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Als sie zurückfuhren, schliefen, außer Hans, alle Männer im Wagen. Beausire und Roland sanken alle fünf Minuten auf eine andere Nachbarschulter, von der sie durch einen Stoß des Wagens wieder zurückschnellten. Dann richteten sie sich auf, hörten auf zu schnarchen, öffneten die Augen und brummten:
– Wunderschön heute.
Beinah sofort sanken sie nach der anderen Seite wieder zurück.
Als sie nach Havre kamen, waren sie so verschlafen, daß man sie kaum aufrütteln konnte, und Beausire weigerte sich sogar, mit zu Hans hinauf zu kommen, wo sie der Thee erwartete. Man mußte ihn nach Haus schaffen.
Der junge Advokat sollte zum erstenmal in seiner neuen Wohnung schlafen. Und plötzlich hatte ihn eine große kindliche Freude gepackt, gerade an diesem Abend seiner Braut die Wohnung zu zeigen, in die sie bald einziehen sollte.
Das Mädchen war fortgegangen. Frau Roland hatte erklärt, daß sie Wasser kochen und alles selbst anrichten wollte; denn sie liebte nicht, daß das Mädchen aufblieb, aus Furcht vor Feuersgefahr.
Außer ihr, ihrem Sohn und den Handwerkern war noch niemand in der Wohnung gewesen, da die Überraschung eine vollständige sein sollte, wenn man sehen würde, wie hübsch es hier war.
Im Flur bat Hans, sie möchten warten. Er wollte erst die Lichter und Lampen anstecken und ließ so lange Frau Rosémilly, seinen Vater und seinen Bruder im Dunklen, bis er »Herein« rief, indem er beide Flügelthüren öffnete.
Die Glashalle war durch einen Kronleuchter und farbige Lichter, die zwischen den Palmen, Gummibäumen und Blumen versteckt waren, erhellt, so daß sie den Eindruck einer Theaterdekoration machte. Einen Augenblick herrschte allgemeines Erstaunen. Roland brummte, ganz geblendet von dem Luxus: – Dunnerlitzchen! – Er hatte Lust, in die Hände zu klatschen, wie im Theater.
Dann traten sie in den ersten kleinen Salon, dessen Wände mit goldgelbem Stoff bespannt waren, genau so wie die Stühle. Das große Konsultationszimmer war einfach, in lachsfarbenem Rot gehalten und sah großartig aus.
Hans setzte sich in den Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch, auf dem eine Menge Bücher standen, und sagte mit ernster Stimme, etwas geziert:
– Jawohl, meine gnädige Frau, der Wortlaut des Gesetzes ist so und giebt mir mit der Zustimmung, von der ich Ihnen gesprochen, die vollkommene Sicherheit, daß die Angelegenheit, von der wir uns unterhalten haben, noch vor Ablauf eines Vierteljahres eine glückliche Lösung finden wird.
Er sah Frau Rosémilly an. Diese begann zu lächeln und blickte ihrerseits Frau Roland an. Frau Roland nahm ihre Hand und drückte sie.
Hans war glückselig und machte einen Luftsprung wie ein Schüler, indem er rief:
– Hört nur, wie's hier klingt. Hier müßte man plaidieren in dem Zimmer:
Und er begann zu predigen:
– Wenn die Menschlichkeit allein, wenn das Mitgefühl, das wir allem Leiden gegenüber empfinden, Sie zur Freisprechung, die wir von Ihnen fordern, bewegen sollte, würden wir uns an Ihr Mitleid wenden, meine Herren Geschwornen. Wir würden an Ihre Herzen als Väter und Männer appellieren. Aber auf unserer Seite steht das Recht, und wir werden uns also vor Ihnen hier auf den Rechtsstandpunkt stellen.
Peter sah sich diese Wohnung an, die die seine hätte sein können, und ärgerte sich über die Scherze seines Bruders, die er albern und geistlos fand.
Frau Roland öffnete rechts eine Thür:
– Das ist das Schlafzimmer! – sagte sie.
Sie hatte ihre ganze Mutterliebe aufgewendet, hier alles hübsch in Ordnung zu bringen. Die Wände waren mit Cretonne aus Rouen bespannt, eine Nachahmung alter normannischer Leinwand. Das Muster im Stile Ludwig XV., – eine Schäferin in einem Medaillon, das durch die verbundenen Schnäbel zweier Tauben geschlossen wurde, – gab den Wänden, den Vorhängen, dem Bett, den Stühlen etwas reizend Ländliches und Galantes.
– O, das ist entzückend! – sagte Frau Rosémilly, die etwas ernst geworden war, als sie in dieses Zimmer trat.
– Gefällt es Ihnen? – fragte Hans.
– Sehr.
– Wenn Sie wüßten, wie mich das freut.
Sie blickten sich eine Sekunde mit zärtlichem Vertrauen in die Augen.
Aber sie fühlte sich doch etwas geniert, etwas verlegen in diesem Schlafzimmer, das ihr Ehegemach werden sollte. Als sie eingetreten waren, hatte sie die Wahrnehmung gemacht, daß das Bett sehr breit sei, ein richtiges Ehebett, von Frau Roland ausgesucht, die ohne Zweifel eine baldige Verheiratung ihres Sohnes vorausgesehn und gewünscht. Und diese zarte mütterliche Vorsorge machte ihr Spaß, weil sie ihr zu sagen schien, daß man sie in der Familie erwartete.
Als man dann in den Salon zurückgekehrt war, öffnete Hans plötzlich die Thür, und man sah das dreifenstrige runde Eßzimmer wie eine japanische Laterne ausgestattet. Mutter und Sohn hatten hier alle Phantasie, die sie besaßen, aufgewendet. In dem Zimmer standen Bambusmöbel, Pagoden, Vasen, goldgestickte Seidenstoffe hingen da, durchsichtige Stores befanden sich an den Fenstern mit Glaskugeln wie einzelne Wassertropfen. An die Wände waren Fächer genagelt, um die Stoffe zu raffen, dann Schirme, Säbel, Masken, Kraniche mit wirklichen Federn und all jene verschiedenen kleinen Gegenstände aus Porzellan, Holz, Papier, Elfenbein, Perlmutter, Bronce. Das sah etwas prätentiös und geschmacklos aus, wie es ein ungeschultes Auge, eine plumpe Hand diesen Dingen, die am meisten Takt, Geschmack und künstlerisches Gefühl brauchen, eben leicht giebt. Aber dies Zimmer bewunderte man am meisten. Nur Peter machte ein paar bitter ironische Bemerkungen, und sein Bruder fühlte sich verletzt.
Auf dem Tisch erhoben sich Früchte in Pyramidenform und hoch aufgebaute Konditorwaren.
Eigentlich hatte niemand Hunger. Man aß ein paar Früchte und knabberte die Süßigkeiten mehr, als daß man sie aß. Dann nach Ablauf einer Stunde bat Frau Rosémilly, sich zurückziehen zu dürfen.
Es wurde beschlossen, daß Vater Roland sie nach Haus bringen sollte, und daß er augenblicklich mit ihr fortginge, während Frau Roland in der Abwesenheit des Mädchens noch einmal mit dem Auge der Mutter die ganze Wohnung durchgehen wollte, um zu sehen, ob ihrem Sohn auch nichts fehle.
– Muß ich wieder herkommen, um Dich zu holen? – fragte Roland. Sie zuckte die Achseln, dann antwortete sie:
– Nein, Dicker, geh nur zu Bett. Peter bringt mich nach Haus.
Sobald sie fort waren, löschte sie die Lichter aus, schloß Kuchen und Zucker und Schnaps in einen Schrank, dessen Schlüssel Hans bekam. Dann ging sie ins Schlafzimmer, deckte das Bett ab, sah nach, ob frisches Wasser in der Karaffe und ob das Fenster gut geschlossen war.
Peter und Hans blieben im kleinen Salon; Hans noch immer etwas verletzt über des anderen Urteil wegen seines Geschmacks, und Peter immer unwilliger darüber, seinen Bruder in dieser Wohnung zu sehen.
Sie saßen beide da und rauchten, ohne zu sprechen. Da stand plötzlich Peter auf.
– Verflucht, – sagte er, – die Witwe sah heute abend recht ramponiert aus. So ein Ausflug bekommt ihr gar nicht gut.
Da packte Hans einer jener plötzlichen Wutanfälle gutmütiger Menschen, die man tödlich verletzt hat.
Er war so erregt, daß er keinen Atem bekam und stotterte:
– Ich verbiete Dir von jetzt ab, ›die Witwe‹ zu sagen, wenn Du von Frau Rosémilly sprichst.
Peter wendete sich zu ihm und antwortete von oben herab:
– Ich glaube gar, Du willst mir was befehlen! Du bist wohl verrückt geworden.
Hans fuhr auf:
– Ich bin nicht verrückt geworden, aber ich habe genug von Deinem Benehmen mir gegenüber.
Peter lachte laut auf:
– Dir gegenüber! Bist Du etwa ein Teil von Frau Rosémilly?
– Gut, dann will ich Dir sagen, daß Frau Rosémilly meine Frau werden wird.
– Ha, ha! Ausgezeichnet! Jetzt kapiere ich, warum ich sie nicht mehr ›die Witwe‹ nennen soll. Aber das ist eine komische Art, mir Deine Verlobung mitzuteilen.
– Ich verbitte mir solche Scherze. Hörst Du, das verbitte ich mir.
Hans war, bleich, mit zitternder Stimme, ganz zur Verzweiflung gebracht über die Ironie, mit der jener die Frau angriff, die er liebte und die er erwählt, an seinen Bruder herangetreten.
Aber auch Peter wurde plötzlich wütend. Alles was seit einiger Zeit sich in ihm an ohnmächtiger Wut, an zurückgehaltenem Haß, an gedämpfter Empörung, an schweigender Verzweiflung angehäuft, stieg ihm zu Kopfe, wie eine Blutwelle.
– Das wagst Du! Das wagst Du! Ich befehle Dir zu schweigen. Hörst Du, das befehle ich Dir.
Hans, der ganz überrascht war von diesem Ausbruch, schwieg ein paar Sekunden, suchte in der Geistesverwirrung, die uns in der Wut überkommt, Worte, Dinge, Redensarten, um den Bruder tödlich zu verletzen.
Und er sagte, indem er sich zu möglichster Mäßigung zwang, um ihn desto besser zu treffen, und indem er langsam sprach, um seine Worte bittrer zu machen:
– Ich habe schon lange bemerkt, daß Du neidisch auf mich bist. Von dem Tage ab, wo Du angefangen hast, ›die Witwe‹ zu sagen, weil Du merktest, daß mich das verletzt.
Peter antwortete mit seinem gewohnten verächtlichen, schneidenden Lachen:
– Ha! Ha! Mein Gott, neidisch auf Dich! Ich, ich. Weswegen denn? Um Gottes willen, weswegen denn? Wegen Deines Gesichts oder Deines Verstandes?
Aber Hans fühlte wohl, daß er die wunde Stelle dieses Herzens getroffen:
– Ja, Du bist neidisch auf mich, neidisch von unsrer Kinderzeit an. Und jetzt bist Du wütend geworden, als Du einsahst, daß diese Frau mich vorzieht und Dich nicht will.
Peter stotterte, außer sich über diese Unterschiebung:
– Ich, ich neidisch auf Dich! Wegen dieser Strohpuppe! Wegen dieses Kamels! Wegen dieser dicken Gans!
Hans, der fühlte, daß sein Hieb gesessen, antwortete:
– Nun und damals, als Du versuchtest stärker zu rudern als ich, auf der »Perle«? Weißt Du noch alles, was Du damals gesagt hast, um vor ihr zu renommieren. Du platzst ja vor Neid. Und als ich das Geld geerbt, da bist Du toll geworden. Du hast mich gehaßt, Du hast's auf alle Art gezeigt, Du hast alle anderen gequält, und unausgesetzt spuckst Du Dein Gift, an dem Du fast erstickst, aus.
Peter krampfte in solcher Wut die Fäuste zusammen, daß er Lust hatte, seinem Bruder an die Kehle zu springen und ihn zu würgen.
– Schweig darüber! Von dem Gelde sprich nicht.
Hans rief:
– Der Neid schwitzt Dir ja aus allen Poren. Du kannst kein Wort mehr zu Vater, Mutter oder mir sagen, aus dem nicht der Neid klingt. Du tust, als verachtest Du mich, weil Du neidisch bist. Du suchst mit allen Leuten Krakehl, weil Du neidisch bist. Und jetzt, wo ich reich geworden bin, kannst Du gar nicht mehr. Du bist ganz giftig geworden. Du schindest die Mutter, als ob sie daran schuld wäre.
Peter war bis an den Kamin zurückgewichen, den Mund offen, mit starren Augen, von einem jener Wutanfälle gepackt, die zum Verbrechen treiben.
Er antwortete mit leiserer, aber keuchender Stimme:
– Schweige doch, schweige doch!
– Nein. Ich habe Dir schon lange sagen wollen, was ich eigentlich denke. Jetzt veranlaßt Du es, daß ich's thue. Meinetwegen. Ich liebe eine Frau. Du weißt es, und Du ziehst sie in meiner Gegenwart auf, so treibst Du mich zum Äußersten. Schlimm genug für Dich, aber ich werde Dir die Giftzähne ausbrechen. Ich will Dich schon zwingen, Achtung vor mir zu haben.
– Achtung vor Dir?
– Ja, vor mir!
– Achtung vor Dir, Dir, der uns entehrt hat durch seine Geldgier.
– Was sagst Du! Sag das noch einmal. Sag das noch einmal.
– Ich sage Dir, daß man das Geld eines Mannes nicht annimmt, wenn man für den Sohn eines anderen gilt.
Hans blieb unbeweglich stehen. Er begriff garnicht, ganz verstört angesichts dieser Unterschiebung, die er ahnte:
– Was sagst Du da? Sag das noch einmal.
– Ich sage nur das, was sich alle zuflüstern, was alle kolportieren, daß Du der Sohn des Mannes bist, der Dir sein Geld hinterlassen hat. Nun, ein anständiger Mensch nimmt nicht Geld an, das seine Mutter entehrt.
– Peter! Peter! Peter! Überlegst Du Dir . . . Du, Du sagst solch ein Gemeinheit?!
– Ja, ich, ich. Kapierst Du denn nicht, daß ich seit einem Monat vor Kummer darüber umkomme. Daß ich nachts nicht schlafen kann und mich am Tag verstecke wie ein verwundetes Tier. Daß ich nicht mehr weiß, was ich sage und thue, noch was aus mir werden soll, weil ich so leide, weil Scham und Schmerz mich so verrückt machen, denn ich habe es zuerst geahnt, – und jetzt weiß ich's.
– Peter – schweige! Mama ist im Nebenzimmer, bedenke, daß sie uns hören kann, daß sie uns hört.
Aber er mußte sein Herz erleichtern. Und er setzte alle seine Zweifel, seine Überlegungen, seine Kämpfe auseinander, seine Gewißheit und erzählte die Geschichte des Bildes, das wieder verschwunden war.
Er sprach in kurzen, abgehackten Sätzen, beinah ohne Zusammenhang, wie ein Irrsinniger.
Er schien Hans und seine Mutter vergessen zu haben. Er redete, als hörte ihn niemand, weil er reden mußte, weil er zu viel gelitten, seine Qual zu lange verschlossen und verborgen. Sie war angewachsen wie ein Schwär, und dieser Schwär brach auf und bespritzte alle Welt mit Eiter. Wie er es immer that, begann er, auf und nieder zu gehen. Die Augen starr vor sich hin gerichtet, gestikulierte er, in äußerster Verzweiflung schluchzend, sich in Selbstanklagen ergehend. Er sprach, als hätte er all sein Elend und das Elend der Seinen gebeichtet, als hätte er seine Qual hinausgeschleudert in die unsichtbare taube Luft, in der seine Worte verklangen.
Hans war ganz verzweifelt und war plötzlich beinah überzeugt durch die blinde Wut seines Bruders. Er lehnte sich an die Thür, hinter der seine Mutter war, die, wie er meinte, sie gehört haben mußte.
Sie konnte nicht heraus, sie mußte durch den Salon. Sie war nicht zurückgekommen – sie hatte es also nicht gewagt.
Peter stampfte plötzlich mit dem Fuß auf und rief:
– Ja, ich weiß, ich bin ein Vieh, sowas gesagt zu haben.
Und er floh barhaupt die Treppe hinab.
Der Krach, mit dem die große Hausthür zufiel, schreckte Hans aus dem starren Entsetzen auf, in das er versunken. Ein paar Sekunden waren vergangen, die ihm länger schienen als Stunden. Und seine Seele war verfallen in stummes idiotisches Brüten. Er fühlte wohl, daß er nachher nachdenken und handeln mußte. Aber er wartete, er wollte nichts mehr verstehen und wissen, sich nicht erinnern in seiner Angst, Schwäche und Feigheit. Er war von jenen, die alles auf den nächsten Tag schieben, und wenn er durchaus augenblicklich einen Entschluß fassen mußte, so suchte er instinktmäßig wenigstens noch ein paar Augenblicke zu gewinnen.
Aber die tiefe Stille, die ihn jetzt umgab nach Peters Gebrüll, diese Stille, die von den Wänden, den Möbeln kam, im hellen Licht der sechs Kerzen und der zwei Lampen, erschreckte ihn plötzlich, so daß er Lust hatte, auch zu entfliehen.
Da gab er Gehirn und Herz einen Stoß und suchte nachzudenken.
Noch nie in seinem Leben hatte er eine Schwierigkeit gehabt. Es giebt Menschen, die sich treiben lassen, wie das Wasser, das bergab rinnt. Er war fleißig gewesen auf der Schule, um nicht bestraft zu werden, hatte mit größter Gewissenhaftigkeit studiert, so daß sein ganzes Leben ruhig dahinfloß. Alles auf der Welt schien ihm natürlich zu sein, wie es war und erregte seine Aufmerksamkeit nicht. Er liebte Ordnung, Vernunft und Ruhe, seiner Natur gemäß. Sein Charakter hatte keine Strömungen und Gegenströmungen. Und angesichts dieser Katastrophe war ihm zu Mute wie einem Mann, der ins Wasser fällt und nicht schwimmen kann.
Er versuchte zuerst zu zweifeln. Hatte sein Bruder aus Haß und Neid gelogen?
Aber wie hätte er so niederträchtig sein können, so etwas von ihrer Mutter zu sagen, wenn ihn nicht selbst die Verzweiflung dazu gebracht? Und dann klangen Hans noch immer im Ohr, sah er noch vor sich und behielt er noch in den Nerven, im Innersten seiner Seele gewisse Worte, einen Schmerzensschrei, Bewegungen und Töne Peters, die so qnalvoll gewesen, daß sie unwiderstehlich wirkten, daß sie wie eine Gewißheit waren.
Er war zu niedergeschmettert, um nur eine Bewegung zu machen, einen Willen zu haben. Seine Traurigkeit wurde unerträglich. Und er fühlte, daß hinter der Thür seine Mutter war, daß sie alles gehört hatte und wartete.
Was that sie? Kein Laut, kein Zucken, kein Hauch, kein Seufzer verriet die Anwesenheit eines Menschen hinter diesen Brettern. Sollte sie entflohen sein? Aber wohin? Wenn sie entflohen war, konnte sie nur durch das Fenster auf die Straße gesprungen sein.
Da packte ihn ein fürchterliches Entsetzen, so zwingend, so überwältigend, daß er die Thür mehr einstieß, als aufriß und in das Zimmer stürzte.
Es schien leer. Nur ein Licht, das auf der Kommode stand, erleuchtete es.
Hans eilte ans Fenster. Es war geschlossen, die Läden vor. Er drehte sich um, durchsuchte die dunklen Ecken mit ängstlichem Blick und entdeckte, daß die Vorhänge des Bettes zugezogen waren. Er lief hin, riß sie auseinander. Seine Mutter ruhte auf dem Lager, das Gesicht in das Kopfkissen vergraben, das sie mit den zusammengekrampften Händen über den Kopf gezogen hatte, um nichts mehr zu hören.
Er meinte zuerst, sie sei erstickt. Dann packte er sie bei den Schultern, wendete sie um, ohne daß sie das Kopfkissen losließ, das ihr Gesicht verbarg und in das sie biß, um nicht zu schreien.
Aber die Berührung mit diesem starren Körper, mit diesen krampfhaft geschlossenen Armen zeigte ihm ihre furchtbare Qual. Er erriet aus der Energie und Kraft, mit der sie mit Fingern und Zähnen das geblähte Federkissen an den Mund, auf Augen und Ohren preßte, damit er sie nicht sähe und nicht mit ihr spräche, erriet durch die Erschütterung, die sich ihm mitteilte, wie entsetzlich man leiden kann. Und sein Herz, seine einfache Seele ward von Mitleid zerrissen. Er war nicht ihr Richter, nicht einmal ihr nachsichtiger Richter, er war ein Mensch voll Schwäche und ein zärtlicher Sohn. Er wußte nichts mehr davon, was der andere ihm gesagt hatte. Er dachte nicht nach, er redete nicht, er streichelte nur mit seinen Händen den starren Körper seiner Mutter. Und da er das Kissen nicht von ihrem Gesicht reißen konnte, küßte er ihr Kleid und rief:
– Mama! Mama! Meine arme Mama! Sieh mich an.
Man hätte sie für tot halten können, wenn nicht über ihre Kleider ein fast unfühlbares Zittern gelaufen wäre, wie das Beben einer gespannten Saite. Er wiederholte:
– Mama! Mama! Höre mich an. Es ist nicht wahr. Ich weiß, daß es nicht wahr ist.
Sie bekam wieder einen Krampf, ein Schütteln. Dann plötzlich schluchzte sie unter dem Kissen. Da ließ die Spannung ihrer Nerven nach, ihre starren Muskeln wurden weich, ihre Finger öffneten sich halb, ließen das Kissen los, und er entblößte ihr Gesicht.
Es war bleich, totenbleich. Und aus ihren geschlossenen Lidern tropften Thränen. Er schlang seine Arme um sie, er küßte ihre Augen langsam mit langen Verzweiflungsküssen, die sich mit ihren Thränen mischten. Und er sagte immerfort:
– Mama, meine liebe Mama! Ich weiß ja, es ist nicht wahr. Weine nicht, ich weiß es, es ist nicht wahr.
Sie erhob sich, setzte sich auf, blickte ihn an, und mit jener äußersten Mutanstrengung, die man unter gewissen Umständen bedarf um sich zu töten, sagte sie zu ihm:
– Doch, es ist wahr mein Kind.
Und schweigend blieben sie einander gegenüber. Sie schluchzte noch ein paar Augenblicke, hob die Brust und neigte den Kopf rückwärts um zu atmen. Dann überwand sie sich wieder und sagte noch einmal:
– Es ist wahr, mein Kind. Wozu lügen. Es ist wahr. Du würdest mir doch nicht glauben, wenn ich löge.
Sie sah aus wie eine Verrückte. Im Entsetzen sank er auf die Knie neben dem Bett und flüsterte:
– Schweige, Mama. Schweige doch.
Sie war aufgestanden mit entsetzlicher Energie und sagte entschlossen:
– Aber ich habe Dir nichts mehr zu sagen, mein Kind. Adieu.
Und sie ging zur Thür.
Er schloß sie in die Arme und rief:
– Mama, was willst Du thun, wo gehst Du hin?
– Ich weiß nicht. Wie soll ich's wissen? Ich habe nichts mehr zu thun – ich bin ja ganz allein.
Sie machte sich los und wollte fliehen. Er hielt sie zurück und fand nur ein Wort, das er immer wiederholte:
– Mama! Mama! Mama!
Und sie sagte, indem sie sich bemühte, seine Umarmung abzuschütteln:
– Nein, nein. Ich bin Deine Mutter jetzt nicht mehr, ich bin nichts mehr für Dich, für niemand. Nichts, nichts. Du hast keinen Vater mehr, keine Mutter mehr, mein armes Kind. Leb wohl!
Er begriff plötzlich, daß, wenn er sie fortließ, er sie nie wieder sehen würde. Und er hob sie auf und trug sie zu einem Lehnstuhl, setzte sie mit aller Gewalt hinein, kniete vor ihr nieder und umschlang sie fest mit seinen Armen:
– Du wirst nicht fortgehen, Mama. Ich liebe Dich und behalte Dich bei mir. Du bleibst immer bei mir. Du gehörst mir.
Sie flüsterte mit müder Stimme:
– Nein, mein armer Junge, das ist nicht mehr möglich. Heute abend weinst Du, und morgen würdest Du mich vor die Thür setzen. Du wirst mir auch nicht verzeihen.
Er antwortete mit solch stürmischer, aufrichtiger Liebe:
– Ich? Ich? Du kennst mich ja gar nicht! – daß sie einen Schrei ausstieß, mit beiden Händen in sein Haar griff, seinen Kopf nahm, ihn heftig an sich zog und ihn wie wütend über das ganze Gesicht küßte.
Dann blieb sie unbeweglich, die Wange gegen die Wange ihres Sohnes gelehnt und fühlte durch den Bart hindurch wie sein Fleisch brannte. Und sie sagte ihm ganz leise ins Ohr:
– Nein, Hänschen, morgen würdest Du mir nicht mehr verzeihen. Du glaubst es jetzt, aber Du täuschest Dich; heute abend hast Du mir verziehen, und diese Verzeihung hat mir das Leben gerettet. Aber Du darfst mich nicht wiedersehen.
Er preßte sie an sich:
– Mama, sag das nicht.
– Doch, mein Kind. Ich muß fort. Ich weiß nicht, wohin, ich weiß nicht, was ich thun werde, was ich sagen will. Aber es muß sein. Ich kann Dich nicht wieder ansehen. Dich nicht mehr küssen. Verstehst Du das nicht?
Nun flüsterte er ihr leise ins Ohr:
– Mein liebes Mütterchen, Du bleibst! Ich will es und ich brauche Dich. Du mußt mir schwören, daß Du mir gehorchst, und zwar sofort.
– Nein, mein Kind.
– O Mama, Du mußt. Hörst Du, Du mußt.
– Nein, mein Kind, das ist unmöglich. Ich mache uns ja allen das Leben zur Hölle. Ich weiß seit vier Wochen, was das für eine Qual ist. Du bist jetzt weich, aber wenn das vorüber ist, wenn Du mich ansiehst, wie Peter mich ansieht, wenn Du daran denkst, was ich Dir gesagt habe, – nein, mein Hänschen. Denke doch, denke doch, ich bin Deine Mutter.
– Du darfst nicht fort, Mama, ich habe nur Dich.
– Aber denke doch, mein Sohn, daß wir uns garnicht mehr ansehen können, ohne rot zu werden, ohne daß ich vor Scham sterbe, und daß ich vor Deinem Blick meine Augen zu Boden schlagen muß.
– Das ist nicht wahr, Mama.
– Ja, ja, ja, es ist wahr. Ach, ich habe ja all die Kämpfe wohl verstanden, die Dein armer Bruder durchgemacht hat, vom ersten Tage ab. Wenn ich jetzt nur seinen Schritt im Haus höre, klopft mir das Herz, als wollte es die Brust zersprengen. Wenn ich seine Stimme höre, ist mir, als würde ich ohnmächtig. Dich hatte ich noch, Dich. Jetzt habe ich auch Dich nicht mehr. O mein Hänschen, glaubst Du, ich könnte es aushalten, zwischen euch weiter zu leben?
– Doch, Mama. Ich will Dich so lieb haben, daß Du nicht mehr daran denkst.
– Ach, das ist ja nicht möglich!
– Ja, es ist möglich.
– Aber wie soll das möglich sein, daß ich nicht mehr daran denke, immer zwischen Deinem Bruder und Dir. Werdet ihr denn nicht mehr daran denken?
– Ich kann's Dir schwören.
– Aber Du wirst jeden Augenblick den ganzen Tag über immer daran denken.
– Nein, das schwöre ich Dir. Und dann hör zu, wenn Du fortgehst, gehe ich in den Krieg und lasse mich totschießen.
Sie war zu Tode erschrocken durch diese kindliche Drohung und umarmte Hans und streichelte ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Er fuhr fort:
– Ich liebe Dich mehr, als Du denkst, viel viel mehr. Nun sei vernünftig, versuche nur mal, acht Tage da zu bleiben. Willst Du mir das versprechen? Acht Tage, das kannst Du mir nicht abschlagen.
Sie legte beide Hände auf Hans' Schultern, und indem sie ihn mit ausgestreckten Armen von sich abhielt, sagte sie:
– Mein Kind, wir wollen versuchen, ruhig zu sein, und nicht weich werden. Laß mich zuerst mal mit Dir sprechen. Wenn ich von Deinen Lippen nur ein einziges Mal das hörte, was ich seit vier Wochen von Deinem Bruder höre, wenn ich nur ein einziges Mal in Deinen Augen lesen müßte, was ich in den seinen lese, wenn ich nur durch ein Wort, durch einen Blick merken sollte, daß ich Dir verhaßt bin wie ihm, eine Stunde darauf, hörst Du, eine Stunde später wäre ich fort auf Nimmerwiedersehn.
– Mama, ich schwöre Dir . . .
– Laß mich ausreden. Seit vier Wochen habe ich so gelitten, wie ein Mensch nur leiden kann. Vom Augenblick an, wo ich begriff, daß Dein Bruder, daß mein anderer Sohn mich in Verdacht hatte, daß er von Minute zu Minute mehr die Wahrheit erriet, waren alle Augenblicke meines Lebens eine Qual, wie ich sie Dir nicht ausdrücken kann.
Es klang ein so schmerzlicher Ton aus ihrer Stimme, daß Hans mit ihr litt, und seine Augen sich mit Thränen füllten.
Er wollte sie küssen, aber sie stieß ihn zurück:
– Laß mich. Hör mich an. Ich muß Dir noch viel sagen, damit Du alles verstehst. Aber Du wirst es nicht verstehen. Wenn ich nämlich bleiben sollte, müßte. . . . Nein, ich kann nicht.
– Sage doch, Mama, sage.
– Nun also gut. Dann habe ich Dich wenigstens nicht hintergangen. Ich soll bei Dir bleiben, nichtwahr? Damit dies möglich ist, damit wir uns noch sehen noch sprechen, noch den ganzen Tag über im Haus treffen können – denn ich wage ja keine Thür mehr aufzumachen, immer in der Angst, daß Dein Bruder dahinter steht, – dazu brauchst Du mir nicht zu verzeihen, – nichts thut weher als Verzeihen – nein, nur zürnen darfst Du mir nicht um des Geschehenen willen. Du müßtest Dich stark genug fühlen, anders wie andere Menschen, um Dir, ohne zu erröten, sagen zu können, daß Du nicht Rolands Sohn bist. Ich habe genug gelitten, ich habe zu viel gelitten. Ich kann nicht mehr. Nein, nein, ich kann nicht mehr. Und das ist nicht seit gestern erst, das ist schon lange. Aber das kannst Du nie begreifen. Damit wir noch zusammen leben, uns noch küssen, uns umarmen können, mein Hänschen, merke wohl, daß, wenn ich auch die Geliebte Deines Vaters gewesen bin, ich doch noch mehr seine Frau, seine richtige Frau war, daß ich im Grunde meines Herzens mich nicht schäme, daß ich nichts bedauere und daß ich ihn noch liebe, ihn, der tot ist. Daß ich ihn immer lieben werde, daß ich nur ihn geliebt habe, daß er mein ganzes Lebensglück, alle meine Hoffnung, mein Trost gewesen ist, mir alles, alles war, – so lange, lange Zeit. Höre mein Kind, vor Gott, der mich hört, nie hätte ich in meinem Leben etwas Gutes, Schönes gehabt, wenn ich ihm nicht begegnet wäre, nie Zärtlichkeit, Milde und Weichheit, keine jener Stunden, die es uns so schwer machen, alt zu werden. Ich verdanke ihm alles. Ich habe nur ihn besessen auf der Welt und euch beide, Deinen Bruder und Dich, ohne euch wäre alles leer, schwarz, tot wie die Nacht. Ich hätte nie etwas geliebt, nichts gekannt, nichts gewünscht. Ich würde nur geweint haben, denn ich habe viel geweint, mein Hänschen. Jawohl, ich habe geweint, seitdem wir hierher gekommen sind. Ich hatte mich ihm geschenkt mit Leib und Seele auf alle Ewigkeit, mit vollstem Glück. Und mehr als zehn Jahre bin ich seine Frau gewesen, wie er vor Gott mein Mann war, vor Gott, der uns geschaffen hatte eines für das andere. Und dann fühlte ich, daß er mich weniger lieb hatte. Er war immer noch gut und zuvorkommend gegen mich, aber ich war ihm nicht mehr das, was ich ihm einst gewesen war. Es ging zu Ende. O was habe ich geweint! Das Leben ist so elend, ein einziger großer Betrug. Nichts bleibt. Und nun sind wir hierher gekommen. Ich habe ihn nie wiedergesehen, er ist nie gekommen. Er versprach es in jedem Brief, ich erwartete ihn immer. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Und nun ist er tot. Aber er liebte uns noch, da er doch an Dich gedacht hat. Ich werde ihn lieben bis zu meinem letzten Hauch. Und ich liebe Dich, weil Du sein Kind bist, und vor Dir kann ich mich seiner nicht schämen. Verstehst Du, das könnte ich nie. Wenn ich bleiben soll, mußt Du es hinnehmen, daß Du sein Sohn bist, und wir müssen ab und zu von ihm sprechen dürfen, und Du mußt ihn ein wenig lieb haben, und wenn wir uns ansehen, müssen wir seiner gedenken. Wenn Du das nicht willst, wenn Du das nicht kannst, dann leb wohl mein Kind. Dann können wir nicht mehr beieinander bleiben. Jetzt will ich das thun, was Du entscheidest.
Hans antwortete mit weicher Stimme:
– Bleibe, Mama.
Sie drückte ihn in die Arme und begann wieder zu weinen. Dann sagte sie, mit ihm Wange an Wange gelehnt:
– Ja, aber was soll aus Peter werden?
Hans flüsterte:
– Wir wollen schon etwas für ihn finden. Du kannst nicht mehr mit ihm zusammen leben.
Beim Gedanken an den Ältesten zog sich ihr das Herz zusammen:
– Nein, das kann ich nicht, kann ich nicht, kann ich nicht.
Sie warf sich an Hans' Brust und rief in Todesverzweiflung:
– Rette mich vor ihm, Du, mein Kleiner, rette mich! Thu irgend etwas, ich weiß nicht was. Finde etwas. Nur rette mich.
– Ja, Mama, ich werde etwas suchen.
– Sofort. Es muß sein. Sofort. Verlaß mich nicht. Ich fürchte mich so vor ihm, fürchte mich so.
– Ich werde etwas finden, das verspreche ich Dir.
– Aber gleich, gleich! Du kannst Dir nicht denken, was in mir vorgeht, wenn ich ihn nur sehe.
Dann flüsterte sie ihm ganz leise ins Ohr:
– Behalte mich hier bei Dir.
Er zögerte, dachte nach und begriff mit seinem gesunden Menschenverstand die Gefahr, die in dieser Lösung lag.
Aber er mußte lange sprechen, ihr zureden und mit genauen Beweggründen ihr Entsetzen und ihren Schrecken bannen.
– Nur heute nacht, – sagte sie, – nur heute nacht. Du läßt morgen Roland sagen, daß mir unwohl gewesen ist.
– Das ist nicht möglich, denn Peter ist nach Haus gekommen. Mama, nun hab doch Mut. Ich will schon alles in Ordnung bringen von morgen ab. Ich werde um neun Uhr bei euch sein. Nun setz Deinen Hut auf, ich bringe Dich hin.
– Ich will thun, was Du willst! – sagte sie in kindlicher Ergebung, furchtsam und dankbar.
Sie versuchte aufzustehen, aber der Schlag war zu stark gewesen, sie konnte sich nicht auf den Füßen halten.
Da gab er ihr Zuckerwasser zu trinken, Alkali einzuatmen und wusch ihr die Schläfe mit Essig. Sie ließ es geschehen, ganz gebrochen aber erleichtert, wie nach einer Entbindung.
Endlich konnte sie gehen und nahm seinen Arm. Es schlug drei, als sie am Rathaus vorüberkamen. Vor der Hausthür küßte er sie und sagte: – Adieu, Mama. Sei guten Muts.
Mit eiligen Schritten ging sie die schweigende Treppe hinauf, trat in ihr Zimmer, entkleidete sich schnell und glitt, mit der wiedererwachten Erinnerung an die Süßigkeit des einstigen Ehebruchs, neben den schnarchenden Roland.
Peter allein schlief nicht im ganzen Haus und hatte sie zurückkommen hören.