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Jouette, der Pfarrer von Boulaine-en-Brie, war ein Original. Er benützte das Bicycle, um in Poussage, dem Nachbardorfe, das ohne Pfarrverweser war, die Messe zu lesen. Man behauptete sogar von ihm, daß er den Sterbenden die heilige Wegzehrung in einer Büchse brachte, die am Gouvernail seines Rades befestigt sei und daß die Signalklingel bei ihm das Glöckchen des Chorknaben ersetzen müsse. Es war öffentlich bekannt, daß er, als ihn einmal eine Bande angeheiterter Radfahrer provozierte und zu einem Wettrennen herausforderte, bei diesem improvisierten Match mit sechs Längen Vorsprung als Sieger bei den ersten Häusern von Boulaine ankam, wo ihm eine Ovation bereitet wurde. Er war ein ausgezeichneter Mensch, ein wenig rauh, ein wenig »übergeschnappt«, wie die alte Huruge, seine Magd, sagte, aber durch und durch brav, gemütlich, einfach und rechtschaffen, wie ein Stück Hausbrot.
Freilich, er war allzusehr vernarrt in alten Kram und in historische Möbel. Sammeln, das war sein Wahn, und alle Trödler der Gegend kannten ihn. Das Pfarrhaus war voll von alten Büfetts, von Sesselgestellen im Stile Louis XV., von Zinnkrügen, von Feuerböcken aus geschmiedetem Eisen, von »einem Haufen schmutzigen Gerümpels«, sagte die Huruge. Niemand konnte ihm das nachmachen, wie er zu einem Bauer kam, das alte, seltene Objekt lauernd aufs Korn nahm und mit den gewundensten Finessen den Preis zu drücken wußte. Sein Genuß stand, wie bei allen echten Sammlern, im umgekehrten Verhältnis zum Preise des erworbenen Stückes. Das geschah übrigens nicht aus Geiz; wenn er ein Ding, das zehn Franks wert war, mit zehn Sous bezahlt hatte, so profitierten bei diesem Handel immer seine Armen die ganze oder mindestens die halbe Differenz.
Eines Abends kam er erst spät zum Essen, zum großen Verdruß der Magd, die jeden Versuch der Selbständigkeit als eine persönliche Beleidigung betrachtete. In seiner Begleitung kam ein Bauer, der in den Armen einen kleinen alten Rohrstuhl trug, dessen unterer Teil ein Kästchen bildete und dessen Rücken und Beine sehr fein modelliert und mit allerhand aus dem Holze selbst geschnitzten Buketts und Blumen geziert waren.
»Stellen Sie es nur dorthin, mein Lieber!« sagte er zu dem Bauer, und da der Tisch bereits gedeckt war, schenkte er ihm ein großes Glas Wein ein und hielt es ihm hin; eine Freigebigkeit, die Huruge mit Unwillen ansah. Als der Mann fort war, rieb Jouette sich die Hände, betastete, streichelte den Sessel liebevoll und sagte:
»Ist das nicht ganz hübsch, ganz reizend? Und Sie, Huruge, empfinden Sie die Schönheit dieses Möbels? Bewundern Sie doch die feine Kurve der Füße, die Schweifung der Umrisse! Wissen Sie, was ich dafür gezahlt habe? Fünfzehn Sous, meine Gute, fünfzehn Sous, und es ist seine fünfzig Franks wert! Nicht einmal beschädigt ist es; ich brauche keinen Centime für Reparatur auszugeben. Und der reinste Stil Louis XV.!«
Huruge verzog den Mund, doch aus Respekt vor dem Geldwert des Gegenstandes, betastete sie ihn mißtrauisch, klopfte mit kleinen Schlägen darauf herum.
Bei der leichten Erschütterung sprang der geflochtene Sitz plötzlich unter ihrer Hand empor; man sah das Innere des Kästchens und oben eine Öffnung zum Draufsetzen, kreisrund wie ein Vollmond.
»O!« machte sie entrüstet. »Aber das ist ja ein Leibstuhl!«
»Na, was haben Sie denn geglaubt, daß es ist?« gab der Pfarrer mit behaglichem Lachen zurück.
»Na ja!« knurrte sie. »Na ja!«
Und aus der Küche, wohin sie sich zurückgezogen hatte, hörte sie Tonette noch brummen:
»Jetzt wird er bald auch noch die Nachttöpfe zusammenklauben! So ein Wahnsinn! Verrückte Idee!«
Während des ganzen Diners hatte der Pfarrer nur Augen für den kleinen Sessel, der wirklich entzückend war und so zart in seiner naiv-zynischen Bedeutsamkeit, daß er keine schamlosen oder obszönen Gedanken wachrief, sondern eher etwas Rührendes, wie etwa die Vorstellung der Schwächlichkeiten eines weiblichen oder kindlichen Körpers, etwas, was als Notdurft unseres armen Menschendaseins am Ende nur natürlich war. Es war eben nicht eines jener plumpen unanständigen Geräte, die dem Bedürfnis von Männern entsprechen, sondern ein kleines diskretes Ding, das trotz seiner niedrigen Bestimmung auch Grazie und Niedlichkeit bewahrte, das man, den Blick in die Vergangenheit gewendet, in dem eleganten Toilettezimmer einer Marquise hinter einer spanischen Wand verborgen sah, das, wenn es geöffnet war, mit seinem Auge gleich der Scheibe des Vollmondes nie etwas anderes erblickt hatte, als weiße delikate Rundungen, die Fleischpölsterchen einer vornehmen Dame oder einer Kammernymphe, höchstens eines kleinen Abbés, den eine Unpäßlichkeit überfallen hatte, aber niemals, ganz gewiß niemals die massive unverschämte Nacktheit gewaltiger Edelherren oder Finanzleute. Das arme kleine Gerät, das so niedrigen Funktionen dienstbar gewesen war und doch nichts Gemeines an sich hatte, zeigte die neckische Grazie eines Pagen und besaß in dem Schnitzwerk von lächelnden Blumen, in der Geschmeidigkeit des Baues etwas von jener künstlerischen Schönheit, die alles über das gemeine Irdische hinaushebt.
Beim Dessert war der Pfarrer häufig zerstreut. Er konnte die Dummheit der Bauern nicht begreifen, die ihn einen so famosen Kauf hatte machen lassen. Er pries seinen Herrgott dafür aus dankbarem Herzen und las ergebenen Sinnes sein Brevier, bevor er schlafen ging. Als er im Bett war, konnte er nicht sogleich einschlafen. Der kleine Stuhl ging ihm im Kopf herum, und er mußte sich mit Mühe bezwingen, daß er nicht auf der Stelle wieder aufstand und mit der Kerze in der Hand hinging, das Ding noch einmal zu betrachten. Die Furcht, daß Huruge ihn hören könnte, hielt ihn zurück; auch sagte er sich, daß solche Gedanken, diese Hingabe an ein irdisches Ding, und wäre es auch noch so seltsam und kostbar, eitel seien. Langsam glitt er in den Schlaf hinüber, aber er hatte da bewegte, zusammenhanglose Träume, jähe Erscheinungen, grelle Empfindungen, die ganze Wirrnis und Beklemmung eines Alpdruckes, dessen Seele und Mittelpunkt der kleine Leibstuhl war, während Strahlungen nach allen Seiten von ihm ausgingen oder zu ihm führten. Immer fand ihn der Pfarrer wieder als stumme Figur auf allen Zickzackpfaden und Kreuzwegen des Dramas, das er unbewußt im Geiste durchlebte.
Unvernünftige Logik des Traumes! An einem Faden, der hundertmal riß und sich hundertmal wieder knüpfte, rollte sich in der Dunkelkammer seines Gehirns irgendeine verwirrte und seltsame Handlung mit vielerlei Peripetien ab. Ein entzückendes Gesicht erschien ihm, mit funkelnden Augen und rosigem Lächeln, den Kopf gepudert, ein Pflästerchen am Auge, ein anderes am Mundwinkel; das reizendste Marquisengesichtchen, das man sehen konnte. Er zweifelte keinen Moment, daß dies die Pompadour war. Wiewohl er sie nie gesehen hatte, erkannte er sie. Ihr Busen war entblößt, um den Hals trug sie ein Perlenkollier auf einem Bande von rotem Samt. Ein Reifrock aus blaßblauer Seide mit rosaroten Buketts brachte ihren bezaubernden Wuchs zur Geltung. Und es bestand, ohne daß man wußte wie, eine geheime Beziehung zwischen ihr und dem Gerät, das für ihren Gebrauch gearbeitet worden war, und das, von der Zaubermacht des Traumes plötzlich verwandelt, nun zu einem Leibstuhl aus Rosen- und Zitronenholz wurde, mit Inkrustationen von Silber und von Lack. Hob man den Deckel, so zeigte sich ein Spiegel, von Rosenbuketts umrahmt, der im voraus schon den Reflex der hübschesten Rundungen der Welt ahnen ließ; und das intime Gefäß im Innern war von Gold, anstatt von Porzellan.
Durch welche unvernünftigen Übergänge und Abwege kam es, daß plötzlich der Schauplatz verschwand, das Ankleidezimmer, wo die Marquise einen Augenblick erschienen war und hinter ihr das schattenhafte Profil einer hübschen Kammerjungfer, einem Kellerraume Platz machte, in dem Jouette, gejagt von namenloser Angst, mit gesträubten Haaren und Schweißtropfen auf der Stirne, floh, in seinen Armen, wie ein Kind, das man retten will, den Leibstuhl haltend, in dem, er wußte es wohl, die Juwelen der Madame de Pompadour versteckt waren? Warum kam er dann keuchend auf einen ungeheuren Platz hinaus, wo in einem greulichen Zwielicht Tausende von Köpfen durcheinanderwogten, während das Wort: »Schreckensherrschaft!« wie eine traurige, erstarrende Totenglocke in ihm klang? Wieso geschah es, daß Menschen in Jakobinerjacken, mit Lanzen bewaffnet, ihm den Stuhl, den er noch immer mit beiden Armen festhielt, entrissen? Und war es möglich, daß er ihn nun wiedererkannte, maßlos vergrößert, auf ein Gerüst gehoben und so seltsam aufgestellt, daß die innere Fläche hoch in der Luft mit ihrem runden Ausschnitt das Loch der Guillotine an den stahlblauen Himmel zeichnete?
Die Guillotine! Die Guillotine! Es war doch klar und einfach! Wie hatte er es nur nicht früher merken können! Und eine Stimme, düster und unendlich wie das Meer, das Geflüster jenes tausendköpfigen Volkes, murmelte ganz still: »Man wird das Königtum enthaupten!« Auf einem elenden Karren stehend, mit gebundenen Händen, kam Madame de Pompadour, vom Holpern des Wagens geschüttelt, wie von dem Rollen eines Schiffes, hoch über dem Gewoge dieser Köpfe. Aber wiewohl es doch die Marquise selber war, hatte sie nicht mehr das zarte Gesicht und den feinen gepuderten Kopf von vorhin. Der zarte Körper im blaßblauen blumenbestickten Kleid hatte sich in den eines grobknochigen Mannweibes verwandelt, mit einer weißen, viehischen Fratze und dem Lächeln einer Dirne. Sie stieg ohne Hilfe die Stufen des Gerüstes empor, und als sie das seltsame Instrument erreicht hatte, hob sie vor allem Volk mit einem Griff ihre Röcke auf und schickte sich an, in die runde Öffnung der Leibstuhl-Guillotine nicht ihren Kopf, sondern ihr Hinterteil zu stecken, dessen Rund eine Sekunde lang da aufleuchtete und dann plötzlich zum Himmel aufflog und nichts anderes war, als der Mond selber, der über dem nun wieder öde, leer und lautlos daliegenden Platze schwebte, wo Abbé Jouette allein noch weinte; er saß auf dem kleinen Stuhl, der seine ursprüngliche Form wieder angenommen hatte und streckte verzweifelt seine Hände zu diesem obszönen und ironischen Mond empor, der mit dem blassen Gold seines Lichtes den sternenlosen nächtigen Himmel erfüllte. Ein bitteres Grinsen lief darüber hin, eine Wolke verhüllte den Mond, und in einem Dampf von Schwefel und einem großen roten Blitz stieg Satan mit dem Leib eines Bockes empor, stampfte mit dem Fuß auf die Erde und verschwand wieder so schnell, wie er erschienen war. Der jähe Schreck fuhr dem Pfarrer so heftig in die Glieder, daß er erwachte. Es war Tag.
Voll Scham schlug er mehrmals hintereinander das Kreuz, tauchte in sein Waschbecken und schüttelte in einem lang ausgehaltenen Prusten alles Unreine und Schreckliche seiner Visionen von sich ab. Dann versenkte er sich ins Gebet, bevor er seine erste Messe lesen ging. Als er zurückkam, ließ er mit einem schweren Seufzer des Bedauerns den Leibstuhl, ohne auch nur einen Blick auf diese mehr oder weniger unschuldige, aber doch heimtückische Ursache sündiger Gedanken zu werfen, von Huruge in das Armenhaus der Gemeinde bringen.