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VI. Kapitel

 

Die absolute kritische Kritik
oder die kritische Kritik als Herr Bruno

Bisher schien die kritische Kritik mehr oder minder mit der kritischen Bearbeitung verschiedenartiger massenhafter Gegenstände beschäftigt. Jetzt finden wir sie mit dem absolut kritischen Gegenstand, mit sich selbst, beschäftigt. Sie schöpfte bisher ihren relativen Ruhm aus der kritischen Erniedrigung, Verwerfung und Verwandlung bestimmter massenhafter Gegenstände und Personen. Jetzt schöpft sie ihren absoluten Ruhm aus der kritischen Erniedrigung, Verwerfung und Verwandlung der Masse im allgemeinen. Der relativen Kritik standen relative Schranken gegenüber. Der absoluten Kritik steht die absolute Schranke gegenüber, die Schranke der Masse, die Masse als Schranke. Die relative Kritik in ihrem Gegensatz zu bestimmten Schranken war notwendig selbst ein beschränktes Individuum. Die absolute Kritik im Gegensatz zu der allgemeinen Schranke, zu der Schranke schlechthin, ist notwendig absolutes Individuum. Wie die verschiedenartigen, massenhaften Gegenstände und Personen in dem unreinen Brei der "Masse" zusammengefallen sind, so hat sich die noch scheinbar gegenständliche und persönliche Kritik in die "reine Kritik" verwandelt. Bisher schien die Kritik mehr oder minder eine Eigenschaft der kritischen Individuen Reichardt, Edgar, Faucher etc. Jetzt ist sie Subjekt und Herr Bruno ihre Inkarnation.

Bisher schien die Massenhaftigkeit mehr oder minder die Eigenschaft der kritisierten Gegenstände und Personen; jetzt sind Gegenstände und Personen zur "Masse" und die "Masse" Gegenstand und Person geworden. In das Verhältnis der absoluten kritischen Weisheit zu der absoluten massenhaften Dummheit haben sich alle bisherigen kritischen Verhältnisse aufgelöst. Dies Grundverhältnis erscheint als der Sinn, die Tendenz, das Lösungswort der bisherigen kritischen Taten und Kämpfe.

Ihrem absoluten Charakter gemäß wird die "reine" Kritik sogleich bei ihrem Auftreten das unterscheidende "Stichwort" aussprechen, nichtsdestoweniger aber als absoluter Geist einen dialektischen Prozeß durchlaufen müssen. Erst am Ende ihrer Himmelsbewegung wird ihr ursprünglicher Begriff wahrhaft verwirklicht sein. (Siehe Hegel, "Enzyklopädie".)

"Noch vor wenigen Monaten", verkündet die absolute Kritik, "glaubte sich die Masse riesenstark und zu einer Weltherrschaft bestimmt, deren Nahe sie an den Fingern abzählen zu können meinte."

Herr Bruno Bauer in der "Guten Sache der Freiheit" (versteht sich, seiner "eignen" Sache), in der "Judenfrage" usw., war es eben, der die Nähe der herannahenden Weltherrschaft an den Fingern abzählte, wenn er auch das Datum nicht exakt angeben zu können gestand. Zum Sündenregister der Masse schlägt er die Masse seiner eignen Sünden.

"Die Masse glaubte sich im Besitze so vieler Wahrheiten, die sich ihr von selbst verstanden." "Eine Wahrheit aber besitzt man erst vollständig ... wenn man ihr durch ihre Beweise hindurchfolgt."

Die Wahrheit ist für Herrn Bauer wie für Hegel ein Automaton, das sich selbst beweist. Der Mensch hat ihr zu folgen. Wie bei Hegel ist das Resultat der wirklichen Entwickelung nichts anderes als die bewiesene, d.h. zum Bewußtsein gebrachte Wahrheit. Die absolute Kritik kann daher mit dem borniertesten Theologen fragen:

"Wozu wäre die Geschichte, wenn es nicht ihre Aufgabe wäre, grade diese einfachsten aller Wahrheiten (wie die Bewegung der Erde um die Sonne) zu beweisen?"

Wie nach den frühern Teleologen die Pflanzen da sind, um von den Tieren, die Tiere, um von den Menschen gegessen zu werden, so ist die Geschichte da, um zum Konsumtionsakt des theoretischen Essens, des Beweisens zu dienen. Der Mensch ist da, damit die Geschichte, und die Geschichte ist da, damit der Beweis der Wahrheiten da ist. In dieser kritisch trivialisierten Form wiederholt sich die spekulative Weisheit, daß der Mensch, daß die Geschichte da ist, damit die Wahrheit zum Selbstbewußtsein komme.

Die Geschichte wird daher, wie die Wahrheit, zu einer aparten Person, einem metaphysischen Subjekt, dessen bloße Träger die wirklichen menschlichen Individuen sind. Die absolute Kritik bedient sich daher der Phrasen.

" Die Geschichte läßt ihrer nicht spotten, die Geschichte hat ihre größten Anstrengungen darauf verwandt, die Geschichte ist beschäftigt worden, wozu wäre die Geschichte da? die Geschichte liefert uns ausdrücklich den Beweis; die Geschichte bringt Wahrheiten auf das Tapet etc."

Wenn nach der Behauptung der absoluten Kritik nur ein paar solcher –allereinfachsten – Wahrheiten, die sich am Ende von selbst verstehn, die Geschichte bisher beschäftigt haben, so beweist diese Dürftigkeit, worauf sie die bisherigen menschlichen Erfahrungen reduziert, zunächst nur ihre eigne Dürftigkeit. Vom unkritischen Gesichtspunkte aus hat die Geschichte vielmehr das Resultat, daß die komplizierteste Wahrheit, daß der Inbegriff aller Wahrheit, die Menschen, sich am Ende von selbst verstehen.

"Wahrheiten aber", demonstriert die absolute Kritik weiter, "die der Masse so sonnenklar zu sein scheinen, daß sie sich von vornherein von selber verstehen ... daß sie den Beweis für überflüssig hält, sind nicht wert, daß die Geschichte noch ausdrücklich ihren Beweis liefert; sie bilden überhaupt keinen Teil der Aufgabe, mit deren Lösung sich die Geschichte beschäftigt."

In heiligem Eifer gegen die Masse sagt ihr die absolute Kritik die feinste Schmeichelei. Wenn eine Wahrheit sonnenklar ist, weil sie der Masse sonnenklar scheint, wenn die Geschichte nach dem Dafürhalten der Masse sich zu den Wahrheiten verhält, so ist also das Urteil der Masse absolut, unfehlbar, das Gesetz der Geschichte, die nur beweist, was der Masse nicht sonnenklar, daher des Beweises bedürftig scheint. Die Masse schreibt also der Geschichte ihre "Aufgabe" und ihre "Beschäftigung" vor.

Die absolute Kritik spricht von "Wahrheiten, die sich von vornherein von selbst verstehen". In ihrer kritischen Naivität erfindet sie ein absolutes "von vornherein" und eine abstrakte, unveränderliche "Masse". Das "von vornherein" der Masse des 16. Jahrhunderts und das "von vornherein" der Masse des 19. Jahrhunderts sind vor den Augen der absoluten Kritik ebensowenig unterschieden als diese Massen selbst. Es ist eben das Charakteristische einer wahr, offenbar gewordnen, sich von selber verstehenden Wahrheit, daß sie sich "von vornherein von selber versteht". Die Polemik der absoluten Kritik gegen die Wahrheiten, die sich von vornherein von selber verstehen, ist die Polemik gegen die Wahrheiten, die sich überhaupt "von selber verstehn".

Eine Wahrheit, die sich von selber versteht, hat für die absolute Kritik, wie für die göttliche Dialektik, ihr Salz, ihren Sinn, ihren Wert verloren. Sie ist fad geworden wie abgestandnes Wasser. Die absolute Kritik beweist daher einerseits alles, was sich von selbst versteht, und außerdem viele Dinge, die das Glück haben, unverständig zu sein, sich also niemals von selbst verstehen werden. Andrerseits versteht sich ihr alles das von selbst, was einer Entwickelung bedarf. Warum? Weil es sich bei wirklichen Aufgaben von selber versteht, daß sie sich nicht von selber verstehn.

Weil die Wahrheit, wie die Geschichte, ein ätherisches, von der materiellen Masse getrenntes Subjekt ist, adressiert sie sich nicht an die empirischen Menschen, sondern an das "Innerste der Seele", rückt sie, um "wahrhaft erfahren" zu werden, dem Menschen nicht auf seinen groben, etwa in der Tiefe eines englischen Kellers oder in der Höhe einer französischen Speicherwohnung hausenden Leib, sondern "zieht" sich "durch und durch" durch seine idealistischen Darmkanäle. Die absolute Kritik stellt nun zwar "der Masse" das Zeugnis aus, daß sie bisher in ihrer Weise, d.h. oberflächlich, von den Wahrheiten, welche die Geschichte so gnädig war, "aufs Tapet zu bringen", berührt worden sei; zugleich aber prophezeit sie, daß

"das Verhältnis der Masse zum geschichtlichen Fortschritt sich völlig ändern werde".

Der geheime Sinn dieser kritischen Prophezeiung wird nicht anstehn, uns "sonnenklar" zu werden.

"Alle großen Aktionen der bisherigen Geschichte", erfahren wir, "waren deshalb von vornherein verfehlt und ohne eingreifenden Erfolg, weil die Masse sich für sie interessiert und enthusiasmiert hatte – oder sie mußten ein klägliches Ende nehmen, weil die Idee, um die es sich in ihnen handelte, von der Art war, daß sie sich mit einer oberflächlichen Auffassung begnügen, also auch auf den Beifall der Messe rechnen mußte."

Es scheint, daß eine Auffassung, welche für eine Idee genügt, also einer Idee entspricht, aufhört, oberflächlich zu sein. Herr Bruno bringt nur zum Schein ein Verhältnis zwischen der Idee und ihrer Auffassung hervor, wie er nur zum Schein ein Verhältnis der verfehlten geschichtlichen Aktion zur Masse hervorbringt. Wenn die absolute Kritik daher irgend etwas als "oberflächlich" verdammt, so ist es die bisherige Geschichte schlechthin, deren Aktionen und Ideen die Ideen und Aktionen von "Massen" waren. Sie verwirft die massenhafte Geschichte, an deren Stelle (man sehe Herrn Jules Faucher über die englischen Tagesfragen) sie die kritische Geschichte setzen wird. Nach der bisherigen unkritischen, also nicht im Sinn der absoluten Kritik verfaßten Geschichte ist ferner genau zu unterscheiden, inwieweit die Masse sich für Zwecke "interessierte" und wieweit sie sich für dieselben "enthusiasmierte". Die "Idee" blamierte sich immer, soweit sie von dem "Interesse" unterschieden war. Anderseits ist es leicht zu begreifen, daß jedes massenhafte, geschichtlich sich durchsetzende "Interesse", wenn es zuerst die Weltbühne betritt, in der "Idee" oder "Vorstellung" weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt. Diese Illusion bildet das, was Fourier den Ton einer jeden Geschichtsepoche nennt. Das Interesse der Bourgeoisie in der Revolution von 1789, weit entfernt, "verfehlt" zu sein, hat alles "gewonnen" und hat "den eingreifensten Erfolg" gehabt, so sehr der "Pathos" verraucht und so sehr die "enthusiastischen" Blumen, womit dieses Interesse seine Wiege bekränzte, verwelkt sind. Dieses Interesse war so mächtig, daß es die Feder eines Marat, die Guillotine der Terroristen, den Degen Napoleons wie das Kruzifix und das Vollblut der Bourbonen siegreich überwand. "Verfehlt" ist die Revolution nur für die Masse, die in der politischen "Idee" nicht die Idee ihres wirklichen "Interesses" besaß, deren wahres Lebensprinzip also mit dem Lebensprinzip der Revolution nicht zusammenfiel, deren reale Bedingungen der Emanzipation wesentlich verschieden sind von den Bedingungen, innerhalb deren die Bourgeoisie sich und die Gesellschaft emanzipieren konnte. Ist also die Revolution, die alle großen geschichtlichen "Aktionen" repräsentieren kann, verfehlt, so ist sie verfehlt, weil die Masse, innerhalb deren Lebensbedingungen sie wesentlich stehenblieb, eine exklusive, nicht die Gesamtheit umfassende, eine beschränkte Masse war. Nicht weil die Masse sich für die Revolution "enthusiasmierte" und "interessierte", sondern weil der zahlreichste, der von der Bourgeoisie unterschiedne Teil der Masse in dem Prinzip der Revolution nicht sein wirkliches Interesse, nicht sein eigentümliches revolutionäres Prinzip, sondern nur eine "Idee", also nur einen Gegenstand des momentanen Enthusiasmus und einer nur scheinbaren Erhebung besaß.

Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist. In der kritischen Geschichte, nach welcher es sich bei geschichtlichen Aktionen nicht um die agierenden Massen, nicht um die empirische Handlung noch um das empirische Interesse dieser Handlung, sondern "in ihnen" vielmehr nur "um eine Idee handelt", muß sich die Sache allerdings anders zutragen.

"In der Masse", belehrt sie uns, " nicht anderwärts, wie ihre früheren liberalen Wortführer meinen, ist der wahre Feind des Geistes zu suchen."

Die Feinde des Fortschritts außer der Masse sind eben die verselbständigten, mit eignem Leben begabten Produkte der Selbsterniedrigung, der Selbstverwerfung, der Selbstentäußerung der Masse. Die Masse richtet sich daher gegen ihren eignen Mangel, indem sie sich gegen die selbständig existierenden Produkte ihrer Selbsterniedrigung richtet, wie der Mensch, indem er sich gegen das Dasein Gottes kehrt, sich gegen seine eigne Religiosität kehrt. Weil aber jene praktischen Selbstentäußerungen der Masse in der wirklichen Welt auf eine äußerliche Weise existieren, so muß sie dieselben zugleich auf eine äußerliche Weise bekämpfen. Sie darf diese Produkte ihrer Selbst- entäußerung keineswegs für nur ideale Phantasmagorien, für bloße Entäußerungen des Selbstbewußtseins halten und die materielle Entfremdung durch eine rein innerliche spiritualistische Aktion vernichten wollen. Schon die Zeitschrift Loustalots vom Jahre 1789 führte das Motto:

les grandes ne nous praissent grands
Que parce que nous sommes à genoux
–-- Levons nous! –-

Die Großen erscheinen uns nur groß,
weil wir auf den Knien liegen.
Erheben wir uns!

Aber um sich zu heben, genügt es nicht, sich in Gedanken zu heben und über dem wirklichen, sinnlichen Kopf das wirkliche, sinnliche Joch, das nicht mit Ideen wegzuspintisieren ist, schweben zu lassen. Die absolute Kritik jedoch hat von der Hegelschen Phänomenologie wenigstens die Kunst erlernt, reale, objektive, außer mir existierende Ketten in bloß ideelle, bloß subjektive, bloß in mir existierende Ketten und daher alle äußerlichen, sinnlichen Kampfe in reine Gedankenkämpfe zu verwandeln.

Diese kritische Verwandlung begründet die prästabilierte Harmonie der kritischen Kritik und der Zensur. Von kritischem Gesichtspunkte aus ist der Kampf des Schriftstellers mit dem Zensor kein Kampf "Mann gegen Mann". Der Zensor ist vielmehr nichts als mein eigner, von der vorsorglichen Polizei mir personifizierte Takt, mein eigner Takt, der mit meiner Taktlosigkeit und Kritiklosigkeit im Kampf ist. Der Kampf des Schriftstellers mit dem Zensor ist nur scheinbar, nur für die schlechte Sinnlichkeit etwas anderes als der innerliche Kampf des Schriftstellers mit sich selbst. Der Zensor, insofern er ein von mir wirklich individuell unterschiedner, mein Geistesprodukt nach äußerlichem, der Sache fremdem Maßstab mißhandelnder Polizeischerge ist, ist eine bloß massenhafte Einbildung, ein unkritisches Hirngespinst. Wenn Feuerbachs "Thesen zur Reform der Philosophie" von der Zensur exiliert wurden, so lag die Schuld nicht an der offiziellen Barbarei der Zensur, sondern an der Unkultur der Feuerbachschen Thesen. Die von aller Masse und Materie ungetrübte, die "reine" Kritik besitzt auch im Zensor eine reine, "ätherische", von aller massenhaften Wirklichkeit losgetrennte Gestalt.

Die absolute Kritik hat die "Masse" für den wahren Feind des Geistes erklärt. Sie führt dies näher dahin aus:

"Der Geist weiß jetzt, wo er seinen einzigen Widersacher zu suchen hat, in den Selbsttäuschungen und in der Kernlosigkeit der Masse."

Die absolute Kritik geht von dem Dogma der absoluten Berechtigung des "Geistes" aus. Sie geht ferner von dem Dogma der außerweltlichen" d.h. außer der Masse der Menschheit hauenden Existenz des Geistes aus. Sie verwandelt endlich einerseits "den Geist", "den Fortschritt", andrerseits "die Masse" in fixe Wesen, in Begriffe, und bezieht sie dann als solche gegebne feste Extreme aufeinander. Es fällt der absoluten Kritik nicht ein, den "Geist" selbst zu untersuchen, zu untersuchen, ob nicht in seiner eigenen spiritualistischer Natur, in seinen windigen Prätentionen, "die Phrase", "die Selbsttäuschung", "die Kernlosigkeit" begründet sind. Er ist vielmehr absolut, aber zugleich schlägt er leider beständig in Geistlosigkeit um: seine Rechnungen sind beständig ohne den Wirt gemacht. Er muß also notwendigerweise einen Widersacher haben, der gegen ihn intrigiert. Die Masse ist dieser Widersacher.

Ebenso verhält es sich mit dem Fortschritt. Trotz der Prätentionen "des Fortschrittes" zeigen sich beständige Rückschritte und Kreisbewegungen. Die absolute Kritik, weit entfernt zu vermuten, daß die Kategorie "des Fortschrittes" völlig gehaltlos und abstrakt ist, ist vielmehr so sinnreich, "den Fortschritt" als absolut anzuerkennen, um, zur Erklärung des Rückschritts, einen "persönlichen Widersacher" des Fortschritts, die Masse, zu unterstellen. Weil "die Masse" nichts ist als der "Gegensatz des Geistes", des Fortschritts der "Kritik", so kann sie auch nur durch diesen imaginären Gegensatz bestimmt werden, und absehend von diesem Gegensatz weiß die Kritik über den Sinn und das Dasein der Masse nur das Sinnlose, weil völlig Unbestimmte, zu sagen:

"Die Masse in jenem Sinn, in welchem das 'Wort' auch die sogenannte gebildete Welt umfaßt."

Ein "auch", ein "sogenannt" reicht zu einer kritischen Definition aus. Die Masse ist also unterschieden von den wirklichen Massen und existiert als die "Masse" nur für die "Kritik".

Alle kommunistischen und sozialistischen Schriftsteller gingen von der Beobachtung aus, einerseits, daß selbst die günstigsten Glanztaten ohne glänzende Resultate zu bleiben und in Trivialitäten auszulaufen scheinen, andrerseits, daß alle Fortschritte des Geistes bisher Fortschritte gegen die Masse der Menschheit waren, die in eine immer entmenschtere Situation hineingetrieben wurde. Sie erklärten daher (siehe Fourier) "den Fortschritt" für eine ungenügende, abstrakte Phrase, sie vermuteten (siehe unter andern Owen) ein Grundgebrechen der zivilisierten Welt; sie unterwarfen daher die wirklichen Grundlagen der jetzigen Gesellschaft einer einschneidenden Kritik. Dieser kommunistischen Kritik entsprach praktisch sogleich die Bewegung der großen Masse, im Gegensatz zu welcher die bisherige geschichtliche Entwickelung stattgefunden hatte. Man muß das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.

Wie unendlich geistreich ist nun die "absolute Kritik", welche angesichts dieser intellektuellen und praktischen Tatsachen nur die eine Seite des Verhältnisses, den beständigen Schiffbruch des Geistes, einseitig auffaßt und in ihrem Verdruß hierüber noch einen Widersacher des "Geistes" sucht, den sie in der "Masse" findet! Schließlich läuft diese große kritische Entdeckung auf eine Tautologie hinaus. Der Geist hatte nach ihrer Ansicht bisher eine Schranke, ein Hindernis, d.h. einen Widersacher, weil er einen Widersacher hatte. Wer ist nun der Widersacher des Geistes? Die Geistlosigkeit. Die Masse ist nämlich nur als "Gegensatz" des Geistes bestimmt, als Geistlosigkeit und als die näheren Bestimmungen, der Geistlosigkeit, als "Indolenz", "Oberflächlichkeit", "Selbstzufriedenheit". Welche gründliche Überlegenheit über die kommunistischen Schriftsteller, Geistlosigkeit, Indolenz, Oberflächlichkeit, Selbstzufriedenheit nicht in ihre Zeugungsstätten verfolgt, sondern moralisch abgekanzelt und als Gegensatz des Geistes, des Fortschrittes, entdeckt zu haben! Wenn diese Eigenschaften für Eigenschaften der Masse, als eines noch von ihnen unterschiedenen Subjekts, erklärt werden, so ist diese Unterscheidung nichts als eine "kritische" Scheinunterscheidung. Nur zum Schein besitzt die absolute Kritik außer den abstrakten Eigenschaften der Geistlosigkeit, Indolenz etc. noch ein bestimmtes konkretes Subjekt, denn "die Masse" ist in der kritischen Auffassung nichts anderes als jene abstrakte Eigenschaften, ein anderes Wort für dieselben, eine phantastische Personifikation derselben.

Das Verhältnis von "Geist und Masse" hat indes noch einen versteckten Sinn, der sich im Lauf der Entwickelungen vollständig enthüllen wird. Wir deuten ihn hier nur an. Jenes von Herrn Bruno entdeckte Verhältnis ist nämlich nichts anderes als die kritisch karikierte Vollendung der HegeIschen Geschichtsauffassung, welche wieder nichts anderes ist als der spekulative Ausdruck des christlich-germanischen Dogmas vom Gegensatze des Geistes und der Materie, Gottes und der Welt. Dieser Gegensatz drückt sich nämlich innerhalb der Geschichte, innerhalb der Menschenwelt selbst so aus, daß wenige auserwählte Individuen als aktiver Geist der übrigen Menschheit als der geistlosen Masse, als der Materie gegenüberstehen.

HegeIs Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen Geschichte läßt er daher eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehn. Die Geschichte der Menschheit verwandelt sich in die Geschichte des abstrakten, daher dem wirklichen Menschen jenseitigen Geistes der Menschheit.

Parallel mit dieser Hegelschen Doktrin entwickelte sich in Frankreich die Lehre der Doktrinäre, welche die Souveränität der Vernunft im Gegensatz zur Souveränität des Volkes proklamierten, um die Massen auszuschließen und allein zu herrschen. Es ist dies konsequent. Wenn die Tätigkeit der wirklichen Menschheit nichts als die Tätigkeit einer Masse von menschlichen Individuen ist, so muß dagegen die abstrakte Allgemeinheit, die Vernunft, der Geist im Gegenteil einen abstrakten, in wenigen Individuen erschöpften Ausdruck besitzen. Es hängt dann von der Position und der Einbildungskraft eines jeden Individuums ab, ob es sich für diesen Repräsentanten " des Geistes" ausgeben will.

Schon bei Hegel hat der absolute Geist der Geschichte an der Masse sein Material und seinen entsprechenden Ausdruck erst in der Philosophie. Der Philosoph erscheint indessen nur als das Organ, in dem sich der absolute Geist, der die Geschichte macht, nach Ablauf der Bewegung nachträglich zum Bewußtsein kömmt. Auf dieses nachträgliche Bewußtsein des Philosophen reduziert sich sein Anteil an der Geschichte, denn die wirkliche Bewegung vollbringt der absolute Geist unbewußt. Der Philosoph kommt also post festum hinterher.

Hegel macht sich einer doppelten Halbheit schuldig, einmal indem er die Philosophie für das Dasein des absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwehrt, das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist zu erklären; dann aber, indem er den absoluten Geist als absoluten Geist nur zum Schein die Geschichte machen laßt. Da der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen als schöpferischer Weltgeist zum Bewußtsein kommt, so existiert seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewußtsein, in der Meinung und Vorstellung des Philosophen, nur in der spekulativen Einbildung. Herr Bruno hebt Hegels Halbheit auf.

Einmal erklärt er die Kritik für den absoluten Geist und sich selbst für die Kritik. Wie das Element der Kritik aus der Masse verbannt ist, so ist das Element der Masse aus der Kritik verbannt. Die Kritik weiß sich daher nicht in einer Masse, sondern in einem geringen Häuflein auserwählter Männer, in Herrn Bauer und seinen Jüngern, ausschließlich inkarniert.

Herr Bruno hebt ferner die andere Halbheit Hegels auf, indem er nicht mehr wie der Hegelsche Geist post festum in der Phantasie die Geschichte macht, sondern mit Bewußtsein im Gegensatz zu der Masse der übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spielt, in ein gegenwärtiges dramatisches Verhältnis zu ihr tritt und die Geschichte mit Absicht und nach reiflicher Überlegung erfindet und vollzieht.

Auf der einen Seite steht die Masse als das passive, geistlose, geschichtslose materielle Element der Geschichte; auf der andern Seite steht: der Geist, die Kritik, Herr Bruno & Comp. als das aktive Element, von welchem alle geschichtliche Handlung ausgeht. Der Umgestaltungsakt der Gesellschaft reduziert sich auf die Hirntätigkeit der kritischen Kritik.

Ja, das Verhältnis der Kritik, also auch der inkarnierten Kritik, Herrn Brunos & Comp., zur Masse ist in Wahrheit das einzige geschichtliche Verhältnis der Gegenwart. Auf die Bewegung dieser beiden Seiten gegeneinander reduziert sich die ganze jetzige Geschichte. Alle Gegensätze haben sich in diesem kritischen Gegensatz aufgelöst.

Die kritische Kritik, welche sich nur an ihrem Gegensatz, der Masse, der Dummheit, gegenständlich wird, muß sich daher beständig diesen Gegensatz erzeugen, und die Herren Faucher, Edgar und Szeliga haben hinreichende Proben geliefert von [der] Virtuosität, welche sie in ihrem Flache, in der massenhaften Verdummung der Personen und Sachen, besitzt.

Begleiten wir nun die absolute Kritik in ihren Feldzug gegen die Masse.

 

b) Die Judenfrage Nr. I. Die Stellung der Fragen

Der "Geist" im Gegensatz zur Masse benimmt sich sogleich kritisch, indem er sein eignes borniertes Werk, Bruno Bauers "Judenfrage", als absolut und nur die Gegner desselben als Sünder betrachtet. In der Replike Nr. I auf die Angriffe wider diese Schrift verrät er keine Ahnung über ihre Mängel, er behauptet vielmehr noch, die "wahre", "allgemeine" (!) Bedeutung der Judenfrage entwickelt zu haben. In späteren Repliken werden wir gezwungen sehen, seine "Versehen" einzugestehen.

"Die Aufnahme, die meine Arbeit gefunden hat, ist der Anfang des Beweises, daß grade diejenigen, die bis jetzt für Freiheit gesprochen haben und noch jetzt dafür reden, gegen den Geist am meisten sich auflehnen müssen, und die Verteidigung, die ich ihr jetzt widmen werde, wird den weiteren Beweis liefern, wie gedankenlos die Wortführer der Masse sind, die sich wunder wie groß damit wissen, daß sie für die Emanzipation und für das Dogma von den 'Menschenrechten' aufgetreten sind."

Die "Masse" muß notwendig bei Gelegenheit einer Schrift der absoluten Kritik angefangen haben, ihren Gegensatz gegen den Geist zu beweisen, da ihre Existenz sogar durch den Gegensatz zur absoluten Kritik bedingt und bewiesen ist.

Die Polemik einiger liberalen und rationalistischen Juden gegen Herrn Brunos "Judenfrage" hat natürlich einen ganz andern kritischen Sinn als die massenhafte Polemik der Liberalen gegen die Philosophie und der Rationalisten gegen Strauß. Von welcher Originalität übrigens die oben zitierte Wendung ist, mag man aus folgender Stelle Hegels entnehmen:

"Die besondere Form des übeln Gewissens, welche sich in der Art der Beredsamkeit, zu der sich jene" (die liberale) "Seichtigkeit aufspreizt, kundtut, kann hierbei bemerklich gemacht werden, und zwar zunächst, daß sie da, wo sie am geistlosesten redet, am meisten vom Geiste spricht, wo sie am totesten und ledernsten ist, das Wort Leben" etc. "im Munde führt."

Was die "Menschenrechte" betrifft, so ist Herrn Bruno bewiesen worden ("Zur Judenfrage", "Deutsch-Französische Jahrbücher"), daß nicht die Wortführer der Masse, sondern vielmehr "er selbst" ihr Wesen verkannt und dogmatisch mißhandelt hat. Gegen seine Entdeckung, daß die Menschenrechte nicht "angeboren" sind, eine Entdeckung, die in England seit mehr als 40 Jahren unendlichemal entdeckt worden ist, ist Fouriers Behauptung, daß Fischen, Jagen etc. angeborene Menschenrechte seien, genial zu nennen.

Wir geben nur einige Beispiele von dem Kampf Herrn Brunos mit Philippson, Hirsch etc. Selbst diese tristen Gegner werden der absoluten Kritik nicht unterliegen. Herr Philispson sagt keinesweges, wie die absolute Kritik behauptet, eine Ungereimtheit, wenn er ihr vorwirft:

"Bauer denke sich einen Staat von eigner Art ... ein philosophisches Ideal von einem Staat."

Herr Bruno, der den Staat mit der Menschheit, die Menschenrechte mit dem Menschen, die politische Emanzipation mit der menschlichen verwechselte, mußte sich notwendigerweise einen Staat von eigner Art, ein philosophisches Ideal von einem Staate, wenn auch nicht denken, so doch einbilden.

"Hätte der Deklamator" (Herr Hirsch) "lieber, statt seinen anstrengenden Satz niederzuschreiben, meinen Beweis widerlegt, daß der christliche Staat, weil sein Lebensprinzip eine bestimmte Religion ist, den Anhängern einer andern bestimmten Religion ... keine vollkommene Gleichartigkeit mit seinen Ständen zuzugestehen vermag."

Hätte der Deklamator Hirsch wirklich den Beweis des Herrn Bruno widerlegt und, wie es in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" geschehen ist, gezeigt, daß der Staat der Stände und des exklusiven Christentums nicht nur der unvollendete Staat, sondern der unvollendete christliche Staat sei, so hätte Herr Bruno geantwortet, wie er jener Widerlegung antwortet:

"Vorwurfe sind in dieser Angelegenheit bedeutungslos."

Gegen Herrn Brunos Satz:

"Die Juden haben durch den Druck gegen die Springfedern der Geschichte den Gegendruck hervorgerufen",

erinnert Herr Hirsch ganz richtig:

"So müßten sie also für die Bildung der Geschichte etwas gewesen sein, und wenn B[auer] dies selbst behaupte, so hätte er andrerseits unrecht zu behaupten, daß sie nichts für die Bildung der neueren Zeit beigetragen hätten."

Herr Bruno antwortet:

"Ein Dorn im Auge ist auch etwas – trägt er deshalb zur Entwickelung meines Gesichtssinnes bei?"

Ein Dorn, der mir – wie das Judentum der christlichen Welt – von der Stunde der Geburt im Auge sitzt, sitzen bleibt, mit ihm wächst und sich gestaltet, ist kein gewöhnlicher, sondern ein wunderbarer, ein zu meinem Auge gehöriger Dorn, der sogar zu einer höchst originellen Entwickelung meines Gesichtssinnes beitragen müßte. Der kritische "Dorn" spießt also nicht den deklamierenden "Hirsch". Übrigens ist Herrn Bruno in der oben zitierten Kritik die Bedeutung des Judentums für "die Bildung der neueren Zeit" enthüllt worden.

Das theologische Gemüt der absoluten Kritik fühlt sich von dem Ausspruche eines rheinischen Landtagsabgeordneten, "daß die Juden nach ihrer jüdischen und nicht nach unserer sogenannten christlichen Weise verschroben sind", dermaßen verletzt, daß sie ihn noch nachträglich "für den Gebrauch dieses Arguments zur Ordnung verweist".

Auf die Behauptung eines andern Abgeordneten: "Bürgerliche Gleichstellung der Juden kann nur da statthaben, wo das Judentum selbst nicht mehr existiert", bemerkt Herr Bruno:

"Richtig! dann nämlich richtig, wenn die andere Wendung der Kritik nicht fehlt, die ich in meiner Schrift durchgeführt habe",

nämlich die Wendung, daß auch das Christentum aufgehört haben müsse zu existieren.

Man sieht, daß die absolute Kritik in Nr. I ihrer Replike auf die Anriffe gegen die Judenfrage noch immer die Aufhebung der Religion, den Atheismus, als Bedingung der bürgerlichen Gleichheit betrachtet, also in ihrem ersten Stadium noch keine weitere Einsicht in das Wesen des Staates wie in das "Versehen" ihres "Werkes" erworben hat.

Die absolute Kritik fühlt sich verstimmt, wenn eine von ihr vorgehabte wissenschaftliche "neueste" Entdeckung als eine schon allgemein verbreitete Einsicht verraten wird. Ein rheinischer Abgeordneter bemerkt,

"daß Frankreich und Belgien bei der Organisation ihrer politischen Verhältnisse gerade durch besondere Klarheit im Erkennen der Prinzipien ausgezeichnet waren, ist noch von niemandem behauptet worden".

Die absolute Kritik konnte erwidern, daß diese Behauptung die Gegenwart in die Vergangenheit versetze, indem sie die heute trivial gewordene Ansicht von der Unzulänglichkeit der französischen politischen Prinzipien für die traditionelle Ansicht ausgebe. Die absolute Kritik fände bei dieser sachgemäßen Erwiderung nicht ihre Rechnung. Sie muß vielmehr die verjährte Ansicht als die gegenwärtig herrschende Ansicht und die gegenwärtig herrschende Ansicht als ein kritisches Geheimnis behaupten, das noch durch ihre Studien der Masse zu offenbaren bleibe. Sie muß daher sagen.

"Es" (das antiquierte Vorurteil) "ist von sehr vielen" (der Masse) "behauptet worden: aber eine gründliche Erforschung der Geschichte wird den Beweis führen, daß auch nach den großen Arbeiten Frankreichs für die Erkenntnis der Prinzipien noch viel zu leisten ist.

Also die gründliche Geschichtsforschung wird nicht selbst die Erkenntnis der Prinzipien "leisten". Sie wird in ihrer Gründlichkeit nur beweisen, daß "noch viel zu leisten ist". Eine große, namentlich nach den sozialistischen Arbeiten große Leistung! Für die Erkenntnis des jetzigen gesellschaftlichen Zustandes leistet Herr Bruno indes schon viel mit der Bemerkung:

"Die gegenwärtig herrschende Bestimmtheit ist die Unbestimmtheit."

Wenn Hegel sagt, die herrschende chinesische Bestimmtheit sei das "Sein", die herrschende indische Bestimmtheit sei das "Nichts" etc., so schließt sich die absolute Kritik in "reiner" Weise an, wenn sie den Charakter der jetzigen Zeit in die logische Kategorie der "Unbestimmtheit" auflöst, um so reiner, als auch die "Unbestimmtheit", gleich dem "Sein" und dem "Nichts", in das erste Kapitel der spekulativen Logik, in das Kapitel von der "Qualität" gehört.

Wir können uns nicht ohne eine allgemeine Bemerkung von Nr. I der "Judenfrage" trennen.

Ein Hauptgeschäft der absoluten Kritik besteht darin, alle Zeitfragen erst in ihre richtige Stellung zu bringen. Sie beantwortet nämlich nicht die wirklichen Fragen, sondern schiebt ganz andere Fragen unter. Wie sie alles macht, muß sie auch die "Zeitfragen" erst machen, sie zu ihren, zu kritisch-kritischen Fragen machen. Handelte es sich um den "Code Napoleon", sie würde beweisen, daß es sich eigentlich um den "Pentateuch" Die "fünf Bücher" Mosis handle. Ihre Stellung der "Zeitfragen" ist die kritische Entstellung und Verstellung derselben. So verdrehte sie auch die "Judenfrage" dergestalt, daß sie die politische Emanzipation, um welche es sich in jener Frage handelt, nicht zu untersuchen brauchte, sondern vielmehr mit einer Kritik der jüdischen Religion und einer Schilderung des christlich-gerrnanischen Staats sich begnügen konnte.

Auch diese Methode ist, wie jede Originalität der absoluten Kritik, die Wiederholung eines spekulativen Witzes. Die spekulative Philosophie, namentlich die Hegelsche Philosophie, mußte alle Fragen aus der Form des gesunden Menschenverstandes in die Form der spekulativen Vernunft übersetzen und die wirkliche Frage in eine spekulative Frage verwandeln, um sie beantworten zu können. Nachdem die Spekulation mir meine Frage im Munde verdreht und mir, wie der Katechismus, ihre Frage in den Mund gelegt hatte, konnte sie natürlich, wie der Katechismus, auf jede meiner Fragen ihre Antwort bereit haben.

 

c) Hinrichs Nr. I. Geheimnisvolle Andeutungen über Politik, Sozialmus und Philosophie

"Politisch!" Über das Dasein dieses Wortes in den Vorlesungen des Prof. Hinrichs entsetzt sich die absolute Kritik förmlich.

"Wer der Entwicklung der neueren Zeit gefolgt ist und die Geschichte kennt, wird es auch wissen, daß die politischen Regungen, die in der Gegenwart vorgehen, eine ganz andere (!) Bedeutung haben als eine politische – sie haben im Grunde" (im Grunde! nun die gründliche Weisheit) "eine gesellschaftliche (!), die bekanntlich (!) von der Art (!) ist, daß alle politischen Interessen vor ihr als bedeutungslos (!) erscheinen."

Wenige Monate vor dem Erscheinen der kritischen "Literatur-Zeitung" erschien bekanntlich (!) die phantastische politische Schrift Herrn Brunos "Staat, Religion und Parthei"!

Wenn die politischen Regungen eine gesellschaftliche Bedeutung haben, wie können die politischen Interessen vor ihrer eignen gesellschaftlichen Bedeutung als "bedeutungslos" erscheinen?

"Herr Hinrichs weiß weder bei sich zu Hause noch sonstwo anders in der Welt Bescheid. – Er konnte nirgends zu Hause sein, weilweil die Kritik, die in den letzten vier Jahren ihr keineswegs 'politisches', sondern – gesellschaftliches(!) Werk begonnen und betrieben hat, ihm völlig (!) unbekannt geblieben ist."

Die Kritik, die nach der Meinung der Masse ein "keineswegs politisches", sondern " allerwege theologisches" Werk betrieb, begnügt sich selbst jetzt noch, wo sie nicht nur seit vier Jahren, sondern seit ihrer literarischen Geburt zum ersten Male das Wort "gesellschaftlich" ausspricht, mit diesem Worte!

Seitdem die sozialistischen Schriften die Einsicht in Deutschland verbreitet haben, daß alle menschlichen Bestrebungen und Werke, alle ohne Ausnahme, eine gesellschaftliche Bedeutung haben, kann Herr Bruno seine theologischen Werke ebenfalls gesellschaftliche Werke nennen. Aber welch kritisches Verlangen, daß Prof. Hinrichs aus der Kenntnisnahme der Bauerschen Schriften den Sozialismus schöpfen sollte, da alle bis zur Publikation der Hinrichsschen Vorlesungen erschienenen Werke B[runo] Bauers, wo sie praktische Konsequenzen ziehen, politische Konsequenzen ziehen! Prof. Hinrichs konnte, unkritisch zu sprechen, die erschienenen Werke des Herrn Bruno durch seine noch nicht erschienenen Werke unmöglich ergänzen. Kritisch betrachtet, ist die Masse allerdings verpflichtet, wie "die politischen", so alle massenhaften "Regungen" der absoluten Kritik im Sinne der Zukunft und des absoluten Fortschritts zu deuten! Damit Herr Hinrichs aber nach seiner Kenntnisnahme von der "Literatur-Zeitung" nie mehr das Wort "gesellschaftlich" vergesse und nie mehr den "gesellschaftlichen" Charakter der Kritik verkenne, verpönt sie angesichts der Welt das Wort "politisch" zum drittenmal und wiederholt feierlich zum drittenmal das Wort "gesellschaftlich".

"Von politischer Bedeutung ist keine Rede mehr, wenn auf die wahre Tendenz der neueren Geschichte gesehen wird: aber – aber gesellschaftliche Bedeutung" etc.

Wie der Prof. Hinrichs das Sühnopfer für die früheren "politischen" Regungen, so ist er das Sühnopfer für die bis zur Erscheinung der "Literatur-Zeitung" absichtlich und in derselben unabsichtlich fortlaufenden "Hegelschen" Regungen und Redensarten der absoluten Kritik.

Einmal wird "echter Hegelianer" und zweimal wird der "Hegelsche Philosoph" als Stichwort gegen Hinrichs geschleudert. Ja Herr Bruno "hofft", daß die "banalen Redensarten, die nun einen so ermüdenden Kreislauf durch alle Bücher der Hegelschen Schule" (namentlich durch seine eignen Bücher) "gemacht haben", bei der großen "Ermattung", in der wir sie in den Vorlesungen des Prof. Hinrichs antreffen, auf ihrer weitern Reise bald ein Ziel finden werden. Herr Bruno hofft von der Ermattung des Prof. Hinrichs die Auflösung der Hegelschen Philosophie und seine eigene Erlösung von ihr.

In ihrem ersten Feldzug stürzt also die absolute Kritik die eigenen lang angebeteten Götter "Politik" und "Philosophie", indem sie dieselben für Götzen des Prof. Hinrichs erklärt.

Glorreicher erster Feldzug!

 

a) Hinrichs Nr. II. Die "Kritik" und "Feuerbach".
Verdammung der Philosophie

Nach dem Ergebnis des ersten Feldzugs kann die absolute Kritik die "Philosophie" als abgemacht betrachten und gradezu als einen Bundesgenossen der "Masse" bezeichnen.

"Die Philosophen waren dazu prädestiniert, den Herzenswunsch der 'Masse' zu erfüllen." "Die Masse will" nämlich "einfache Begriffe, um mit der Sache nichts zu tun zu haben, Schibboleths, um mit allem von vornherein fertig zu sein, Redensarten, um mit ihnen die Kritik zu vernichten."

Und die "Philosophie" erfüllt dieses Gelüste der "Masse"!

Taumelnd von ihren Siegertaten bricht die absolute Kritik in eine pythische Raserei gegen die Philosophie aus. Der verborgene Feuerkessel, dessen Dämpfe das siegestrunkene Haupt der absoluten Kritik zur Raserei begeistern, ist Feuerbache "Philosophie der Zukunft". Im Monat März hatte sie Feuerbachs Schrift gelesen. Die Frucht dieser Lektüre, zugleich das Kriterium des Ernstes, womit sie betrieben wurde, ist der Artikel Nr. II gegen den Prof. Hinrichs.

Die absolute Kritik, die nie aus dem Käfig der Hegelschen Anschauungsweise herausgekommen ist, tobt hier gegen die Eisenstange und Wände des Gefängnisses. Der "einfache Begriff", die Terminologie, die ganze Denkweise der Philosophie, ja alle Philosophie wird mit Abscheu zurückgestoßen. An ihre Stelle treten plötzlich "der wirkliche Reichtum der menschlichen Verhältnisse'", der "ungeheure Inhalt der Geschichte", "die Bedeutung des Menschen" etc. "Das Geheimnis des Systems" wird für "aufgedeckt" erklärt.

Aber wer hat denn das Geheimnis des "Systems" aufgedeckt? Feuerbach. Wer hat die Dialektik der Begriffe, den Götterkrieg, den die Philosophen allein kannten, vernichtet? Feuerbach. Wer hat, zwar nicht "die Bedeutung des Menschen" – als ob der Mensch noch eine andere Bedeutung habe, als die, daß er Mensch ist! – aber doch "den Menschen" an die Stelle des alten Plunders, auch des "unendlichen Selbstbewußtseins", gesetzt? Feuerbach und nur Feuerbach. Er hat noch mehr getan. Er hat dieselben Kategorien, womit die "Kritik" jetzt um sich wirft, den "wirklichen Reichtum der menschlichen Verhältnisse, den ungeheuren Inhalt der Geschichte, den Kampf der Geschichte, den Kampf der Masse mit dem Geist" etc. etc. längst vernichtet.

Nachdem der Mensch einmal als das Wesen, als die Basis aller menschlichen Tätigkeit und Zustände erkannt ist, kann nur noch die "Kritik" neue Kategorien erfinden und den Menschen selbst, wie sie es eben tut, wieder in eine Kategorie und in das Prinzip einer ganzen Kategorienreihe verwandeln, womit sie allerdings den letzten Rettungsweg einschlägt, der der geängsteten und verfolgten theologischen Unmenschlichkeit noch übrigblieb. Die Geschichte tut nichts, sie "besitzt keinen ungeheuren Reichtum", sie "kämpft keine Kampfe"! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die "Geschichte", die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen. Wenn die absolute Kritik sich nach Feuerbachs genialen Entwickelungen noch untersteht, uns den ganzen alten Kram in neuer Gestalt wieder herzustellen, und zwar in demselben Augenblick, wo sie auf ihn als "massenhaften" Kram losschimpft, wozu sie um so weniger ein Recht hat, als sie zur Auflösung der Philosophie nie einen Finger rührte, so reicht diese einzige Tatsache hin, um das "Geheimnis" der Kritik zutage zu fördern, um die kritische Naivität zu würdigen, womit sie dem Prof. Hinrichs, dessen Ermattung ihr schon einmal einen so großen Dienst erwiesen, sagen kann:

"Den Schaden tragen diejenigen, die keine Entwickelung durchgemacht haben, also auch selbst wenn sie wollten sich nicht ändern können, und wenn es hoch kommt, das neue Prinzip - doch nein! das Neue kann nicht einmal zur Redensart gemacht, es können ihm nicht einzelne Wendungen entlehnt werden."

Die absolute Kritik brüstet sich dem Prof. Hinrichs gegenüber mit der Auflösung "der Geheimnisses der Fakultätswissenschaften". Hat sie etwa das "Geheimnis" der Philosophie, der Jurisprudenz, der Politik, der Medizin, der Nationalökonomie usw. aufgelöst? Keineswegs. Sie hat – man merke auf! - sie hat in der "Guten Sache der Freiheit" gezeigt, daß Brotstudium und freie Wissenschaft, Lehrfreiheit und Fakultäts-Statute sich widersprechen.

Wäre "die absolute Kritik" ehrlich, sie hätte gestanden, woher ihre angebliche Erleuchtung über das "Geheimnis der Philosophie" herstammt, obwohl es wieder gut ist, daß sie nicht, wie sie es andern Leuten getan hat, dem Feuerbach solchen Unsinn, wie die mißverstandenen und entstellten Sätze, die sie ihm abborgte, in den Mund legt. Bezeichnend ist es übrigens für den theologischen Standpunkt der "absoluten Kritik", daß, während jetzt die deutschen Philister den Feuerbach zu verstehen und seine Resultate sich anzueignen beginnen, sie dagegen außerstande ist, einen einzigen Satz aus ihm richtig aufzufassen und geschickt zu benutzen.

Den wahren Fortschritt über ihre Taten des ersten Feldzugs vollbringt die Kritik, wenn sie den Kampf "der Masse" mit dem "Geist" als "das Ziel" der ganzen bisherigen Geschichte "bestimmt", wenn sie "die Masse" für "das reine Nichts" der "Erbärmlichkeit" erklärt, wenn sie geradezu die Masse die "Materie" nennt und "den Geist" als das Wahre "der Materie" gegenüberstellt. Ist also die absolute Kritik nicht echt christlich-germanisch? Nachdem der alte Gegensatz des Spiritualismus und Materialismus nach allen Seiten hin ausgekämpft und von Feuerbach ein für allemal überwunden ist, macht " die Kritik" ihn wieder in der ekelhaftesten Form zum Grunddogma und läßt den "christlich-germanischen Geist" siegen.

Als eine Entwickelung ihres im ersten Feldzug noch versteckten Geheimnisses ist es endlich zu betrachten, wenn sie hier den Gegensatz von Geist und Masse mit dem Gegensatz "der Kritik" und der Masse identifiziert. Sie wird später dazu fortgehen, sich selbst mit "der Kritik" zu identifizieren und sich damit als "den Geist", als das Absolute und Unendliche, die Masse dagegen als endlich, roh, brutal, tot und unorganisch – denn das versteht " die Kritik" unter Materie – hinzustellen.

Welch ungeheurer Reichtum der Geschichte, der in dem Verhältnis der Menschheit zu Herrn Bauer sich erschöpft!

 

b) Die Judenfrage Nr. II. Kritische Entdeckungen über Sozialismus, Jurisprudenz und Politik (Nationalität)

Den massenhaften, materiellen Juden wird die christliche Lehre von der geistigen Freiheit, von der Freiheit in der Theorie gepredigt, jene spiritualistische Freiheit, die sich auch in den Ketten einbildet, frei zu sein, die seelenvergnügt ist in "der Idee" und von aller massenhaften Existenz nur geniert wird.

"So weit die Juden jetzt in der Theorie sind, so weit sind sie emanzipiert, so weit sie frei sein wollen, so weit sind sie frei."

Aus diesem Satze kann man sogleich die kritische Kluft ermessen, welche den massenhaften, profanen Kommunismus und Sozialismus von dem absoluten Sozialismus scheidet. Der erste Satz des profanen Sozialismus verwirft die Emanzipation in der bloßen Theorie als eine Illusion und verlangt für die wirkliche Freiheit, außer dem idealistischen "Willen", noch sehr handgreifliche, sehr materielle Bedingungen. Wie tief steht "die Masse" unter der heiligen Kritik, die Masse, welche materielle, praktische Umwälzungen für nötig hält, selbst um die Zeit und die Mittel zu erobern, welche auch nur zur Beschäftigung mit "der Theorie" erheischt werden!

Springen wir für einen Augenblick aus dem rein geistigen Sozialismus in die Politik!

Herr Riesser behauptet gegen B[runo] Bauer, sein Staat (sc. der kritische Staat) müsse "Juden" und "Christen" ausschließen. Herr Riesser befindet sich im Rechte. Da Herr Bauer die politische Emanzipation mit der menschlichen Emanzipation verwechselt, da der Staat gegen widerstrebende Elemente – Christentum und Judentum werden aber in der "Judenfrage" als hochverräterische Elemente qualifiziert – nur durch gewaltsame Ausschließung der Personen, die sie vertreten, zu reagieren weiß, wie z.B. der Terrorismus die Akkaparation durch das Köpfen der Akkapareurs vernichten wollte, so mußte Herr Bauer Juden und Christen in seinem "kritischen Staat" aufhängen lassen. Wenn er die politische Emanzipation mit der menschlichen verwechselte, so mußte er konsequenterweise auch die politischen Mittel der Emanzipation mit den menschlichen Mitteln derselben verwechseln. Sobald man aber der absoluten Kritik den bestimmten Sinn ihrer Deduktion ausspricht, erwidert sie ganz dasselbe, was Schelling einst allen Gegnern erwiderte, die an die Stelle seiner Phrasen wirkliche Gedanken setzten:

"Die Gegner der Kritik sind deshalb ihre Gegner, weil sie dieselbe nicht nur nach ihrem dogmatischen Maße nehmen, sondern selbst für dogmatisch halten, oder sie bekämpfen die Kritik, weil sie ihre dogmatischen Unterscheidungen, Definitionen und Ausflüchte nicht anerkennt."

Man verhält sich allerdings dogmatisch zu der absoluten Kritik, wie zu Herrn Schelling, wenn man bestimmten, wirklichen Sinn, Gedanken, Ansicht bei ihr voraussetzt. Aus Akkommodation und um dem Herrn Riesser ihre Humanität zu beweisen, entschließt sich " die Kritik" indessen zu dogmatischen Unterscheidungen, Definitionen und namentlich zu "Ausflüchten".

So heißt es:

"Hätte ich in jener Arbeit" (der "Judenfrage") "über die Kritik hinausgehen wollen oder dürfen, so hatte ich nicht vom Staat, sondern von 'der Gesellschaft' reden (!) müssen (!), die niemanden ausschließt, sondern von der sich nur diejenigen ausschließen, die an ihrer Entwickelung nicht teilnehmen wollen."

Die absolute Kritik macht hier eine dogmatische Unterscheidung zwischen dem, was sie hätte tun müssen, wenn sie nicht das Gegenteil getan hätte, und dem, was sie wirklich getan hat. Sie erklärt die Borniertheit ihrer "Judenfrage" durch die "dogmatischen Ausflüchte" eines Wollens und Dürfens, die ihr "über die Kritik" hinauszugehn verboten. Wie? " Die Kritik" soll über die "Kritik" hinausgehen? Dieser ganz massenhafte Einfall entsteht der absoluten Kritik durch die dogmatische Notwendigkeit, einerseits ihre Fassung der Judenfrage als absolut, als "die Kritik" behaupten, andrerseits die Möglichkeit einer weitergreifenden Fassung zugestehen zu müssen.

Das Geheimnis ihres "Nichtwollens" und "Nichtdürfens" wird sich später als das kritische Dogma enthüllen, wonach alle scheinbaren Beschränktheiten "der Kritik" nichts anderes als notwendige, dem Fassungsvermögen der Masse angemessene Akkommodationen sind.

Sie wollte nicht! sie durfte nicht über ihre bornierte Fassung der Judenfrage hinausgehen! Wenn sie aber gewollt oder gedurft hätte, was hätte sie getan? – Sie hätte eine dogmatische Definition gegeben. Sie hätte statt von dem "Staate" von "der Gesellschaft" geredet, also nicht das wirkliche Verhältnis des Judentums zu der heutigen bürgerlichen Gesellschaft untersucht! Sie hätte die "Gesellschaft" im Unterschiede vom "Staat" dogmatisch dahin definiert, daß, wenn der Staat ausschließt, von der Gesellschaft hingegen sich diejenigen ausschließen, die nicht an ihrer Entwickelung teilnehmen wollen!

Die Gesellschaft verfährt ebenso exklusiv wie der Staat, nur in der höflicheren Form, daß sie dich nicht zur Tür hinauswirft, sondern dir es vielmehr in ihrer Gesellschaft so unbequem macht, daß du selbst zur Türe freiwillig hinausgehst.

Der Staat verfährt im Grunde genommen nicht anders, denn er schließt niemanden aus, der allen seinen Anforderungen und Geboten, der seiner Entwickelung genügt. In seiner Vollendung drückt er sogar die Augen zu und erklärt wirkliche Gegensätze für unpolitische, ihn nicht genierende Gegensätze. Überdem hat die absolute Kritik selbst entwickelt, daß der Staat die Juden ausschließt, weil und insofern die Juden den Staat ausschließen, also sich selbst vom Staat ausschließen. Wenn nun diese Wechselbeziehung in der kritischen "Gesellschaft" eine galantere, scheinheiligere, heimtückischere Form erhält, so beweist dies nur die größere Heuchelei und unentwickeltere Bildung der "kritischen" "Gesellschaft".

Folgen wir der absoluten Kritik weiter in ihren "dogmatischen Unterscheidungen", "Definitionen" und namentlich in ihren "Ausflüchten".

So verlangt Herr Riesser vom Kritiker, "er solle dasjenige, was dem Boden des Rechts angehört", von dem "unterscheiden, was jenseits seines Gebietes liegt". Der Kritiker ist indigniert über die Impertinenz dieser juristischen Forderung.

"Bis jetzt", erwidert er, "haben aber Gemüt und Gewissen in das Recht eingegriffen, immer es ergänzt und wegen der Beschaffenheit, die in seiner dogmatischen Form" – also nicht in seinem dogmatischen Wesen? – "begründet ist, immer ergänzen müssen."

Der Kritiker vergißt nur, daß das Recht sich anderseits selbst sehr ausdrücklich von "Gemüt und Gewissen" unterscheidet, daß diese Unterscheidung in dem einseitigen Wesen des Rechts wie in seiner dogmatischen Form begründet ist und sogar zu den Hauptdogmen des Rechts gehört, daß endlich die praktische Ausführung dieser Unterscheidung ebensosehr den Gipfel der Rechtsentwickelung bildet, wie die Trennung der Religion von allem profanen Inhalt sie zur abstrakten, absoluten Religion macht. Daß "Gemüt und Gewissen" in das Recht eingreifen, ist für den "Kritiker" ein hinreichender Grund, um da, wo es sich vom Recht handelt, vom Gemüt und vom Gewissen, und da, wo es sich um die juristische Dogmatik handelt, von der theologischen Dogmatik zu handeln.

Durch die "Definitionen und Unterscheidungen der absoluten Kritik" sind wir hinlänglich vorbereitet, ihre neuesten "Entdeckungen" über "die Gesellschaft" und "das Recht" zu vernehmen.

"Diejenige Weltform, welche die Kritik vorbereitet und deren Gedanken sie sogar erst vorbereitet, ist keine bloß rechtliche, sondern" – der Leser sammle sich – "eine gesellschaftliche, von der wenigstens so viel" – so wenig? – "gesagt werden kann, daß, wer zu ihrer Ausbildung nicht das Seinige beigetragen hat, nicht mit seinem Gewissen und Gemüt in ihr lebt, sich in ihr nicht zu Hause fühlen und an ihrer Geschichte nicht teilnehmen kann."

Die von der Kritik vorbereitete Weltform wird als eine nicht bloß rechtliche, sondern gesellschaftliche bestimmt. Diese Bestimmung kann doppelt gedeutet werden. Entweder ist der zitierte Satz zu deuten durch "nicht rechtlich, sondern gesellschaftlich", oder durch "nicht bloß rechtlich, sondern auch gesellschaftlich". Betrachten wir seinen Gehalt nach beiden Lesarten, zunächst nach der ersteren. Die absolute Kritik hat weiter oben die vom "Staat" unterschiedene neue "Weltform" als "Gesellschaft" bestimmt. Sie bestimmt jetzt das Hauptwort "Gesellschaft" durch das Eigenschaftswort "gesellschaftlich". Empfing Herr Hinrichs im Gegensatz zu seinem "politisch" dreimal das Wort "gesellschaftlich", so empfängt Herr Riesser im Gegensatz zu seinem "rechtlich" die gesellschaftliche Gesellschaft. Reduzierten sich die kritischen Aufschlüsse an Herrn Hinrichs auf "gesellschaftlich" + "gesellschaftlich" + "geselllschaftlich" = 3 a, so geht die absolute Kritik in ihrem zweiten Feldzug von der Addition zur Multiplikation fort, und Herr Riesser wird auf die mit sich selbst multiplizierte Gesellschaft, die zweite Potenz des Gesellschaftlichen, die gesellschaftliche Gesellschaft = a², verwiesen. Es bleibt der absoluten Kritik nun noch übrig, um ihre Aufschlüsse über die Gesellschaft zu vervollständigen, in die Brüche zu gehen, die Quadratwurzel aus der Gesellschaft zu ziehen usw.

Lesen wir dagegen nach der zweiten Glosse: "die nicht bloß rechtliche, sondern auch gesellschaftliche" Weltform, so ist diese Zwitter-Weltform keine andere als die heutzutag existierende Weltform, die Weltform der heutigen Gesellschaft. Daß die "Kritik" das zukünftige Dasein der heutzutage existierenden Weltform in ihrem vorweltlichen Denken erst vorbereitet, ist ein großes, ein ehrwürdiges kritisches Mirakel. Wie es sich aber auch mit der "nicht bloß rechtlichen, sondern gesellschaftlichen Gesellschaft" verhalte, die Kritik kann einstweilen nicht mehr von ihr verraten als das "fabula docet" "die Fabel lehrt", die moralische Nutzanwendung. In dieser Gesellschaft wird sich "derjenige nicht zu Hause fühlen", der mit seinem Gemüt und Gewissen nicht in ihr lebte. Schließlich wird niemand in dieser Gesellschaft leben als das "reine Gemüt" und das "reine Gewissen", nämlich "der Geist", "die Kritik" und die Ihrigen. Die Masse wird auf die eine oder die andere Weise von ihr ausgeschlossen sein, so daß die "massenhafte Gesellschaft" außerhalb der "gesellschaftlichen Gesellschaft" haust.

Mit einem Worte, diese Gesellschaft ist nichts anderes als der kritische Himmel, von welchem die wirkliche Welt als die unkritische Hölle ausgeschlossen ist. Die absolute Kritik bereitet diese verklärte Weltform des Gegensatzes von "Masse" und "Geist" in ihrem reinen Denken vor.

Von derselben kritischen Tiefe wie diese Aufschlüsse über die "Gesellschaft" sind die Aufschlüsse, die Herr Riesser über das Schicksal der Nationen erhält.

Die absolute Kritik gelangt von der Emanzipationssucht der Juden und von der Sucht der christlichen Staaten, sie in "ihrem Gouvernements-Schematismus einzurubrizieren" – als ob sie nicht längst schon in den christlichen Gouvernements-Schematismus einrubriziert wären! - zu Prophezeiungen über den Verfall der Nationalitäten. Man sieht, auf welchem komplizierten Umweg die absolute Kritik bei der gegenwärtigen geschichtlichen Bewegung ankommt, nämlich auf dem Umwege der Theologie. Wie große Resultate sie auf diese Weise erhält, davon zeugt der lichtverbreitende Orakelspruch:

"Die Zukunft aller Nationalitäten – ist – eine – sehr - dunkle!"

Die Zukunft der Nationalitäten mag aber von wegen der Kritik so dunkel sein, als sie will. Das eine, was not tut, ist klar: die Zukunft ist ihr Werk.

"Das Schicksal", ruft sie aus, "mag entscheiden, wie es will; wir wissen jetzt, daß es unser Werk ist."

Wie Gott seinem Werke, dem Menschen, so läßt die Kritik ihrem Werke, dem Schicksal, seinen Eigenwillen. Die Kritik, deren Werk das Schicksal ist, ist allmächtig wie Gott. Sogar der "Widerstand", den sie außer sich "findet", ist ihr eignes Werk. "Die Kritik macht ihre Gegner." Die "massenhafte Empörung" gegen sie ist daher nur für "die Masse" selbst "gefahrdrohend".

Ist aber die Kritik wie Gott allmächtig, so ist sie auch allweise wie Gott und versteht es, ihre Allmacht mit der Freiheit, dem Willen und der Naturbestimmung der menschlichen Individuen zu vereinigen.

"Sie wäre nicht die epochemachende Kraft, wenn sie nicht diese Wirkung hätte, daß sie aus jedem das macht, was er sein will, und jedem unwiderruflich den Standpunkt anweist, der seiner Natur und seinem Willen entspricht."

Leibniz könnte auf keine glücklichere Weise die prästabilierte Harmonie der göttlichen Allmacht mit der menschlichen Freiheit und Naturbestimmung herstellen.

Wenn "die Kritik" gegen die Psychologie dadurch zu verstoßen scheint, daß sie den Willen, etwas zu sein, nicht von der Fähigkeit, etwas zu sein, unterscheidet, so muß man bedenken, daß sie entscheidende Gründe besitzt, diese " Unterscheidung" für "dogmatisch" zu erklären.

Stärken wir uns zum dritten Feldzug! Rufen wir uns noch einmal in das Gedächtnis, daß "die Kritik ihren Gegner macht"! Wie könnte sie aber ihren Gegner – die "Phrase" machen, wenn sie nicht Phrasen machte?

Die absolute Kritik beginnt ihren dritten Feldzug gegen die "Masse" mit der Frage:

"Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik?"

In demselben Heft der "Literatur-Zeitung" finden wir die Belehrung:

"Daß die Kritik nichts will als die Dinge kennenlernen."

Die Kritik hätte hiernach alle Dinge zum Gegenstande. Die Frage nach einem aparten, eigens für die Kritik bestimmten Gegenstand wäre sinnlos. Der Widerspruch löst sich einfach, wenn man bedenkt, daß alle Dinge in kritische Dinge und alle kritischen Dinge in die Masse, als den "Gegenstand" der absoluten Kritik, "zusammenfallen".

Zunächst schildert Herr Bruno sein unendliches Erbarmen mit der "Masse". Er macht "die Kluft, die ihn von der Menge scheidet", zum Gegenstand eines "anhaltenden Studiums". Er will "die Bedeutung dieser Kluft für die Zukunft kennenlernen" (eben dies ist das obenerwähnte Kennenlernen "aller" Dinge) und zugleich "sie aufheben". Er kennt also in Wahrheit schon die Bedeutung jener Kluft. Sie besteht eben darin, von ihm aufgehoben zu werden,

Weil nun jeder sich selbst der Nächste ist, beschäftigt sich die "Kritik" zunächst damit, ihre eigene Massenhaftigkeit aufzuheben, gleich den christlichen Asketen, die den Feldzug des Geistes gegen das Fleisch mit der Abtötung ihres eigenen Fleisches beginnen. Das "Fleisch" der absoluten Kritik ist ihre wirklich massenhafte – 20 bis 30 Bände belaufende - literarische Vergangenheit. Herr Bauer muß daher die literarische Lebensgeschichte der Kritik" – die genau mit seiner eigenen literarischen Lebensgeschichte zusammenfällt – von ihrem massenhaften Schein befreien, nachträglich verbessern und erläutern und durch diesen apologetischen Kommentar "ihre früheren Arbeiten sicherstellen".

Er beginnt damit, den Irrum der Masse, die bis zum Untergang der "Deutschen Jahrbücher" und der "Rheinischen Zeitung" Herrn Bauer für einen der Ihrigen hielt, aus einem doppelten Grunde zu erklären. Einmal beging man das Unrecht, daß man die literarische Bewegung nicht "rein als literarische" auffaßte. In demselben Moment beging man das umgekehrte Unrecht, die literarische Bewegung als "eine bloß" oder "rein" literarische Bewegung aufzufassen. Daß die "Masse" jedenfalls im Unrecht war, schon darum, weil sie zwei sich wechselseitig ausschließende Irrtümer in demselben Augenblicke beging, unterliegt keinem Zweifel.

Bei dieser Gelegenheit ruft die absolute Kritik denen, welche die "deutsche Nation" als eine "Literatin" bespöttelt haben, zu:

"Nennt auch die einzige geschichtliche Epoche, die nicht von der 'Feder' gebieterisch vorgezeichnet war und ihre Erschütterung nicht mit einem Federstrich beschließen lassen mußte."

Herr Bruno trennt in seiner kritischen Naivität "die Feder" vom schreibenden Subjekt und das schreibende Subjekt als "abstrakter Schreiber" von dem lebendigen geschichtlichen Menschen, welcher schrieb. Auf diese Weise vermag er sich über die wundertätige Kraft der "Feder" zu exaltieren. Erkonnte ebensogut verlangen, man solle ihm eine geschichtliche Bewegung nennen, die nicht vom "Federvieh" und der "Gänsemagd" vorgezeichnet war.

Späterhin werden wir von demselben Herrn Bruno erfahren, daß bisher noch nicht eine, nicht eine einzige geschichtliche Epoche erkannt ist. Wie sollte die "Feder", welche bisher "keine einzige" geschichtliche Epoche nachzuzeichnen wußte, imstande gewesen sein, sie alle vorzuzeichnen?

Herr Bruno beweist nichtsdestoweniger die Richtigkeit seiner Ansicht durch die Tat, indem er selbst seine eigene "Vergangenheit" mit apologetischen "Federstrichen" sich "vorzeichnet".

Die Kritik, welche nach allen Seiten hin nicht nur in die allgemeine Borniertheit der Welt, der Zeitepoche, sondern in ganz aparte, persönliche Borniertheiten verwickelt war, welche nichtsdestoweniger seit Menschengedenken in allen ihren Werken "absolute, vollendete, reine" Kritik zu sein beteuerte, hatte sich nur den Vorurteilen und dem Fassungsvermögen der Masse akkommodiert, wie Gott in seinen Offenbarungen an die Menschen zu tun pflegt.

"Es mußte", berichtet die absolute Kritik, "zum Bruch der Theorie mit ihrem scheinbar Verbündeten kommen."

Weil aber die Kritik – die hier zur Abwechslung einmal die Theorie heißt – zu nichts kommt, vielmehr alles von ihr kommt, weil sie nicht innerhalb, sondern außerhalb der Welt sich entwickelt und in ihrem göttlichen, sich stets gleichbleibenden Bewußtsein alles vorherbestimmt hat, so war auch der Bruch mit ihrem ehemaligen Verbündeten nur dem Schein nach, nur für andere, nicht an sich, nicht für sie selbst eine "neue Wendung".

"Diese Wendung war aber nicht einmal 'eigentlich' neu. Die Theorie hatte beständig an der Kritik ihrer selbst gearbeitet" (man weiß, wie auf sie losgearbeitet worden ist, um sie zur Kritik ihrer selbst zu treiben), "sie hatte der Masse nie geschmeichelt" (desto mehr sich selbst), "sie hatte sich immer davor gehütet, sich in die Voraussetzungen ihres Gegners zu verstricken."

"Der christliche Theologe muß behutsam auftreten." ("Entdecktes Christentum von Bruno Bauer, p. 99.) Und wie kam es, daß die "behutsame" Kritik sich dennoch verstrickte und nicht schon damals deutlich und vernehmbar ihre "eigentliche" Meinung aussprach? Warum redete sie nicht frisch von der Leber weg? Warum ließ sie den Wahn der Geschwisterschaft mit der Masse bestehen?

"Warum hast du mir das getan? sagte Pharao zu Abraham, als er ihm sein Weib Sara zurückgab. Warum sprachest du denn, sie sei deine Schwester?" ("Entdeckt[es] Christ[entum]" von B. B[auer], p. 100.)

"Weg mit der Vernunft und Sprache! sagt der Theologe; dann wäre ja Abraham ein Lügner! Die Offenbarung wäre dann tödlich beleidigt!" (1. c.)

"Weg mit der Vernunft und Sprache!" sagt der Kritiker: wäre Herr Bauer wirklich und nicht nur zum Schein mit der Masse verstrickt gewesen, dann wäre ja die absolute Kritik in ihren Offenbarungen nicht absolut, also tödlich beleidigt!

"Man hatte", fährt die absolute Kritik fort, "ihr" (der absoluten Kritik) "Bemühen nur nicht gemerkt, und es gab außerdem ein Stadium der Kritik, wo sie gezwungen war, sich auf die Voraussetzungen ihres Gegners aufrichtig einzulassen und sie für einen Augenblick ernst zu nehmen, kurz, wo sie noch nicht vollständig die Fähigkeit hatte, der Masse die Überzeugung zu nehmen, daß sie mit ihr eine Sache und ein Interesse habe."

Man hatte das Bemühen der "Kritik" nur nicht bemerkt; also lag die Schuld auf Seite der Masse. Andrerseits gesteht die Kritik, daß man ihr Bemühen nicht merken konnte, weil sie selbst noch nicht die Fähigkeit besaß , es bemerkbar zumachen. Also scheint die Schuld auf Seite der Kritik.

Bewahre Gott! Die Kritik war "gezwungen" – es wurde ihr eine Gewalt angetan – "sich auf die Voraussetzungen ihres Gegners aufrichtig einzulassen und sie für einen Augenblick ernst zu nehmen". Eine schöne Aufrichtigkeit, eine recht theologische Aufrichtigkeit, welcher es nicht wirklicher Ernst mit einer Sache ist, sondern welche sie nur "für einen Augenblick ernst nimmt", welche sich immer, also jeden Augenblick, davor gehütet hat, sich in die Voraussetzungen ihres Gegners zu verstricken – und dennoch "für einen Augenblick" auf dieselben Voraussetzungen "aufrichtig" eingeht. Die "Aufrichtigkeit" wird noch vergrößert im Nachsatze. In demselben Augenblicke, wo die Kritik "aufrichtig auf die Voraussetzungen der Masse einging, war es auch", wo sie "noch nicht vollständig die Fähigkeit hatte", die Illusion über die Einheit ihrer Sache und der massenhaften Sache zu zerstören. Sie hatte noch nicht die Fähigkeit, aber sie hatte schon den Willen und den Gedanken. Sie konnte noch nicht äußerlich mit der Masse brechen, aber der Bruch war schon in ihrem Innern, in ihrem Gemüte vollzogen, vollzogen in demselben Moment, wo sie aufrichtig mit der Masse sympathisierte!

Die Kritik, in ihrer Verwickelung mit den Vorurteilen der Masse, war nicht wirklich in dieselben verwickelt; sie war vielmehr eigentlich frei von ihrer eignen Beschränktheit und besaß nur "noch nicht vollständig" die "Fähigkeit", dies der Masse kundzutun. Die ganze Beschränktheit "der Kritik" war also purer Schein, ein Schein, der ohne die Beschränktheit der Masse überflüssig und also gar nicht vorhanden gewesen wäre. Die Schuld liegt also wieder auf den Schultern der Masse.

Insofern dieser Schein indessen durch "die Unfähigkeit", durch die "Impotenz" der Kritik, sich auszusprechen, unterstützt wurde, war die Kritik selbst unvollkommen. Sie gesteht dies in der ihr eigentümlichen, ebenso aufrichtigen als apologetischen Weise.

"Trotzdem daß sie" (die Kritik) "den Liberalismus selbst einer auflösenden Kritik unterwarf, durfte man sie noch für eine besondere Art desselben, vielleicht für seine extreme Durchführung halten; trotzdem daß ihre wahren und entscheidenden Entwicklungen über die Politik hinausgingen, mußte sie doch noch dem Schein verfallen, daß sie politisiere, und dieser unvollkommene Schein hatte ihr die meisten ihrer oben bezeichneten Freunde gewonnen."

Die Kritik hatte ihre Freunde durch den unvollkommenen Schein, als politisiere sie, gewonnen. Hätte sie vollkommen zu politisieren geschienen, so hätte sie die politischen Freunde unfehlbar verloren. In ihrer apologetischen Angst, sich von aller Sünde loszuwaschen, klagt sie den falschen Schein an, ein unvollkommner und kein vollkommner falscher Schein gewesen zu sein. Einen Schein für den andern, kann sich "die Kritik" damit vertrösten, daß, wenn sie den "vollkommnen Schein" besaß, politisieren zu wollen, sie dagegen auch nicht einmal den "unvollkommnen Schein" besitzt, irgendwo und irgendwann die Politik aufgelöst zu haben.

Die absolute Kritik, nicht vollständig befriedigt von dem "unvollkommnen Schein", fragt sich noch einmal:

"Wie kam es, daß die Kritik damals in die 'massenhaften, politischen' Interessen hineingezogen wurde, daß sie – sogar! – politisieren! - mußte!"

Dem Theologen Bauer versteht es sich ganz von selbst, daß die Kritik unendlich lang spekulative Theologie treiben mußte, denn er, die "Kritik", ist ja Theologe ex professo von Amts wegen. Aber politisieren? Das muß durch ganz besondere, politische, persönliche Umstände motiviert sein!

Warum mußte also die "Kritik" sogar politisieren? "Sie war angeklagt – damit ist die Frage beantwortet." Wenigstens ist damit das "Geheimnis" der "Bauerschen Politik" enthüllt, und man wird den Schein, der in der " Guten Sache der Freiheit und meiner eignen Sache" von Bruno Bauer an die massenhafte "Sache der Freiheit" die "eigne Sache" durch ein "und" anschließt, wenigstens nicht unpolitisch nennen. Wenn aber die Kritik ihre "eigne Sache" nicht im Interesse der Politik, sondern die Politik im Interesse ihrer eignen Sache betrieb, so muß zugegeben werden, daß nicht die Kritik von der Politik, sondern vielmehr die Politik von der Kritik angeführt wurde.

Bruno Bauer also sollte von seinem theologischen Lehrstuhl entfernt werden: er war angeklagt; die "Kritik" mußte politisieren, d.h. "ihren", d.h. Bruno Bauers Prozeß führen. Herr Bauer führte nicht den Prozeß der Kritik, die "Kritik" führte den Prozeß des Herrn Bauer. Warum mußte "die Kritik" ihren Prozeß führen?

"Um sich zu verantworten!" Wohl auch; allein die "Kritik" ist weit entfernt, sich auf einen so persönlichen, profanen Grund zu beschränken. Wohl auch; aber nicht allein deswegen, "sondern hauptsächlich, um die Widersprüche ihrer Gegner zu entwickeln", und, konnte die Kritik hinzufügen, um überdem alte Aufsätze gegen verschiedene Theologen – siehe u.a. die weitläufige Zänkerei mit Planck, diese Familienangelegenheit zwischen der Theologie-Bauer und der Theologie-Strauß – in ein Buch binden zu lassen.

Nachdem die absolute Kritik durch das Geständnis über das wahre Interesse ihrer "Politik" ihr Herz erleichtert hat, kaut sie abermals, bei der Erinnerung an ihren "Prozeß", den alten Hegelschen (siehe in der "Phänomenologie" den Kampf der Aufklärung und des Glaubens, siehe die ganze "Phänomenologie"), in der "Guten Sache der Freiheit" schon weitläufig wiedergekauten Kohl wieder, daß "das Alte, welches sich dem Neuen widersetzt, nicht mehr wirklich das Alte ist". Die kritische Kritik ist ein wiederkäuendes Tier. Einige abgefallene Hegelsche Brocken wie der oben erwähnte Satz vom "Alten" und "Neuen" oder auch wie "die Entwicklung des Extrems aus seinem gegenteiligen Extrem" u. dgl. werden unaufhörlich aufgewärmt, ohne daß sie jemals auch nur das Bedürfnis empfände, sich mit der "spekulativen Dialektik" anders als durch die Ermattung des Prof. Hinrichs auseinanderzusetzen. Dagegen geht sie aber beständig "kritisch" über Hegel hinaus, indem sie ihn wiederholt, zum Beispiel:

"Indem die Kritik auftritt und der Forschung eine neue Form, d.h. die Form gibt, die sich nicht mehr zu einer äußern Begrenzung umwandeln läßt" etc.

Wenn ich etwas umwandle, mache ich es zu einem wesentlich andern. Da eine jede Form nun auch eine "äußere Begrenzung" ist, so "läßt" sich keine Form in eine "äußere Begrenzung" umwandeln, so wenig als sich ein Apfel in einen Apfel "umwandeln" läßt. Die Form allerdings, welche "die Kritik" der Forschung gibt, laßt sich aus einem andern Grunde in keine "äußere Begrenzung" umwandeln. Über jede "äußere Begrenzung" hinaus, ist sie ein Verschwimmen im aschgrauen, dunkelblauen Dunst des Unsinns.

"Er" (der Kampf des Alten und Neuen) "wäre aber auch da" (nämlich im Augenblicke, wo die Kritik der Forschung "die neue Form gibt") - "nicht einmal möglich, wenn das Alte die Frage nach der Verträglichkeit oder Unverträglichkeit ... theoretisch behandelte."

Warum behandelt das Alte diese Frage nun nicht theoretisch? Weil "dies ihm aber im Anfang am wenigsten möglich ist, da es im Augenblick der Überraschung", d.h. im Anfang, "weder sich noch das Neue kennt", d.h. weder sich noch das Neue theoretisch behandelt. Nicht einmal möglich, wenn die "Unmöglichkeit" leider nicht unmöglich wäre!

Wenn der "Kritiker" der theologischen Fakultät weiter "gesteht, daß er absichtlich gefehlt, mit freiem Vorbedacht und nach reiflicher Überlegung den Irrtum begangen" – alles, was die Kritik erlebt, erfahren, getan hat, wandelt sich ihr in ein freies, reines, beabsichtigtes Produkt ihrer Reflexion um –, so hat dies Geständnis des Kritikers nur einen "unvollkommnen Schein" von Wahrheit. Da die "Kritik der Synoptiker" durch und durch auf theologischem Grund und Boden steht, da sie durchaus theologische Kritik ist, so konnte Herr Bauer, der Privatdozent der Theologie, sie schreiben und lehren, "ohne Fehl und Irrtum" zu begehen. Der Fehler und der Irrtum waren vielmehr auf Seite der theologischen Fakultäten, welche nicht einsahen, wie streng Herr Bauer sein Versprechen gehalten hatte, sein in der "Krit[ik] d[er] Synopt[iker]", Bd. 1., Vorrede, p. XXIII gegebenes Versprechen.

"Wenn die Negation auch in diesem ersten Bande noch zu kühn und weitgreifend erscheinen möchte, so erinnern wir daran, daß das wahrhaft Positive erst dann geboren werden kann, wenn die Negation ernstlich und allgemein war ... Am Ende wird sich zeigen, daß erst die verzehrendste Kritik der Welt die schöpferische Kraft Jesu und seines Prinzips lehren wird."

Herr Bauer trennt absichtlich den Herrn "Jesum" und sein "Prinzip", um den positiven Sinn seines Versprechens über jeden Schein der Zweideutigkeit zu erheben. Und Herr Bauer hat wirklich die "schöpferische" Kraft des Herrn Jesus und seines Prinzips so augenfällig gelehrt, daß sein "unendliches Selbstbewußtsein" und der "Geist" nichts anderes als christliche Geschöpfe sind.

So sehr der Streit der kritischen Kritik mit der theologischen Fakultät zu Bonn ihre damalige "Politik" erklärt, warum fuhr sie fort, nach der Entscheidung dieses Streits zu politisieren? Man höre:

"An diesem Punkte hätte 'die Kritik' entweder stehenbleiben oder sogleich weiter vorschreiten, das politische Wesen untersuchen und als ihren Gegner darstellen sollen – wenn es nur möglich gewesen wäre, daß sie im damaligen Kampfe hätte stehenbleiben können, und wenn es nur auf der andern Seite nicht ein gar zu strenges geschichtliches Gesetz wäre, daß ein Prinzip, indem es sich mit seinem Gegensatze zum erstenmal mißt, sich von ihm herabdrücken lassen ... muß."

Köstliche apologetische Phrase! "Die Kritik hätte stehnbleiben sollen", wenn es nur möglich gewesen wäre ... "stehnbleiben zu können"? Wer "soll" stehenbleiben? Und wer hätte sollen, was nicht "möglich gewesen wäre ... zu können"? Andrerseits! Die Kritik hätte vorschreiten sollen, "wenn es nur auf der andern Seite nicht ein gar zu strenges, geschichtliches Gesetz wäre etc." Die geschichtlichen Gesetze sind gegen die absolute Kritik auch "gar zu streng"! Ständen sie nur nicht auf einer andern Seite als die kritische Kritik, wie glänzend würde sie weiter vorschreiten! Aber à la guerre comme à la guerre! im Krieg ist es wie im Krieg. In der Geschichte muß sie eine traurige "Geschichte" aus sich machen lassen!

"Wenn die Kritik" (immer Herr Bauer) " ... mußte, so wird man doch zugleich zugeben, daß sie sich immer unsicher fühlte, wenn sie sich auf Forderungen dieser" (politischen) "Art einließ, und daß sie durch diese Forderungen mit ihren wahren Elementen in einen Widerspruch trat, der in jenen Elementen bereits seine Auflösung gefunden hatte."

Die Kritik war durch die allzustrengen Gesetze der Geschichte zu politischen Schwächen gezwungen worden, aber – fleht sie – man wird doch zugleich zugeben, daß sie, wenn auch nicht wirklich, doch an sich über jene Schwächen erhaben war. Einmal hatte sie dieselben "im Gefühl" überwunden, denn "sie fühlte sich immer unsicher in ihren Forderungen", es war ihr in der Politik übel zumute, sie wußte nicht, wie ihr war. Noch mehr! Sie trat mit ihren wahren Elementen in Widerspruch. Endlich das Allergrößeste! Der Widerspruch, in den sie mit ihren wahren Elementen trat, fand seine Auflösung nicht im Lauf ihrer Entwicklung, sondern "hatte" vielmehr "bereits" in ihren unabhängig von dem Widerspruch existierenden wahren Elementen seine Auflösung gefunden! Diese kritischen Elemente dürfen von sich rühmen: Ehe denn Abraham war, waren wir. Ehe die Entwicklung den Gegensatz zu uns erzeugte, lag der ungeborne in unserem chaotischen Schoß aufgelöst, gestorben, verdorben. Da nun in den wahren Elementen der Kritik ihr Widerspruch gegen ihre wahren Elemente " bereits seine Auflösung gefunden hatte", da aber ein aufgelöster Widerspruch kein Widerspruch ist, befand sie sich also, genau zu reden, in keinem Widerspruch mit ihren wahren Elementen, in keinem Widerspruch mit sich selbst, und – der allgemeine Zweck der Selbstapologie wäre erreicht.

Die Selbstapologie der absoluten Kritik verfügt über ein ganzes apologetisches Wörterbuch:

"nicht einmal eigentlich", "nur nicht gemerkt", "es gab außerdem", "noch nicht vollständig", "trotzdem – dennoch", "nicht nur – sondern hauptsächlich", "ebensosehr eigentlich erst", "die Kritik hätte sollen, wenn es nur möglich gewesen wäre und wenn es auf der andern Seite ...", "Wenn ... so wird man doch zugleich zugeben", "war es nun nicht natürlich, war es nicht unvermeidlich", "auch nicht" etc.

Vor nicht gar zu langer Zeit äußerte sich die absolute Kritik über ähnliche apologetische Wendungen wie folgt:

"'Obgleich' und 'dennoch', 'zwar' und 'aber', ein himmlisches Nein und ein irdisches Ja sind die Grundsäulen der neueren Theologie, die Stelzen, auf denen sie einherschreitet, der Kunstgriff, auf den sich ihre ganze Weisheit beschränkt, die Wendung, die in allen ihren Wendungen wiederkehrt, ihr A und O." ("Entdeckt[es] Christ[entum]", p. 102.)

 

b) Die Judenfrage Nr. III

Die "absolute Kritik" bleibt nicht dabei stehen, ihre eigentümliche Allmacht, die "das Alte ebensosehr eigentlich erst schafft wie das Neue", durch ihre Selbstbiographie zu beweisen. Sie bleibt nicht dabei stehen, die Apologie ihrer Vergangenheit höchstselbst zu schreiben. An dritte Personen, an die übrige profane Welt stellt sie jetzt die absolute "Aufgabe", die "Aufgabe, auf die es vielmehr nun ankommt", nämlich die Apologie der Bauerschen Taten und "Werke".

Die "Deutsch-Französischen Jahrbücher" brachten eine Kritik von Herrn Bauers "Judenfrage". Sein Grundirrtum, die Verwechselung der "politischen" mit der " menschlichen Emanzipation", wurde aufgedeckt. Die alte Judenfrage wurde zwar nicht erst in ihre "richtige Stellung" gebracht, sondern die "Judenfrage" wurde in der Stellung behandelt und gelöst, welche die neuere Entwickelung den alten Zeitfragen gegeben hat und wodurch letztere eben aus "Fragen" der Vergangenheit zu "Fragen" der Gegenwart geworden sind.

Im dritten Feldzug der absoluten Kritik soll, wie es scheint, den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" repliziert werden. Zunächst gesteht die absolute Kritik:

"In der Judenfrage wurde dasselbe 'Versehn' begangen, das menschliche und das politische Wesen identifiziert."

Die Kritik bemerkt, daß:

"es zu spät sein würde, wenn man der Kritik wegen der Stellung, die sie vor zwei Jahren noch zum Teil einnahm, einen Vorwurf machen wollte". "Es kommt vielmehr darauf an, die Erklärung davon zu geben, daß die Kritik . .. sogar politisieren mußte!"

"Vor zwei Jahren"? Zählen wir nach der absoluten Zeitrechnung, nach der Geburt des kritischen Weltheilands, der Bauerschen "Literatur-Zeitung"! Der kritische Welterlöser wurde geboren Anno 1843. In demselben Jahre erblickte die zweite, vermehrte Ausgabe der "Judenfrage" das Licht der Welt. Die "kritische" Behandlung der "Judenfrage" in den "Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz" erschien noch später, in demselben Jahre 1843 alten Stils. Nach dem Untergang der "Deutschen Jahrbücher" und der "Rheinischen Zeitung" in demselben bedeutungsvollen Jahre 1843 alten Stils oder Jahr 1 der kritischen Zeitrechnung erschien Herrn Bauers phantastisch-politische Schrift "Staat, Religion und Parthei", welche genau seine alten Irrtümer über das "politische Wesen" wiederholt. Der Apologet ist gezwungen, die Chronologie zu verfälschen.

Die "Erklärung", warum Herr Bauer "sogar" politisieren "mußte", gewährt nur unter gewissen Bedingungen ein allgemeines Interesse. Setzt man nämlich die Unfehlbarkeit, Reinheit und Absolutheit der kritischen Kritik als Grunddogma voraus, so verwandeln sich allerdings die Tatsachen, welche diesem Dogma widersprechen, in ebenso schwierige, denkwürdige, geheimnisvolle Rätsel, als es die scheinbar ungöttlichen Handlungen Gottes für den Theologen sind.

Betrachtet man dagegen "den Kritiker" als ein endliches Individuum, trennt man ihn nicht von der Schranke seiner Zeit, so ist man der Antwort, warum er sogar innerhalb der Welt sich entwickeln mußte, überhoben, weil die Frage selbst nicht existiert.

Beharrt indessen die absolute Kritik auf ihrer Forderung, so erbietet man sich, ein so scholastisches Traktätlein zu liefern, welches folgende Zeitfragen behandeln soll:

"Warum die Empfängnis der Jungfrau Maria durch den heiligen Geist grade von Herrn Bruno Bauer bewiesen werden mußte?" "Warum Herr Bauer beweisen mußte, daß der Engel, der dem Abraham erschien, eine wirkliche Emanation Gottes war, eine Emanation, der indessen noch die zur Verdauung von Speisen notwendige Konsistenz abging?" "Warum Herr Bauer die Apologie des preußischen Königshauses liefern und den preußischen Staat zum absoluten Staat erheben mußte?" "Warum Herr Bauer in der 'Kritik der Synoptiker' das 'unendliche Selbstbewußtsein' an die Stelle des Menschen setzen mußte?" "Warum Herr Bauer in seinem 'Entdeckten Christentum' die christliche Kreationstheorie in Hegelscher Form wiederholen mußte?" "Warum Herr Bauer die 'Erklärung' des Wunders, daß er irren mußte, von sich und andern verlangen mußte?"

Bis zum Nachweis dieser ebenso "kritischen" als "absoluten" Notwendigkeiten lauschen wir noch einstweilen den apologetischen Ausflüchten der "Kritik".

"Die Judenfrage ... mußte ... erst in ihre richtige Stellung gebracht werden, als eine religiöse und eine theologische und als eine politische Frage." "Als die Behandlung und Lösung beider Fragen ist die 'Kritik' weder religiös noch politisch."

In den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" wird nämlich die Bauersche Behandlung der "Judenfrage" für eine wirklich theologische und phantastisch-politische erklärt.

Zunächst in bezug auf den "Vorwurf" ihrer theologischen Beschränktheit antwortet die "Kritik":

"Die Judenfrage ist eine religiöse. Die Aufklärung glaubte sie zu lösen, indem sie den religiösen Gegensatz als einen gleichgültigen bezeichnete oder sogar leugnete. Die Kritik mußte ihn dagegen in seiner Reinheit darstellen."

Bei der politischen Partie der Judenfrage angekommen, werden wir sehn, wie der Theologe, Herr Bauer, auch in der Politik nicht mit der Politik, sondern mit der Theologie beschäftigt ist.

Wurde aber in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" seine Behandlung der Judenfrage als eine "rein religiöse" angegriffen, so handelt es sich speziell um seinen Aufsatz in den "Einundzwanzig Bogen":

"Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden."

Dieser Aufsatz hat mit der alten "Aufklärung" nichts zu schaffen. Er enthält die positive Ansicht des Herrn Bauer über die Emanzipationsfähigkeit der heutigen Juden, also über die Möglichkeit ihrer Emanzipation.

"Die Kritik" sagt:

"Die Judenfrage ist eine religiöse Frage."

Es fragt sich eben, was eine religiöse Frage ist und namentlich, was sie heutzutage ist?

Der Theologe wird nach dem Schein urteilen und in einer religiösen Frage eine religiöse Frage erblicken. Aber "die Kritik" erinnere sich ihrer Erklärung gegen Prof. Hinrichs, daß die politischen Interessen der Gegenwart eine gesellschaftliche Bedeutung haben: von politischen Interessen sei "nicht mehr die Rede".

Mit demselben Rechte sagten ihr die "Deutsch-Franz[ösischen] Jahrbücher": Die religiösen Tagesfragen haben heutzutage eine gesellschaftliche Bedeutung. Von religiösen Interessen als solchen ist nicht mehr die Rede. Nur noch der Theologe kann glauben, daß es sich um die Religion als Religion handle. Allerdings begingen die etc. Jahrbücher das Unrecht, nicht bei dem Worte "gesellschaftlich" stehenzubleiben. Die wirkliche Stellung des Judentums in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft wurde charakterisiert. Nachdem das Judentum aus der religiösen Vermummung losgeschält und in seinen empirischen, weltlichen, praktischen Kern aufgelöst war, konnte die praktische, wirklich gesellschaftliche Weise, in welcher nun dieser Kern aufzulösen ist, angedeutet werden. Herr Bauer beruhigt sich dabei, daß "eine religiöse Frage" eine "religiöse Frage" ist.

Es wurde keineswegs, wie Herr Bauer den Schein vormacht, geleugnet, daß die Judenfrage auch eine religiöse Frage ist. Es wurde vielmehr gezeigt: Herr Bauer begreift nur das religiöse Wesen des Judentums, nicht aber die weltliche, reale Grundlage dieses religiösen Wesens. Er bekämpft das religiöse Bewußtsein als ein selbständiges Wesen. Herr Bauer erklärt daher die wirklichen Juden aus der jüdischen Religion, statt das Geheimnis der jüdischen Religion aus den wirklichen Juden zu erklären. Herr Bauer versteht den Juden nur, insoweit er unmittelbarer Gegenstand der Theologie oder Theologe ist.

Herr Bauer ahnt daher nicht, daß das wirkliche, weltliche Judentum und darum auch das religiöse Judentum fortwährend von dem heutigen bürgerlichen Leben erzeugt wird und im Geldsystem seine letzte Ausbildung erhält. Er konnte dies nicht ahnen, weil er das Judentum nicht als Glied der wirklichen Welt, sondern nur als Glied seiner Welt, der Theologie, kannte, weil er als ein frommer und gottergebener Mann nicht im tätigen Werkeltagsjuden, sondern im scheinheiligen Sabbatjuden den wirklichen Juden erblickte. Für Herrn Bauer, als christgläubigen Theologen, mußte die weltgeschichtliche Bedeutung des Judentums von der Geburtsstunde des Christentums an aufhören. Die alte orthodoxe Ansicht, daß es sich trotz der Geschichte erhalten habe, mußte daher von ihm wiederholt werden, und der alte theologische Aberglaube, daß das Judentum nur existiere als Bestätigung des göttlichen Fluchs, als sinnfälliger Beweis der christlichen Offenbarung, mußte bei ihm in der kritisch-theologischen Form wiederkehren, daß es nur existiere und existiert habe als roher religiöser Zweifel an der überweltlichen Abkunft des Christentums, d.h. als sinnfälliger Beweis wider die christliche Offenbarung.

Man bewies dagegen, daß das Judentum durch die Geschichte, in und mit der Geschichte sich erhalten und entwickelt habe, daß aber nicht mit dem Auge des Theologen, sondern nur mit dem Auge des Weltmannes, weil nicht in der religiösen Theorie, sondern nur in der kommerziellen und industriellen Praxis diese Entwickelung zu finden sei. Man erklärte, warum das praktische Judentum seine Vollendung erst in der vollendeten christlichen Welt erreicht, ja die vollendete Praxis der christlichen Welt selber ist. Man erklärte das Dasein des heutigen Juden nicht aus seiner Religion – als ob diese ein apartes, für sich existierendes Wesen wäre –, man erklärte das zähe Leben der jüdischen Religion aus praktischen Elementen der bürgerlichen Gesellschaft, welche in jener Religion einen phantastischen Reflex finden. Die Emanzipation der Juden zu Menschen oder die menschliche Emanzipation vom Judentum wurde daher nicht, wie von Herrn Bauer, als die spezielle Aufgabe des Juden, sondern als allgemeine praktische Aufgabe der heutigen Welt, die bis in ihr innerstes Herz jüdisch sei, gefaßt. Man bewies, daß die Aufgabe, das jüdische Wesen aufzuheben, in Wahrheit die Aufgabe sei, das Judentum der bürgerlichen Gesellschaft, die Unmenschlichkeit der heutigen Lebenspraxis, die im Geldsystem ihre Spitze erhält, aufzuheben.

Herr Bauer, als echter, wenn auch kritischer Theologe oder theologischer Kritiker, konnte über den religiösen Gegensatz nicht hinauskommen. Er konnte in dem Verhältnis der Juden zur christlichen Welt nur das Verhältnis der jüdischen Religion zur christlichen Religion erblicken. Er mußte sogar den religiösen Gegensatz kritisch wiederherstellen, in dem Gegensatz zwischen dem Verhältnis des Juden und des Christen zur kritischen Religion – dem Atheismus, der letzten Stufe des Theismus, der negativen Anerkennung Gottes. Er mußte endlich in seinem theologischen Fanatismus die Fähigkeit der "heutigen Juden und Christen", d.h. der heutigen Welt, "frei zu werden", auf ihre Fähigkeit, "die Kritik" der Theologie aufzufassen und selbst auszuüben, beschränken. Wie nämlich dem orthodoxen Theologen die ganze Welt in "Religion und Theologie" sich auflöst (er könnte sie ebensogut in Politik, Nationalökonomie etc. auflösen und die Theologie z.B. als die himmlische Nationalökonomie bezeichnen, da sie die Lehre von der Produktion, Distri- bution, Austauschung und Konsumtion des "geistlichen Reichtums" und der Schätze im Himmel ist !), so löst sich dem radikalen, dem kritischen Theologen die Fähigkeit der Welt, sich zu befreien, in die einzige abstrakte Fähigkeit auf, "Religion und Theologie" als "Religion und Theologie" zu kritisieren. Der einzige Kampf, den er kennt, ist der Kampf gegen die religiöse Befangenheit des Selbstbewußtseins, dessen kritische "Reinheit" und "Unendlichkeit" nicht minder eine theologische Befangenheit ist.

Bauer behandelte also die religiöse und theologische Frage in religiöser und theologischer Weise, schon darum, weil er in der "religiösen" Zeitfrage eine "rein religiöse" Frage sah. Seine "richtige Stellung der Frage" stellte die Frage nur in eine "richtige" Stellung zu seiner "eigenen Fähigkeit" – zu antworten!

Nun zur politischen Partie der Judenfrage!

Die Juden (wie die Christen) sind in verschiednen Staaten vollständig politisch emanzipiert. Die Juden und Christen sind weit davon entfernt, menschlich emanzipiert zu sein. Es muß also ein Unterschied zwischen der politischen und der menschlichen Emanzipation stattfinden. Das Wesen der politischen Emanzipation, d.h. des ausgebildeten, modernen Staats, ist daher zu untersuchen. Die Staaten dagegen, welche den Juden noch nicht politisch emanzipieren können, sind wieder am vollendeten politischen Staate zu messen und als unentwickelte Staaten nachzuweisen.

Das war der Standpunkt, von dem die " politische Emanzipation" der Juden zu behandeln war und in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" behandelt ist.

Herr Bauer verteidigt die "Judenfrage" der "Kritik" wie folgt:

"Den Juden wird gezeigt, daß sie über den Zustand, von dem sie Freiheit verlangten, in einer Illusion befangen waren."

Herr Bauer hat die Illusion der deutschen Juden, in einem Lande, wo kein politisches Gemeinwesen existiert, Teilnahme an dem politischen Gemeinwesen – wo nur politische Privilegien existieren, politische Rechte zu verlangen, allerdings gezeigt. Man hat dagegen Herrn Bauer gezeigt, daß er selbst, nicht minder als die Juden, über den "deutschen politischen Zustand" in "Illusionen" befangen war. Er erklärte nämlich das Verhältnis der Juden in den deutschen Staaten daraus, daß "der christliche Staat" die Juden nicht politisch emanzipieren könne. Er schlug der Tatsache ins Gesicht, er konstruierte den Staat der Privilegien, den christlich-germanischen Staat, als den absoluten christlichen Staat. Man bewies ihm dagegen, daß der politisch vollendete, moderne Staat, der keine religiösen Privilegien kennt, auch der vollendete christliche Staat sei, daß also der vollendete christliche Staat die Juden nicht nur emanzipieren kann, sondern emanzipiert hat und seinem Wesen nach emanzipieren muß.

"Den Juden wird gezeigt ... daß sie sich über sich selbst die größten Illusionen machen, wenn sie Freiheit und Anerkennung der freien Menschlichkeit zu verlangen meinten, während es ihnen nur um ein besonderes Privilegium zu tun sei und zu tun sein könne."

Freiheit! Anerkennung der freien Menschlichkeit! Besonderes Privilegium! Erbauliche Worte, um bestimmte Fragen apologetisch zu umgehen!

Freiheit? Es handelte sich um die politische Freiheit. Man hat Herrn Bauer gezeigt, daß der Jude, wenn er Freiheit verlangt und dennoch seine Religion nicht aufgeben will, "politisiert" und keine der politischen Freiheit widersprechende Bedingung stellt. Man zeigte Herrn Bauer, wie die Zersetzung des Menschen in den nichtreligiösen Staatsbürger und den religiösen Privatmenschen keineswegs der politischen Emanzipation widerspricht. Man zeigte ihm, daß, wie der Staat sich von der Religion emanzipiert, indem er sich von der Staatsreligion emanzipiert, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aber die Religion sich selbst überläßt, so der einzelne Mensch sich politisch von der Religion emanzipiert, indem er sich zu ihr nicht mehr als zu einer öffentlichen Angelegenheit, sondern als zu seiner Privatangelegenheit verhält. Man zeigte endlich, daß das terroristische Verhalten der französischen Revolution zur Religion, weit entfernt, diese Auffassung zu widerlegen, sie vielmehr bestätigt.

Statt das wirkliche Verhältnis des modernen Staats zur Religion zu untersuchen, mußte Herr Bauer einen kritischen Staat imaginieren, einen Staat, der nichts anders ist als der in seiner Phantasie zum Staat aufgeblähete Kritiker der Theologie. Wenn Herr Bauer in der Politik befangen ist, so nimmt er stets wieder die Politik unter seinen Glauben, den kritischen Glauben, gefangen. Soweit er sich mit dem Staat beschäftigte, verwandelte er ihn immer in ein Argument gegen "den Gegner", die unkritische Religion und Theologie. Der Staat dient als Exekutor der kritisch-theologischen Herzenswünsche.

Als Herr Bauer zuerst von der orthodoxen unkritischen Theologie sich befreit hatte, trat ihm die politische Autorität an die Stelle der religiösen Autorität. Sein Glaube an Jehova verwandelte sich in den Glauben an den preußischen Staat. In der Schrift "Evangelische Landeskirche" von Bruno Bauer wurde nicht nur der preußische Staat, sondern, was konsequent war, auch das preußische Königshaus als absolut konstruiert. In Wahrheit aber nahm Herr Bauer kein politisches Interesse an diesem Staat, dessen Verdienst vor den Augen der "Kritik" vielmehr in der Auflösung der Dogmen durch die Union und in der polizeilichen Unterdrückung der dissentierenden Sekten bestand.

Die politische Bewegung, welche in dem Jahre 1840 begann, erlöste Herrn Bauer von seiner konservativen Politik und erhob ihn für einen Augenblick zur liberalen Politik. Es war aber wieder die Politik eigentlich nur ein Prätext für die Theologie. In der Schrift "Die gute Sache der Freiheit und meine eigne Sache" ist der freie Staat der Kritiker der theologischen Fakultät zu Bonn und ein Argument gegen die Religion. In der "Judenfrage" bildet der Gegensatz des Staats und der Religion das Hauptinteresse, so daß die Kritik der politischen Emanzipation sich in eine Kritik der jüdischen Religion verwandelt. In der letzten politischen Schrift "Staat, Religion und Parthei" wird endlich der geheimste Herzenswunsch des zum Staat aufgebläheten Kritikers ausgesprochen. Die Religion wird dem Staatswesen geopfert, oder vielmehr, das Staatswesen ist nur das Mittel, um den Gegner " der Kritik", die unkritische Religion und Theologie, um ihr Leben zu bringen. Endlich, nachdem die Kritik durch die seit 1843 in Deutschland sich ausbreitenden sozialistischen Gedanken von aller Politik, wenn auch nur scheinbar, erlöst worden ist, wie sie durch die politische Bewegung nach 1840 von ihrer konservativen Politik erlöst wurde, endlich kann sie ihre Schriften gegen die unkritische Theologie für gesellschaftlich erklären und ihre eigne kritische Theologie, den Gegensatz von Geist und Masse, wie die Verkündung des kritischen Heilands und Welterlösers, ungehindert betreiben.

Zu unserm Thema zurück!

Anerkennung der freien Menschlichkeit? Die "freie Menschlichkeit", deren Anerkennung die Juden nicht zu begehren meinten, sondern wirklich begehrten, ist dieselbe "freie Menschlichkeit", welche ihre klassische Anerkennung in den sogenannten allgemeinen Menschenrechten gefunden hat. Herr Bauer selbst behandelte das Streben der Juden nach Anerkennung ihrer freien Menschlichkeit ausdrücklich als ihr Streben nach dem Empfangen der allgemeinen Menschenrechte.

In den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" wurde nun dem Herrn Bauer entwickelt, daß diese "freie Menschlichkeit" und ihre "Anerkennung" nichts anders ist als die Anerkennung des egoistischen, bürgerlichen Individuums und der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche den Inhalt seiner Lebenssituation, den Inhalt des heutigen bürgerlichen Lebens bilden, daß die Menschenrechte den Menschen daher nicht von der Religion befreien, sondern ihm die Religionsfreiheit geben, ihn nicht von dem Eigentum befreien, sondern ihm die Freiheit des Eigentums verschaffen, ihn nicht von dem Schmutz des Erwerbs befreien, sondern ihm vielmehr die Gewerbefreiheit verleihen.

Man zeigte nach, wie die Anerkennung der Menschenrechte durch den modernen Staat keinen andern Sinn hat als die Anerkennung der Sklaverei durch den antiken Staat. Wie nämlich der antike Staat das Sklaventum, so hat der moderne Staat die bürgerliche Gesellschaft zur Naturbasis, sowie den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. den unabhängigen, nur durch das Band des Privatinteresses und der bewußtlosen Naturnotwendigkeit mit dem Menschen zusammenhängenden Menschen, den Sklaven der Erwerbsarbeit und seines eignen wie des fremden eigennützigen Bedürfnisses. Der moderne Staat hat diese seine Naturbasis als solche anerkannt in den allgemeinen Menschenrechten. Und er schuf sie nicht. Wie er das Produkt der durch ihre eigne Entwickelung über die alten politischen Bande hinausgetriebnen bürgerlichen Gesellschaft war, so erkannte er nun seinerseits die eigne Geburtsstätte und Grundlage durch die Proklamation der Menschenrechte an. Daß die Juden also politisch emanzipiert und daß ihnen die "Menschenrechte" verliehen werden, ist ein sich wechselseitig bedingender Akt. Herr Riesser drückt den Sinn, welchen das Begehren der Juden nach Anerkennung der freien Menschlichkeit hat, richtig aus, wenn er unter andern das freie Gehen, Verweilen, Reisen, Gewerbtreiben und dgl. begehrt. Diese Äußerungen der "freien Menschlichkeit" werden ausdrücklich in der französischen Proklamation der Menschenrechte als solche anerkannt. Der Jude hat ein um so größeres Recht auf diese Anerkennung seiner "freien Menschlichkeit", als die "freie bürgerliche Gesellschaft" durchaus kommerziellen jüdischen Wesens und er von vornherein ihr notwendiges Glied ist. Man entwickelte ferner in den "Deutsch-Franz[ösischen] Jahrbüchern", warum das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft par excellence, "der Mensch" genannt wird und warum die Menschenrechte "angeborne Rechte" heißen.

Die "Kritik" wußte nämlich nichts Kritisches über die Menschenrechte zu sagen, als daß sie nicht angeboren, sondern geschichtlich entstanden sind, was schon Hegel zu sagen wußte. Ihrer Behauptung endlich, daß Juden und Christen, um die allgemeinen Menschenrechte zu verleihen und zu empfangen, das Privilegium des Glaubens aufopfern müßten – der kritische Theologe legt allen Dingen seine einzige fixe Idee unter –, stellte man speziell die in allen unkritischen Proklamationen der Menschenrechte vorliegende Tatsache gegenüber, daß das Recht, zu glauben, was man will, das Recht, den Kultus einer beliebigen Religion auszuüben, ausdrücklich als allgemeines Menschenrecht anerkannt ist. Die "Kritik" konnte überdem wissen, daß die Partei Hèbert namentlich, unter dem Vorwand eines Angriffs auf die Men- schenrechte, weil auf die Religionsfreiheit, gestürzt wurde, daß ebenso bei der späteren Wiederherstellung der Kultusfreiheit auf die Menschenrechte provoziert wurde.

"Was das politische Wesen betrifft, so folgte die Kritik den Widersprüchen desselben bis zu dem Punkte, wo der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis seit 50 Jahren am gründlichsten durchgearbeitet war – bis zum französischen Repräsentativsystem, wo die Freiheit der Theorie von der Praxis desavouiert wird und die Freiheit des praktischen Lebens in der Theorie vergeblich ihren Ausdruck sucht.

Nachdem nun noch die Grundtäuschung aufgehoben war, hätte der Widerspruch, der in den Verhandlungen der französischen Kammer nachgewiesen war, der Widerspruch der freien Theorie und der praktischen Geltung der Privilegien, der gesetzlichen Geltung der Privilegien und eines öffentlichen Zutandes, in welchem der Egoismus des reinen Individuums der privilegierten Abgeschlossenheit Meister zu werden sucht, als ein allgemeiner Widerspruch auf diesem Gebiete gefaßt werden müssen."

Der Widerspruch, den die Kritik in den Verhandlungen der französischen Kammer nachwies, war nichts anders als ein Widerspruch des Konstitutionalismus. Hätte sie ihn als allgemeinen Widerspruch gefaßt, so hätte sie den allgemeinen Widerspruch des Konstitutionalismus gefaßt. Wäre sie noch weiter gegangen, als sie nach ihrer Meinung "hätte" gehn "müssen", wäre sie nämlich bis zur Aufhebung dieses allgemeinen Widerspruchs fortgegangen, so wäre sie von der konstitutionellen Monarchie richtig bei dem demokratischen Repräsentativstaat, bei dem vollendeten modernen Staat angekommen. Weit entfernt, das Wesen der politischen Emanzipation kritisiert und sein bestimmtes Verhältnis zum menschlichen Wesen ergründet zu haben, wäre sie erst bei dem Faktum der politischen Emanzipation, bei dem entwickelten modernen Staat angelangt, also erst da, wo die Existenz des modernen Staats seinem Wesen entspricht, wo daher auch die nicht nur relativen, sondern absoluten, die sein Wesen selbst konstituierenden Gebrechen angeschaut und charakterisiert werden können.

Die oben zitierte "kritische" Stelle ist um so wertvoller, je mehr sie bis zur Evidenz beweist, daß die Kritik in demselben Augenblicke, wo sie das "politische Wesen" tief unter sich erblickt, vielmehr tief unter ihm steht, im politischen Wesen noch die Auflösung ihrer Widersprüche finden muß und noch immer bei ihrer völligen Gedankenlosigkeit über das moderne Staatsprinzip verharrt.

Die Kritik stellte der "freien Theorie" die "praktische Geltung der Privilegien" und der "gesetzlichen Geltung der Privilegien" den "öffentlichen Zustand" gegenüber.

Um die Meinung der Kritik nicht zu mißdeuten, rufen wir uns den in den französischen Kammerverhandlungen von ihr nachgewiesenen Widerspruch ins Gedächtnis, denselben Widerspruch, der als ein allgemeiner "hätte gefaßt werden müssen". Es handelte sich unter anderm darum, einen Tag in der Woche zu bestimmen, an welchem die Kinder von der Arbeit befreit bleiben sollten. Der Sonntag wurde als dieser Tag vorgeschlagen. Ein Deputierter trug darauf an, die Erwähnung des Sonntags, als inkonstitutionell, im Gesetz zu unterlassen. Der Minister Martin (du Nord) erblickte in diesem Antrag den Antrag auf die Erklärung, das Christentum habe aufgehört zu existieren. Herr Crémieux erklärte im Namen der französischen Juden, daß die Juden, aus Achtung für die Religion der großen Majorität der Franzosen, nichts gegen die Erwähnung des Sonntags einzuwenden hätten. Nach der freien Theorie nun stehn sich Juden und Christen gleich, nach dieser Praxis besitzen die Christen ein Privilegium vor den Juden, denn wie könnte sonst der christliche Sonntag seine Stelle in einem Gesetze finden, das für alle Franzosen gegeben ist? Und hätte der jüdische Sabbat nicht dasselbe Recht etc.? Oder auch im praktischen französischen Leben, wird der Jude nicht wirklich von christlichen Privilegien unterdrückt, aber das Gesetz wagt diese praktische Gleichheit nicht auszusprechen. Von dieser Art sind alle Widersprüche des politischen Wesens, die Herr Bauer in der Judenfrage entwickelt, Widersprüche des Konstitutionalismus, der im allgemeinen der Widerspruch zwischen dem modernen Repräsentativstaat und dem alten Staat der Privilegien ist.

Herr Bauer begeht nun ein sehr gründliches Versehen, wenn er durch die Fassung und Kritik dieses Widerspruchs als eines "allgemeinen" von dem politischen Wesen zum menschlichen Wesen sich zu erheben meint. Er hatte sich nur von der halben zur ganzen politischen Emanzipation, von dem konstitutionellen zum demokratischen Repräsentativstaat erhoben.

Herr Bauer glaubt mit der Aufhebung des Privilegiums den Gegenstand des Privilegiums aufzuheben. Er sagt in bezug auf die Äußerung des Herrn Martin (du Nord):

" Es gibt keine Religion mehr, wenn es keine privilegierte Religion mehr gibt. Nehmt der Religion ihre ausschließende Kraft, und sie existiert nicht mehr."

Wie aber die Gewerbtätigkeit nicht aufgehoben wird, sobald man die Privilegien der Gewerbe, der Zünfte und Korporationen aufhebt, vielmehr erst nach Aufhebung dieser Privilegien die wirkliche Industrie beginnt: wie das Grundeigentum nicht aufgehoben wird, sobald man den privilegierten Grundbesitz aufhebt, vielmehr erst mit Aufhebung seiner Privilegien, in der freien Parzellierung und der freien Veräußerung, seine universelle Bewegung beginnt: wie der Handel durch die Aufhebung der Handelsprivilegien nicht aufgehoben, sondern im freien Handel erst wahrhaft verwirklicht wird, so entfaltet sich die Religion in ihrer praktischen Universalität (man denke an die nordamerikanischen Freistaaten) erst da, wo es keine privilegierte Religion gibt.

Der moderne "öffentliche Zustand", das ausgebildete moderne Staatswesen, hat nicht, wie die Kritik meint, die Gesellschaft der Privilegien, sondern die Gesellschaft der aufgehobnen und aufgelösten Privilegien, die entwickelte bürgerliche Gesellschaft, worin die in den Privilegien noch politisch gebundenen Lebenselemente freigelassen sind, zugrunde liegen. Keine "privilegierte Abgeschlossenheit" steht hier weder der andern noch dem öffentlichen Zustande gegenüber. Wie die freie Industrie und der freie Handel die privilegierte Abgeschlossenheit und damit den Kampf der privilegierten Abgeschlossenheiten untereinander aufheben, dagegen an ihre Stelle den vom Privilegium – welches von der allgemeinen Gesamtheit abschließt, aber zugleich zu einer kleineren exklusiven Gesamtheit zusammenschließt – losgebundenen, selbst nicht mehr durch den Schein eines allgemeinen Bandes an den andern Menschen geknüpften Menschen setzen und den allgemeinen Kampf von Mann wider Mann, Individuum wider Individuum erzeugen, so ist die ganze bürgerliche Gesellschaft dieser Krieg aller nur mehr durch ihre Individualität voneinander abgeschlossenen Individuen gegeneinander und die allgemeine zügellose Bewegung der aus den Fesseln der Privilegien befreiten elementarischen Lebensmächte. Der Gegensatz von demokratischem Repräsentativstaat und bürgerlicher Gesellschaft ist die Vollendung des klassischen Gegensatzes von öffentlichem Gemeinwesen und Sklaventum. In der modernen Welt ist jeder zugleich Mitglied des Sklaventums und des Gemeinwesens. Eben das Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist dem Schein nach die größte Freiheit, weil die scheinbar vollendete Unabhängigkeit des Individuums, welches die zügellose, nicht mehr von allgemeinen Banden und nicht mehr vom Menschen gebundne Bewegung seiner entfremdeten Lebenselemente, wie z.B. des Eigentums, der Industrie, der Religion etc., für seine eigne Freiheit nimmt, während sie vielmehr seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist. An die Stelle des Privilegiums ist hier das Recht getreten.

Also erst hier, wo kein Widerspruch zwischen der freien Theorie und der praktischen Geltung der Privilegien stattfindet, vielmehr die praktische Vernichtung der Privilegien, die freie Industrie, der freie Handel etc. der "freien Theorie" entspricht, wo dem öffentlichen Zustand keine privilegierte Abgeschlossenheit entgegensteht, wo der von der Kritik entwickelte Widerspruch aufgehoben ist, ist das vollendete moderne Staatswesen vorhanden.

Hier herrscht auch gradezu die Umkehrung des Gesetzes, das Herr Bauer, bei Gelegenheit der französischen Kammerdebatten, mit Herrn Martin (du Nord) übereinstimmend ausspricht.

"So gut wie Herr Martin (du Nord) in dem Vorschlag, die Erwähnung des Sonntags im Gesetze zu unterlassen, den Antrag auf die Erklärung sah, daß das Christentum aufgehört habe zu existieren, mit demselben Rechte, und dies Recht ist vollkommen begründet, würde die Erklärung, daß das Sabbatsgesetz für den Juden keine Verbindlichkeit mehr habe, die Proklamation der Auflösung des Judentums sein."

In dem entwickelten modernen Staat verhält es sich grade umgekehrt. Der Staat erklärt, daß die Religion, wie die übrigen bürgerlichen Lebenselemente, erst in ihrem vollen Umfang zu existieren begonnen haben, sobald er sie für unpolitisch erklärt und daher sich selbst überläßt. Der Auflösung ihres politischen Daseins, wie etwa der Auflösung des Eigentums durch die Aufhebung des Wahlzensus, der Auflösung der Religion durch die Aufhebung der Staatskirche, eben dieser Proklamation ihres staatsbürgerlichen Todes entspricht ihr gewaltigstes Leben, das nun ungestört seinen eignen Gesetzen gehorcht und die ganze Breite seiner Existenz auseinanderlegt.

Die Anarchie ist das Gesetz der von den gliedernden Privilegien emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft, und die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft ist die Grundlage des modernen öffentlichen Zustandes, wie der öffentliche Zustand wieder seinerseits die Gewähr dieser Anarchie ist. So sehr sich beide entgegengesetzt sind, so sehr bedingen sie sich wechselseitig.

Man sieht, wie weit die Kritik befähigt ist, sich das "Neue" anzueignen. Bleiben wir aber innerhalb der Grenzen der "reinen Kritik" stehen, so fragt es sich, warum hat sie ihren bei Gelegenheit der französischen Kammerdebatten entwickelten Widerspruch nicht als allgemeinen Widerspruch gefaßt, was nach ihrer eignen Meinung "hätte" geschehen "müssen"?

"Der Schritt war aber damals unmöglich – nicht nur weil ... nicht nur weil ... sondern auch, weil die Kritik ohne diesen letzten Rest innerer Verwickelung mit ihrem Gegensatze unmöglich war und zu dem Punkte, wo nur noch ein Schritt übrigblieb, nicht hätte kommen können."

War unmöglich ... weil ... unmöglich war! Die Kritik versichert zudem, daß der verhängnisvolle "eine Schritt" unmöglich war, "um zu dem Punkte, wo nur noch ein Schritt übrigblieb, kommen zu können". Und wer wird es bestreiten? Um zu einem Punkte kommen zu können, wo nur noch "ein Schritt" übrigbleibt, ist es absolut unmöglich, den "einen Schritt" noch zu machen, der über den Punkt hinausführt, hinter welchem noch "ein Schritt" übrigbleibt.

Ende gut, alles gut! Am Schlusse des Treffens gegen die ihrer "Judenfrage" feindliche Masse gesteht die Kritik, daß ihre Fassung der "Menschenrechte, ihre

"Würdigung der Religion in der französischen Revolution", das "freie politische Wesen, auf welches sie am Schluß ihrer Erörterungen zuweilen hinwies", kurz, die ganze "Zeit der französischen Revolution für die Kritik nichts mehr und nichts minder war als ein Symbol – also nicht genau und im prosaischen Sinne jene Zeit der revolutionären Versuche der Franzosen – ein Symbol, also auch nur ein phantastischer Ausdruck für die Gestalten war, die sie am Ende sah".

Wir wollen der Kritik den Trost nicht rauben, daß, wenn sie sich politisch versündigte, es nur am "Schluß" und am "Ende" ihrer Werke geschah. Ein bekannter Trunkenbold pflegte sich dabei zu beruhigen, daß er nie vor Mitternacht betrunken sei.

Auf dem Terrain der "Judenfrage" hat die Kritik unstreitig dem Feinde immer mehr Raum abgewonnen. Nr. 1 der "Judenfrage" war die von Herrn Bauer verteidigte Schrift der Kritik noch absolut und hatte die "wahre" und "allgemeine" Bedeutung der "Judenfrage" enthüllt. Nr. 2 "wollte und durfte" die Kritik nicht über die Kritik hinausgehen. Nr. 3 hätte sie noch "einen Schritt" machen müssen, aber er war "unmöglich" – weil - "unmöglich". Nicht ihr "Wollen und Dürfen", sondern die Verstrickung in ihrem "Gegensatz" hinderte sie an diesem "einen Schritt". Sie hätte gar zu gern über die letzte Barriere hinübergesetzt, aber unglücklicherweise war ein letzter Rest von Masse an ihren kritischen Meilenstiefeln hängengeblieben.

 

c) Kritische Schlacht gegen die französische Revolution

Die Beschränktheit der Masse hatte den "Geist", die Kritik, Herrn Bauer gezwungen, die französische Revolution nicht für jene Zeit der revolutionären Versuche der Franzosen im "prosaischen Sinne", sondern "nur" für das "Symbol und den phantastischen Ausdruck" seiner eignen kritischen Hirngespinste zu halten. Die Kritik tut Buße für ihr "Versehn", indem sie die Revolution einer neuen Prüfung unterwirft. Sie bestraft zugleich den Verführer ihrer Unschuld – "die Masse", indem sie derselben die Resultate dieser "neuen Prüfung" mitteilt.

"Die französische Revolution war ein Experiment, welches durchaus noch dem achtzehnten Jahrhundert angehörte."

Daß ein Experiment des achtzehnten Jahrhunderts, wie die französische Revolution, durchaus noch ein Experiment des achtzehnten Jahrhunderts ist und nicht etwa ein Experiment des neunzehnten, diese chronologische Wahrheit scheint "durchaus noch" den Wahrheiten anzugehören, die "sich von vornherein von selber verstehen". Eine solche Wahrheit heißt aber in der Terminologie der Kritik, welche sehr gegen die "sonnenklare" Wahrheit eingenommen ist, eine "Prüfung" und findet daher ihren natürlichen Platz in einer "neuen Prüfung der Revolution".

"Die Ideen, welche die französische Revolution hervorgetrieben hatte, führten aber über den Zustand, den sie mit Gewalt aufheben wollte, nicht hinaus."

Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten. In seinem wörtlichen Sinn ist also der kritische Satz wieder eine Wahrheit, die sich von selbst versteht, also abermals eine "Prüfung".

Von dieser Prüfung unangefochten, hat die französische Revolution Ideen hervorgetrieben, welche über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes hinausführen. Die revolutionäre Bewegung, welche 1789 im Cercle social begann, in der Mitte ihrer Bahn Leclerc und Roux zu ihren Hauptrepräsentanten hatte und endlich mit Babeufs Verschwörung für einen Augenblick unterlag, hatte die kommunistische Idee hervorgetrieben, welche Babeufs Freund, Buonaroti, nach der Revolution von 1830 wieder in Frankreich einführte. Diese Idee, konsequent ausgearbeitet, ist die Idee des neuen Weltzustandes.

"Nachdem die Revolution daher (!) die feudalistischen Abgrenzungen innerhalb des Volkslebens aufgehoben hatte, war sie gezwungen, den reinen Egoismus der Nationalität zu befriedigen und selbst anzufeuern, sowie auf der andern Seite durch seine notwendige Ergänzung die Anerkennung eines höchsten Wesens, durch diese höhere Bestätigung des allgemeinen Staatswesens, welches die einzelnen selbstsüchtigen Atome zusammenhalten muß, zu zügeln."

Der Egoismus der Nationalität ist der naturwüchsige Egoismus des allgemeinen Staatswesens, im Gegensatz zum Egoismus der feudalistischen Abgrenzungen. Das höchste Wesen ist die höhere Bestätigung des allgemeinen Staatswesens, also auch der Nationalität. Das höchste Wesen soll nichtsdestoweniger den Egoismus der Nationalität, d.i. des allgemeinen Staatswesens, zügeln! Eine wahrhaft kritische Aufgabe, einen Egoismus durch seine Bestätigung und gar durch seine religiöse Bestätigung, d.h. durch die Anerkennung desselben als eines übermenschlichen und darum auch von menschlichen Zügeln befreiten Wesens zu zügeln! Die Schöpfer des höchsten Wesens wußten nichts von dieser ihrer kritischen Intention.

Herr Buchez, der den Fanatismus der Nationalität auf den Fanatismus der Religion stützt, versteht seinen Helden Robespierre besser.

Rom und Griechenland scheiterten an der Nationalität. Die Kritik sagt also nichts Spezifisches über die französische Revolution, wenn sie dieselbe an der Nationalität scheitern läßt. Sie sagt ebensowenig über die Nationalität, wenn sie den Egoismus derselben als rein bestimmt. Dieser reine Egoismus erscheint vielmehr als ein sehr dunkler, mit Fleisch und Blut versetzter, naturwüchsiger Egoismus, wenn man ihn etwa mit dem reinen Egoismus des Fichteschen Ich vergleicht. Ist aber seine Reinheit nur relativ, im Gegensatz zu dem Egoismus der feudalistischen Abgrenzungen, so bedurfte es keiner "neuen Prüfung der Revolution", um zu finden, daß der Egoismus, der eine Nation zum Inhalt hat, allgemeiner oder reiner ist als der Egoismus, der einen besonderen Stand und eine besondere Korporation zum Inhalt hat.

Die Aufschlüsse der Kritik über das allgemeine Staatswesen sind nicht minder unterrichtend. Sie beschränken sich darauf, daß das allgemeine Staatswesen die einzelnen selbstsüchtigen Atome zusammenhalten muß.

Genau und im prosaischen Sinne zu reden, sind die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft keine Atome. Die charakteristische Eigenschaft des Atoms besteht darin, keine Eigenschaften und darum keine durch seine eigne Naturnotwendigkeit bedingte Beziehung zu andern Wesen außer ihm zu haben. Das Atom ist bedürfnislos, selbstgenügsam; die Welt außer ihm ist die absolute Leere, d.h. sie ist inhaltslos, sinnlos, nichtssagend, eben weil es alle Fülle in sich selbst besitzt. Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner unsinnlichen Vorstellung und unlebendigen Abstraktion zum Atom aufblähen, d.h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnislosen, absolut vollen, seligen Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung, jeder seiner Sinne zwingt es, an den Sinn soll wahrscheinlich heißen: an das Sein der Welt und der Individuen außer ihm zu glauben, und selbst sein profaner Magen erinnert es täglich daran, daß die Welt außer ihm nicht leer, sondern das eigentlich Erfüllende ist. Jede seiner Wesenstätigkeiten und Eigenschaften, jeder seiner Lebenstriebe wird zum Bedürfnis, zur Not, die seine Selbstsucht zur Sucht nach andern Dingen und Menschen außer ihm macht. Da aber das Bedürfnis des einen Individuums keinen sich von selbst verstehenden Sinn für das andere egoistische Individuum, das die Mittel, jenes Bedürfnis zu befriedigen, besitzt, also keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Befriedigung hat, so muß jedes Individuum diesen Zusammenhang schaffen, indem es gleichfalls zum Kuppler zwischen dem fremden Bedürfnis und den Gegenständen dieses Bedürfnisses wird. Die Naturnotwendigkeit also, die menschlichen Wesenseigenschaften, so entfremdet sie auch erscheinen mögen, das Interesse halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, das bürgerliche und nicht das politische Leben ist ihr reales Band. Nicht also der Staat hält die Atome der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, sondern dies, daß sie Atome nur in der Vorstellung sind, im Himmel ihrer Einbildung – in der Wirklichkeit aber gewaltig von den Atomen unterschiedene Wesen, nämlich keine göttliche Egoisten, sondern egoistische Menschen. Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, daß das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird.

" Robespierres und Saint-Justs kolossale Idee, ein 'freies Volk' zu bilden, welches nur nach den Regeln der Gerechtigkeit und Tugend lebt – siehe zum Beispiel Saint-Justs Bericht über Dantons Verbrechen und den andern über die allgemeine Polizei –, konnte sich nur durch den Schrecken für einige Zeit halten und war ein Widerspruch, gegen welchen die gemeinen und selbstsüchtigen Elemente des Volkswesens in der feigen und heimtückischen Weise reagierten, die von ihnen nur zu erwarten war."

Diese absolut-kritische Phrase, welche ein "freies Volk" als einen "Widerspruch" charakterisiert, gegen welchen die Elemente des "Volkswesens" reagieren müssen, ist so absolut hohl, daß Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend in Robespierres und Saint-Justs Sinne vielmehr nur Lebensäußerungen eines "Volkes" und nur Eigenschaften des "Volkswesens" sein können. Robespierre und Saint-Just sprechen ausdrücklich von der antiken, nur dem "Volkswesen" angehörigen "Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend". Spartaner, Athener, Römer zur Zeit ihrer Größe sind "freie, gerechte, tugendhafte Völker".

"Welches", fragt Robespierre in der Rede über die Prinzipien der öffentlichen Moral (Sitzung des Konvents vom 5. Februar 1794) – "welches ist das Grundprinzip des demokratischen oder populären Gouvernements? Die Tugend. Ich spreche von der öffentlichen Tugend, welche so große Wunder in Griechenland und Rom bewirkte und welche noch bewundrungswürdigere in dem republikanischen Frankreich bewirken wird; von der Tugend, welche nichts anderes ist als die Liebe des Vaterlandes und seiner Gesetze."

Robespierre bezeichnet sodann ausdrücklich Athener und Spartaner als "peuples libres" "freie Völker". Er ruft beständig das antike Volkswesen ins Gedächtnis und zitiert seine Heroen wie seine Verderber – Lykurg, Demosthenes, Miltiades, Aristides, Brutus und Catilina, Cäsar, Clodius, Pison.

Saint-Just in dem Bericht über Dantons Verhaftung – worauf die Kritik verweist – sagt ausdrücklich:

"Die Welt ist leer seit den Römern, und nur die Erinnerung an sie erfüllt sie und prophezeit noch die Freiheit."

Seine Anklage ist in antiker Weise gegen Danton als einen Catilina gerichtet.

In dem andern Bericht Saint-Justs über die allgemeine Polizei wird der Republikaner ganz im antiken Sinn, unbeugsam, frugal, einfach usw. geschildert. Die Polizei soll dem Wesen nach ein der römischen Zensur entsprechendes Insitut sein. – Codrus, Lykurg, Cäsar, Cato, Catilina, Brutus, Antonius, Cassius fehlen nicht. Endlich charakterisiert Saint-Just die "Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend", die er verlangt, mit einem Worte, wenn er sagt:

"Que les hommes révolutionnaires soient des Romains."

"Das die revolutionären Menschen Römer seien."

Robespierre, Saint-Just und ihre Partei gingen unter, weil sie das antike, realistisch-demokratische Gemeinwesen, welches auf der Grundlage des wirklichen Sklaventums ruhte, mit dem modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat, welcher auf dem emanzipierten Sklaventum, der bürgerlichen Gesellschaft, beruht, verwechselten. Welche kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität - in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise bilden zu wollen!

Tragisch erscheint diese Täuschung, wenn Saint-Just am Tage seiner Hinrichtung auf die im Saale der Conciergerie hängende große Tabelle der Menschenrechte hinwies und mit stolzem Selbstgefühl äußerte: "C'est pourtant moi qui ai fait cela." "Und doch war ich es, der das gemacht hat." Eben diese Tabelle proklamierte das Recht eines Menschen, der nicht der Mensch des antiken Gemeinwesens sein kann, sowenig als seine nationalökonomischen und industriellen Verhältnisse die antiken sind.

Es ist hier nicht der Ort, die Täuschung der Terroristen geschichtlich zu rechtfertigen

"Nach dem Sturz Robespierres eilte die politische Aufklärung und Bewegung dem Punkte zu, wo sie die Beute Napoleons wurde, der nicht lange Zeit nach dem 18. Brumaire sagen konnte: 'Mit meinen Präfekten, Gendarmen und Geistlichen kann ich mit Frankreich machen, was ich will.'"

Die profane Geschichte berichtet dagegen: Nach dem Sturz Robespierres beginnt die politische Aufklärung, die sich selbst hatte überbieten wollen, die überschwenglich gewesen war, erst sich prosaisch zu verwirklichen. Unter der Regierung des Direktoriums bricht die bürgerliche Gesellschaft – die Revolution selbst hatte sie von den feudalen Banden befreit und offiziell anerkannt, so sehr der Terrorismus sie einem antik-politischen Leben aufopfern wollte – in gewaltigen Lebensströmungen hervor. Sturm und Drang nach kommerziellen Unternehmungen, Bereicherungssucht, Taumel des neuen bürgerlichen Lebens, dessen erster Selbstgenuß noch keck, leichtsinnig, frivol, berauschend ist; wirkliche Aufklärung des französischen Grund und Bodens, dessen feudale Gliederung der Hammer der Revolution zerschlagen hatte und welchen nun die erste Fieberhitze der vielen neuen Eigentümer einer allseitigen Kultur unterwirft; erste Bewegungen der freigewordenen Industrie – das sind einige von den Lebenszeichen der neuentstandnen bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft wird positiv repräsentiert durch die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie beginnt also ihr Regiment. Die Menschenrechte hören auf, bloß in der Theorie zu existieren.

Was am l8. Brumaire die Beute Napoleons wurde, war nicht, wie die Kritik einem Herrn von Rotteck und Welcker getreulichst glaubt, die revolutionäre Bewegung überhaupt, es war die liberale Bourgeoisie. Man hat nur die Reden der damaligen Gesetzgeber zu lesen, um sich davon zu überzeugen. Man glaubt aus dem Nationalkonvent in eine heutige Deputiertenkammer versetzt zu sein.

Napoleon war der letzte Kampf des revolutionären Terrorismus gegen die gleichfalls durch die Revolution proklamierte bürgerliche Gesellschaft und deren Politik. Napoleon besaß allerdings schon die Einsicht in das Wesen des modernen Staats, daß derselbe auf der ungehinderten Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft, auf der freien Bewegung der Privatinteressen etc. als seiner Grundlage ruhe. Er entschloß sich, diese Grundlage anzuerkennen und zu beschützen. Er war kein schwärmerischer Terrorist. Aber Napoleon betrachtete zugleich noch den Staat als Selbstzweck und das bürgerliche Leben nur als Schatzmeister und als seinen Subalternen, der keinen Eigenwillen haben dürfe. Er vollzog den Terrorismus, indem er an die Stelle der permanenten Revolution den permanenten Krieg setzte. Er befriedigte bis zur vollen Sättigung den Egoismus der französischen Nationalität, aber er verlangte auch das Opfer der bürgerlichen Geschäfte, [des] Genusses, Reichtums etc., sooft es der politische Zweck der Eroberung erheischte. Wenn er den Liberalismus der bürgerlichen Gesellschaft – den politischen Idealismus ihrer alltäglichen despotisch unterdrückte, so schonte er nicht mehr ihre wesentlichsten materiellen Interessen, Handel und Industrie, sooft sie mit seinen politischen Interessen in Konflikt gerieten. Seine Verachtung der industriellen hommes d'affaires Geschäftsleute war die Ergänzung zu seiner Verachtung der Ideologen. Auch nach innen hin bekämpfte er in der bürgerlichen Gesellschaft den Gegner des in ihm noch als absoluter Selbstzweck geltenden Staats. So erklärte er im Staatsrat, er werde nicht dulden, daß der Besitzer umfangreicher Ländereien sie nach Belieben behaue oder nicht behaue. So faßte er den Plan, durch Aneignung der Roulage des Frachtverkehrs den Handel dem Staat zu unterwerfen. Französische Handelsleute bereiteten auf das Ereignis vor, welches Napoleons Macht zuerst erschütterte. Pariser Agioteurs zwangen ihn durch eine künstlich geschaffene Hungersnot, die Eröffnung des russischen Feldzugs beinahe um zwei Monate aufzuschieben und daher in eine zu weit vorgerückte Jahreszeit zu verlegen.

Wie der liberalen Bourgeoisie in Napoleon noch einmal der revolutionäre Terrormus entgegentrat, so trat ihr in der Restauration, in den Bourbonen, noch einmal die Kontenrevolution gegenüber. Endlich verwirklichte sie in dem Jahre 1830 ihre Wünsche vom Jahre 1789, nur mit dem Unterschied, daß ihre politische Aufklärung nun vollendet war, daß sie in dem konstitutionellen Repräsentativstaat nicht mehr das Ideal des Staates, nicht mehr das Heil der Welt und allgemein menschliche Zwecke zu erstreben meinte, sondern ihn vielmehr als den offiziellen Aussnack ihrer ausschließlichen Macht und als die politische Anerkennung ihres besondern Interesses erkannt hatte.

Die Lebensgeschichte der französischen Revolution, die von 1789 her datiert, ist mit dem Jahre 1830, wo eins ihrer Momente, nun bereichert mit dem Bewußtsein seiner sozialen Bedeutung, den Sieg davontrug, noch nicht beendigt.

 

d) Kritische Schlacht gegen den französischen Materialismus

"Der Spinozismus hatte das 18. Jahrhundert beherrscht, sowohl in seiner französischen Weiterbildung, die die Materie zur Substanz machte, wie im Theismus, der de Materie mit einem geistigeren Namen belegte ... Spinozas französische Schule und die Anhänger des Theismus waren nur zwei Sekten, die sich über den wahren Sinn seines Systems stritten ... Das einfache Schicksal dieser Aufklärung war ihr Untergang in der Romantik, nachdem sie sich der Reaktion die seit der französischen Bewegung begann, hatte gefangengeben rnüssen."

Soweit die Kritik.

Wir werden der kritischen Geschichte des französischen Materialismus seine profane, massenhafte Geschichte in einer kurzen Skizze gegenüberstellen. Wir werden die Kluft zwischen der Geschichte, wie sie sich wirklich zugetragen hat, und zwischen der Geschichte, wie sie sich zuträgt nach dem Dekret der "absoluten Kritik", der gleichmäßigen Schöpferin des Alten wie des Neuen, ehrfurchtsvoll anerkennen. Wir werden endlich, den Vorschriften der Kritik gehorchend, das "Warum?", "Woher?" und "Wohin?" der kritischen Geschichte zum "Gegenstand eines anhaltenden Studiums machen".

"Genau und im prosaischen Sinne zu reden", war die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts und namentlich der französische Materialismus nicht nur ein Kampf gegen die bestehenden politischen Institutionen, wie gegen die bestehende Religion und Theologie, sondern ebensosehr ein offener, ein ausgesprochener Kampf gegen die Metaphysik des siebzehnten Jahrhunderts und gegen alle Metaphysik, namentlich gegen die des Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz. Man stellte die Philosophie der Metaphysik gegenüber, wie Feuerbach bei seinem ersten entschiedenen Auftreten wider Hegel der trunkenen Spekulation die nüchterne Philosophie gegenüberstellte. Die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, welche von der französischen Aufklärung und namentlich von dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts aus dem Felde geschlagen war, erlebte ihre siegreiche und gehaltvolle Restauration in der deutschen Philosophie und namentlich in der spekulativen deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Nachdem Hegel sie auf eine geniale Weise mit aller seitherigen Metaphysik und dem deutschen Idealismus vereint und ein metaphysisches Universalreich gegründet hatte, entsprach wieder, wie im 18. Jahrhundert, dem Angriff auf die Theologie der Angriff auf die spekulative Metaphysik und auf alle Metaphysik. Sie wird für immer dem nun durch die Arbeit der Spekulation selbst vollendeten und mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus erliegen. Wie aber Feuerbach auf theoretischem Gebiete, stellte der französische und englische Sozialismus und Kommunismus auf praktischem Gebiete den mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus dar.

"Genau und im prosaischen Sinne zu reden", gibt es zwei Richtungen des französischen Materialismus, wovon die eine ihren Ursprung von Descartes, die andre ihren Ursprung von Locke herleitet. Der letztere ist vorzugsweise ein französisches Bildungselement und mündet direkt in den Sozialismus. Der erstere, der mechanische Materialismus, verläuft sich in die eigentliche französische Naturwissenschaft. Beide Richtungen durchkreuzen sich im Lauf der Entwicklung. Auf den direkt von Descartes herdatierenden französischen Materialismus haben wir nicht näher einzugehen, so wenig als auf die französische Schule des Newton und auf die Entwicklung der französischen Naturwissenschaft überhaupt.

Daher nur soviel:

In seiner Physik hatte Descartes der Materie selbstschöpferische Kraft verliehen und die mechanische Bewegung als ihren Lebensakt gefaßt. Er hatte seine Physik vollständig von seiner Metaphysik getrennt. Innerhalb seiner Physik ist die Materie die einzige Substanz, der einzige Grund des Seins und des Erkennens.

Der mechanische französische Materialismus schloß sich der Physik des Descartes im Gegensatz zu seiner Metaphysik an. Seine Schüler waren Antimetaphysiker von Profession, nämlich Physiker.

Mit dem Arzte Le Roy beginnt diese Schule, mit dem Arzte Cabanis erreicht sie ihren Höhepunkt, der Arzt La Mettrie ist ihr Zentrum. Descartes lebte noch, als Le Roy die kartesische Konstruktion des Tieres – wie ähnlich im 18. Jahrhundert La Mettrie – auf die menschliche Seele übertrug, die Seele für einen Modus des Körpers und die Ideen für mechanische Bewegungen erklärte. Le Roy glaubte sogar, Descartes habe seine wahre Meinung verheimlicht. Descartes protestierte. Am Ende des 18. Jahrhunderts vollendete Cabanis den kartesischen Materialismus in seiner Schrift "Rapports du physique et du moral de l'homme".

Der kartesische Materialismus existiert bis auf den heutigen Tag in Frankreich. Er hat seine großen Erfolge in der mechanischen Naturwissenschaft, der man die Romantik, genau und im prosaischen Sinn zu reden, am allerwenigsten vorwerfen wird.

Die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, für Frankreich namentlich durch Descartes repräsentiert, hatte von ihrer Geburtsstunde an den Materialismus zu Antagonisten. Persönlich trat er dem Descartes in der Gestalt des Gassendi, dem Wiederhersteller des epikureischen Materialismus, gegenüber. Der französische und englische Materialismus blieb immer in einem innigen Verhältnis zu Demokrit und Epikur. Einen andern Gegensatz hatte die kartesische Metaphysik an dem englischen Materialisten Hobbes. Gassendi und Hobbes besiegten lange nach ihrem Tode ihren Gegner in demselben Augenblicke, wo dieser als die offizielle Macht schon in allen französischen Schulen herrschte.

Voltaire hat bemerkt, daß die Indifferenz der Franzosen des 18. Jahrhunderts gegen die jesuitischen und jansenistischen Streitigkeiten weniger durch die Philosophie als durch die Lawschen Finanzspekulationen herbeigeführt wurde. So kann man den Sturz der Metaphysik des 17. Jahrhunderts nur insofern aus der materialistischen Theorie des 18. Jahrhunderts erklären, als man diese theoretische Bewegung selbst aus der praktischen Gestaltung des damaligen französischen Lebens erklärt. Dieses Leben war auf die unmittelbare Gegenwart, auf den weltlichen Genuß und die weltlichen Interessen, auf die irdische Welt gerichtet. Seiner antitheologischen, antimetaphysischen, seiner materialistischen Praxis mußten antitheologische, antimetaphysische, materialistische Theorien entsprechen. Die Metaphysik hatte praktisch allen Kredit verloren. Wir heben hier nur den theoretischen Verlauf kurz anzudeuten.

Die Metaphysik war im 17. Jahrhundert (man denke an Descartes, Leibniz etc.) noch versetzt mit positivem, profanem Gehalte. Sie machte Entdeckungen in der Mathematik, Physik und andern bestimmten Wissenschaften, die ihr anzugehören schienen. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts war dieser Schein vernichtet. Die positiven Wissenschaften hatten sich von ihr getrennt und selbständige Kreise gezogen. Der ganze metaphysische Reichtum bestand nur noch in Gedankenwesen und himmlischen Dingen, grade als die realen Wesen und die irdischen Dinge alles Interesse in sich zu konzentrieren begannen. Die Metaphysik war fad geworden. In demselben Jahre, wo die letzten großen französischen Metaphysiker des 17. Jahrhunderts, Malebranche und Arnauld, starben, wurden Helvétius und Condillac geboren.

Der Mann, der die Metaphysik des 17. Jahrhunderts und alle Metaphysik theoretisch um ihren Kredit krachte, war Pierre Bayle. Seine Waffe war der Skeptizismus, geschmiedet aus den metaphysischen Zauberformeln selber. Er selbst ging zunächst aus von der kartesischen Metaphysik. Wie Feuerbach durch die Bekämpfung der spekulativen Theologie zur Bekämpfung der spekulativen Philosophie fortgetrieben wurde, eben weil er die Spekulation als die letzte Stütze der Theologie erkannte, weil er die Theologen zwingen mußte, von der Scheinwissenschaft zu dem rohen, widerlichen Glauben zurückzuflüchten, so trieb der religiöse Zweifel den Bayle zum Zweifel an der Metaphysik, welche diesen Glauben stützte. Er unterwarf daher die Metaphysik in ihrem ganzen geschichtlichen Verlauf der Kritik. Er wurde ihr Geschichtschreiber, um die Geschichte ihres Todes zu schreiben. Er widerlegte vorzugsweise den Spinoza und Leibniz.

Pierre Bayle bereitete nicht nur dem Materialismus und der Philosophie des gesunden Menschenverstandes ihre Aufnahme in Frankreich durch die skeptische Auflösung der Metaphysik vor. Er kündete die atheistische Gesellschaft, welche bald zu existieren beginnen sollte, durch den Beweis an, daß eine Gesellschaft von lauter Atheisten existieren, daß ein Atheist ein ehrbarer Mensch sein könne, daß sich der Mensch nicht durch den Atheismus, sondern durch den Aberglauben und den Götzendienst herabwürdige.

Piere Bayle war nach dem Ausdruck eines französischen Schriftstellers " der letzte der Metaphysiker im Sinne des 17. und der erste der Philosophen im Sinne des 18. Jahrhunderts".

Außer der negativen Widerlegung der Theologie und der Metaphysik des 17. Jahrhunderts bedurfte man eines positiven, antimetaphysischen Systems. Man bedurfte eines Buches, welches die damalige Lebenspraxis in ein System brachte und theoretisch begründete. Lockes Schrift über den "Ursprung des menschlichen Verstandes" kam wie gerufen von jenseits des Kanals. Es wurde enthusiastisch als ein sehnlichst erwarteter Gut empfangen.

Es fragt sich: Ist Locke etwa ein Schüler des Spinoza? Die "profane" Geschichte mag antworten:

Der Materialismus ist der eingeborne Sohn Großbritanniens. Schon sein Scholastiker Duns Scotus fragte sich, "ob die Materie nicht denken könne".

Um dies Wunder zu bewerkstelligen, nahm er zu Gottes Allmacht seine Zuflucht, d.h. er zwang die Theologie selbst, den Materialismus zu predigen. Er war überdem Nominalist. Der Nominalismus findet sich als ein Hauptelement bei den englischen Materialisten, wie er überhaupt der erste Ausdruck des Materialismus ist.

Der wahre Stammvater des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden Wissenschaft ist Baco. Die Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre Wissenschaft und die sinnliche Physik als der vornehmste Teil der Naturwissenschaft. Anaxagoras mit seinen Homoiomerien und Demokrit mit seinen Atomen sind häufig seine Autoritäten. Nach seiner Lehre sind die Sinne untrüglich und die Quelle aller Kenntnisse. Die Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft und besteht darin, eine rationelle Methode auf das sinnlich Gegebene anzuwenden. Induktion, Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer rationellen Methode. Unter den der Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual – um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen – der Materie. Die primitiven Formen der letztern sind lebendige, individualisierende, ihr inhärente, die spezifischen Unterschiede produzierende Wesenskräfte.

In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetisch-sinnlichern Glanze den ganzen Menschen an. Die aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen.

In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig. Hobbes ist der Systematiker des baconischen Materialismus. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der mechanischen oder mathematischen geopfert; die Geometrie wird als die Hauptwissenschaft proklamiert. Der Materialismus wird menschenfeindlich. Um den menschenfeindlichen, fleischlosen Geist auf seinem eignen Gebiet überwinden zu können, muß der Materialismus selbst sein Fleisch abtöten und zum Asketen werden. Er tritt auf als ein Verstandeswesen, aber er entwickelt auch die rücksichtslose Konsequenz des Verstandes.

Wenn die Sinnlichkeit alle Kenntnisse den Menschen liefert, demonstriert Hobbes, von Baco ausgehend, so sind Anschauung, Gedanke, Vorstellung etc. nichts als Phantome der mehr oder minder von ihrer sinnlichen Form entkleideten Körperwelt. Die Wissenschaft kann diese Phantome nur benennen. Ein Name kann auf mehrere Phantome angewandt werden. Es kann sogar Namen von Namen geben. Es wäre aber ein Widerspruch, einerseits alle Ideen ihren Ursprung in der Sinnenwelt finden zu lassen und andrerseits zu behaupten, daß ein Wort mehr als ein Wort sei, daß es außer den vorgestellten, immer einzelnen Wesen noch allgemeine Wesen gebe. Eine unkörperliche Substanz ist vielmehr derselbe Widerspruch wie ein unkörperlicher Körper. Körper, Sein, Substanz ist eine und dieselbe reelle Idee. Man kann den Gedanken nicht von einer Materie trennen, die denkt. Sie ist das Subjekt aller Veränderungen. Das Wort unendlich ist sinnlos, wenn es nicht die Fähigkeit unseres Geistes bedeutet, ohne Ende hinzuzufügen. Weil nur das Materielle wahrnehmbar, wißbar ist, so weiß man nichts von Gottes Existenz. Nur meine eigne Existenz ist sicher. Jede menschliche Leidenschaft ist eine mechanische Bewegung, die endet oder anfängt. Die Objekte der Triebe sind das Gute. Der Mensch ist denselben Gesetzen unterworfen wie die Natur. Macht und Freiheit sind identisch.

Hobbes hatte den Baco systematisiert, aber sein Grundprinzip, den Ursprung der Kenntnisse und Ideen aus der Sinnenwelt, nicht näher begründet.

Locke begründet das Prinzip des Baco und Hobbes in seinem Versuch über den Ursprung des menschlichen Verstandes.

Wie Hobbes die theistischen Vorurteile des baconischen Materialismus vernichtete, so Collins, Dodwell, Coward, Hartley, Priestley etc. die letzte theologische Schranke des Lockeschen Sensualismus. Mehr als eine bequeme und nachlässige Weise, die Religion loszuwerden, ist der Deismus wenigstens für den Materialisten nicht.

Wir haben schon erwähnt, wie gelegen Lockes Werk den Franzosen kam. Locke hatte die Philosophie des bon sens, des gesunden Menschenverstandes, begründet, d.h. auf einem Umweg gesagt, daß es keine von den gesunden menschlichen Sinnen und dem auf ihnen basierenden Verstand unterschiedne Philosophie gebe.

Der unmittelbare Schüler und französische Dolmetscher Lockes, Condillac, richtete den Lockeschen Sensualismus sogleich gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts. Er bewies, daß die Franzosen dieselbe mit Recht als ein Machwerk der Einbildungskraft und theologischer Vorurteile verworfen hätten. Er publizierte eine Widerlegung der Systeme von Descartes, Spinoza, Leibniz und Malebranche.

In seiner Schrift "L'essai sur l'origine des connaissances humaines" führte er Lockes Gedanken aus und bewies, daß nicht nur die Seele, sondern auch die Sinne, nicht nur die Kunst, Ideen zu machen, sondern auch die Kunst der sinnlichen Empfindung Sache der Erfahrung und Gewohnheit sei. Von der Erziehung und den äußeren Umständen hängt daher die ganze Entwicklung des Menschen ab. Condillac ist erst durch die eklektische Philosophie aus den französischen Schulen verdrängt worden.

Der Unterschied des französischen und englischen Materialismus ist der Unterschied beider Nationalitäten. Die Franzosen begaben den englischen Materialismus mit Esprit, mit Fleisch und Blut, mit Beredsamkeit. Sie verleihen ihm das noch fehlende Temperament und die Grazie. Sie zivilisieren ihn.

In Helvétius, der ebenfalls von Locke ausgeht, empfängt der Materialismus den eigentlich französischen Charakter. Er faßt ihn sogleich in bezug auf das gesellschaftliche Leben. (Helvétius, "De l'homme".) Die sinnlichen Eigenschaften und die Selbstliebe, der Genuß und das wohlverstandne persönliche Interesse sind die Grundlage aller Moral. Die natürliche Gleichheit der menschlichen Intelligenzen, die Einheit zwischen dem Fortschritt der Vernunft und dem Fortschritt der Industrie, die natürliche Güte des Menschen, die Allmacht der Erziehung sind Hauptmomente seines Systems.

Eine Vereinigung zwischen dem kartesischen und dem englischen Materialismus findet sich in den Schriften La Mettries. Er benutzt die Physik des Descartes bis ins einzelne. Sein "L'homme machine" ist eine Ausführung nach dem Muster der Tier-Maschine des Descartes. In dem "Système de la nature" von Holbach besteht der physische Teil ebenfalls aus der Verbindung des französischen und englischen Materialismus, wie der moralische Teil wesentlich auf der Moral des Helvétius beruht. Der französische Materialist, der noch am meisten mit der Metaphysik in Verbindung steht und dafür auch von Hegel belobt wird, Robinet ("De le nature"), bezieht sich ausdrücklich auf Leibnitz.

Von Volney, Dupuis, Diderot etc. brauchen wir nicht zu reden, so wenig wie von den Physiokraten, nachdem wir die doppelte Abstammung des französischen Materialismus von der Physik des Descartes und von dem englischen Materialismus, wie den Gegensatz des französischen Materialismus gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, gegen die Metaphysik des Descartes, Spinoza, Malebranche und Leibniz bewiesen haben. Dieser Gegensatz konnte den Deutschen erst sichtbar werden, seitdem sie selber im Gegensatz zur spekulativen Metaphysik stehn.

Wie der kartesische Materialismus in die eigentliche Naturwissenschaft verläuft, so mündet die andre Richtung des französischen Materialismus direkt in den Sozialismus und Kommunismus.

Es bedarf keines großen Scharfsinnes, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflusse der äußern Umgebung auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen. Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, daß er sich als Mensch erfährt. Wenn das wohlverstandne Interesse das Prinzip aller Moral ist, so kommt es darauf an, daß das Privatinteresse des Menschen mit dem menschlichen Interesse zusammenfällt. Wenn der Mensch unfrei im materialistischen Sinne, d.h. frei ist, nicht durch die negative Kraft, dies und jenes zu meiden, sondern durch die positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen, so muß man nicht das Verbrechen am Einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.

Diese und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich selbst in den ältesten französischen Materialisten. Es ist hier nicht der Ort, sie zu beurteilen. Bezeichnend für die sozialistische Tendenz des Materialismus ist Mandevilles, eines älteren englischen Schülers von Locke, Apologie der Laster. Er beweist, das die Laster in der heutigen Gesellschaft unentbehrlich und nützlich sind. Es war dies keine Apologie der heutigen Gesellschaft.

Fourier geht unmittelbar von der Lehre der französischen Materialisten aus. Die Babouvisten waren rohe, unzivilisierte Materialisten, aber auch der entwickelte Kommunismus datiert direkt von dem französischen Materialismus. Dieser wandert nämlich in der Gestalt, die ihm Helvétius gegeben hat, nach seinem Mutterlande, nach England, zurück. Bentham gründet auf die Moral des Helvétius sein System des wohlverstandnen Interesses, wie Owen, von dem System Benthams ausgehend, den englischen Kommunismus begründete. Nach England verbannt, wird der Franzose Cabet von den dortigen kommunistischen Ideen angeregt und kehrt nach Frankreich zurück, um hier der populärste, wenn auch flachste Repräsentant des Kommunismus zu werden. Die wissenschaftlicheren französischen Kommunisten, Dézamy, Gay etc. entwickeln, wie Owen, die Lehre des Materialismus als die Lehre des realen Humanismus und als die logische Basis des Kommunismus.

Wo hat nun Herr Bauer oder die Kritik die Aktenstücke zur kritischen Geschichte des französischen Materialismus sich zu verschaffen gewußt?

1. Hegels "Geschichte der Philosophie" stellt den französischen Materialismus als Realisierung der spinozistischen Substanz dar, was jedenfalls ungleich verständiger ist als die "französische Schule des Spinoza".

2. Herr Bauer hatte aus der Hegelschen "Geschichte der Philosophie" sich den französischen Materialismus als Schule des Spinoza herausgelesen. Fand er nun in einem andern Werke Hegels, daß Deismus und Materialismus zwei Parteien eines und desselben Grundprinzips seien, so hatte Spinoza zwei Schulen, die sich über den Sinn seines Systems stritten. Herr Bauer konnte den gedachten Aufschluß finden in Hegels "Phänomenologie". Hier heißt es wörtlich:

"Über jenes absolute Wesen gerät die Aufklärung selbst mit sich in Streit ... und teilt sich in zwei Parteien ... die eine ... nennt jenes prädikatlose Absolute ... das höchste absolute Wesen ... die andre nennt es Materie ... beides ist derselbe Begriff, der Unterschied liegt nicht in der Sache, sondern rein nur in dem verschiednen Ausgangspunkt der beiden Bildungen." (Hegels"Phänomenologie", p. 420, 421, 422.)

3. Endlich konnte Herr Bauer wieder in Hegel finden, daß die Substanz, wenn sie nicht zum Begriff und Selbstbewußtsein fortgehet, sich in die "Romantik" verläuft. Ähnliches haben zu ihrer Zeit die "Hallischen Jahrbücher" entwickelt.

Um jeden Preis aber mußte der "Geist" über seinen "Widersacher", den Materialismus, ein "einfältiges Schicksal" verhängen.

Anmerkung. Der Zusammenhang des französischen Materialismus mit Descartes und Locke und der Gegensatz der Philosophie des 18. Jahrhunderts gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts sind in den meisten neueren französischen Geschichten der Philosophie ausführlich dargestellt. Wir hatten hier, der kritischen Kritik gegenüber, nur Bekanntes zu wiederholen. Dagegen bedarf der Zusammenhang des Materialismus des 18. Jahrhunderts mit dem englischen und französischen Kommunismus des 19. Jahrhunderts noch einer ausführlichen Darstellung. Wir beschränken uns hier darauf, aus Helvétius, Holbach und Bentham einige wenige prägnante Stellen zu zitieren.

1. Helvétius: "Die Menschen sind nicht bös, aber ihren Interessen unterworfen. Man muß also nicht über die Bösartigkeit der Menschen klagen, sondern über die Unwissenheit der Gesetzgeber, welche das besondere Interesse immer in Gegensatz gegen das allgemeine Interesse gestellt haben." –"Die Moralisten haben bisher keinen Erfolg gehabt, weil man in der Gesetzgebung wühlen muß, um die schöpferische Wurzel der Laster auszureißen. In New-Orleans dürfen die Frauen ihre Männer verstoßen, sobald sie ihrer müde sind. In solchen Ländern findet man keine falschen Frauen, weil sie kein Interesse haben, es zu sein." – "Die Moral ist eine nur frivole Wissenschaft, wenn man sie nicht mit der Politik und Gesetzgebung vereint." – "Die heuchlerischen Moralisten erkennt man einerseits an der Gleichgültigkeit, womit sie die Laster betrachten, welche die Reiche auflösen, und andrerseits an dem Jähzorn, womit sie gegen Privatlaster toben." – "Die Menschen sind weder gut noch böse geboren, aber bereit, das eine oder das andre zu sein, je nachdem ein gemeinschaftliches Interesse sie vereinigt oder scheidet." – "Wenn die Staatsbürger ihr besonderes Wohl nicht bewirken könnten, ohne das allgemeine Wohl zu bewirken, so gäbe es keine Lasterhaften als die Narren." ("De l'esprit", Paris 1822, I p. 117, 240, 241, 249, 251, 339 u. 369.) – Wie nach Helvétius die Erziehung, worunter er (cf. l. c. p. 390) nicht nur die Erziehung im gewöhnlichen Sinn, sondern die Gesamtheit der Lebensverhältnisse eines Individuums versteht, den Menschen bildet, wenn eine Reform nötig ist, welche den Widerspruch zwischen dem besonderen Interesse und dem gemeinschaftlichen Interesse aufhebt, so bedarf er andrerseits zur Durchführung solcher Reform eine Umwandlung des Bewußtseins: "Man kann die großen Reformen nur dadurch bewerkstelligen, daß man die stupide Verehrung der Völker für die alten Gesetze und Gewohnheiten schwächt" (p. 260 l. c.) oder, wie er anderwärts sagt, die Unwissenheit aufhebt.

2. Holbach. "Ce n'est que lui-même que l'homme peut aimer dans les objets qu'il aime: ce n'est que lui-même qu'il peut affectionner dans les êtres de son espèce." "Nur sich selbst kann der Mensch lieben in den Gegenständen seiner Liebe; nur für sich selbst empfindet er Zuneigung in den Wesen seiner Gattung." "L'homme ne peut jamais se séparer de lui-même dans aucun instant de sa vie: il ne peut se perdre de vue." "Der Mensch kann sich in keinem Augenblick seines Lebens jemals von sich selbst lösen; er kann sich nicht aus den Augen verlieren." "C'est toujours notre utilité, notre intérêt ... qui nous fait haïr ou aimer les objets" ""Immer ist es unser Nutzen, unser Interesse ... die uns die Gegenstände hassen oder lieben machen. ("Système social", t. I, Paris 1822, p. 80, 112), aber: "L'homme pour son propre intérêt doit aimer les autres hommes puisqu'ils sont nécessaires à son bien-être ... La morale lui prouve, que de tous les êtres le plus nécessaire à l'homme c'est l'homme." "Der Mensch soll in seinem eignen Interesse die andern Menschen lieben, weil sie zu seinem Wohlbefinden notwendig sind ... Die Moral beweist ihm, daß von allen Wesen der Mensch dem Menschen das Notwendigste ist." (p 76.) "La vraie morale, ainsi que la vraie politique, est celle qui cherche à approcher les hommes, afin de les faire travailler par des efforts réunis à leur bonheur mutuel. Toute morale qui sépare nos intérêts de ceux de nos associés est fausse, insensée, contraire à la nature." "Die wahre Moral, wie die wahre Politik, ist jene, die die Menschen einander nahezubringen sucht, um sie mit vereinten Kräften für ihr wechselweitiges Glück. Jede Moral, die unsere Interessen von denen unserer Genossen trennt, ist falsch, unsinnig, widernatürlich." (p, 116.) "Aimer les autres ...c'est confondre nos intérêts avec ceux de nos associés, afin de travailler à l'utilité commune ... La vertu n'est que l'utilité des hommes réunis en société" "Die anderen lieben ... heißt unsere Interessen mit denen unserer Genossen vereinigen, um zum gemeinsamen Nutzen zu arbeiten .. Die Tugend ist nichts als der Nutzen der in der Gesellschaft vereinigten Menschen" (p. 77). "Un homme sans passions ou sans désirs cesserait d'être un homme ... Parfaitement détaché de lui-même, comment pourrait-on le déterminer à s'attacher à d'autres? Un homme, indifférent pour tout, privé de passions, qui se suffirait á lui-même, ne serait plus un être sociable ... La vertu n'est que la communication du bien." "Ein Mensch ohne Leidenschaften oder ohne Wünsche würde aufhören, ein Mensch zu sein ... Völlig von sich selbst abgelöst, wie könnte man ihn dazu bestimmen, sich an andere anzuschließen? Ein Mensch, der gegen alles gleichgültig, frei von Leidenschaften wäre, der sich selbst genügt, wäre kein geselliges Wesen mehr ... Die Tugend ist nichts als die Mitteilung des Guten" (1. c., p. 118.) "La morale religieuse ne servit jamais à rendre les mortels plus sociables." "Die religiöse Moral diente nie dazu, die Sterblichen geselliger zu machen" (p. 36.1. c.)

3. Bentham.Wir zitieren aus Bentham nur eine Stelle, worin er das "intérêt général im politischen Sinn" bekämpft. "L'intérêt des individus ... doit céder à l'intérêt public. Mais ... qu'est-ce que cela signifie? Chaque individu n'est-il pas partie du public autant que chaque autre? Cet intérêt public, que vous personnifiez, n'est qu'un terme abstrait: il ne représente que le masse des intérêts individuel ... S'il était bon de sacrifier la fortune d'un individu pour augmenter celle des autres, il serait encore mieux d'en sacrifier un second, un troisième sans qu'on puisse assigner aucune limite ... Les intérêts individuels sont les seuls intérêts réels." "Das Interesse der Individuen .. soll dem Gesamtinteresse weichen. Aber ... was bedeutet das? Ist nicht jedes Individuum ebensosehr Teil des Gesamten wie jedes andere? Dieses Gesamtinteresse, das ihr personifiziert, ist nur ein abstrakter Ausdruck; es repräsentiert nur die Masse der individuellen Interessen ... Wenn es gut wäre, das Vermögen eines Individuums zu opfern, um das des anderen zu vergrößern, dann wäre es noch besser, ein zweites, ein drittes zu opfern, ohne daß man irgend eine Grenze angeben könnte ... Die individuellen Interessen sind die einzigen wirklichen Interessen."(Bentham, "Théorie des peines et des récompenses" etc., Paris 1826, 3me ed,1., II, p. [229,] 230.)

"Die Franzosen haben eine Reihe von Systemen aufgestellt, wie die Masse zu organisieren sei, sie haben sei; sie haben aber phantasieren müssen, da sie die Masse, wie sie ist, als brauchbares Material ansahen."

Die Franzosen und Engländer haben vielmehr bewiesen, und ganz im Detail bewiesen, daß die heutige Gesellschaftsordnung die "Masse, wie sie ist", organisiere und also deren Organisation sei. Die Kritik fertigt nach dem Vorgang der "Allgemeinen Zeitung durch das gründliche Wort phantasieren sämtliche sozialistischen und kommunistischen System ab.

Der ausländische Sozialismus und Kommunismus ist hiermit von der Kritik erschlagen; sie verlegt ihre kriegerischen Operationen nach Deutschland.

"Als die deutschen Aufklärer in ihren Hoffnungen von 1842 sich plötzlich getäuscht sahen und in ihrer Verlegenheit nicht wußten, was nun anzufangen sei, kam ihnen noch zu rechter Zeit die Kunde von den neueren französischen Systemen. Sie konnten nun von der Hebung der niedern Volksklassen reden, und um diesen Preis durften sie sich der Frage überheben, ob sie nicht selbst zur Masse gehörten, die eben nicht nur in den untersten Schichten aufzusuchen ist."

Man sieht, die Kritik hat in der Apologie der Bauerschen literarischen Vergangenheit so sehr ihren ganzen Vorrat an wohlmeinenden Gründen erschöpft, daß sie die deutsche sozialistische Bewegung nur mehr aus der "Verlegenheit" der Aufklärer im Jahre 1842 zu erklären weiß. "Zum Glück kam ihnen die Kunde von den neueren französischen Systemen."- Warum nicht von den englischen ? Aus dem entschieden kritischen Grunde, weil Herr Bauer durch Steins Buch "Der Communismus und Socialismus des heutigen Frankreichs" keine Kunde von den neueren englischen Systemen erhalten hat. Es ist dies derselbe entscheidende Grund, warum für die Kritik in ihrem Gerede über die sozialistischen Systeme immer nur französische Systeme existieren.

Die deutschen Aufklärer – klärt die Kritik weiter auf – begingen eine Sünde wider den heiligen Geist. Sie beschäftigten sich mit den schon im Jahre 1842 existierenden "niedern Volksklassen", um sich der damals noch nicht existierenden Frage zu überheben, welchen Rang sie in der Anno 1843 zu stiftenden kritischen Weltordnung einzunehmen berufen seien: Schaf oder Bock, kritischer Kritiker oder unreine Masse, der Geist oder die Materie? Vor allem aber hätten sie ihr eignes kritisches Seelenheil ernstlich bedenken sollen, denn was hülfe mir alle Welt, die niedern Volksklassen mit eingerechnet, so ich Schaden an meiner Seele nähme?

"Ein geistiges Wesen kann aber nicht gehoben werden, wenn es nicht verändert wird, und verändert kann es nicht werden, ehe es nicht den äußersten Widerstand erfahren hat."

Wäre die Kritik bekannter mit der Bewegung der niedern Volksklassen, so wüßte sie, daß der äußerste Widerstand, den sie vom praktischen Leben erfahren haben, sie täglich verändert. Die neue prosaische und poetische Literatur, welche in England und Frankreich von den niedern Volksklassen ausgeht, würden ihr beweisen, daß die niedern Volksklassen, auch ohne die unmittelbare Beschattung durch den heiligen Geist der kritischen Kritik, sich geistig zu heben wissen.

"Diejenigen, phantasiert die absolute Kritik weiter, "deren ganzes Besitztum das Wort 'Organisation der Masse' ist" usw.

Von "Organisation der Arbeit" wurde viel gesprochen, obgleich auch dieses "Stichwort" nicht von den Sozialisten selbst, sondern von der politisch-radikalen Partei in Frankreich ausging, welche eine Vermittlung zwischen der Politik und dem Sozialismus versuchte. Von "Organisation der Masse", als einem erst noch zu lösenden Problem, sprach niemand vor der kritischen Kritik. Es wurde im Gegenteil gezeigt, daß die bürgerliche Gesellschaft, die Auflösung der alten feudalen Gesellschaft, diese Organisation ist.

Die Kritik führt ihren Fund mit Gänsefüßen an. Die Gans, welche Herrn Bauer jene Parole zur Rettung des Kapitols zugeschnattert hat, ist niemand anders als seine eigne Gans, die kritische Kritik. Sie hat die Masse neu organisiert, indem sie dieselbe als den absoluten Widersacher des Geistes konstruierte. Der Gegensatz des Geistes und der Masse ist die kritische "Organisation der Gesellschaft", wobei der Geist oder die Kritik die organisierende Arbeit, die Masse den Rohstoff und die Geschichte das Fabrikat vorstellt.

Fragen wir nach den großen Siegen, welche die absolute Kritik in ihrem dritten Feldzug über die Revolution, den Materialismus und den Sozialismus davongetragen hat, was das letzte Resultat dieser Herkulesarbeiten ist? Kein anderes, als daß jene Bewegungen resultatlos untergingen, weil sie noch mit Masse versetzte Kritik oder mit Materie versetzter Geist war. Sogar in der eigen literarischen Vergangenheit des Herrn Bauer entdeckte die Kritik eine vielseitige Verunreinigung der Kritik durch die Masse. Wenn sie aber hier statt einer Kritik eine Apologie schreibt, statt preiszugeben "sicherstellt", statt in der Versetzung des Geistes mit dem Fleisch den Tod auch des Geistes zu finden, vielmehr die Sache umkehrt und in der Versetzung des Fleisches Geist das Leben sogar des Bauerschen Fleisches findet – so ist sie dagegen um so rücksichtsloser und entschiedener terroristisch, sobald die unvollendete, noch mit Masse versetzte Kritik nicht mehr das Werk des Herrn Bauer ist, sondern das Werk ganzer Völker und einer Reihe von profanen Franzosen und Engländern, sobald die unvollendete Kritik nicht mehr "Die Judenfrage" oder "Die gute Sache der Freiheit" oder "Staat, Religion und Parthei", sondern die Revolution, der Materialismus, der Sozialismus, der Kommunismus heißt. Die Kritik hat so die Verunreinigung des Geistes durch die Materie und der Kritik durch die Masse vertilgt, indem sie ihr eignes Fleisch verschonte und fremdes Fleisch kreuzigte.

Auf eine oder die andere Weise ist der "mit Fleisch versetzte Geist" oder die "mit Masse versetzte Kritik" jedenfalls aus dem Wege geräumt. An die Stelle dieser unkritischen Versetzung ist die absolut kritische Zersetzung von Geist und Fleisch, Kritik und Masse, ihr reiner Gegensatz getreten. Dieser Gegensatz in seiner welthistorischen Gestalt, wie er das wahre geschichtliche Interesse der Gegenwart bildet, ist der Gegensatz des Herrn Bauer und Konsorten oder des Geistes gegen den sonstigen Rest des Menschengeschlechts als der Materie.

Die Revolution, der Materialismus und der Kommunismus haben also ihren geschichtlichen Zweck erfüllt. Sie haben durch ihren Untergang dem kritischen Herrn seine Wege bereitet. Hosiannah!

 

f) Der spekulative Kreislauf der absoluten Kritik und die Philosophie des Selbstbewußtseins

Die Kritik, weil sie sich auf einem Gebiete angeblich vollendet und rein durchgeführt hatte, beging also nur ein Versehn, "nur" eine "Inkonsequenz", wenn sie nicht auf allen Gebieten der Welt "rein" und "vollendet" war. Das "eine" kritische Gebiet ist kein anderes als das Gebiet der Theologie. Die reine Gegend dieses Gebiets erstreckt sich von der "Kritik der Synoptiker" von Bruno Bauer bis zum "Entdeckten Christentum" von Bruno Bauer als der äußersten Grenzfeste.

"Mit dem Spinozismus", heißt es, "war die neuere Kritik endlich ins reine gekommen; es war also eine Inkonsequenz, wenn sie – war es auch nur an einzelnen falsch auslaufenden Punkten – die Substanz auf einem Gebiet unbefangen voraussetzt."

Wurde vorhin das Geständnis von der Verwicklung der Kritik in politische Vorurteile sogleich dahin gemildert, daß diese Verwicklung "im Grunde so locker!" gewesen sei, so wird hier das Geständnis der Inkonsequenz temperiert durch das Einschiebsel, daß sie nur an einzelnen, falsch auslaufenden Punkten begangen wurde. Die Schuld lag nicht an Herrn Bauer, sondern an den falschen Punkten, welche, wie widerspenstige Gäule, mit der Kritik durchliefen.

Einige Zitate werden zeigen, daß die Kritik durch die Überwindung des Spinozismus zum Hegelschen Idealismus, von der "Substanz" zu einem andern metaphysischen Ungeheuer, zu dem "Subjekt", der "Substanz als Prozeß", dem "unendlichen Selbstbewußtsein" kam und daß das schließliche Resultat der "vollendeten" und "reinen" Kritik die Wiederherstellung der christlichen Kreationstheorie in spekulativer, Hegelscher Form ist.

Schlagen wir zunächst die "Kritik der Synoptiker" auf:

"Strauß bleibt dem Standpunkt getreu, welchem die Substanz das Absolute ist. Die Überlieferung in dieser Form der Allgemeinheit, welche noch nicht die wirkliche und vernünftige Bestimmtheit der Allgemeinheit erreicht hat, die nämlich nur im Selbstbewußtsein, in dessen Einzelnheit und Unendlichkeit zu erreichen ist, ist nichts als die S ubstanz, die aus ihrer logischen Einfachheit herausgetreten und als die Macht der Gemeinde eine bestimmte Form der Existenz angenommen hat." ("Kritik der Synopt[iker]" Bd. 1, Vorrede, p. VI [-VIII].)

Überlassen wir "die Allgemeinheit, welche eine Bestimmtheit erreicht", die Einzelnheit und Unendlichkeit" – den Hegelschen Begriff – ihrem Schicksal. – Statt zu sagen, daß die Anschauung, welche in der Straußischen Theorie von der "Macht der Gemeinde" und der "Tradition" durchgeführt wird, abstrakten Ausdruck, ihre logisch-metaphysische Hieroglyphe in der spinozistischen Vorstellung der Substanz besitzt, läßt Herr Bauer "die Substanz aus ihrer logischen Einfachheit heraustreten und in der Macht der Gemeinde eine bestimmte Form der Existenz annehmen". Er wendet den Hegelschen Wunderapparat an, welcher die "metaphysischen Kategorien" – die aus der Wirklichkeit extrahierten Abstraktionen - aus der Logik, wo sie in die "Einfachheit" des Gedankens aufgelöst sind, herausspringen und "eine bestimmtere Form" der physischen oder menschlichen Existenz annehmen, sich inkarnieren läßt. Hinrichs hilf!

"Mysteriös", fährt die Kritik gegen Strauß fort, "mysteriös ist diese Ansicht, weil sie in jedem Augenblicke, wenn sie den Prozeß, welchem die evangelische Geschichte ihren Ursprung verdankt, erklären und zur Anschauung bringen will, immer nur den Schein eines Prozesses hervorbringen kann [...] Der Satz: 'Die evangelische Geschichte habe in der Tradition ihre Quelle und ihren Ursprung', setzt zweimal dasselbe: 'die Tradition' und die 'evangelische Geschichte', setzt beide allerdings such in Verhältnis, aber sagt uns nicht, welchem innern Prozeß der Substanz die Entwicklung und Auslegunng ihren Ursprung verdanke."

Nach Hegel ist die Substanz als innerer Prozeß zu fassen. Die Entwicklung von dem Standpunkt der Substanz charakterisiert er wie folgt:

"Näher diese Ausbreitung betrachtet, so zeigt sie sich nicht dadurch zustande gekommen, daß ein und dasselbe sich verschieden gestaltet hätte, sondern sie ist die gestaltlose Wiederholung des einen und desselben , das nur ... einen langweiligen Schein von Verschiedenheit enthält." ( "Phänomenologie", Vorrede, p. 12.)

Hinrichs hilf!

Herr Bauer fährt fort:

"Die Kritik hat sich demnach gegen sich selbst zu richten und die mysteriöse Substantialität ... dahin aufzulösen, wohin die Entwicklung der Substanz selber treibt, zur Allgemeinheit und Bestimmtheit der Idee und zu deren wirklicher Existenz, dem unendlichen Selbstbewußtsein."

Die Kritik Hegels gegen den Substantialitätsstandpunkt fährt fort:

"Die Verschlossenheit der Substanz ist aufzuschließen und diese zum Selbstbewußtsein zu erheben." (1. c., p. 7.)

Auch bei Bauer ist das Selbstbewußtsein die zum Selbstbewußtsein erhobne Substanz oder das Selbstbewußtsein als die Substanz, das Selbstbewußtsein ist aus einem Prädikate des Menschen in ein selbständiges Subjekt verwandelt. Es ist die metaphysisch-theologische Karikatur des Menschen in seiner Trennung von der Natur. Das Wesen dieses Selbstbewußtseins ist daher nicht der Mensch, sondern die Idee, deren wirkliche Existenz es ist. Es ist die menschgewordne Idee und darum auch unendlich. Alle menschlichen Eigenschaften verwandeln sich daher mysteriöserweise in Eigenschaften des imaginären "unendlichen Selbstbewußtseins". Herr Bauer sagt daher ausdrücklich von diesem "unendlichen Selbstbewußtsein", daß alles in ihm seinen Ursprung und seine Erklärung, d.h. seinen Existentialgrund finde. Hinrichs hilf!

Herr Bauer fährt fort:

"Die Kraft des Substantialitätsverhältnisses liegt in seinem Triebe, der uns zum Begriff, zur Idee und zum Selbstbewußtsein führt."

Hegel sagt:

"So ist der Begriff die Wahrheit der Substanz." "Der Übergang des S ubstantialitätsverhältnisses geschieht durch seine eigne immanente Notwendigkeit und ist weiter nichts, als daß der Begriff ihre Wahrheit ist." "Die Idee ist der adäquate Begriff." "Der Begriff ... zur freien Existenz gediehen ... ist nichts anders als das Ich oder das reine Selbstbewußtsein." ("Logik", Hegels Werke, 2. Auflage, 5. Band, p. 6, 9, 229, 13.)

Hinrichs hilf!

Hochkomisch erscheint es, wenn Herr Bauer in seiner "Literatur-Zeitung" sagt:

"Schon Strauß verfiel, weil er die Kritik des Hegelschen Systems nicht zu vollenden vermochte, wenn er auch durch seine halbe Kritik die Notwendigkeit ihrer Vollendung bewies" etc.

Nicht die vollendete Kritik des Hegelschen Systems, sondern höchstens die Vollendung des Hegelschen Systems, wenigstens in ihrer Anwendung auf die Theologie, glaubte Herr Bauer selbst in seiner "Kritik der Synoptiker" zu geben.

Er bezeichnet seine Kritik (Vorrede der "Synopt[iker]", p. XXI) als "letzte Tat eines bestimmten Systems", welches kein anderes System als das Hegelsche ist.

Der Kampf zwischen Strauß und Bauer über die Substanz und das Selbstbewußtsein ist ein Kampf innerhalb der Hegelschen Spekulationen. In Hegel sind drei Elemente, die spinozistische Substanz, das Fichtesche Selbstbewußtsein, die Hegelsche notwendig-widerspruchsvolle Einheit von beiden, der absolute Geist. Das erste Element ist die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen, das zweite ist der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, das dritte ist die metaphysisch travestierte Einheit von beiden, der wirkliche Mensch und die wirkliche Menschengattung.

Strauß führt den Hegel auf spinozistischem Standpunkt, Bauer den Hegel auf Fichteschem Standpunkt innerhalb des theologischen Gebietes konsequent durch. Beide kritisierten Hegel, insofern bei ihm jedes der beiden Elemente durch das andere verfälscht wird, während sie jedes derselben zu seiner einseitigen, also konsequenten Ausführung entwickelten. – Beide gehn daher in ihrer Kritik über Hegel hinaus, aber beide bleiben auch innerhalb seiner Spekulation stehen und repräsentieren jeder nur eine Seite seines Systems. Erst Feuerbach, der den Hegel auf Hegelschem Standpunkt vollendete und kritisierte, indem er den metaphysischen absoluten Geist in den "wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur" auflöste, vollendete die Kritik der Religion, indem er zugleich zur Kritik der Hegelschen Spekulation und daher aller Metaphysik die großen und meisterhaften Grundzüge entwarf.

Bei Herrn Bauer ist es zwar nicht mehr der heilige Geist, aber es ist das unendliche Selbstbewußtsein, welches dem Evangelisten in die Feder diktiert.

"Wir dürfen kein Hehl mehr haben, daß die richtige Auffassung der evangelischen Geschichte auch ihre philosophischen Grundlagen habe, nämlich an der Philosophie des Selbstbewußtseins." (Bruno Bauer, "Krit[ik] der Synopt[iker]", Vorrede, p. XV.)

Diese Bauersche Philosophie des Selbstbewußtseins, wie die Resultate, welche Herr Bauer aus seiner Kritik der Theologie gewann, sollen durch einige Auszüge aus dem "Entdeckten Christentum", seiner letzten religionsphilosophischen Schrift, charakterisiert werden.

Am angeführten Ort heißt es über die französischen Materialisten:

"Wenn die Wahrheit des Materialismus, die Philosophie des Selbstbewußtseins, aufgefunden, und das Selbstbewußtsein als das All, als die Lösung des Rätsels der spinozistischen Substanz und als die wahrhafte causa sui Ursache ihrer selbst erkannt ist ... wozu ist der Geist da? Wozu das Selbstbewußtsein? Als ob nicht das Selbstbewußtsein, indem es die Welt, den Unterschied setzt, und in dem, was es hervorbringt, sich selbst hervorbringt, da es den Unterschied des Hervorgebrachten von ihm selbst wieder aufhebt, da es also nur [im Hervorbringen und] in der Bewegung es selber ist – als ob es nicht in dieser Bewegung, die es selber ist, seinen Zweck hätte und sich selbst erst besäße!" ("Entdeckt[es] Christ[entum]", p. 113.)

"Die französischen Materialisten haben die Bewegungen des Selbstbewußtseins allerdings als die Bewegungen des allgemeinen Wesens, der Materie, gefaßt, aber noch nicht sehen können, daß die Bewegung des Universums erst als die Bewegung des Selbstbewußtseins wirklich für sich geworden und zur Einheit mit ihr selbst zusammengegangen ist." (l. c., p. [1 l4-] 115.)

Hinrichs hilf!

Der erste Satz heißt zu deutsch: Die Wahrheit des Materialismus ist das Gegenteil des Materialismus, der absolute, d.h. ausschließliche, überschwengliche Idealismus. Das Selbstbewußtsein, der Geist ist das All. Außer ihm ist nichts. "Das Selbstbewußtsein", "der Geist" ist der allmächtige Schöpfer der Welt, des Himmels und der Erde. Die Welt ist eine Lebensäußerung des Selbstbewußtseins, das sich entäußern und Knechtsgestalt annehmen muß, aber der Unterschied der Welt vom Selbstbewußtsein ist nur ein Scheinunterschied. Das Selbstbewußtsein unterscheidet nichts Wirkliches von sich. Die Welt ist vielmehr nur eine metaphysische Distinktion, ein Gespinst seines ätherischen Gehirns und eine Einbildung desselben. Es hebt daher den Schein, als wenn etwas außer ihm existiere, den es für einen Augenblick konzessioniert hat, wieder auf und erkennt in seinem "Hervorgebrachten" keinen realen, also keinen realiter sich von ihm unterscheidenden Gegenstand an. Durch diese Bewegung aber bringt das Selbstbewußtsein sich erst als absolut hervor, denn der absolute Idealist muß notwendig, um absoluter Idealist zu sein, beständig den sophistischen Prozeß durchmachen, [er hat] erst die Welt außer ihm in ein Scheinwesen, in einen bloßen Einfall seines Gehirns zu verwandeln und hinterher diese Phantasiegestalt für das, was sie ist, für eine Phantasie zu erklären, um schließlich sein alleiniges, ausschließliches, auch nicht mehr von dem Schein einer Außenwelt geniertes Dasein proklamieren zu können.

Der zweite Satz heißt zu deutsch: Die französischen Materialisten haben allerdings die Bewegungen der Materie als geistvolle Bewegungen gefaßt, aber sie haben noch nicht sehen können, daß sie keine materiellen, sondern ideelle Bewegungen, Bewegungen des Selbstbewußtseins, also pure Gedankenbewegungen sind. Sie haben noch nicht sehn können, daß die wirkliche Bewegung des Universums erst als die von der Materie, d.h. von der Wirklichkeit freie und befreite ideale Bewegung des Selbstbewußtseins wahrhaft und wirklich geworden ist, d.h. daß eine von der idealen Hirnbewegung unterschiedne materielle Bewegung nur zum Schein existiert. Hinrichs hilf!

Diese spekulative Kreationstheorie findet man fast wörtlich bei Hegel; und man kann sie schon in seinem ersten Werke, in seiner "Phänomenologie", finden.

"Die Entäußerung des Selbstbewußtseins ist es, welche die Dingheit setzt ... In dieser Entäußerung setzt es sich als Gegenstand oder den Gegenstand als sich selbst. Andrerseits liegt hierin zugleich dies andre Moment, daß es diese Entäußerung und Gegenständlichkeit ebensosehr aufgehoben und in sich zurückgenommen hat ... Dieses ist die Bewegung des Bewußtseins." (Heg[el], "Phänomen[ologie]", p. [574-] 575.)

"Das Selbstbewußtsein hat einen Inhalt, den es von sich unterscheidet ... Dieser Inhalt ist in seinem Unterschiede selbst das Ich, denn er ist die Bewegung des Sich-selbst-Aufhebens ... Dieser Inhalt, bestimmter angegeben, ist nichts anderes als die soeben ausgesprochene Bewegung selbst; denn er ist der Geist, der sich selbst und zwar für sich als Geist durchläuft." (1. c., p. [582-]583.)

In bezug auf diese Kreationstheorie Hegels bemerkt Feuerbach:

"Die Materie ist die Selbstentäußerung des Geistes. Damit bekommt die Materie selbst Geist und Verstand – zugleich ist sie aber doch wieder als ein nichtiges, unwahres Wesen gesetzt, indem erst das aus dieser Entäußerung sich herstellende, d. h. die Materie, die Sinnlichkeit von sich abstreifende Wesen als das Wesen in seiner Vollendung, in seiner wahren Gestalt und Form ausgesprochen wird. Das Natürliche, Materielle, Sinnliche ist also auch hier das zu Negierende, wie in der Theologie die durch die Erbsünde vergiftete Natur."("Philosophie der Zukunft", p. 35.)

Herr Bauer verteidigt also den Materialismus gegen die unkritische Theologie, indem er ihm zugleich vorwirft, "noch nicht" kritische Theologie, Verstandestheologie, Hegelsche Spekulation zu sein. Hinrichs! Hinrichs!

Herr Bauer, der nun auf allen Gebieten seinen Gegensatz gegen die Substanz, seine Philosophie des Selbstbewußtseins oder des Geistes durchführt, muß daher auf allen Gebieten nur mit seinen eignen Hirngespinsten zu tun haben. Die Kritik ist in seiner Hand das Instrument, um alles, was außer dem unendlichen Selbstbewußtsein noch eine endliche materielle Existenz behauptet, in bloßen Schein und in reine Gedanken zu sublimieren. Er bekämpft in der Substanz nicht die metaphysische Illusion, sondern den weltlichen Kern – die Natur, die Natur sowohl wie sie außer dem Menschen existiert, als wie sie seine eigne Natur ist. Auf keinem Gebiete die Substanz voraussetzen – er spricht noch in dieser Sprache – heißt ihm also: kein vom Denken unterschiedenes Sein, keine von der geistigen Spontaneität unterschiedene Naturenergie, keine vom Verstand unterschiedene menschliche Wesenskraft, kein von der Tätigkeit unterschiedenes Leiden, keine von der eignen Wirkung unterschiedene Einwirkung von andern, kein vom Wissen unterschiedenes Fühlen und Wollen, kein vom Kopf unterschiedenes Herz, kein vom Subjekt unterschiedenes Objekt, keine von der Theorie unterschiedene Praxis, keinen vom Kritiker unterschiedenen Menschen, keine von der abstrakten Allgemeinheit unterschiedene wirkliche Gemeinschaft, kein vom Ich unterschiedenes Du anerkennen. Es ist daher konsequent, wenn Herr Bauer dazu fortgeht, sich selbst mit dem unendlichen Selbstbewußtsein, mit dem Geist zu identifizieren, d. h. an die Stelle dieser seiner Geschöpfe ihren Schöpfer zu setzen. Es ist ebenso konsequent, die übrige Welt, welche eigensinnig darauf beharrt, etwas von seinem Hervorgebrachten Unterschiedenes zu sein, als halsstarrige Masse und Materie zu verwerfen. Und nun, so hofft er, dauert es nicht lange, und mit den Körpern wird's zugrunde gehn.

Seine eigne Verstimmung, bisher dem Etwas dieser plumpen Welt nicht beikommen zu können, konstruiert er sich ebenfalls konsequent als Selbstverstimmung dieser Welt, und die Empörung seiner Kritik über die Entwickelung der Menschheit als massenhafte Empörung der Menschheit gegen seine Kritik, gegen den Geist, gegen Herrn Bruno Bauer und Konsorten.

Herr Bauer war ein Theologe von Urbeginn an, aber kein gewöhnlicher, sondern ein kritischer Theologe oder theologischer Kritiker. Schon als das äußerste Extrem der althegelschen Orthodoxie, als spekulativer Zurechtmacher alles religiösen und theologischen Unsinns, erklärte er beständig die Kritik für sein Privateigentum. Er bezeichnete damals die Straußische Kritik als menschliche Kritik und machte ausdrücklich im Gegensatz zu derselben das Recht der göttlichen Kritik geltend. Das große Selbstgefühl oder Selbstbewußtsein, welches der versteckte Kern dieser Göttlichkeit war, schälte er später aus der religiösen Vermummung heraus, verselbständigte es als ein eignes Wesen und erhob es unter der Firma "das unendliche Selbstbewußtsein" zum Prinzipe der Kritik. In seiner eignen Bewegung vollzog er sodann die Bewegung, welche die "Philosophie des Selbstbewußtseins" als absoluten Lebensakt beschreibt. Er hob den "Unterschied des Hervorgebrachten", des unendlichen Selbstbewußtseins, von dem Hervorbringenden, ihm selber, wieder auf, und erkannte, daß es in seiner Bewegung "nur er selber war", daß also die Bewegung des Universums erst in seiner idealen Selbstbewegung wahrhaft und wirklich wird.

Die göttliche Kritik in ihrer Rückkehr in sich ist auf rationelle, bewußte, kritische Weise wiederhergestellt, das Ansichsein ist zum An- und Fürsichsein, und erst im Schluß ist der erfüllte, verwirklichte, offenbarte Anfang geworden. Die göttliche Kritik im Unterschied von der menschlichen hat sich offenbart als die Kritik, als die reine Kritik, als die kritische Kritik. An die Stelle der Apologie des Alten und Neuen Testaments ist die Apologie der alten und neuen Werke des Herrn Bauer getreten. Der theologische Gegensatz von Gott und Mensch, von Geist und Fleisch, von Unendlichkeit und Endlichkeit ist in den kritisch-theologischen Gegensatz des Geistes, der Kritik oder des Herrn Bauer, und der Materie der Masse oder der profanen Welt verwandelt. Der theologische Gegensatz von Glauben und Vernunft hat sich gelöst in den kritisch-theologischen Gegensatz des gesunden Menschenverstandes und des rein kritischen Denkens. Die "Zeitschrift für spekulative Theologie" hat sich in die kritische "Literatur-Zeitung" verwandelt. Der kritische Welterlöser endlich ist verwirklicht in dem kritischen Welterlöser, Herrn Bauer.

Das letzte Stadium Herrn Bauers ist keine Anomalie in seiner Entwickelung, es ist ihre Rückkehr in sich aus ihrer Entäußerung. Es versteht sich, daß das Moment, worin die göttliche Kritik sich entäußerte und aus sich heraustrat, mit dem Moment zusammenfällt, wo sie teilweise sich untreu wurde und Menschliches schuf.

Die absolute Kritik, in ihren Anfangspunkt zurückgekehrt, hat den spekulativen Kreislauf und damit ihren Lebenslauf beendigt. Ihre weitere Bewegung ist reines – über alles massenhafte Interesse erhabnes Kreisen in sich selbst und darum ohne alles weitere Interesse für die Masse.


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