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Herr und Frau de Sprée fuhren, in die weichen Kissen ihrer Viktoria gelehnt, vom Bahnhofe, den Fluß entlang, dem Schlosse zu, dessen rötliche Mauer von Efeu umrankt ist.
Die Vollblutpferde griffen weit aus, Schaum an den Gebissen; im Rücken des Kutschers und des eleganten Kammerdieners, die unbeweglich auf dem Bock saßen, glänzten die emaillierten Livreeknöpfe wie Augen.
Herr und Frau de Sprée schwiegen unter diesem metallischen Blick; beide waren ernst, er in seiner gewohnten Würde, wie es seinem Range eines Deputierten und Millionärs, der die rote Rosette trägt, geziemt, sie, weil die ersten Monate einer mühseligen Schwangerschaft ihre blonde Schönheit ermattet und ihren frischen Teint getrübt hatten.
Ein Geruch, den der Wind herbeiträgt, läßt Herrn de Sprée die Nase rümpfen.
Auch Frau de Sprée hat den seltsamen Duft verspürt; ihre Nüstern weiten sich, aber ohne Ekel, wie in einem sinnlichen Vergnügen.
Sie errötet leicht und sagt:
»Das riecht – wie Kohlsuppe.«
Der Herr Marquis, sehr würdevoll, antwortet mit kühlem Phlegma:
»Ja, es verpestet die Luft! Ich möchte doch wissen, wer sich erlaubt, so nahe am Schlosse diese übelriechenden Dinge zu kochen!«
»O,« sagte Frau de Sprée, »findest du wirklich, daß es so übel riecht?«
»Puh,« machte er, »mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke! Weiß Gott,« fuhr er plötzlich fort, »das sind diese Zigeuner, diese Landstreicher, die wir hier nahe am Schloßgitter gelagert sehen. Wie haben es meine Leute zulassen können, daß sie ihre unreinlichen Mahlzeiten vor dem Gitter bereiten? Weiß Gott, was in diesem Topf auf den zwei Steinen kocht, welches faulende Fleisch, welches verschimmelte Gemüse. Es tut mir deinethalben äußerst leid, nimm dein Riechfläschchen, Teuerste.«
Frau de Sprée errötete noch mehr, dann wurde sie blässer und neigte sich schmeichelnd zum Ohre ihres Gatten:
»Du findest es gewiß … – Ich schäme mich ja … Aber, stelle dir vor, ich habe Lust, ganz unsinnige Lust, die Suppe dieser Leute zu verkosten!«
Herr de Sprée fuhr entsetzt auf und starrte seine Frau an, um sich zu vergewissern, ob sie bei Sinnen sei.
»O, schlage es mir nicht ab,« sagte sie mit flehender Stimme, »ich weiß, daß ich etwas ganz Unvernünftiges verlange. Aber es ist ein Gelüste, wahrhaftig, ein Gelüste, und du weißt, daß der Arzt dir empfohlen, keinem zu widersprechen, das ich an den Tag legen sollte.«
»Aber, Teuerste, es ist wirklich nicht möglich … Vielleicht hast du Hunger, dann will ich, sowie wir zu Hause sind, aus unserem Koffer den kleinen Speisevorrat holen, einige Sandwiches und etwas spanischen Wein.«
»Nein, nein,« sagte die junge Frau eigensinnig, »ich will keine Sandwiches, und ich habe absolut keinen Hunger. Ich habe nur ein Gelüste, diese Kohlsuppe zu essen, und zwar sofort!«
»Bedenke nur,« lenkte Herr de Sprée ein, entsetzt bei dem Gedanken, daß die metallenen Augen sie ansahen und daß Kutscher und Kammerdiener etwas hören könnten, »bedenke, daß unsere Köchin dir in kaum zehn Minuten eine ganz vortreffliche Kohlsuppe brauen kann.«
»Nein, nein,« wiederholte mit verzweifelter Hartnäckigkeit Frau de Sprée, »gerade diese Suppe da will ich und keine andere. Ich bitte dich sehr, lasse halten. Sieh nur, jetzt sind wir gerade bei diesen Leuten; wirkliche Zigeuner sind es mit schwarzen Schöpfen und mit halbnackten Kindern. Diese Alte da mit dem Aussehen einer Hexe, die den Topf abschöpft, muß ganz besondere Kochrezepte wissen. Ich versichere dir, daß diese Kohlsuppe gar keinen gewöhnlichen Geruch hat; sie duftet ganz wunderbar, es dringt mir bis ins Herz, ich würde sie stehlen, wenn ich sonst nicht dazu kommen könnte! Bitte, bitte, Gaëtan, laß mich mein Gelüste befriedigen!«
Aber Herr de Sprée schrie dem Kutscher zu:
»Rasch, nach Hause!«
Er erhaschte noch die Hände seiner Frau, die sich wehrte und in voller Fahrt vom Wagen springen wollte.
»Sei doch vernünftig, ich bitte dich darum! Nimm dich zusammen! Kannst du billig von mir verlangen, daß ich diese Lumpenkerle, diese Vagabunden und Bettler, um ihre Suppe bitten lasse? Wenn ich deiner Laune jetzt nachgäbe, wärest du nachher die erste, die es mir vorwirft. Nun, da sind wir schon!«
»Ich werde krank werden,« sagte halb ohnmächtig die junge Frau, »schwer krank, und du bist schuld daran.« Die Vorzeichen einer Nervenkrise verzerrten ihr Gesicht und sie rang die Hände. »Gott, ist es möglich, daß du mir aus Hochmut, aus Männereitelkeit eine so einfache Sache verweigerst? Aber du liebst mich nicht, das sehe ich, du hast mich nie geliebt!«
»Gilberte, ich bitte dich, nimm Vernunft an! Das ist unschicklich vor unseren Leuten!«
»Ah, was liegt mir daran, wenn man mich hört! Ich möchte es ganz laut hinausschreien! Wenn doch meine Mutter da wäre! Ich werde es ihr schreiben. Ich reise ab, man soll mich wieder zum Bahnhof bringen! Eine solche Tyrannei ertrage ich nicht, ich will zu meiner Mutter zurückkehren!«
»Es liegt dir also wirklich daran,« stammelte Herr de Sprée, der mit seinen Vernunftgründen zu Ende war, »diese schmutzige Brühe zu kosten? Gut, du magst deine Kammerjungfer hinschicken, diese Zigeuner um ihre … Suppe zu bitten, wenn du es schon Suppe nennen willst. Ich für meinen Teil lehne jede Verantwortung ab. Und wenn diese … Suppe« – er sprach das Wort mit einem Schütteln des Ekels aus – »dich vergiftet und dir Üblichkeiten verursacht, so wirst du es nur dir zuzuschreiben haben.«
»Gut,« sagte sie, »vielleicht hast du recht. Gib mir deinen Arm. Gehen wir beide wie gute Gatten und Verliebte die Allee entlang bis zum Gitter. Wenn ich Justine mit einer Schale hinschicke, würden die Leute sie wahrscheinlich auslachen und ich bekäme die Suppe kalt. Sehen wir ihnen zu, wie sie essen. Sie müssen sehr schmutzig sein, möglicherweise wird der Anblick mich anwidern und mein Gelüste vertreiben.«
Wohl oder übel mußte Herr de Sprée sich nun in Bewegung setzen. Sie gingen auf die Gruppe von Zigeunern zu, die, im Straßenstaube sitzend, ohne Teller aßen, indem sie ihre Holzlöffel in den großen Kochtopf tauchten und den Inhalt gierig verschlangen.
Mit verschlagener Frechheit sahen sie Herrn und Frau de Sprée an; der Häuptling, ein schöner Mann von olivenfarbenem Gesicht, zeigte lächelnd seine Wolfszähne.
Zwei Frauen, rechts und links von ihm, säugten Kinder. Die eine davon, die ältere, hatte böse Augen; die andere, deren Wange von einer Narbe durchzogen war, hielt den Blick gesenkt.
An diese wandte sich Frau de Sprée in spanischer Sprache, die sie sehr gut beherrschte.
Herr de Sprée wurde rot vor Beschämung, als er die erstaunten Augen der Zigeuner, das spitzige Lächeln des Häuptlings sah. Bei alledem war er voll Bewunderung dafür, wie rasch und ohne Schwierigkeit sich seine Frau mit diesen Leuten verständigte.
Die junge Zigeunerin, die sie angesprochen hatte, erhob sich mit einem Sprung und lief zum Wagen.
Sie brachte von dort eine Schale, die sie mit dem seltsamen Gebräu anfüllte und der schönen reichen Dame hinhielt, wobei sie sie ein wenig unterhalb der Taille ansah.
Als nun Frau de Sprée die volle Schale mit der so sehr ersehnten Suppe hatte, wurde sie ganz bleich, als hätte die Erfüllung ihrer Sehnsucht ihr eine allzu heftige Freude verursacht, oder als wäre das Verlangen plötzlich gewichen und hätte sich in Ekel verkehrt.
Aber langsam führte sie, zum größten Erstaunen des Herrn de Sprée, dem ein wenig übel wurde, die Schale an ihre Lippen und leerte sie dann mit einem Zug.
Dann nahm sie eines ihrer Brasseletts ab, legte es um das Gelenk der Zigeunerin und lief fort, die Schale zur Erde werfend, daß sie zerbrach.
»Gilberte, Gilberte!« flüsterte Herr de Sprée, der hinter ihr her eilte. »Was hast du? Bist du krank? Wie hast du das nur trinken können? Ist es möglich, daß du daran ein so unerklärliches und unnatürliches Vergnügen gefunden hast?«
Frau de Sprée wandte ihm ihr Gesicht zu, das von einem verspäteten Abscheu verzogen war.
»Laß, dir erklären. Sobald ich die Schale in meinen Händen hatte, war mein Gelüste plötzlich vorüber, ja sogar ... Allein, du verstehst wohl, ich wollte, da ich einmal so weit gegangen war, diese armen Leute nicht beleidigen, nicht zurückstoßen, was sie mir guten Willens dargereicht hatten. So trank ich, trotz meines Widerwillens, um sie nicht zu erniedrigen, und auch – um zu wissen, wovon sich diese Armen nähren, während ich nur ausgesuchte und ganz besonders feine Sachen speise. Ich kann dir nicht auseinandersetzen, welches traurige, zarte, und ich möchte sagen beschämende Gefühl mich dazu getrieben hat. Ich weiß nur, daß das Ding schauderhaft zu trinken war. Jetzt laß mich allein!«
Herr de Sprée sah sie, ihr Taschentuch an die Lippen gepreßt, mit dem flüchtigen und leichten Schritt einer Frau davoneilen, die ihr Gelüste befriedigt hat und es, trotz allem, nicht zu sehr bedauert.
»Wahrhaftig,« murmelte er, »das Frauenherz ist doch unerforschlich!«