlich ein Vorgefühl hat, als könnte er kränker werden.
Ich kehrte also gegen meinen Willen um, in der bestimmten Überzeugung, daß ich zu Hause irgend eine böse Nachricht vorfinden würde, einen Brief, oder ein Telegramm. Aber es war nichts da. Und ich war fast noch erstaunter und noch mehr beunruhigt, als ob ich irgend welche phantastische Visionen gehabt.
8. August. – Das war ein füchterlicher Abend gestern! Er zeigt nicht mehr seine Gegenwart an, aber ich fühle, daß er bei mir ist, mich belauert, mich betrachtet, mich durchdringt, mich beherrscht und noch fürchterlicher dadurch wird, daß er sich versteckt, fürchterlicher, als wenn er durch übernatürliche Erscheinungen seine unsichtbare Gegenwart anzeigte.
Und doch habe ich geschlafen.
9. August. – Nichts. Aber ich habe Angst.
10. August. – Nichts. Was wird morgen geschehen?
11. August. – Immer noch nichts, aber ich kann mit dieser Furcht unausgesetzt und diesem Gedanken in der Seele nicht mehr zu Hause bleiben; ich werde ausgehen.
12. August zehn Uhr abends. – Ich wollte den ganzen Tag fortgehen, ich konnte nicht, ich wollte diese einfache That der Befreiung, nämlich auszugehen, in den Wagen zu steigen und nach Rouen zu fahren, ausführen, aber ich konnte nicht. Warum?
13. August. – Wenn man von gewissen Krankheiten befallen wird, so ist es, als ob der ganze Körper zerbrochen wäre, als ob man keine Thatkraft mehr besäße, als ob alle Muskeln schlaff würden, die Knochen weich wie Fleisch und das Fleisch flüssig wie Wasser. Diesen selben Zustand fühle ich im Geiste auf seltsam-traurige Art. Ich habe keine Kraft mehr, keinen Mut, keine Selbstbeherrschung, keine Möglichkeit, meinen Willen auf irgend etwas zu konzentrieren, ich kann nicht mehr wollen, aber ein anderer will für mich und ich gehorche.
14. August. – Ich bin verloren. Jemand hat von meiner Seele Besitz ergriffen und beherrscht sie, jemand befiehlt alles, was ich thue, alle meine Bewegungen, alle meine Gedanken, ich bin nichts als »Ich«, ich bin nur ein gefesselter Zuschauer und sehe alles entsetzt mit an, was ich thue. Ich möchte ausgehen, ich kann nicht, er will es nicht, und ich bleibe zitternd in dem Stuhl sitzen in dem er befiehlt, daß ich sitzen soll. Ich möchte mich nur aufrichten, mich erheben, um mir selbst zu beweisen, daß ich noch Herr meiner selbst bin, ich kann nicht, ich bin an meinen Sitz genagelt und mein Sitz wieder klebt am Boden, daß keine Kraft der Erde uns aufheben könnte.
Dann plötzlich – plötzlich muß ich, muß ich in den Garten hinunter gehen, Erdbeeren pflücken und sie essen, und ich gehe, ich pflücke Erdbeeren und ich esse sie. O, mein Gott! Mein Gott! Mein Gott! Giebt es einen Gott? Wenn es einen giebt: Gott so erlöse mich! Rette mich! Habe Erbarmen mit mir und Mitleid! Rette mich! Nein, diese Leiden, diese Qualen, welch Entsetzen!
15. August. – So muß meine arme Cousine beherrscht gewesen sein, als sie zu mir kam, um die fünftausend Franken zu borgen. Ein anderer Wille war in sie hineingeschlüpft, dem sie gehorchen mußte, eine andere Seele, eine Seele wie eine überwuchernde Schmarotzerpflanze. Geht denn die Welt unter?
Aber wer beherrscht mich? Wer ist dieses unsichtbare Wesen, dieses Wesen, das ich nicht kenne, dieser Landstreicher aus übernatürlichem Stamm? Es giebt also Geister? Wie kommt es denn, daß sie sich seit Anbeginn der Welt noch nicht auf so klare Art gezeigt haben, wie sie mir erscheinen? Ich habe niemals etwas Ähnliches gelesen wie das, was bei mir vorgeht. O, wenn ich mein Haus verlassen könnte, wenn ich fortgehen könnte, fliehen und nie wiederkommen? Dann wäre ich gerettet. Aber ich kann nicht.
16. August. – Heute gelang es mir, zwei Stunden lang hinauszukommen, wie ein Gefangener, der zufällig die Thür seiner Zelle offen findet. Ich fühlte plötzlich, daß ich frei war, und er nicht da. Da habe ich Befehl gegeben, schnell anzuspannen und bin nach Rouen gefahren. O, welche Wonne, jemandem der wirklich gehorcht, befehlen zu können: »Fahren Sie nach Rouen!«
Vor der Bibliothek habe ich halten lassen und gebeten, man möchte mir die große Abhandlung des Dr. Hermann Herestauß über die unbekannten Bewohner der Welt im Altertum und in der Gegenwart geben.
Als ich dann wieder in meinen Wagen stieg, wollte ich sagen: zum Bahnhof. Und trotzdem habe ich geschrieen, nicht gesprochen, sondern geschrieen mit so lauter Stimme, daß die Vorübergehenden sich umdrehten: nach Hause! und dann bin ich zitternd vor Aufregung in die Kissen meines Wagens gesunken. Er hatte mich wieder gefunden und mich von neuem gepackt.
17. August. – O, diese Nacht! Welche Nacht! Und doch ist es mir, als müßte ich mich freuen. Bis ein Uhr morgens habe ich gelesen. Hermann Herestauß, Doktor der Philosophie und Theogonie, hat die Geschichte und Manifestationen aller unsichtbaren Wesen, die den Menschen umschweben oder von denen er träumt, beschrieben. Er beschreibt ihren Ursprung, ihr Gebiet, ihre Macht, aber keiner von ihnen ähnelt dem, der mich quält. Es ist, als ob der Mensch, seitdem er denkt, ein neues Wesen geahnt und gefürchtet hat, das stärker ist als er selbst, das Wesen, das sein Nachfolger auf der Erde wird und das er, da er es nahe fühlt und die Natur dieses Herrn nicht durchschauen kann, erschaffen hat in seinem Schrecken; das ganze Zaubervolk der unsichtbaren Geister, leere Schemen, Ausgeburten einer geängstigten Phantasie.
Als ich nun bis gegen ein Uhr morgens gelesen hatte, setzte ich mich an's offene Fenster, um meine Stirn und meine Gedanken zu erquicken, im lauen Hauch der Nacht.
Es war schön, es war mild! Ach wie hätte ich früher solch eine Nacht genossen!
Kein Mond am Himmel. Die Sterne flimmerten am dunklen Himmel. Wer bewohnt diese Welten? Welche Gestalten? Welche Wesen, welche Tiere, welche Pflanzen gedeihen dort? Wissen diejenigen, die dort in fernen Welten denken, mehr als wir? Was können diese Wesen mehr? Was sehen sie, das wir nicht kennen? Wird nicht eines von ihnen früher oder später den Weltenraum durcheilen und auf unserer Erde landen um sie zu erobern, wie einst die Normannen durch die Meere fuhren, schwächere Völkerschaften zu unterjochen.
Wir sind so schwach, waffenlos, wehrlos, unwissend, so klein, wir Menschen, auf diesem Sandkorn in einem Wassertropfen!
Ich nickte, wie ich so im frischen Abendwind träumte, ein; als ich etwa vierzig Minuten geschlafen haben mochte, öffnete ich die Augen ohne irgend eine Bewegung, weil etwas Wundersames mich aufgeweckt haben mußte. Zuerst sah ich nichts. Dann plötzlich war es mir, als ob eine Seite des Buches, das auf meinem Tisch vor mir offen liegen geblieben war, sich von selbst umgewendet hätte. Kein Luftzug konnte durch das Fenster gekommen sein. Ich war erstaunt und wartete. Nach vier Minuten etwa sah ich – sah ich – ja wahrhaftig, sah ich mit eigenen Augen, wie die nächste Seite sich hob und sich auf die vorhergehende umlegte, als ob sie eine Hand herumgeblättert. Mein Stuhl war leer, schien leer zu sein, aber ich begriff, daß er dort saß, dort auf meinem Platz und las. Mit einem furchtbaren Satz, wie ein wildes Tier, das seinem Bändiger den Leib aufschlitzen will, fuhr ich durch das Zimmer, ihn zu packen, ihn zu erwürgen und zu töten. Aber ehe ich den Stuhl erreicht hatte, fiel er um, als ob etwas vor mir geflohen fei. Mein Tisch schwankte, die Lampe stürzte und erlosch, und das Fenster schlug zu, als ob ein ertappter Verbrecher sich in die Nacht hinaus gerettet hätte, indem er die Fensterflügel mit beiden Händen erfaßte.
Er war also entflohen. Er hatte Angst gehabt, Angst vor mir.
Ich werde ihn also morgen, oder später einmal an irgend einem Tag in meinen Händen, in meinen Fäusten halten und ihn zu Boden drücken können; beißen und töten nicht manchmal Hunde ihren Herrn?
18. August. – Ich habe den ganzen Tag über nachgedacht. Ja, ich werde ihm gehorchen, ich werde seinen Eingebungen folgen, ich werde seinen Willen erfüllen, ich werde mich dienstbar machen, unterwürfig und feige. Er ist stärker, aber die Stunde wird kommen . . . .
19. August. – Ich weiß – ich weiß – ich weiß Alles. Ich habe eben in der Revue du Monde Scientifique Folgendes gelesen:
Aus Rio de Janeiro kommt eine wunderbare Nachricht. In diesem Augenblick wütet in der Provinz San Paolo eine Art epidemischer Verrücktheit, die man den ansteckenden Krankheiten vergleichen muß, mit denen im Mittelalter die Völker Europas heimgesucht wurden. Die Einwohner verlassen verstört ihre Häuser, geben ihre Dörfer auf, lassen ihre Äcker im Stich, weil sie sich für verfolgt halten, besessen, beherrscht, wie Tiere in Menschengestalt, durch Wesen, die unsichtbar sind, obgleich man sie berühren kann, durch Vampyr-gleiche Wesen, die sich nächtens von ihrem Leben nähren, und die außerdem Wasser und Milch trinken, ohne daß sie, wie es scheint, andere Nahrung berühren.
Professor Don Pedro Henriquez ist in Begleitung von mehreren bekannten Ärzten nach der Provinz San Paolo gereist, um an Ort und Stelle Ursachen und Symptome dieser eigenartigen Gestörtheit zu studieren und dem Kaiser die geeignetsten Maßregeln, um die von der Krankheit ergriffene Bevölkerung wieder zur Vernunft zu bringen, vorzuschlagen.
O, ich erinnere mich jetzt, ich erinnere mich des wunderschönen brasilianischen Dreimasters, der am letzten 8. Mai die Seine herauf unter meinen Fenstern vorüber fuhr. Ich fand ihn damals so hübsch, so hell, so freundlich. Das Wesen war darauf. Es kam von da drüben, wo es herstammt, es hat mich gesehen, hat mein weißes Haus gesehen und ist vom Schiff in den Strom gesprungen. O mein Gott! Mein Gott!
Nun weiß ich Alles. Nun errate ich es. Die Zeit, da der Mensch herrschte, ist vorüber.
Er ist gekommen, er, der die erste Furcht der frühesten, naiven Völkerschaften war, »Er«, den die geängstigten Priester austrieben, den die Zauberer in dunklen Nächten anriefen, ohne daß er ja erschienen wäre, dem vorahnend die flüchtigen Herren der Welt all die riesigen oder zierlichen Gestalten der Riesen, Gnomen, Geister, Feen, Kobolde liehen. Nach den groben, aus einer primitiven Furcht geborenen Vorstellungen empfanden feinsinnigere Menschen ihn deutlicher. Mesmer hat ihn geahnt und seit zehn Jahren schon haben die Ärzte genau das Wesen seiner Macht festgestellt, ehe er sie ausgeübt hat. Sie haben mit der Waffe des neuen Herrschers gespielt: der Fähigkeit, einen geheimen Willen der gefesselten menschlichen Seele aufzuzwingen, sie haben es Magnetismus, Hypnotismus, Suggestion und ich weiß nicht was alles genannt. Ich habe gesehen, wie sie sich gleich unvorsichtigen Kindern mit dieser fürchterlichen Macht unterhielten. Wir unglücklichen, unseligen Menschen! Er ist gekommen, der – der, wie heißt er – der – es ist mir, als riefe er mir seinen Namen zu und ich höre ihn doch nicht, der – ja, er ruft ihn, ich lausche, ich kann nicht, wiederhole, der – Horla, – ich habe es gehört, – der Horla, – der ists, – der Horla – ist da!
O, der Geier hat die Taube verzehrt, der Wolf das Schaf gefressen, der Löwe den Büffel trotz seiner spitzen Hörner verschlungen. Der Mensch wieder hat den Löwen mit Pfeil, Schwert, Pulver und Blei getötet. Aber der Horla wird aus uns Menschen machen, was wir aus Pferd und Ochsen gemacht haben: seine Sache, seinen Diener, seine Speise, allein durch die Kraft seines Willens. Wir unglücklich Unseligen!
Und doch empört sich manchmal das Tier und tötet den, der es gebändigt hat. Ich will auch . . . ich könnte . . . aber man müßte ihn kennen, ihn berühren, ihn sehen. Die Gelehrten sagen, daß das Auge des Tieres von dem unsrigen verschieden ist, nicht so sieht, wie unser Auge, . . . und mein Auge kann den neuen, Ankömmling, der mich unterdrückt, nicht erkennen!
Warum? O, jetzt erinnere ich mich an die Worte des Mönchs vom Mont-Saint-Michel: »Sehen wir den hunderttausendsten Teil von dem, was es giebt. Der Wind zum Beispiel, die größte Kraft der Natur, der Menschen umwirft, Gebäude niederlegt, Bäume entwurzelt, der das Meer in Wogenbergen aufwühlt, der Klippen und Felsen zerschmettert und der die größten Schiffe hinaus in die Brandung wirft, der Wind, der tötet, pfeift, seufzt und stöhnt – haben Sie ihn gesehen und können Sie ihn sehen? Und er existiert trotzdem.
Und ich überlegte mir noch weiter. Mein Auge ist so schwach, so unvollkommen, daß es selbst nicht einmal feste Gegenstände unterscheiden kann, wenn sie nur durchsichtig sind wie Glas. Wenn eine große Spiegelscheibe ohne Belag in meinem Wege steht, so ist mein unvollkommenes Auge daran schuld, daß ich dagegen renne, wie ein im Zimmer verflogener Vogel sich an den Fensterscheiben den Kopf einstößt. Tausend Dinge täuschen das Auge. Was ist also Erstaunliches daran, wenn es einen neuen Körper, den das Licht durchstrahlt, nicht erkennen kann?
Ein neues Wesen. Warum nicht? Es mußte ja kommen. Warum sollten wir die Letzten sein? Wir unterscheiden das neue Wesen nicht, wir erkennen es nicht, wie alle anderen, die vor uns geschaffen sind, einfach, weil es vollkommener ist, weil sein Körper feiner und vollendeter ist, als der unsrige, als unser schwacher Leib, der dahinvegetiert wie eine Pflanze, ein Tier, unser Leib der sich mühsam von der Luft nährt, von Gras und Fleisch, eine animalische Maschine, den Krankheiten zur Beute, Verstümmelungen, der Verwesung anheimgegeben, schlecht in's Gleichgewicht gesetzt, lächerlich, verrückt, erstaunlich schlecht gemacht, ein grobes, zerbrechliches Werk, nur die Skizze zu dem Wesen, das wirklich intelligent und schön werden könnte.
Wir sind so wenige Lebewesen auf der Erde, von der Auster bis zum Menschen. Warum sollte nicht ein neues entstehen, nachdem einmal die Periode vollendet, für die die »Entstehung der Arten in langsamer Folge« charakteristisch ist? Warum nicht eine Art mehr? Warum soll es nicht auch Bäume geben mit Riesenblumen, leuchtend und duftend über weite Landstrecken? Warum soll es keine anderen Elemente geben als Feuer, Luft, Erde und Wasser. Es sind ihrer vier, nur vier, diese Nährväter aller Wesen. Wie armselig! Warum sind es nicht vierzig, vierhundert, viertausend. Wie ist alles elend, dürftig, jammervoll auf dieser Erde, wie sparsam zugemessen, armselig erfunden, plump gemacht. Dieser Liebreiz am Elefanten, am Flußpferd, diese Eleganz am Kamel!
Aber ihr werdet sagen: der Schmetterling ist doch wie eine Blume, die da fliegt. Ich aber träume von einem, der groß sein müßte gleich wie hundert Welten, mit Flügeln, deren Gestalt, Schönheit, und Farbe ich nicht erklären kann, aber vor mir sehe. Er eilt von Stern zu Stern, erquickt sie und erfüllt sie mit Duft durch den leichten Schlag seiner Flügel. Und die Völker dort oben sehen ihm entzückt begeistert nach, wenn er vorüberfliegt . . . .
Wen meine ich denn? Er ist es, er, der Horla, der mich quält, der mich auf diese wahnsinnigen Gedanken bringt, er sitzt in mir, er wird meine Seele; ich muß ihn töten.
19. August. – Ich werde ihn töten. Ich habe ihn gesehen. Ich habe mich gestern abend an meinen Tisch gesetzt und so gethan, als ob ich aufmerksam schriebe. Ich wußte wohl, daß er um mich irren würde, ganz nahe bei mir, so nahe, daß ich ihn vielleicht berühren könnte, ihn packen, und dann wäre vielleicht die Kraft der Verzweiflung über mich gekommen, ich hätte Hände, Kniee, Brust, Stirn, Zähne gebraucht, ihn zu erwürgen, zu erdrücken, tot zu beißen und zu zerreißen.
Und ich lauerte ihm mit allen meinen überreizten Sinnen auf.
Ich hatte beide Lampen und die acht Lichter auf dem Kamin angesteckt, als ob ich ihn in dieser Helle besser sehen könnte.
Vor mir steht mein Bett, ein altes Eichenbett mit Säulen. Rechts ist der Kamin, links die Thür, sorgfältig geschlossen, nachdem ich sie lange Zeit offen gelassen hatte, um ihn herein zu locken. Hinter mir steht ein hoher Spiegelschrank, der mir täglich dazu gedient hat, mich zu rasieren, mich anzuziehen und in dem ich mich jedesmal, wenn ich vorüberging, von Kopf bis zu Fuß betrachtete.
Ich that also, als schriebe ich, um ihn zu täuschen, denn auch er spähte nach mir. Und plötzlich fühlte ich, ich war meiner Sache ganz sicher, daß er über meine Schulter gebeugt las, daß er da war und mein Ohr streifte.
Ich stand auf, streckte die Hände aus und drehte mich so schnell um, daß ich beinahe gefallen wäre. Nun und? Man sah hier so gut wie am hellen Tage, und ich sah mich nicht in meinem Spiegel. Das Glas war leer, klar, tief, hell erleuchtet, aber mein Bild war nicht darin, und ich stand doch davor, ich sah die große, klare Spiegelscheibe von oben bis unten und sah das mit entsetzten Augen an! Ich wagte nicht mehr, vorwärts zu gehen, ich wagte keine Bewegung zu machen, ich fühlte, daß er da war, aber daß er mir wieder entwischen würde, er, dessen undurchdringlicher Körper hinderte, daß ich mich selbst spiegeln konnte.
Und Entsetzen! – plötzlich sah ich mich selbst in einem Nebel mitten im Spiegel, in einem Schleier, wie durch Wasser hindurch und mir war es, als ob dieses Wasser von links nach rechts glitte, ganz langsam, sodaß von Sekunde zu Sekunde mein Bild in schärferen Linien erschien. Es war wie das Ende einer Sonnenfinsternis. Was mich verbarg, schien keine festen Umrisse zu haben aber eine Art Durchsichtigkeit, die allmählich heller ward.
Endlich konnte ich mich vollkommen erkennen, wie täglich, wenn ich in den Spiegel blicke.
Ich hatte ihn gesehen, und das Entsetzen blieb mir in den Gliedern, daß ich jetzt noch zittere.
20. August. – Wie soll ich ihn töten, da ich ihn nicht fassen kann? Durch Gift? Aber er würde sehen, wie ich es ins Wasser mische – und übrigens könnten denn unsere Gifte seinem undurchdringlichen, unfaßbaren Körper etwas anhaben? Nein, nein, nein, wahrscheinlich nicht . . . . Also? also?
21. August – Ich habe aus Rouen einen Schlosser kommen lassen und habe bei ihm für mein Zimmer eiserne Fensterläden bestellt, wie man sie in Paris an einzelnen Privathäusern im Erdgeschoß hat, zum Schutz gegen Diebe. Eine ebensolche Thür wird er mir auch anfertigen. Ich habe gethan, als ob ich feige wäre, aber ich mache mich ja selbst darüber lustig.
10. September. – Rouen, Hotel Continental. Es ist geschehen! Es ist geschehen! Aber ob er tot ist? Ich bin ganz bestürzt von dem, was ich gesehen habe.
Also gestern, als der Schlosser die Läden und die eiserne Thür angebracht hatte, ließ ich bis Mitternacht Alles offen stehen, obgleich es schon anfing, kalt zu werden.
Plötzlich fühlte ich, daß er da war und eine unsinnige Freude überfiel mich. Ich habe mich langsam erhoben, bin nach rechts gegangen, dann wieder nach links, bedächtig hin und her, daß er meine Gedanken nicht erraten sollte. Dann habe ich die Stiefel ausgezogen und gleichgiltig die Pantoffeln angelegt. Darauf habe ich die eisernen Läden zugemacht und bin ganz ruhig zur Thür gegangen und habe auch sie zweimal herum geschlossen. Dann ging ich ans Fenster zurück und habe ein Vorlegeschloß davor gelegt und den Schlüssel in die Tasche gesteckt.
Und plötzlich merkte ich, daß er um mich herum sich bewegte, daß er Angst hatte, und mir befehlen wollte, ihm zu öffnen. Ich hätte ihm beinahe gehorcht, aber ich gehorchte doch nicht, stemmte mich an die Thür, öffnete sie zur Hälfte, gerade weit genug, daß ich selbst rückwärts mich durchzwängen konnte, und da ich sehr groß bin, und mein Kopf bis oben heranreicht, wußte ich ganz bestimmt, daß er mir nicht entwischen könnte. Dann habe ich ihn allein ins Zimmer eingeschlossen, ganz allein. Diese Freude! Ich hatte ihn erwischt! Darauf bin ich hinunter gelaufen, in den Salon unter meinem Schlafzimmer, habe die beiden Lampen genommen, das Petroleum auf den Teppich, über die Möbel, überall hingeschüttet, habe Feuer angelegt und mich gerettet, nachdem ich die große Eingangsthür sorgfältig zweimal verschlossen hatte.
Dann ging ich in meinen Garten hinaus, in ein Lorbeergebüsch, um mich zu verstecken. O, wie lange das dauerte, wie lange das dauerte! Alles war dunkel, stumm, unbeweglich. Kein Windhauch ging, kein Stern war zu erblicken, große Wolkenberge, die man nicht sah, lasteten schwer, schwer auf meiner Seele.
Ich schaute mein Haus an und wartete. O, wie lange Zeit das dauerte. Ich meinte schon, das Feuer wäre ausgegangen oder er hätte es gelöscht, er, als plötzlich unten unter dem Druck der Hitze ein Fenster barst und eine große, rot und gelbe, lange, dünne, züngelnde Flamme längs der weißen Wand leckte und sie küßte bis an das Dach hinauf. Ein Schein fiel auf die Bäume, auf die Äste, auf die Blätter, und sie bebten vor Angst. Die Vögel erwachten. Ein Hund fing an zu heulen. Ich glaube, es wurde Tag. Dann sprangen noch zwei andere Fenster auf und ich sah, wie das ganze Erdgeschoß nur noch eine Feuerglut war. Aber plötzlich tönte ein Schrei, ein fürchterlicher, spitzer, herzzerreißender Schrei, der Ruf einer Frau in die Nacht hinaus und zwei Mansardenfenster öffneten sich. Ich hatte meine Dienstboten vergessen. Ich sah ihre entsetzten Gesichter und sah, wie sie winkten.
Da packte mich das Entsetzen und ich lief zum Dorfe und schrie:
»Hilfe! Hilfe! Feuer! Feuer!«
Ich begegnete Menschen, die schon herbeigestürzt kamen und drehte mit ihnen um, um zu sehen.
Jetzt war das ganze Haus nichts mehr, als ein fürchterlicher, prachtvoller Scheiterhaufen, ein Riesenscheiterhaufen, der die ganze Gegend beleuchtete, ein Scheiterhaufen, in dem Menschen verbrannten und worin auch er verbrannte, er, er, mein Gefangener, das neue Wesen, der neue Herr, der Horla.
Plötzlich brach zwischen den Mauern das ganze Dach zusammen und ein Feuerregen schoß zum Himmel auf. Ich sah durch alle offenen Fenster die Glut, den Schmelzofen dort drinnen und ich dachte frohlockend daran, daß er dort drinnen saß, in dem Ofen, tot.
Tot? Vielleicht. Sein Leib? Aber war sein Leib, den das Licht durchdrang, nicht unzerstörbar für Mittel, die unsern Leib zerstören?
Wenn er nun nicht tot war? Vielleicht hat nur die Zeit Macht über das unsichtbare, furchtbare Wesen. Wozu sollte es diesen durchsichtigen, ungreifbaren, geisterhaften Leib geben, wenn er gleich uns Schmerzen, Wunden, Krankheit und vorzeitige Zerstörung fürchten müßte?
Vorzeitige Zerstörung? Daher das ganze Entsetzen des Menschen! Nach dem Menschen kommt der Horla, nach dem, der täglich sterben kann, zu jeder Stunde, zu jeder Minute, durch jedes Unglück, ist der gekommen, der nur an einem bestimmten Tag, zu bestimmter Stunde, zu bestimmter Minute sterben kann, weil sein Dasein abgelaufen ist.
Nein, nein nein, kein Zweifel, kein Zweifel, er ist nicht tot! Ja und dann? Dann? Da werde ich also mich töten müssen, mich! . . . . . . . . . . . . . .