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Die "kritische Kritik" als Geheimniskrämer
oder die "kritische Kritik" als Herr Szeliga
Die "kritische Kritik" in der Inkarnation Szeliga-Wischnu liefert eine Apotheose der "Mystères de Paris". Eugen Sue wird für einen "kritischen Kritiker" erklärt. Sobald er dies erfährt, kann er ausrufen wie der Bourgeois gentilhomme im Molière:
"Par ma foi, il y a plus de quarante ans que je dis de la prose, sans que j'en susse rien: et je vous suis le plus obligé du monde de m'avoir appris cela."
"Meiner Treu, seit mehr als vierzig Jahren spreche ich Prosa. ohne es zu wissen: und ich bin Ihnen aufs höchste verbunden das Sie mich darüber belehrt haben."
Herr Szeliga schickt seiner Kritik einen ästhetischen Prolog voraus.
"Der ästhetische Prolog" erklärt die allgemeine Bedeutung des "kritischen" Epos und namentlich der "Mysteres de Paris" dahin:
"Das Epos schafft den Gedanken, daß die Gegenwart an sich nichts sei, auch nicht bloß" – nichts auch nicht bloß! – "die ewige Scheide zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern" – nichts, auch nicht bloß, sondern – "sondern der immer wieder zusammenzufügende Riß, der die Unsterblichkeit von der Vergänglichkeit trennt ... Dies ist die allgemeine Bedeutung der 'Geheimnisse von Paris'."
Der "ästhetische Prolog" behauptet ferner, daß "der Kritiker, wenn er wolle, auch Dichter sein könne".
Herrn Szeligas ganze Kritik wird diese Behauptung beweisen. Sie ist in allen ihren Momenten "Dichtung".
Sie ist auch ein Produkt der "freien Kunst", wie letztere von dem "ästhetischen Prolog" bestimmt wird, d.h., sie "erfindet ganz was Neues, absolut noch nie Dagewesenes".
Sie ist endlich sogar ein kritisches Epos, denn sie ist ein "immer wieder zusammenzufügender Riß", der die "Unsterblichkeit" – die kritische Kritik des Herrn Szeliga – von der "Vergänglichkeit", dem Roman des Herrn Eugen Sue, "trennt".
Feuerbach hat bekanntlich die christlichen Vorstellungen der Inkarnation, der Dreieinigkeit, der Unsterblichkeit etc. als das Geheimnis der Inkarnation, das Geheimnis der Dreieinigkeit, das Geheimnis der Unsterblichkeit gefaßt. Herr Szeliga faßt alle jetzigen Weltzustände als Geheimnisse. Wenn aber Feuerbach wirkliche Geheimnisse enthüllt hat, so verwandelt Herr Szeliga wirkliche Trivialitäten in Geheimnisse. Seine Kunst besteht nicht darin, das Verborgne zu enthüllen, sondern das Enthüllte zu verbergen.
So erklärt er die Verwilderung (die Verbrecher) innerhalb der Zivilisation wie die Rechtslosigkeit und Ungleichheit im Staat für Geheimnisse. Die sozialistische Literatur, welche diese Geheimnisse verraten hat, ist also für Herrn Szeliga entweder ein Geheimnis geblieben, oder er möchte die bekanntesten Resultate derselben in das Privatgeheimnis der "kritischen Kritik" verwandeln.
Wir brauchen daher nicht auf Herrn Szeligas Auseinandersetzung über diese Geheimnisse näher einzugehn. Wir heben nur einige Glanzpunkte hervor.
"Vor dem Gesetz und dem Richter ist alles gleich, hoch und niedrig. reich und arm. Dieser Satz steht ganz obenan im Glaubensbekenntnis des Staats."
Des Staats? Das Glaubensbekenntnis der meisten Staaten beginnt im Gegenteil damit, hoch und niedrig, reich und arm vor dem Gesetz ungleich zu setzen.
"Der Steinschneider Morel spricht in seiner naiven Rechtschaffenheit das Geheimnis" (nämlich das Geheimnis des Gegensatzes von arm und reich) "sehr klar aus; er sagt: Wenn es die Reichen nur wüßten! Wenn es die Reichen nur wüßten! Das Unglück besteht darin, daß sie nicht wissen, was Armut ist."
Herr Szeliga weiß nicht, daß Engen Sue aus Höflichkeit gegen die französische Bourgeoisie einen Anachronismus begeht, wenn er das Motto der Bürger aus der Zeit Ludwigs XIV.: "Ah! si le roi le savait!" "Ah! wenn es der König wüßte!" in der modifizierten Form: "Ah si le riche le savait!" "Ah! wenn es der Reiche wüßte!" dem Arbeiter Morel aus der Zeit der Charte vérité in den Mund legt. In England und Frankreich wenigstens hat dies naive Verhältnis zwischen reich und arm aufgehört. Die wissenschaftlichen Repräsentanten des Reichtums, die Nationalökonomen, haben hier eine sehr detaillierte Einsicht in das physische und moralische Elend der Armut verbreitet. Zum Ersatz haben sie bewiesen, daß es bei diesem Elend sein Bewenden haben müsse, weil es bei den heutigen Zuständen sein Bewenden haben müsse. Ja sie haben in ihrer Sorglichkeit sogar die Proportionen berechnet, worin die Armut zum Wohl des Reichtums und zu ihrem eignen Wohl sich durch Todesfälle dezimieren muß.
Wenn Eugen Sue Kneipen, Schlupfwinkel und Sprache der Verbrecher schildert, so entdeckt Herr Szeliga das "Geheimnis", daß es dem "Verfasser" nicht um die Schilderung dieser Sprache und dieser Schlupfwinkel zu tun ist, sondern darum,
"das Geheimnis der Triebfedern zum Bösen etc. kennen zu lehren". "An den Orten des lebendigsten Verkehrs ... sind die Verbrecher ja gerade zu Hause."
Was würde ein Naturforscher dazu sagen, wenn man ihm bewiese, die Zelle der Biene interessiere ihn nicht als Bienenzelle, sie sei kein Geheimnis für den, der sie nicht studiert hat, weil die Biene "ja grade" in der freien Luft und auf der Blume "erst recht zu Hause sei"? In den Schlupfwinkeln der Verbrecher und der Verbrechersprache spiegelt sich der Charakter des Verbrechers ab, sie sind ein Stück von seinem Dasein, ihre Schilderung gehört zu seiner Schilderung, wie die Schilderung der petite maison des Hauses für geheime Vergnügungen zur Schilderung der femme galante gefälligen Dame gehört.
Die Schlupfwinkel der Verbrecher sind ein solches "Geheimnis" nicht nur für die Pariser überhaupt, sondern sogar für die Pariser Polizei, daß noch in diesem Augenblicke helle und breite Straßen in der Cité gebrochen werden, um der Polizei diese Winkel zugänglich zu machen.
Endlich erklärt Engen Sue selbst, daß er bei den obenerwähnten Schilderungen "sur la curiosité craintive" "auf die ängstliche Neugierde" der Leser rechne. Herr Engen Sue hat in allen seinen Romanen auf diese ängstliche Neugierde der Leser gerechnet. Man erinnere sich nur an Atar Gull, den Salamandre, Plick und Plock etc.
Lebenslauf beginnen. Wenige Worte werden hinreichen, um die spekulative Konstruktion im allgemeinen zu charakterisieren. Die Behandlung der "Mystères de Paris" durch Herrn Szeliga wird die Anwendung im einzelnen geben.
Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung "Frucht" bilde, wenn ich weitergehe und mir einbilde, daß meine aus den wirklichen Früchten gewonnene abstrakte Vorstellung " die Frucht" ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfels etc. sei, so erkläre ich – spekulativ ausgedrückt – "die Frucht" für die "Substanz" der Birne, des Apfels, der Mandel etc. Ich sage also, der Birne sei es unwesentlich, Birne, dem Apfel sei es unwesentlich, Apfel zu sein. Das Wesentliche an diesen Dingen sei nicht ihr wirkliches, sinnlich anschaubares Dasein, sondern das von mir aus ihnen abstrahierte und ihnen untergeschobene Wesen, das Wesen meiner Vorstellung, "die Frucht". Ich erkläre dann Apfel, Birne, Mandel etc. für bloße Existenzweisen, Modi "der Frucht". Mein endlicher, von den Sinnen unterstützter Verstand unterscheidet allerdings einen Apfel von einer Birne und eine Birne von einer Mandel, aber meine spekulative Vernunft erklärt diese sinnliche Verschiedenheit für unwesentlich und gleichgültig. Sie sieht in dem Apfel dasselbe wie in der Birne und in der Birne dasselbe wie in der Mandel, nämlich "die Frucht". Die besondern wirklichen Früchte gelten nur mehr als Scheinfrüchte, deren wahres Wesen "die Substanz", "die Frucht" ist.
Man gelangt auf diese Weise zu keinem besondern Reichtum an Bestimmungen. Der Mineraloge, dessen ganze Wissenschaft sich darauf beschränkt, daß alle Mineralien in Wahrheit das Mineral sind, wäre ein Mineraloge – in seiner Einbildung. Bei jedem Mineral sagt der spekulative Mineraloge " das Mineral", und seine Wissenschaft beschränkt sich darauf, dies Wort so oft zu wiederholen, als es wirkliche Minerale gibt.
Die Spekulation, welche aus den verschiednen wirklichen Früchten eine "Frucht" der Abstraktion – die "Frucht" gemacht hat, muß daher, um zu dem Schein eines wirklichen Inhaltes zu gelangen, auf irgendeine Weise versuchen, von der "Frucht", von der Substanz wieder zu den wirklichen verschiedenartigen profanen Früchten, zu der Birne, dem Apfel, der Mandel etc. zurückzukommen. So leicht es nun ist, aus wirklichen Früchten die abstrakte Vorstellung " die Frucht" zu erzeugen, so schwer ist es, aus der abstrakten Vorstellung " die Frucht" wirkliche Früchte zu erzeugen. Es ist sogar unmöglich, von einer Abstraktion zu dem Gegenteil der Abstraktion zu kommen, wenn ich die Abstraktion nicht aufgebe.
Der spekulative Philosoph gibt daher die Abstraktion der "Frucht" wieder auf, aber er gibt sie auf eine spekulative, mystische Weise auf, nämlich mit dem Schein, als ob er sie nicht aufgebe. Er geht daher auch wirklich nur zum Scheine über die Abstraktion hinaus. Er räsoniert etwa wie folgt:
Wenn der Apfel, die Birne, die Mandel, die Erdbeere in Wahrheit nichts anders als " die Substanz", " die Frucht" sind, so fragt es sich, wie kommt es, daß " die Frucht" sich mir bald als Apfel, bald als Birne, bald als Mandel zeigt, woher kommt dieser Schein der Mannigfaltigkeit, der meiner spekulativen Anschauung von der Einheit, von " der Substanz", von " der Frucht" so sinnfällig widerspricht?
Das kommt daher, antwortet der spekulative Philosoph, weil " die Frucht" kein totes, unterschiedsloses, ruhendes, sondern ein lebendiges, sich in sich unterscheidendes, bewegtes Wesen ist. Die Verschiedenheit der profanen Früchte ist nicht nur für meinen sinnlichen Verstand, sondern für " die Frucht" selbst, für die spekulative Vernunft, von Bedeutung. Die verschiednen profanen Früchte sind verschiedne Lebensäußerungen der " einen Frucht", sie sind Kristallisationen, welche " die Frucht" selbst bildet. Also z.B. in dem Apfel gibt sich " die Frucht" ein apfelhaftes, in der Birne ein birnenhaftes Dasein. Man muß also nicht mehr sagen, wie auf dem Standpunkt der Substanz: die Birne ist " die Frucht", der Apfel ist "die Frucht", die Mandel ist die Frucht", sondern vielmehr: " die Frucht" setzt sich als Birne, " die Frucht" setzt sich als Apfel, " die Frucht" setzt sich als Mandel, und die Unterschiede, welche Apfel, Birne, Mandel voneinander trennen, sind eben die Selbstunterscheidungen "der Frucht" und machen die besondern Früchte eben zu unterschiednen Gliedern im Lebensprozesse " der Frucht". " Die Frucht" ist also keine inhaltslose, unterschiedslose Einheit mehr, sie ist die Einheit als Allheit, als "Totalität" der Früchte, die eine "organisch gegliederte Reihenfolge" bilden. In jedem Glied dieser Reihenfolge gibt " die Frucht" sich ein entwickelteres, ausgesprocheneres Dasein, bis sie endlich als die "Zusammenfassung" aller Früchte zugleich die lebendige Einheit ist, welche jeder derselben ebenso in sich aufgelöst enthält als aus sich erzeugt, wie z.B. alle Glieder des Körpers beständig in Blut sich auflösen und beständig aus dem Blut erzeugt werden.
Man sieht: wenn die christliche Religion nur von einer Inkarnation Gottes weiß, so besitzt die spekulative Philosophie soviel Inkarnationen, als es Dinge gibt, wie sie hier in jeder Frucht eine Inkarnation der Substanz, der absoluten Frucht besitzt. Das Hauptinteresse für den spekulativen Philosophen besteht also darin, die Existenz der wirklichen profanen Früchte zu erzeugen und auf geheimnisvolle Weise zu sagen, daß es Äpfel, Birnen, Mandeln und Rosinen gibt. Aber die Äpfel, Birnen, Mandeln und Rosinen, die wir in der spekulativen Welt wiederfinden, sind nur mehr Scheinäpfel, Scheinbirnen, Scheinmandeln und Scheinrosinen, denn sie sind Lebensmomente "der Frucht", dieses abstrakten Verstandeswesens, also selbst abstrakte Verstandeswesen. Was sich daher in der Spekulation freut, ist, alle wirklichen Früchte wiederzufinden, aber als Früchte, die eine höhere mystische Bedeutung haben, die, aus dem Äther deines Gehirns und nicht aus dem materiellen Grund und Boden herausgewachsen, die Inkarnationen " der Frucht", des absoluten Subjekts sind. Wenn du also aus der Abstraktion, dem übernatürlichen Verstandeswesen," die Frucht", zu den wirklichen natürlichen Früchten zurückkehrst, so gibst du dagegen den natürlichen Früchten auch eine übernatürliche Bedeutung und verwandelst sie in lauter Abstraktionen. Dein Hauptinteresse ist es eben, die Einheit " der Frucht" in allen diesen ihren Lebensäußerungen, dem Apfel, der Birne, der Mandel, nachzuweisen, also den mystischen Zusammenhang dieser Früchte, und wie in jeder derselben " die Frucht" sich stufenweise verwirklicht und notwendig, z.B. aus ihrem Dasein als Rosine, zu ihrem Dasein als Mandel fortgeht. Der Wert der profanen Früchte besteht daher auch nicht mehr in ihren natürlichen Eigenschaften, sondern in ihrer spekulativen Eigenschaft, wodurch sie eine bestimmte Stelle im Lebensprozesse " der absoluten Frucht" einnehmen.
Der gewöhnliche Mensch glaubt nichts Außerordentliches zu sagen, wenn er sagt, daß es Äpfel und Birnen gibt. Aber der Philosoph, wenn er diese Existenzen auf spekulative Weise ausdrückt, hat etwas Außerordentliches gesagt. Er hat ein Wunder vollbracht, er hat aus dem unwirklichen Verstandeswesen "die Frucht" die wirklichen Naturwesen, den Apfel, die Birne etc. erzeugt, d.h. er hat aus seinem eignen abstrakten Verstand, den er sich als ein absolutes Subjekt außer sich, hier als " die Frucht" vorstellt, diese Früchte geschaffen, und in jeder Existenz, die er ausspricht, vollzieht er einen Schöpfungsakt.
Es versteht sich, daß der spekulative Philosoph diese fortwährende Schöpfung nur zuwege bringt, indem er allgemein bekannte, in der wirklichen Anschauung sich vorfindende Eigenschaften des Apfels, der Birne etc. als von ihm erfundene Bestimmungen einschiebt, indem er dem, was allein der abstrakte Verstand schaffen kann, nämlich den abstrakten Verstandesformeln, die Namen der wirklichen Dinge gibt; indem er endlich seine eigne Tätigkeit, wodurch er von der Vorstellung Apfel zu der Vorstellung Birne übergeht, für die Selbsttätigkeit des absoluten Subjekts, " der Frucht", erklärt.
Diese Operation nennt man in spekulativer Redeweise: die Substanz als Subjekt, als inneren Prozeß als absolute Person begreifen, und dies Begreifen bildet den wesentlichen Charakter der Hegelschen Methode.
Es war nötig, diese Bemerkungen voranzuschicken, um Herrn Szeliga begreiflich zu machen. Wenn Herr Szeliga bisher wirkliche Verhältnisse, wie z.B. das Recht und die Zivilisation, in die Kategorie des Geheimnisses aufgelöst und so "das Geheimnis" zur Substanz gemacht hat, so erhebt er sich jetzt erst auf die wahrhaft spekulative, auf die Hegelsche Höhe und verwandelt "das Geheimnis" in ein selbständiges Subjekt, das sich in den wirklichen Zuständen und Personen inkarniert und dessen Lebensäußerungen Gräfinnen, Marquisen, Grisetten, Portiers, Notare, Charlatans und Liebesintrigen, Bälle, hölzerne Türen etc. sind. Nachdem er die Kategorie "das Geheimnis" aus der wirklichen Welt erzeugt hat, erzeugt er die wirkliche Welt aus dieser Kategorie.
Um so augenscheinlicher werden sich die Geheimnisse der spekulativen Konstruktion in Herrn Szeligas Darstellung enthüllen, als er unbestreitbar einen doppelten Vorzug vor Hegel hat. Einmal weiß Hegel den Prozeß, wodurch der Philosoph vermittelst der sinnlichen Anschauung und der Vorstellung von einem Gegenstand zum andern übergeht, mit sophistischer Meisterschaft als Prozeß des imaginierten Verstandeswesens selbst, des absoluten Subjekts, darzustellen. Dann aber gibt Hegel sehr oft innerhalb der spekulativen Darstellung eine wirkliche, die Sache selbst ergreifende Darstellung. Diese wirkliche Entwickelung innerhalb der spekulativen Entwicklung verleitet den Leser dazu, die spekulative Entwicklung für wirklich und die wirkliche Entwickelung für spekulativ zu halten.
Bei Herrn Szeliga fallen beide Schwierigkeiten weg. Seine Dialektik ist ohne alle Heuchelei und Verstellung. Er macht sein Kunststück mit einer lobenswerten Ehrlichkeit und der biedermännigsten Gradheit. Dann aber entwickelt er nirgendwo einen wirklichen Inhalt, so daß bei ihm die spekulative Konstruktion ohne alles störende Beiwerk, ohne alle doppelsinnige Verhüllung in ihrer nackten Schöne zu dem Auge spricht. Bei Herrn Szeliga zeigt es sich auch glänzend, wie die Spekulation einerseits scheinbar frei aus sich heraus ihren Gegenstand a priori von vornherein schafft, anderseits aber, eben weil sie die vernünftige und natürliche Abhängigkeit vom Gegenstand wegsophistisieren will, in die unvernünftigste und unnatürlichste Knechtschaft unter den Gegenstand gerät, dessen zufälligste, individuellste Bestimmungen sie als absolut notwendig und allgemein konstruieren muß.
Herr Szeliga konstruiert diesen Übergang wie folgt:
"Das Geheimnis sucht sich der Betrachtung mit einer ... Wendung zu entziehen, bisher stand es als das absolut Rätselhafte, aller Halt- und Faßbarkeit Entschlüpfende, Negative, dem Wahrhaften, Realen, Positiven gegenüber, jetzt zieht es sich in dasselbe als dessen unsichtbaren Inhalt hinein. Damit gibt es aber auch die unbedingte Möglichkeit In der "Allgemeinen Literatur-Zeitung": Unmöglichkeit, erkannt zu werden, auf."
"Das Geheimnis", welches bisher dem "Wahrhaften", "Realen", "Positiven", nämlich dem Recht und der Bildung gegenüberstand, "zieht sich jetzt in dasselbe", nämlich in die Region der Bildung hinein. Daß die haute volée die ausschließliche Region der Bildung ist, ist ein mystère Geheimnis, wenn nicht von, so doch für Paris. Herr Szeliga geht nicht von den Geheimnissen der Verbrecherwelt zu den Geheimnissen der aristokratischen Gesellschaft über, sondern "das Geheimnis" wird der "unsichtbare Inhalt" der gebildeten Gesellschaft, ihr eigentliches Wesen. Es ist "keine neue Wendung" des Herrn Szeliga, um weitere Betrachtungen anknüpfen zu können, sondern "das Geheimnis" nimmt diese "neue Wendung", um sich der Betrachtung zu entziehen.
Herr Szeliga, ehe er wirklich dem Eugen Sue dahin folgt, wohin ihn sein Herz treibt, nämlich auf den aristokratischen Ball, gebraucht vorher noch die heuchlerischen Wendungen der Spekulation, die a priori konstruiert.
"Freilich ist vorauszusehn, welch ein festes Gehäuse sich 'das Geheimnis' zu seiner Verhüllung wählen wird, und in der Tat, es scheint, als sei es eine unüberwindliche Undurchdringlichkeit ... daß ... läßt sich daraus erwarten, daß überhaupt ... dennoch ist ein neuer Versuch, den Kern auszubrechen, hier unerläßlich."
Genug, Herr Szeliga ist so weit, daß das
" metaphysische Subjekt, das Geheimnis – jetzt leicht, ungeniert, kokett auftritt".
Um nun die aristokratische Gesellschaft in ein "Geheimnis" zu verwandeln, stellt Herr Szeliga einige Reflexionen über die "Bildung" an. Er setzt lauter Eigenschaften der aristokratischen Gesellschaft voraus, die kein Mensch in ihr sucht, um hinterher das "Geheimnis" zu finden, daß sie diese Eigenschaften nicht besitzt. Er gibt sodann diese Entdeckung für das "Geheimnis" der gebildeten Gesellschaft aus. So fragt sich Herr Szeliga z.B., ob "die allgemeine Vernunft" – etwa die spekulative Logik? – den Inhalt ihrer "geselligen Unterhaltungen" bilde, ob "der Rhythmus und das Maß der Liebe allein" sie zu einem "harmonischen Ganzen macht", ob das, "was wir all- gemeine Bildung nennen, die Form des Allgemeinen, Ewigen, Idealen ist", d.h. ob das, was wir Bildung nennen, eine metaphysische Einbildung ist? Auf seine Fragen hat Herr Szeliga leicht a priori prophezeien:
"Daß die Antwort übrigens verneinend ausfallen werde ... läßt sich erwarten."
In dem Roman Eugen Sues ist der Übergang aus der niedrigen in die vornehme Welt ein gewöhnlicher Romanübergang. Die Verkleidungen Rudolphs, Fürsten von Geroldstein In Eugen Sues Roman "Die Geheimnisse von Paris": Gerolstein führen ihn in die unteren Schichten der Gesellschaft, wie sein Rang ihm die höhern Kreise derselben zugänglich macht. Auf dem Wege nach dem aristokratischen Ball sind es auch keinesweges die Kontraste der jetzigen Weltzustände, worüber er reflektiert; es sind seine eignen kontrastierenden Vermummungen, die ihm pikant erscheinen. Er teilt seinen gehorsamsten Begleitern mit, wie überaus interessant er sich selbst in den verschiednen Situationen finde.
"Je trouve", sagt er, "assez de piquant dans ces contrastes: un jour peintre en éventails, m'établant dans un bouge de la rue aux Fèves; ce matin commis marchand offrant un verre de cassis a Madame Pipelet, et ce soir ... un des privilégiés per la grâce de dieu, qui règnent sur ce monde."
"Ich finde etwas pikantes in diesen Kontrasten: eines Tages Fächermaler in einer gemeinen Kneipe in der Bohnenstraße, diesen Morgen Kommis, der der Frau Pipelet ein Glas Likör anbietet, und heute abend einer der Bevorzugten, die von Gottes Gnaden über die Welt hienieden herrschen."
Auf den Ball eingeführt, singt die kritische Kritik:
Sinn und Verstand vergeht mir schier,
Seh ich mich unter Potentaten hier!
Sie ergießt sich in Dithyramben wie folgt:
"Hier ist Sonnenglanz in die Nacht, Frühlingsgrün und die Pracht des Sommers in den Winter hineingezaubert. Wir fühlen uns sogleich in der Stimmung, an das Wunder der göttlichen Gegenwart im Menschenbusen zu glauben, zumal wenn Schönheit und Grazie die Überzeugung unterstützen, daß wir uns in der unmittelbaren Nähe von Idealen befinden."(!!!)
Unerfahrner, leichtgläubiger, kritischer Landpfarrer! Nur deine kritische Einfalt kann sich von einem eleganten Pariser Ballsaal sogleich in die abergläubige "Stimmung versetzen lassen", an "das Wunder der göttlichen Gegenwart im Menschenbusen" zu glauben und in Pariser Löwinnen "unmittelbare Ideale", leibhafte Engel zu erblicken!
In seiner salbungsvollen Naivität belauscht der kritische Pfarrer die zwei "schönsten unter den Schönen", die Clémence von Harville und die Gräfin Sarah MacGregor. Man errate, was er von ihnen "ablauschen" will:
"auf welche Weise wir den Segen geliebter Kinder, die ganze Fülle des Glücks eines Gatten zu sein, fähig sein können"! ... "Wir hören ... wir staunen... wir trauen unseren Ohren nicht."
Wir empfinden eine geheime Schadenfreude, wenn der lauschende Pastor enttäuscht wird. Die Damen unterhalten sich weder von "dem Segen" noch "von der Fülle", noch von der "allgemeinen Vernunft", es ist vielmehr "auf eine Untreue gegen den Gatten der Frau von Harville abgesehn".
Über die eine der Damen, die Gräfin MacGregor, erhalten wir folgenden naiven Aufschluß:
Sie war " unternehmend genug, um infolge einer geheimen Ehe Mutter eines Kindes zu werden".
Von diesem Unternehmungsgeist der Gräfin unangenehm berührt, liest ihr Herr Szeliga den Text.
"Wir finden das ganze Streben der Gräfin auf individuellen, egoistischen Vorteil gerichtet."
Ja, von der Erreichung ihres Zweckes, der Heirat mit dem Fürsten von Geroldstein, verspricht er sich gar nichts Gutes:
"wovon wir uns gar nicht versprechen dürfen, daß sie ihn für das Glück der Untertanen des Fürsten von Geroldstein anwenden wird".
Mit "gesinnungsreichem Ernst" schließt der Puritaner seinen Strafsermon:
"Sarah" (die unternehmende Dame) "ist übrigens nicht etwa eine Ausnahme in diesen glänzenden Zirkeln, wenn auch eine Spitze."
Übrigens nicht etwa! Wenn auch! Und die "Spitze" eines Zirkels wäre keine Ausnahme?
Über den Charakter zweier andern Ideale, der Marquise von Harville und der Herzogin von Lucenay, erfahren wir:
Ihnen "'fehlt die Befriedigung des Herzens'. Sie haben in der Ehe nicht den Gegenstand der Liebe gefunden, so suchen sie nun außerhalb der Ehe den Gegenstand der Liebe. Die Liebe ist ihnen in der Ehe ein Geheimnis geblieben, welches gleichfalls zu enthüllen sie von dem gebieterischen Drange des Herzens angetrieben werden. So ergeben sie sich denn der geheimnisvollen Liebe. Diese 'Opfer' der 'lieblosen Ehe' werden 'unwillkürlich dahin gedrängt, die Liebe selbst zu einem Äußeren, einem sogenannten Verhältnis, herabzusetzen und für das Innere, Belebende, Wesentliche der Liebe das Romantische, das Geheimnis zu halten'."
Das Verdienst dieser dialektischen Entwickelung ist um so höher anzuschlagen, je mehr sie sich einer allgemeinen Anwendbarkeit erfreut.
Z.B. wer in seinem eigenen Hause nicht trinken darf und doch das Bedürfnis des Trinkens in sich fühlt, sucht den "Gegenstand" des Trunkes "außerhalb" des Hauses und ergibt sich "denn so" dem geheimnisvollen Trunke. Ja, er wird dahin getrieben, das Geheimnis für ein wesentliches Ingredienz des Trinkens anzusehen, obgleich er den Trunk nicht zu einem bloß "Äußern", Gleichgültigen herabsetzen wird, so wenig wie jene Damen die Liebe. Sie setzen ja nach der Erklärung des Herrn Szeliga selbst nicht die Liebe, sondern die lieblose Ehe zu dem herab, was sie wirklich ist, zu einem Äußern, zu einem sogenannten Verhältnis.
"Was ist", heißt es nun weiter, "das 'Geheimnis' der Liebe?"
Wir hatten soeben schon konstruiert, daß "das Geheimnis" das "Wesen" dieser Art von Liebe ist. Wie kommen wir nun dazu, nach dem Geheimnis des Geheimnisses, nach dem Wesen des Wesens zu suchen?
"Nicht", deklamiert der Pfarrer, "nicht die schattigen Gänge in den Gebüschen, das natürliche Halbdunkel der Mondnacht, nicht das künstliche, welches von köstlichen Gardinen und Vorhängen erzeugt wird, nicht der sanfte und betäubende Ton der Harfen und Orgeln, nicht die Macht des Verbotnen ..."
Gardinen und Vorhänge! Ein sanfter und betäubender Ton! Und nun gar die Orgeln! Schlage sich der Herr Pfarrer doch die Kirche aus dem Sinn! Wer wird Orgeln zu einem Liebesrendezvous mitbringen?
"Dies alles" (Gardinen und Vorhänge und Orgeln) "ist nur das Geheimnisvolle."
Und das Geheimnisvolle wäre nicht das "Geheimnis" der geheimnisvollen Liebe? Keineswegs:
"Du Geheimnis darin ist das Erregende, Berauschende, Betäubende, die Gewalt der Sinnlichkeit."
In dem "sanften und betäubenden" Ton besaß der Pfarrer schon das Betäubende. Hätte er nun statt der Gardinen und Orgeln Schildkrötensuppe und Champagner zu seinem Liebesrendezvous mitgebracht, so fehlte auch das Erregende und Berauschende" nicht.
"Die Gewalt der Sinnlichkeit", doziert der heilige Herr, "wollen wir uns zwar nicht eingestehen; sie hat aber nur darum eine so ungeheure Macht über uns, weil wir sie aus uns herausbannen, nicht als unsre eigne Natur anerkennen – unsre eigne Natur, welche wir dann auch zu bewältigen imstande wären, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft, der wahren Liebe, der Kraft des Willens geltend zu machen strebt."
Nach der Weise der spekulativen Theologie rät uns der Pastor, die Sinnlichkeit als unsre eigne Natur anzuerkennen, um imstande zu sein, sie hinterher zu bewältigen, d.h. um ihre Anerkennung zurückzunehmen. Er will sie zwar nur bewältigen, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft – die Willenskraft und die Liebe im Gegensatz zur Sinnlichkeit sind nur die Willenskraft und die Liebe der Vernunft – geltend machen will. Auch der unspekulative Christ erkennt die Sinnlichkeit an, soweit sie sich nicht auf Kosten der wahren Vernunft, nämlich des Glaubens, der wahren Liebe, nämlich der Liebe zu Gott, der wahren Willenskraft, nämlich des Willens in Christo, geltend macht.
Der Pfarrer verrät uns sogleich seine wahre Meinung, wenn er fortfährt:
"Hört also die Liebe auf, das Wesentliche der Ehe, der Sittlichkeit überhaupt zu sein, so wird die Sinnlichkeit das Geheimnis der Liebe, der Sittlichkeit, der gebildeten Gesellschaft – Sinnlichkeit sowohl in ihrer ausschließlichen Bedeutung, wo sie das Zittern der Nerven, der glühende Strom in den Adern ist, als auch in der umfassenderen, als welche sie sich zu einem Schein geistiger Macht steigert, zu Herrschsucht, Ehrgeiz, Ruhmbegier sich erhebt ... Die Gräfin MacGregor repräsentiert" die letztere Bedeutung "der Sinnlichkeit, als des Geheimnisses der gebildeten Gesellschaft."
Der Pfarrer trifft den Nagel auf den Kopf. Um die Sinnlichkeit zu überwältigen, muß er vor allem die Nervenströmungen und den raschen Blutumlauf überwältigen. – Herr Szeliga glaubt im "ausschließlichen" Sinne, daß die größere Körperwärme von dem Glühen des Bluts in den Adern herkömmt, er weiß nicht, daß die warmblütigen Tiere warmblütig heißen, weil ihre Blutwärme, geringe Modifikationen abgerechnet, sich immer auf derselben Höhe erhält. – Sobald die Nerven nicht mehr strömen und das Blut in den Adern nicht mehr glüht, ist der sündige Leib, dieser Sitz der sinnlichen Gelüste, zu einem stillen Mann gemacht, und die Seelen können sich ungehindert von der "allgemeinen Vernunft", der "wahren Liebe" und der "reinen Moral" unterhalten. Der Pastor degradiert die Sinnlichkeit so sehr, daß er grade die Momente der sinnlichen Liebe aufhebt, die sie begeistern – den raschen Blutumlauf, welcher beweist, daß der Mensch nicht mit sinnlosem Phlegma liebt, die Nervenströmungen, welche das Organ, das den Hauptsitz der Sinnlichkeit bildet, mit dem Gehirne verbinden. Er reduziert die wahre sinnliche Liebe auf die mechanische secretio seminis Samenabsonderung und lispelt mit einem berüchtigten deutschen Theologen:
"Nicht um sinnlicher Liebe halber, nicht um fleischlicher Gelüste willen, sondern weil der Herr gesagt hat: Seid fruchtbar und mehret euch."
Vergleichen wir nun die spekulative Konstruktion mit dem Roman Engen Sues. Es ist nicht die Sinnlichkeit, welche für das Geheimnis der Liebe ausgegeben wird, es sind Mysterien, Abenteuer, Hindernisse, Ängste, Gefahren und namentlich die Macht des Verbotnen.
"Pourquoi", heißt es, "beaucoup de femmes prennent-elles pourtant des hommes qui ne valent pas leurs maria? Parce que le plus grand charme de l'amour est l'attrait affriandant du fruit défendu ... avancez que, en retranchant de cet amour les craintes, les angoisses, les difficultés, les mystères, les dangers, il ne reste rien ou peu de chose, c'est-à-dire, l'amant ... dans se simplicité première ... en un mot, ce serait toujours plus au moins l'aventure de cet homme à qui l'on disait: 'Pourquoi n'épousez-vous donc pas cette veuve, votre maîtresse?' – 'Hélas, j'y ai bien pensé – répondit-il 'mais alors je ne saurais plus où aller passer mes soirées.'"
"Warum wählen sich viele Frauen Liebhaber, die ihren Männern bei weitem nicht gleichkommen? Weil der größte Zauber der Liebe der Reiz der verbotenen Frucht ist. Sie werden gestehen müssen, daß, wenn man dieser Liebe die Besorgnisse, die Angst, die Schwierigkeiten, das Geheimnisvolle, die Gefahren nähme, nichts oder doch nur sehr wenig übrigbleiben würde, das heißt – der Liebhaber in seiner ursprünglichen Einfachheit; es würde mit einem Worte immer mehr oder weniger das Abenteuer jenes Mannes sein, zu dem man sagte: 'Warum heiraten Sie aber diese Witwe, Ihre Geliebte, nicht?' – 'Ich habe auch daran, gedacht', antwortete er, 'aber wo sollte ich dann meine Abende zubringen?"'
Während Herr Szeliga ausdrücklich die Macht des Verbotnen nicht für das Geheimnis der Liebe erklärt, erklärt Eugen Sue sie ebenso ausdrücklich für "den größten Reiz der Liebe" und für den Grund der Liebesabenteuer extra muros außer Hause.
"La prohibition et la contrebande sont inséparables en amour comme en marchandise."
"Verbot und Schmuggelei sind in der Liebe wie im Handel nicht voneinander zu trennen"
Ebenso behauptet Engen Sue im Gegensatz zu seinem spekulativen Exegeten, daß
"der Hang zur Verstellung und zur List, der Geschmack für die Geheimnisse und für die Intrigen, eine wesentliche Eigenschaft, ein natürlicher Hang und ein gebieterischer Instinkt der weiblichen Natur sei".
Nur die Richtung dieses Hanges und dieses Geschmacks gegen die Ehe geniert Herrn Engen Sue. Er will den Trieben der weiblichen Natur eine harmlosere, nützlichere Anwendung geben.
Während Herr Szeliga die Gräfin MacGregor zur Repräsentantin jener Sinnlichkeit macht, die sich zum "Schein einer geistigen Macht steigert", ist sie bei Eugen Sue ein abstrakter Verstandesmensch. Ihr "Ehrgeiz" und ihr "Stolz", weit entfernt, Formen der Sinnlichkeit zu sein, sind Ausgeburten eines von der Sinnlichkeit völlig unabhängigen, abstrakten Verstandes. Eugen Sue bemerkt daher ausdrücklich, daß
"nie die feurigen Eingebungen der Liebe ihren eiskalten Busen schlagen ließen, daß keine Überraschung des Herzens oder der Sinne die unbarmherzigen Berechnungen dieser verschlagnen, egoistischen und ehrsüchtigen Frau stören konnten".
Der Egoismus des abstrakten, von den sympathetischen Sinnen nicht leidenden, mit Blut nicht durchtränkten Verstandes bildet den wesentlichen Charakter dieser Frau. Ihre Seele wird daher als "trocken-hart", ihr Geist als "gewandt-boshaft", ihr Charakter als "heimtückisch" und – sehr bezeichnend für den abstrakten Verstandesmenschen – als "absolut", ihre Verstellung als "tief" geschildert. – Nebenbei bemerkt, motiviert Eugen Sue den Lebenslauf der Gräfin so albern wie der meisten seiner Romancharaktere. Eine alte Amme bildet ihr ein, daß sie ein "gekröntes Haupt" werden muß. Sie begibt sich in dieser Einbildung auf Reisen, um eine Krone zu erheiraten. Sie begeht endlich die Inkonsequenz, einen kleinen deutschen Serenissimus für ein "gekröntes Haupt" zu halten.
Nach seinen Expektorationen gegen die Sinnlichkeit muß unser kritischer Heiliger noch demonstrieren, warum Eugen Sue auf einem Ball in die haute volée einführt, eine Einführungsmethode, die sich fast bei allen französischen Romanschreibern findet, während die englischen häufiger auf einer Jagdpartie oder auf einem Landschloß in die schöne Welt einführen.
"Es kann für diese" (nämlich Herrn Szeligas) "Auffassung nicht gleichgültig und da" (in Szeligas Konstruktion) "bloß zufällig sein, daß Eugen Sue uns gerade auf einem Balle in die große Welt einführt."
Nun ist dem Roß der Zügel schießen gelassen, und es trabt frisch in einer Reihe von Konklusionen, alt-Wolfischen Angedenkens, der Notwendigkeit zu.
"Der Tanz ist die allgemeinste Erscheinung der Sinnlichkeit als Geheimnis. Die unmittelbare Berührung, die Umschließung der beiden Geschlechter (?), welche das Paar bedingt, werden im Tanze gestattet. weil sie trotz des Augenscheins und der dabei sich wirklich" – wirklich, Herr Pfarrer? – "fühlbar machenden süßen Empfindung doch nicht als sinnliche" – sondern wohl als allgemein vernünftige? – "Berührung und Umschließung gelten."
Und nun ein Schlußsatz, der höchstens auf der Hacke tanzt:
" Denn gälte sie in der Tat dafür, so wäre nicht einzusehn, warum die Gesellschaft bloß beim Tanze diese Nachsicht übte, während sie umgekehrt mit so harter Verdam- mung verfolgt, was, wenn es sich anderwärts mit gleicher Freiheit zeigen wollte, als unverzeihlichster Verstoß gegen Sitte und Scham, Brandmarkung und unbarmherzigste Austoßung nach sich zieht."
Der Herr Pfarrer spricht weder von dem Cancan noch von der Polka, sondern von dem Tanze schlechthin, von der Kategorie des Tanzes, die nirgends getanzt wird als unter seinem kritischen Hirnschädel. Er sehe sich einmal einen Tanz auf dem Pariser Chaumière an, und sein christlich-germanisches Gemüt wird sich empören über diese Keckheit, diese Offenherzigkeit, diesen graziösen Mutwillen, diese Musik der sinnlichsten Bewegung. Seine eigne "sich wirklich fühlbar machende süße Empfindung" würde ihm "fühlbar" machen, daß "in der Tat nicht einzusehen wäre, warum die Tanzenden selbst, während sie umgekehrt" auf den Zuschauer den erhebenden Eindruck einer offenherzigen, menschlichen Sinnlichkeit machen, "was, wenn es sich anderwärts", namentlich in Deutschland, "in gleicher Weise äußerte, als unverzeihlicher Verstoß" etc. etc. Nicht um auch, wenigstens sozusagen, in ihren eignen Augen offenherzig sinnliche Menschen nicht nur sein sollen und dürfen, sondern auch können und müssen müssen!!
Der Kritiker läßt uns, dem Wesen des Tanzes zulieb, auf dem Ball eingeführt werden. Er findet eine große Schwierigkeit. Auf diesem Ball wird zwar getanzt, aber nur in der Einbildung. Eugen Sue schildert den Tanz nämlich mit keinem Worte. Er mischt sich nicht unter das Gewühl der Tanzenden. Er benutzt den Ball nur als Gelegenheit, um die aristokratische Vordergruppe zusammenzubringen. In ihrer Verzweiflung greift "die Kritik" dem Dichter ergänzend unter die Arme, und ihre eigne "Phantasie" zeichnet mit Leichtigkeit Ballerscheinungen etc. Wenn Eugen Sue nach kritischer Vorschrift bei der Schilderung der Verbrecherschlupfwinkel und Verbrechersprache kein unmittelbares Interesse an der Schilderung dieser Schlupfwinkel und dieser Sprache hatte, so ist ihm dagegen der Tanz, den nicht er selbst, sondern sein "phantasievoller" Kritiker zeichnet, notwendig von unendlichem Interesse.
Weiter!
"In der Tat, das Geheimnis des geselligen Tons und Takts – das Geheimnis dieser äußersten Unnatur – ist die Sehnsucht, zur Natur zurückzukehren. Darum wirkt eine Erscheinung wie die Cecilys in der gebildeten Gesellschaft auch so elektrisch, ist von so ungemeinen Erfolgen gekrönt. Ihr, aufgewachsen als Sklavin unter Sklaven, ohne Bildung, allein angewiesen auf ihre Natur – ist diese Natur der alleinige Lebensquell. Plötzlich nun an einen Hof unter Zwang und Sitte versetzt, lernt sie das Geheimnis derselben bald durchschauen ... In dieser Sphäre, die sie unbedingt beherrschen kann, da ihre Macht, die Macht ihrer Natur, für einen rätselhaften Zauber gilt, muß Cecily notwendig ins Maßlose verirren, während einst, als sie noch Sklavin war, dieselbe Natur sie lehrte, jedem unwürdigen Ansinnen des mächtigen Herrn Widerstand zu leisten und ihrer Liebe die Treue zu bewahren. Cecily ist das enthüllte Geheimnis der gebildeten Gesellschaft. Die verachteten Sinne durchbrechen am Ende die Dämme und schießen in gänzlicher Zügellosigkeit dahin" etc.
Der Leser Herrn Szeligas, dem der Suesche Roman unbekannt ist, glaubt unfehlbar, Cecily sei die Löwin des geschilderten Baues. In dem Roman sitzt sie in einem deutschen Zuchthaus, während in Paris getanzt wird.
Cecily bleibt als Sklavin dem Negerarzte David treu, weil sie ihn "leidenschaftlich" liebt und weil ihr Eigentümer, Herr Willis, "brutal" um sie wirbt. Ihr Übergang zu einer ausschweifenden Lebensart wird sehr einfach motiviert. In die "europäische Welt" versetzt, "errötet" sie darüber, mit "einem Neger verehlicht zu sein". Nachdem sie in Deutschland angekommen ist, wird sie "sogleich" von einem schlechten Subjekt depraviert, und ihr "indianisches Blut" macht sich geltend, das der heuchlerische Herr Sue, der douce morale sanften Moral und dem doux commerce sanften Geschäft zuliebe, als eine "perversité naturelle" natürliche Verderbtheit charakterisieren muß.
Das Geheimnis der Cecily ist die Mestize. Das Geheimnis ihrer Sinnlichkeit ist die tropische Glut. Parny in seinen schönen Gedichten an die Eleonore hat die Mestize gefeiert. Wie gefährlich sie dem französischen Matrosen ist, ist in mehr als hundert Reisebeschreibungen zu lesen.
"Cecily était le type incarné de la sensualité brûlante, qui ne s'allume qu'au feu des tropiques ... Tout le monde a entendu parler de ces filles de couleur, pour ainsi dire mortelles aux Européens, de ces vampyrs enchanteurs, qui, enivrant leurs victimes de séductions terribles ... ne lui laissent, selon l'énergique expression du pays, que ses larmes à boire, que son coeur à ronger."
"Cecily war der wahre Typus der glühenden Sinnlichkeit, die nur in dem Sonnenbrand der Tropen sich entzünden kann ... Jedermann hat von jenen für die Europäer fast tödlichen farbigen Mädchen, von jenen zauberischen Vampyren gehört, welche ihr Opfer mit schrecklicher Wonne berauschen ... und ihm, wie man dort bezeichnend genug sagt, nur seine Tränen zum Tranke, sein Herz zum Nagen übriglassen."
Weit entfernt, daß Cecily grade auf aristokratisch-gebildete, blasierte Leute so magisch einwirkte ...
"les femmes de l'espèce de Cecily exercent une action soudaine, une omnipotence magique sur les hommes de sensualité brutale tels que Jaques Ferrand."
"die Frauen wie Cecily üben eine zauberische Allgewalt auf die rohsinnlichen Männer wie Jacques Ferrand aus."
Und seit wann repräsentieren Leute wie Jacques Ferrand die feine Gesellschaft? Aber die kritische Kritik mußte Cecily als ein Moment im Lebensprozesse des absoluten Geheimnisses konstruieren.
"Das Geheimnis als das der gebildeten Gesellschaft zieht sich zwar aus dem Gegensatz in das Innere hinein. Dennoch hat die große Welt wiederum ausschließlich ihre Zirkel, in denen sie das Heiligtum bewahrt. Sie ist gleichsam die Kapelle für dieses Allerheiligste. Aber für die im Vorhofe ist die Kapelle selbst das Geheimnis. Die Bildung ist also in ihrer exklusiven Stellung für das Volk dasselbe ... was die Roheit für den Gebildeten ist.
Zwar – dennoch, wiederum – gleichsam – aber – also – das sind die magischen Haken, welche die Ringe der spekulativen Entwicklungskette zusammenschließen. Herr Szeliga hat das Geheimnis aus der Sphäre der Verbrecher in die haute volée sich hineinziehen lassen. Jetzt muß er das Geheimnis konstruieren, daß die vornehme Welt ihre ausschließlichen Zirkel hat und daß die Geheimnisse dieser Zirkel Geheimnisse für das Volk sind. Zu dieser Konstruktion bedarf es außer den schon angeführten Zauberhaken der Verwandlung eines Zirkels in eine Kapelle und der Verwandlung der nicht-aristokratischen Welt in einen Vorhof zu dieser Kapelle. Es ist abermals ein Geheimnis für Paris, daß alle Sphären der bürgerlichen Gesellschaft nur einen Vorhof für die Kapelle der haute volée bilden.
Herr Szeliga verfolgt zwei Zwecke. Einmal soll das Geheimnis, welches sich in dem exklusiven Zirkel der haute volée inkarniert hat, zum "Gemeingut der Welt" fortbestimmt werden. Zweitens soll der Notar Jacques Ferrand als Lebensglied des Geheimnisses konstruiert werden. Er verfährt wie folgt:
"Die Bildung kann und will in ihren Kreis noch nicht alle Stände und Unterschiede hereinziehen. Erst das Christentun und die Moral sind imstande, Universalreiche auf dieser Erde zu gründen."
Für Herrn Szeliga ist die Bildung, die Zivilisation, identisch mit der aristokratischen Bildung. Er kann daher nicht sehen, daß Industrie und Handel ganz andre Universalreiche gründen als Christentum und Moral, Familienglück und Bürgerwohl. Aber wie kommen wir zum Notar Jacques Ferrand? Höchst einfach!
Herr Szeliga verwandelt das Christentum in eine individuelle Eigenschaft, in die "Frömmigkeit", und die Moral in eine andre individuelle Eigenschaft, in die "Rechtschaffenheit". Er faßt diese beiden Eigenschaften in ein Individuum zusammen, das er Jacques Ferrand tauft, weil Jacques Ferrand beide Eigenschaften nicht besitzt, sondern heuchelt. Jacques Ferrand ist nun das "Geheimnis der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit". Das "Testament" Ferrands ist dagegen "das Geheimnis der scheinenden Frömmigkeit und Rechtschaffenheit", also nicht mehr der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit selbst. Wollte die kritische Kritik dies Testament als Geheimnis konstruieren, so mußte sie die scheinende Rechtschaffenheit und Frömmigkeit für das Geheimnis dieses Testamentes, nicht umgekehrt dies Testament für das Geheimnis der scheinenden Rechtschaffenheit erklären.
Während das Pariser Notariat in Jacques Ferrand ein bittres Pasquill auf sich erblickte und die Entfernung dieser Person aus den in Szene gesetzten "Mystères de Paris" von der Theaterzensur erwirkte, sieht die kritische Kritik in demselben Moment, wo sie gegen das "Luftreich der Begriffe polemisiert", in einem Pariser Notar keinen Pariser Notar, sondern Religion und Moral, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit. Der Prozeß des Notars Lehon hätte sie aufklären müssen. Die Stellung, welche der Notar in dem Roman Engen Sues behauptet, hängt genau mit seiner offiziellen Stellung zusammen.
"Les notaires sont au temporel ce qu'au spirituel sont les curés; ils sont les dépositaires de nos secrets." (Monteil, "Hist[oire] des français des div[ersl états" etc., t. IX, p.37.)
"Die Notare sind im Weltlichen das, was im Geistlichen die Priester sind; sie sind die Mitwisser unserer Geheimnisse."
Der Notar ist der weltliche Beichtvater. Er ist Puritaner von Profession, und "Ehrlichkeit", sagt Shakespeare, "ist kein Puritaner". Er ist zugleich der Kuppler für alle möglichen Zwecke, der Lenker der bürgerlichen Intrigen und Kabalen.
Mit dem Notar Ferrand, dessen ganzes Geheimnis die Heuchelei und das Notariat ist, sind wir, wie es scheint, noch keinen Schritt weitergekommen, doch man höre!
"Ist dem Notar die Heuchelei nun Sache des vollständigsten Bewußtseins, der Madame Roland aber gleichsam Instinkt, so steht zwischen ihnen die große Masse derer, die hinter das Geheimnis nicht kommen können und doch sich unwillkürlich gedrungen fühlen, daß sie es möchten. So ist es denn nicht Aberglauben, welcher hoch und niedrig in die unheimliche Behausung des Charlatans Bradamanti (Abbé Polidori) führt, nein, es ist das Suchen des Geheimnisses, um vor der Welt gerechtfertigt zu stehn."
"Hoch und niedrig" strömt nicht zu Polidori, um ein bestimmtes Geheimnis zu finden, welches vor aller Welt gerechtfertigt dasteht, "hoch und niedrig" sucht bei ihm das Geheimnis schlechthin, das Geheimnis als absolutes Subjekt, um vor der Welt gerechtfertigt dazustehen, wie wenn man nicht eine Axt, sondern das Instrument in abstracto im allgemeinen suchte, um Holz zu spalten.
Alle Geheimnisse, die Polidori besitzt, beschränken sich auf ein Mittel zum Abortieren für Schwangere und ein Gift zum Töten. – Herr Szeliga in spekulativer Wut läßt den "Mörder" zum Gift Polidoris seine Zuflucht nehmen, "weil er nicht Mörder, sondern geachtet, geliebt, geehrt sein will", als wenn es sich bei einer Mordtat um Achtung, Liebe, Ehre und nicht um den Kopf handelte! Aber der kritische Mörder bemüht sich nicht um seinen Kopf, sondern um " das Geheimnis". – Da nicht alle Welt mordet und polizeiwidrig schwanger ist, wie soll Polidori jeden in den gewünschten Besitz des Geheimnisses setzen? Herr Szeliga verwechselt den Charlatan Polidori wahrscheinlich mit dem gelehrten Polydorus Virgillus, der im 16. Jahrhundert lebte und zwar keine Geheimnisse entdeckt hat, wohl aber die Geschichte der Entdecker der Geheimnisse, der Erfinder – zum "Gemeingut der Welt" zu machen strebte. (Siehe Polidori Virgilii liber de rerum inventoribus, Lugduni MDCCVI.)
Das Geheimnis, das absolute Geheimnis, wie es sich zuletzt als "Gemeingut der Welt" etabliert, besteht also in dem Geheimnis zu abortieren und zu vergiften. Das Geheimnis konnte sich nicht geschickter zum "Gemeingut der Welt" machen, als indem es sich in Geheimnisse verwandelte, die für niemand Geheimnisse sind.
" Jetzt ist das Geheimnis Gemeingut geworden, das Geheimnis aller Welt und jedes Einzelnen. Entweder ist es meine Kunst oder mein Instinkt, oder ich kann es mir als eine käufliche Ware kaufen."
Welches Geheimnis ist jetzt zum Gemeingut der Welt geworden? Das Geheimnis der Rechtslosigkeit im Staat oder das Geheimnis der gebildeten Gesellschaft oder das Geheimnis der Warenverfälschung oder das Geheimnis, Kölnisches Wasser zu fabrizieren, oder das Geheimnis der "kritischen Kritik"? Dies alles nicht, sondern das Geheimnis in abstracto, die Kategorie des Geheimnisses!
Herr Szeliga beabsichtigt, die Dienstboten und den Portier Pipelet nebst Frau als Inkarnation des absoluten Geheimnisses darzustellen. Er will den Dienstboten und den Portier des "Geheimnisses" konstruieren. Wie stellt er es nun an, um aus der reinen Kategorie bis zum "Bedienten", der vor der "verschlossenen Tür spioniert", um aus dem Geheimnis als absolutem Subjekt, das über dem Dach in dem Wolkenhimmel der Abstraktion thront, bis zum Erdgeschoß, wo die Portierloge liegt, herabzustürzen?
Zunächst läßt er die Kategorie des Geheimnisses einen spekulativen Prozeß durchmachen. Nachdem das Geheimnis durch die Mittel, zu abortieren und zu vergiften, Gemeingut der Welt geworden ist, ist es
"also durchaus nicht mehr die Verborgenheit und Unzugänglichkeit selbst, sondern, daß es sich verbirgt, oder noch besser" – immer besser! – "daß ich's verberge, daß ich's unzugänglich mache".
Mit dieser Umwandlung des absoluten Geheimnisses aus dem Wesen in den Begriff, aus dem objektiven Stadium, worin es die Verborgenheit selbst ist, in das subjektive Stadium, worin es sich verbirgt, oder noch besser, worin "ich's" verberge, sind wir noch keinen Schritt weitergekommen. Die Schwierigkeit scheint im Gegenteil zu wachsen, da ein Geheimnis im menschlichen Kopf und in der menschlichen Brust unzugänglicher und verborgner ist als auf dem Meeresgrunde. Herr Szeliga greift daher seinem spekulativen Fortschritt unmittelbar durch einen empirischen Fortschritt unter die Arme.
"Die verschloßnen Türen" – hört! hört! – "sind's nunmehr" – nunmehr! – "hinter denen das Geheimnis ausgebrütet, gebrauet, verübt wird."
Herr Szeliga hat das spekulative Ich des Geheimnisses "nunmehr" in eine sehr empirische, sehr hölzerne Wirklichkeit, in eine Türe verwandelt.
"Damit" – nämlich mit der verschlossenen Türe und nicht mit dem Übergang aus dem verschlossenen Wesen in den Begriff – "ist aber auch die Möglichkeit gegeben, daß ich es belauschen, behorchen, ausspionieren kann."
Es ist kein von Herrn Szeliga entdecktes "Geheimnis", daß man vor verschlossenen Türen lauschen kann. Das massenhafte Sprichwort verleiht sogar den Wänden Ohren. Es ist dagegen ein ganz kritisch spekulatives Geheimnis, daß erst "nunmehr", nach der Höllenfahrt durch die Verbrecherschlupfwinkel, nach der Himmelfahrt in die gebildete Gesellschaft und nach den Wundern Polidoris, Geheimnisse hinter verschlossenen Türen gebrauet und vor geschlossenen Türen belauscht werden können. Es ist ein ebenso großes kritisches Geheimnis, daß verschlossene Türen eine kategorische Notwendigkeit sind, sowohl um Geheimnisse zu brüten, zu brauen und zu verüben – wie viele Geheimnisse werden nicht hinter Gebüschen gebrütet, gebraut und verübt! – als um sie auszuspionieren.
Nach dieser glänzenden dialektischen Waffentat gerät Herr Szeliga natürlich von dem Ausspionieren zu den Gründen des Ausspionierens. Hier teilt er das Geheimnis mit, daß die Schadenfreude der Grund des Ausspionierens sei. Von der Schadenfreude geht er weiter zu dem Grund der Schadenfreude.
"Besser sein will jeder", sagt er, "als der andre, weil er nicht allein die Triebfedern seiner guten Taten geheimhält, sondern seine schlechten ganz und gar in undurchdringliches Dunkel zu hüllen sucht."
Der Satz müßte umgekehrt heißen: Jeder hält nicht allein die Triebfedern seiner guten Taten geheim, sondern sucht seine schlechten ganz und gar in undurchdringliches Dunkel zu hüllen, weil er besser sein will als der andre.
Wir wären nun von dem Geheimnis, das sich selbst verbirgt, zu dem Ich, das verbirgt, von dem Ich zur verschlossenen Türe, von der verschlossenen Türe zum Ausspionieren, von dem Ausspionieren zum Grund des Ausspionierens, der Schadenfreude, von der Schadenfreude zum Grund der Schadenfreude, zum Besserseinwollen gelangt. Nun werden wir auch bald die Freude erleben, den Bedienten vor der verschlossenen Türe stehen zu sehen. Das allgemeine Besserseinwollen führt uns nämlich direkt dahin, daß "jedermann den Hang hat, hinter des andern Geheimnisse zu kommen", und hieran schließt sich ungezwungen die geistreiche Bemerkung an:
"Am günstigsten in dieser Hinsicht sind die Dienstboten gestellt."
Wenn Herr Szeliga die Memoiren aus den Archiven der Pariser Polizei, Vidocqs Memoiren, das "Livre noir" "Schwarze Buch" und dergleichen gelesen hätte, so wüßte er, daß die Polizei in dieser Hinsicht noch günstiger gestellt ist als die "am günstigsten" gestellten Dienstboten, daß sie die Dienstboten nur zum groben Dienste gebraucht, daß sie nicht vor der Tür noch bei dem Negligé der Herrschaft stehenbleibt, sondern unter die Bettleinwand an ihren nackten Leib in der Gestalt einer femme galante oder selbst einer Ehefrau hinankriecht. In Sues Roman selbst ist der Polizeispion Bras rouge ein Hauptträger der Entwickelung.
Was Herrn Szeliga "nunmehr" an den Dienstboten stört, ist, daß sie nicht "interesselos" genug sind. Dieses kritische Bedenken bahnt ihm den Weg zum Portier Pipelet nebst Frau.
"Die Stellung des Portiers gewährt dagegen die verhältnismäßige Unabhängigkeit, um über die Geheimnisse des Hauses freien, interesselosen, wenn auch derben und verletzenden Spott auszuschütten."
Zunächst gerät diese spekulative Konstruktion des Portiers dadurch in große Verlegenheit, daß in sehr vielen Häusern von Paris der Dienstbote und der Portier für einen Teil der Mieter zusammenfallen.
Was die kritische Phantasie über die relativ unabhängige interesselose Stellung des Portiers betrifft, so mag man sie aus folgenden Tatsachen beurteilen. Der Pariser Portier ist der Repräsentant und der Spion des Hauseigentümers. Er wird meistens nicht vom Hauseigentümer, sondern von den Mietsleuten besoldet. Dieser prekären Stellung wegen verbindet er häufig das Geschäft des Kommissionärs mit seinem offiziellen Amt. Während des Terrorismus, der Kaiserzeit und der Restauration war der Portier ein Hauptagent der geheimen Polizei. So wurde z.B. der General Foy von seinem Portier überwacht, der die an ihn gerichteten Briefe einem in der Nähe verweilenden Polizeiagenten zum Durchlesen überlieferte. (Siehe Froment, "La police dévoilée".) "Portier" und "Epicier" "Krämer" sind daher zwei Schimpfnamen, und der Portier selbst will "Concierge" "Hausmeister" angeredet sein.
Eugen Sue ist soweit davon entfernt, die Madame Pipelet als "interesselos" und harmlos zu schildern, daß sie vielmehr den Rudolph sogleich beim Geldwechseln betrügt, daß sie ihm die betrügerische Pfandleiherin, die in ihrem Hause wohnt, rekommandiert, daß sie ihm die Rigolette als eine Bekanntschaft, die angenehm werden kann, schildert, daß sie den Kommandanten neckt, weil er schlecht zahlt, weil er mit ihr marktet – in ihrem Ärger nennt sie ihn "Commandant de deux liards" etwa: "Pfennigkommandant" " ça t'apprendra à ne donner que douze francs par mois pour ton ménage" "das wird dich lehren, nur zwölf Francs monatlich für die Wirtschaft zu geben" – weil er die "petitesse" "Kleinlichkeit" besitzt, auf sein Holz ein Augenmerk zu haben etc. Sie selbst teilt den Grund ihres "unabhängigen" Benehmens mit. Der Kommandant zahlt nur zwölf Francs monatlich.
Bei Herrn Szeliga hat die "Anastasia Pipelet gewissermaßen den kleinen Krieg gegen das Geheimnis zu eröffnen".
Bei Engen Sue repräsentiert Anastasia Pipelet die Pariser Portière. Er will "die von Herrn Henry Monier meisterhaft gezeichnete Portière dramatisieren". Herr Szeliga aber muß eine der Eigenschaften der Madame Pipelet, die "médisance" "Schmähsucht", in ein apartes Wesen und hinterher die Madame Pipelet in die Repräsentantin dieses Wesens verwandeln.
"Der Mann", fährt Herr Szeliga fort, "der Portier Alfred Pipelet, steht ihr mit wenigerm Glück zur Seite."
Um ihn für dies Unglück zu trösten, macht ihn Herr Szeliga ebenfalls zu einer Allegorie. Er repräsentiert die "objektive" Seite des Geheimnisses, das Geheimnis als Spott".
"Das Geheimnis, dem er unterliegt, ist ein Spott, ein Streich, der ihm gespielt wird."
Ja, in ihrem unendlichen Erbarmen macht die göttliche Dialektik den "unglücklichen, alten, kindischen Mann" zu einem "starken Mann" im metaphysischen Sinne, indem er ein sehr würdiges, sehr glückliches und sehr entscheidendes Moment im Lebensprozeß des absoluten Geheimnisses darstellt. Der Sieg über Pipelet ist
"des Geheimnisses entschiedenste Niederlage". "Ein Gescheuterer, Mutiger wird sich durch die Posse nicht täuschen lassen."
"Ein Schritt bleibt noch übrig. Das Geheimnis ist durch seine eigne Konsequenz, wie wir an Pipelet und durch Cabrion gesehen haben, dahin getrieben worden, sich zum bloßen Possenspiel herabzuwürdigen. Es kommt nur noch darauf an, daß sich das Individuum nicht mehr dazu hergibt, die alberne Komödie zu spielen. Lachtaube tut diesen Schritt auf die unbefangenste Weise von der Welt."
Jeder kann in einem Zeitraum von zwei Minuten das Geheimnis dieses spekulativen Possenspiels durchschauen und selbst anwenden lernen. Wir wollen eine kurze Anweisung geben.
Aufgabe: Du sollst mir konstruieren, wie der Mensch Herr über die Tiere wird?
Spekulative Lösung: Gegeben sei ein halb Dutzend Tiere, etwa der Löwe, der Haifisch, die Schlange, der Stier, das Pferd und der Mops. Abstrahiere dir aus diesen sechs Tieren die Kategorie: das "Tier". Stelle dir das "Tier" als ein selbständiges Wesen vor. Betrachte den Löwen, den Haifisch, die Schlange etc. als Verkleidungen, als Inkarnationen des "Tiers". Wie du deine Einbildung, das "Tier" deiner Abstraktion, zu einem wirklichen Wesen gemacht hast, so mache nun die wirklichen Tiere zu Wesen der Abstraktion, deiner Einbildung. Du siehst, daß das "Tier", welches im Löwen den Menschen zerreißt, im Haifisch ihn verschlingt, in der Schlange ihn vergiftet, im Stier mit dem Horn auf ihn losstößt und im Pferd nach ihm ausschlägt, in seinem Dasein als Mops ihn nur mehr anbellt und den Kampf gegen den Menschen in ein bloßes Scheingefecht verwandelt. Das "Tier" ist durch seine eigne Konsequenz, wie wir im Mops gesehen haben, dahin getrieben worden, sich zum bloßen Possenspieler herabzuwürdigen. Wenn nun ein Kind oder ein kindischer Mann vor dem Mops davonläuft, so kommt es nur noch darauf an, daß sich das Individuum nicht mehr dazu hergibt, die alberne Komödie zu spielen. Das Individuum X tut diesen Schritt auf die unbefangenste Weise von der Welt, indem es sein Bambusrohr gegen den Mops agieren läßt. Du siehst, wie der Mensch vermittelst des Individuums X und des Mopses Herr über das "Tier", also auch über die Tiere geworden ist und in dem Tiere als Mops den Löwen als Tier überwältigt hat.
In ähnlicher Weise besiegt die "Lachtaube" des Herrn Szeliga durch die Vermittlung des Pipelet und des Cabrion die Geheimnisse des heutigen Weltzustandes. Noch mehr! Sie selbst ist eine Realisation der Kategorie: das "Geheimnis".
"Sie ist sich selbst ihres hohen sittlichen Werts noch nicht bewußt, darum ist sie sich selbst noch Geheimnis."
Das Geheimnis der nichtspekulativen Rigolette läßt Eugen Sue durch Murph aussprechen. Sie ist "une fort jolie grisette" "eine sehr hübsche Grisette". Eugen Sue hat in ihr den liebenswürdigen, menschlichen Charakter der Pariser Grisette geschildert. Nur mußte er wieder aus Devotion vor der Bourgeoisie und aus höchsteigner Überschwenglichkeit die Grisette moralisch idealisieren. Er mußte ihrer Lebenssituation und ihrem Charakter die Pointe ausbrechen, nämlich ihre Hinwegsetzung über die Form der Ehe, ihr naives Verhältnis zum Etudiant Student oder zum Ouvrier Arbeiter. Grade in diesem Verhältnis bildet sie einen wahrhaft menschlichen Kontrast gegen die scheinheilige, engherzige und selbstsüchtige Ehefrau des Bourgeois, gegen den ganzen Kreis der Bourgeoisie, d.h. gegen den offiziellen Kreis.
7. Der Weltzustand der Geheimnisse von Paris
"Diese Welt der Geheimnisse ist nun der allgemeine Weltzustand, in welchen die individuelle Handlung der 'Geheimnisse von Paris' versetzt ist."
Ehe Herr Szeliga "indes" zu der " philosophischen Reproduktion der epischen Begebenheit übergeht", hat er noch "die im vorigen hingeworfenen einzelnen Umrisse zu einem Gesamtbilde zusammenzufassen
Es ist als ein wirkliches Geständnis, als eine Enthüllung seines kritischen Geheimnisses zu betrachten, wenn Herr Szeliga sagt, daß er zu der "philo- sophischen Reproduktion" der epischen Begebenheit übergehen will. Er hat bisher den Weltzustand "philosophisch reproduziert".
Herr Szeliga fährt in seinem Geständnis fort:
"Aus seiner Darstellung ergebe sich, daß die einzelnen abgehandelten Geheimnisse ihren Wert nicht für sich, jedes abgetrennt von dem andern haben, keine großartigen Klatschneuigkeiten seien, sondern daß ihr Wert darin bestehe, daß sie in sich eine organisch gegliederte Folge bilden, deren Totalitat das 'Geheimnis' ist."
In seiner aufrichtigen Laune geht Herr Szeliga noch weiter. Er gesteht, daß die "spekulative Folge" nicht die wirkliche Folge der "Mystères de Paris" sei.
"Zwar treten die Geheimnisse in unserm Epos nicht im Verhältnisse dieser von sich selbst wissenden Folge" (zu kostenden Preisen?) "auf. Wir haben es aber auch nicht mit dem logischen, offen daliegenden freien Organismus der Kritik zu tun, sondern mit einem g eheimnisvollen Pflanzendasein."
Wir überschlagen die Zusammenfassung des Herrn Szeliga und gehen sogleich zu dem Punkte über, der den "Übergang" bildet. Wir haben an Pipelet die "Selbstverspottung des Geheimnisses" erfahren.
"In der Selbstverspottung richtet das Geheimnis sich selber. Damit fordern die Geheimnisse, sich selbst in ihrer letzten Konsequenz vernichtend, jeden kräftigen Charakter zur selbständigen Prüfung auf."
Rudolph, Fürst von Geroldstein, der Mann der "reinen Kritik", ist zu dieser Prüfung und zur "Enthüllung der Geheimnisse" berufen.
Wenn wir auf Rudolph und seine Taten erst später, nachdem wir Herrn Szeliga für einige Zeit aus dem Gesicht verloren haben, eingehn werden, so ist so viel vorauszusehn und kann gewissermaßen vom Leser geahnt, ja unmaßgeblicherweise vermutet werden, daß wir an die Stelle des "geheimnisvollen Pflanzendaseins", welches er in der kritischen "Literatur-Zeitung" einnimmt, ihn vielmehr zu einem " logischen, offen daliegenden, freien Glied" im "Organismus der kritischen Kritik" machen werden.