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IV.

In der kleinen, aus drei Räumen bestehenden, wohlverriegelten möblierten Wohnung der Rue de Provence eingeschlossen, dehnte und reckte sich Blacourt unter der spitzenbesetzten Decke, dem mit Eiderdaunen gefüllten Federbett. Durch die Fugen der Fensterläden, durch die sorgfältig zugezogenen Vorhänge aus goldgelber Seide stahlen sich schmale Lichtstreifen und füllten dieses Kokottengemach, in dem der Geck sein Maulwurfdasein führte, mit einem Hauch von frischer Luft und Freiheit.

Angst und Grauen hielten ihn seit Tinets letzter Haussuchung hier eingesponnen. Er hatte die Nachricht durch Louchard empfangen, der einen letzten Betrag aus diesen so lange Zeit verschlossen gewesenen Taschen zu locken hoffte. Zur Bestürzung Blacourts, der sich wohlverborgen wähnte, war eines Abends das verschlagene Gesicht des Portiers in der vorsichtig geöffneten Tür erschienen: Blacourt schulde ihm eine große Opferkerze! Er hatte die Wohnungstür seines Mieters gegen eine Rotte Nationalgardisten verteidigen müssen, und wenn auch etliche Silberkasetten verschwunden waren, so waren die Möbel doch unversehrt, und er hatte die Wohnung wieder in Ordnung gebracht. In hinterlistigen Worten bot er seine Dienste an und beschwichtigte Blacourts klägliches Jammern durch die Aussicht auf noch schlimmere Gefahren. Man kannte seinen Schlupfwinkel. Ein Wort von Tinet ... und Grande-Roquette war ihm sicher! ...

Das beste wäre, sich einem braven Manne wie ihm, Louchard, anzuvertrauen, der ihm dazu verhelfen würde, sich unbemerkt aus dem Staube zu machen ... Paris würde für Leute seines Schlages nachgerade ungesund. Louchard berief sich auf die Du Noyers, die schleunigst unter seiner Führung, er als Arbeiter, die Frau als Wäscherin verkleidet, in einem mit schmutziger Wäsche beladenen Wagen durch die Porte Vincennes geflohen waren. Es war höchste Zeit gewesen! Eine Stunde später, und sie wären erwischt morden ... Dabei verschwieg er nur, daß dasselbe Tor im Gegenteil eine Stunde nachher für den Verkehr geöffnet worden war, ohne daß man tagsüber einen Passierschein abverlangt hätte; dasselbe war bei den anderen östlichen Toren der Fall, und viele Pariser hatten den freien Ausgang sich zunutze gemacht. Louchard hatte, von dieser Maßregel vorher unterrichtet, die letzten Stunden vor der Öffnung des Tores benutzt und die Flucht des stadträtlichen Ehepaares beschleunigt, um sich, bevor der Weg frei ward, ein reichliches Lösegeld zu sichern. Er beschränkte sich darauf, Blacourt anzudeuten, daß dieser der Gemeinde verdächtigt, – Tinet mußte seinen Steckbrief bei den Toren angegeben haben, – um denselben Preis von fünfhundert Francs ...

Doch ganz in der Gewalt seiner wilden, unbefriedigten Leidenschaft für Maddalena stehend, empfand er bei dem Gedanken, als Geisel dienen zu sollen, kaum ein Gefühl der Angst. Er hatte eine gute Haltung bewahrt ... Tinet? Die Kommune? Er brauchte nichts zu fürchten, er besaß mächtige Freunde. Louchard hatte in seiner Enttäuschung zuerst vermutet, daß der Geiz ... hatte dreihundert Francs verlangt ... Doch Blacourt gedachte der nackten Italienerin, des herrlichen Körpers in dem durchsichtigen Hemd; so hatte er Maddalena gefunden, als er am Morgen bei ihr eingedrungen war, sie noch einmal anzuflehen ... Seine Begierde trug den Sieg davon, er schickte den verdutzten Louchard fort.

Seitdem hatte er in beständigen Qualen gelebt; die sinnverwirrende Nähe des schönen Mädchens wurde ihm zur fortwährenden Folter, und doch wagte er nicht auszuziehen, aus Furcht, Malonskys Protektion zu verlieren. Er ging nur bei Nacht aus und verbrachte die Tage damit, diese rauschenden Röcke zu umschleichen, deren Duft von Nelken und zartem Frauenfleisch ihn zu wilder Begierde stachelte. Er spielte zahllose Kartenspiele, deren Einsatz Küsse für ihn, Juwelen für sie waren: flüchtige Küsse aufs Haar oder in den Nacken, gierig geforderte Juwelen. Der Muskateller schäumte in den Gläsern; die Säckchen von Parfüm und Atlas in den offenen Läden durchdufteten die Wäschestöße, die durchbrochenen Strümpfe, die gestickten Beinkleider, all jene zarten Dinge, die ihre Haut berührten und von der Weichheit der Umrisse, den Geheimnissen des weiblichen Körpers erzählten. Sie kleidete sich vor Blacourts Augen an und ergötzte sich daran, ihn in Qualen der Wollust sich verzehren zu sehen, von der Drohung des Polen gezähmt wie ein wildes Tier von dem Blicke seines Bändigers. Beim leisesten Geräusch versteckte sie ihn und vergaß ihn dann in irgend einem Schranke. Zwanzigmal schon war er entschlossen gewesen, die zauberhafte Hexe zu verlassen, die Stadt zu fliehen, wo er sich verloren fühlte, und sich nach Versailles zu retten, wo Ordnung, Sicherheit und Vergnügen herrschte. Doch immer wieder kehrte er zurück und blieb.

Wenn der Abend hereinbrach, kam zu regelmäßiger Zeit Malonsky in zerrissenen, verstaubten Kleidern aus Neuilly. Blacourt mußte der Toilette seines besten, geduldeten und verhaßten Freundes beiwohnen. Dann begaben sich die drei, glänzend und strahlend, in ein Nachtrestaurant, wo sie einige Offiziere der zahllosen Generalstäbe mit ihren Gefährtinnen trafen. Gehorsam erwiesen die Boulevarddirnen ihren neuen Gebietern die verlangten Liebkosungen: es waren waghalsige, muskulöse Burschen, keine Zierpuppen aus Papiermaché, sondern tapfere Kerle, die lustig zu kneipen verstanden!

Und dann begann die Runde in verrufene Lokale und Kaffeehäuser, bis die von dem Zentralkomitee beorderten Patrouillen die Läden schließen und die Lampen löschen ließen. Hinter den verschlossenen Türen einer Spielhölle wurde die Nacht beendet. Bei diesen Partien war der Einsatz bares Geld, wenn die Karten schräg beschnitten waren. Man traf hier eine ganze Bande von berüchtigten Falschspielern. Je mehr Malonskys Börse sich füllte, je leerer wurde Blacourts Portemonnaie. Zu seiner Verwunderung sah er Magdalenas Börse mit einem Reichtum an Gold gefüllt, der sich beständig aus einer unsichtbaren Quelle zu erneuern schien. Kein Zweifel, ihr Leben barg ein Geheimnis. Sie mußte von hoher Geburt sein, vielleicht eine Prinzessin? ...

Zuweilen verschwand die Italienerin plötzlich, manchmal wieder empfing sie heimliche Besuche. Eines Morgens hatte Blacourt, als er das Ohr an das Getäfel der Tür gelegt, deutsch sprechen gehört. Ein schlesischer Jude, hatte sie nachher unbefangen erklärt, der ihr Seidenreste zum Kaufe angeboten hatte.

Verdrießlich zog er die behaarten Beine aus dem Bett und kleidete sich in trübster Laune an. Seit zwei Tagen war Maddalena wieder einmal verschwunden. Von Malonsky keine Nachrichten. Gestern abend hatte Blacourt, um sich in seiner Vereinsamung zu trösten, mehr als gut war, getrunken. Wenn die Teufelin in Neuilly bei diesem Raubgesellen war? Ein Schauer wütender Eifersucht überrieselte ihn, wenn er sich ihre Umarmungen ausmalte. Ob er ihr nachging? ... Seine Eifersucht wurde von der Angst übertönt. Schlimmer Ort, mit seinen Trümmerhaufen und seinem Hagel von Kugeln und Granaten ... Er fühlte ein Zittern durch seine Glieder laufen.

Schon einmal hatte er Maddalena bis zu den Vorposten verfolgen wollen. Bis zu den Wällen schon hatte er sich mehr als zehnmal zu Boden werfen und längs der Häuser hinschleichen müssen. Wenige Schritte entfernt, auf der Place de Courcelles, hatte er eine alte Frau, die ihren Hund spazieren führte, tot umsinken gesehen. Um sie her breitete sich eine Blutlache, und das Hündchen, das unter wütendem Gebell zu entfliehen suchte, erdrosselte sich an der von der erstarrten Hand gehaltenen Leine. Bei dem weniger als die übrigen exponierten Tor Bineau hatte er vergeblich Malonskys eigenen, in verschiedenen Farben abgestempelten Passierschein vorgezeigt. Der Wachtposten, welcher vorgetreten war, hatte das Papier geprüft und ihm zurückgegeben mit den barschen Worten: »Man darf nicht durch, das rote Siegel fehlt!« Vergeblich hielt Blacourt es ihm vor die Nase und beschwor die Vortrefflichkeit des Geleitbriefes, der Betrunkene hob das eine schwere Augenlid mit dem fruchtlosen Versuche, zu lesen, und wiederholte: »Man kann nicht durch, fehlt das rote Siegel!« Blacourt rief einen der bei der Zugbrücke umherlungernden Nationalgardisten und verlangte, vor einen Offizier oder einen Unteroffizier geführt zu werden. »Ist aber niemand da!« – »Der Korporal?« – »Schläft.« – »Der Sergeant?« – »Ist krank.« – »Der Hauptmann?« – »Wissen nicht, wo er ist.«

»Teufel«, hatte Blacourt zu sich gesagt, »das Tor ist gut bewacht ... Hinaus geht's nicht, aber herein? ... Auf was warten sie in Versailles?« So war er stehen geblieben, hatte Kehrt gemacht und schleunigst die geschützte Zone, seinen Schlupfwinkel in der Rue de Provence, wieder aufgesucht. Er kleidete sich unlustig an; der leuchtende Tag dünkte ihn trübe, denn Maddalena war fort. Die Leute hatten ihn gerupft und machten sich nun über ihn lustig. Und gestern bei der Heimkehr hatte er, um das Pech vollkommen zu machen, Tinet auf einem ihm wohlbekannten Pferde durch die Straße reiten sehen: er hätte doch Louchards Rat befolgen sollen. Was fiel ihm nur ein, hier seine Zeit zu vergeuden? Er wußte kaum mehr, wie er lebte. Auf einer Arbeitskassette lag ein Kalender. Er blickte hinein. Schon der 20. April! Das war doch dumm! Alle seine früheren Freunde hatten sich schon längst in Sicherheit gebracht und führten in Versailles, in Biarritz, in Cannes ein Leben voll Lust und Freuden.

Heftige Schläge erschütterten die Tür und versetzten ihn in tödliche Angst. Tinet! – Er stellte sich tot, hielt den Atem an. »Blacourt! Dicker Junge!« – das war Malonskys gebieterische Stimme. Er atmete auf und öffnete mit noch bebender Hand.

»Vorwärts! Ich entführe Sie. Wir frühstücken in Neuilly.«

Er wurde bleich und stotterte ein paar Worte. Doch der andere fuhr fort:

»Maddalena läßt Sie einladen. Ein auserlesenes Menü und Weine!« ... Er schnalzte mit der Zunge und lächelte: »Und als Tafelmusik: Bum! bum! zss! ... Sie fürchten sich doch nicht?«

»Aber ...« wollte Blacourt einwenden.

»Um so besser! man gewöhnt sich an diesen Lärm. Gewohnheitssache. Nehmen Sie Ihren Rock und Hut ... Zum Teufel! Sie vergessen ja die Krawatte!«

Mit fliegenden Händen suchte Blacourt das Seidenband zu schlingen, das er sonst so meisterhaft in tadellose Falten zu knüpfen verstand. Er war außer sich zwischen der Freude, bald wieder in der Nähe des Geschöpfes, ohne das er nicht leben konnte, weilen zu dürfen, und dem Grauen, zum erstenmal der Gefahr, der er sich bisher immer noch zu entziehen gewußt, entgegenzugehen, hin und her gezerrt. Schweigend gehorchte er, Blicke des Hasses auf Malonsky schleudernd, wenn dieser ihm den Rücken drehte, und säuerlich lächelnd, sobald er ihn ansah. Unter dem Blicke dieser kalten Augen sollte er der Gefahr trotzen!

Unten stand, mit zwei alten Mähren bespannt, das Phaëton, welches Dombrowskis Generalstab als Equipage diente. Blacourt stieg ein und bemerkte dabei mit Trauer und Angst, daß der Lack sich ablöste und eine Kugel in das Kissen gedrungen war. Die Pferde in Tinets Besitz, der Wagen im Dienste des Polen, – es stand geschrieben, daß die ganze vor den Requisitionen der Belagerung gerettete Equipage eine Beute des verfluchten Aufstandes werden sollte! Der Pole nahm die Zügel aus den Händen eines jungen Eleven der Nationalgarde, der in blauem Käppi und weißen Gamaschen, in Bluse und Hose aus grauer Leinwand gekleidet, das Amt eines Grooms versah. Malonsky berührte die Rücken der beiden hinkenden Pferde mit der Peitsche und sagte zartfühlend:

»Hätte ich doch Ihre prächtigen Pferde!«

Die Rue Royale, der Concordienplatz, die Champs-Elysées flogen vorüber ... Über den Wipfeln der Bäume der Allee tauchte der gigantische Portikus des Triumphbogens auf. Ruhig gingen die gelangweilten Müßiggänger, die geschäftigen Passanten ab und zu. Bis hierher ging alles gut. Beim Rondel eine Linie von Wachen ... Die Straße wurde leerer und öder. Die Häuser mit den geschlossenen Türen und Fensterläden, die gesperrten Kaufläden gewährten trotz des hellen Sonnenscheins einen düsteren Anblick. An den Straßenecken beugten sich neugierige Frauenköpfe heraus.

Jetzt erkannte Blacourt schon deutlich die einzelnen Figuren der Bas-reliefs. In der blinden Mauer des großen Gewölbes platzte eine Granate.

»Donnerwetter!« brummte Blacourt.

»Sie muß in der Avenue de la Grande-Armee eingeschlagen haben«, meinte Malonsky.

»Und dort müssen wir durch«, dachte Blacourt. Vor ihnen dehnte sich die gerade Linie der Straße nach Courbevoie, nackt und staubig, wie ein langer Todespfad. Im gemächlichen Trab der beiden Pferde, welche Malonsky jetzt mit hochgehaltenen Zügeln in den licht behandschuhten Händen lenkte, als gälte es eine Spazierfahrt im Bois de Boulogne, bog der Wagen um das mächtige Bauwerk. Man begegnete einem Bataillon, das eben abgelöst worden war. Zwei kurzgeschürzte Marketenderinnen, den Revolver im Gürtel, eröffneten den Zug; die erschöpften, staubbedeckten Soldaten trugen an der Spitze ihrer Gewehre frischgrüne Hagedornzweige.

Den in regelmäßigen Zeiträumen krachenden Schüssen der vorgeschobenen Posten antworteten in harten Schlägen die Kanonen von Courbevoie. Blacourt verwünschte den Eifer der Bedienungsmannschaft. Man konnte sie zählen: sechs kleine Gestalten, die ruhig im Schutze der Barrikade sich hin und her bewegten. Er hätte Malonsky vom Sitze schleudern mögen, daß die Räder ihm den Schädel zermalmten. Immer näher kam der pfeifende Flug der Geschosse. War es nicht Wahnsinn, sich in solche Gegend schleppen zu lassen? Man wollte ihn wohl ermorden... Er seufzte und stöhnte, und seine Gesichtsfarbe wurde immer grünlicher.

Das Phaëton hielt erst bei der Porte-Maillot, wo Malonsky für einen Augenblick ausstieg und mit unerschütterlichem Gleichmut seine Inspektion abhielt. Blacourt versteckte sich indessen hinter dem Wagen und betrachtete angstvoll den Horizont. Drei Artilleristen, zwei Wachen und ein Matrose, sowie ein Kind, welches die Geschosse herbeitrug, bildeten das ganze Personal der Batterie, fünfzig abseits postierte Gardisten die ganze Garnison des Tores. Vom Mont-Valérien herab donnerte das betäubende Getöse der Mitrailleusen, während von Neuilly her immer deutlicher das Knattern des Kleingewehrfeuers herüber drang.

Plötzlich stürzte dicht vor Malonsky der über eine der bronzenen Mündungen gebeugte Stückrichter mit durchschossener Brust zusammen. Das Blut tränkte die Lafette. Noch einige krampfhafte Bewegungen, und es war vorbei. »Kann man so schnell sterben?« dachte Blacourt entsetzt. Die fünf anderen blickten sich ratlos an. Keiner von ihnen verstand das Geschützrohr zu richten. Da trat der Junge vor und bot seine Dienste an. In diesem Mechanismus kannte er sich aus. Man möge ihn nur versuchen lassen! ... Ein ohrenzerreißendes Pfeifen brachte sie alle zum Schweigen. »Pst!« sagte der Kleine, »die Musik!« Die Granate flog durch die Luft und traf ein entfernt stehendes Haus. Fensterflügel und Balken stürzten zusammen. Schon drängte sich alles um die blutige Kanone; unter erwartungsvollem Schweigen zielte der kleine Stückrichter. Mit furchtbarem Lärm ging der Schuß los. Malonskys Stimme rief Blacourt zur Besinnung. Er bestieg wieder den Wagen, und die Qual begann von neuem. Weder die Pferde, noch der Groom, der sie hielt, hatten gezuckt.

Die Wälle entlang bis zur Porte des Ternes rollte der Wagen unter dem todbringenden Feuer dahin. In einer der Kasematten lag mit nackten Füßen ein Haufen toter Föderierter. Als sie das Tor hinter sich hatten, ließ Malonsky die Pferde im Schritt gehen. Blacourt war nur noch ein zusammengekauertes, lebloses Häuflein. Sie kamen durch eine von Gärten mit zertrümmerten Mauern und zerbrochenen Gittern begrenzte Allee; die dichten Gesträuche, die hohen Bäume entfalteten ihr üppiges Laubwerk; der Duft des kaum erst aufgeblühten Flieders mischte sich mit dem der Nelken und durchschwängerte die Luft; Immergrün schlängelte sich durch die Gräser. Eine Wiese war mit umgestürzten Kochtöpfen, mit Flinten und Flaschenscherben besät; rings um eine ungeheure Bowle tanzte eine Anzahl betrunkener Föderierter einen wahnsinnigen Reigen. Ihre tolle Farandola spiegelte sich in tierischer Verzerrung in der konvexen Wasserfläche. Andere lagen schnarchend und übersättigt auf dem Bauche. Und all dies wüste Treiben übertönte der Donner der Kanonen. Zischend sausten die Kugeln durch die klare Luft.

Malonsky hörte kaum mehr diesen mörderischen Lärm und übersah gleichgültigen Auges diese fürchterliche Windsbraut, die verheerend über Neuilly hinbrauste, so daß die Zeitungen, aus Erbarmen mit den zwischen zwei Feuern zermalmten Einwohnern, auf einen Waffenstillstand drangen und mit Versailles wegen einer kurzen Pause unterhandelten, welche es diesen armen Leuten gestatten würde, aus ihren Trümmern zu entfliehen. Doch unerbittlich wurde der Kampf zwischen dem Armeekorps Ladmirault und der Handvoll von Dombrowskis Leuten fortgesetzt, die, niemals abgelöst, im Alkohol die einzige Stärkung ihrer Kräfte fanden. Von dieser Flamme verzehrt, lebten sie in einer Art frenetischen Rausches dahin, in einer bewußtlosen Trunkenheit, in der ihr an Entbehrungen und Leiden reiches Leben zu dem Taumel wilder Tatenlust und unersättlicher Blutgier sich erhitzte.

Indessen rückte die Armee von Versailles langsam, aber sicher vor. Zur Linken erstürmte sie die Schanze von Gennevilliers, dann das Schloß Becon, von wo die sofort zusammengestellten Batterien die verbündeten Kanonen von Clichy und Asnières demontierten; sie bemächtigte sich des Bahnhofs, die Gendarmen besetzten Bois-Colombes. So blieb der Aufstand fortan auf das rechte Ufer konzentriert. Am anderen Ende der Linie rückte Cissey, dessen Laufgräben täglich von neuem angegriffen wurden, Schritt für Schritt gegen Issy vor und errichtete seine Parallelen zwischen Clamart und Chatillon, während auf den Bekrönungen die für schwere Artillerie bestimmten Werke sich durch die Flanke zu decken und zu bewaffnen im Begriffe waren.

Blacourt befand sich in einem wüsten Traum: ein Pikett Soldaten ging singend vorüber; vor Nummer 31 der Rue Peyronnet hielt der Wagen ... Ein Hof, in dem Föderierte ihr Lager aufgeschlagen haben; eine Treppe, über die man hinaufstolpert; ein Zimmer, in dem zwei Offiziere in hohen Stiefeln und reichverschnürten Uniformen sich mit polternder Stimme zanken ... Auf einer Tischecke saß mit gekreuzten Beinen, den Kopf zur Seite geneigt, mit faunischem Lächeln Maddalena, klimperte auf einer alten Harfe mit Schildkrotrahmen, dem kostbaren Strandgut eines geplünderten Palastes, und sang dazu mit einschmeichelnd warmer Stimme das neapolitanische Lied:

Vieni sul mar,
Vieni a voguar ...

Plötzlich lachte sie hell auf:

»Da ist ja mein Schatz!«

In diesem Augenblicke haßte Blacourt das schöne Geschöpf, das so grausam mit ihm spielte. Selbst der Anblick der duftig zarten Haut, die, als sie so mit gekreuzten Beinen auf dem Tische saß, oberhalb des Strumpfbandes sichtbar wurde, vermochte nicht, ihn zu versöhnen. Mürrisch wie ein Hund, der gern beißen möchte und es nicht wagt, folgte er den drei Genossen und Maddalena.

Der Weg führte durch Gärten. Unter einer Gruppe mit rosa Blüten überschütteter Judasbäume stand ein Pavillon mit erbrochener Tür, in dem, von Rohrfauteuils umgeben, ein mit Schinken, Würsten und Flaschen bedeckter Tisch winkte. Die alten Wachssiegel, die verstaubten Spinnweben bezeugten das ehrwürdige Alter der Weine. Malonsky öffnete eine Büchse getrüffelter Konserven, während einer der Offiziere in wallachischer Sprache die Vorräte des Kaufmanns lobte, dessen Laden, gänzlich geplündert, dem Kriegsrecht zum Opfer gefallen war. Der andere füllte die Gläser bis zum Rande. Maddalena erhob das ihre mit einem berückenden Blick auf Blacourt:

»Auf Ihr Wohl!«

Das von Malonsky versprochene Orchester spielte zu dem Toast den Tusch, indem es mit einem donnernden Getöse von Trommeln und Trompeten einfiel. Immer schneller jagten sich die dumpfen Schläge; ein zerbrochener Ast zerbrach die Fensterscheibe und schüttelte einen Regen rosiger Blütenblätter auf das Parkett. Zitternd stellte Blacourt sein Glas nieder, das er eben zum Munde führen wollte. Das Herz schlug ihm bis zu den Lippen hinauf.

Ein einziger Gedanke erfüllte ihn: entkommen und für immer diese Hölle fliehen, sich den Klauen des Polen, den Fängen dieser Buhlerin entreißen, deren so schamlos vor aller Augen zur Schau getragene Schönheit ihm kaum noch ein Gelüste weckte, und deren Bosheit alles Maß überschritt. Spöttisch warf sie ihm die Wurstschalen zu, während Malonsky mit einer Hand die dekolletierte Taille umfaßt hielt, aus der der üppige, weiße Busen hervorquoll, mit der anderen die Flasche umklammerte.

Unbekümmert um Blacourt, den man wie ein abgetanes Spielzeug beiseite schob, begannen die Vier zu spielen und leerten bis auf die Hefe den Genuß der abenteuerlichen Stunde.

Um das, was draußen vorging, um den Sturm der Ereignisse, um die Sache, um deretwillen hier und dort Franzosen ihr Leben ließen, kümmerten sich weder Leutnant Potopensco, noch Hauptmann Ivanhoff, noch Oberst Malonsky, noch auch Maddalena.

Während Thiers, wie auf einem ungeheueren Schachbrett, seine Züge berechnete und seine Figuren vorrücken ließ, verbrachte die Kommune die Zeit damit, allerlei Delegationen zu empfangen oder auf dem Rathausplatze die zu den Vorposten ausrückenden oder von dort zurückkehrenden Bataillone zu begrüßen, mit tönenden Reden und Fanfarenklängen die Übergabe von roten Fahnen oder die Verleihung von Ehrenrevolvern zu begleiten oder auch in dem Durcheinander der Sitzungen zahllose Gesetze zu erlassen. Es schwirrte in diesem engen Saale, in dem viele ihre Stimme abgaben, ohne zu wissen, worum es sich handelte, – da sie weder die Zeit noch die Fähigkeit besaßen, sich über etwas zu unterrichten, – von überflüssigen Schriftstücken und fieberhaft erregten, unüberlegten Phrasen; viele Mitglieder ließen sich so selten blicken, daß man ihnen mit dem Verlust des Gehaltes hatte drohen müssen. Die einen waren gänzlich von der Verwaltung ihres Arrondissements in Anspruch genommen, die anderen brachen unter der Last verschiedener Ämter zusammen, abgelenkt überdies noch durch die militärische Aktion, welche alle mit leidenschaftlichem Interesse verfolgten, der eine beständig sein Pferd tummelnd, der andere durch sein Fernglas beobachtend; alle ergriffen, von Sympathie oder Antipathie geleitet, die erstbeste Meinung und verlangten schreiend und gestikulierend unaufhörlich das Wort zu irgend einem »Ordnungsvorschlag.«

Indessen pochten in vielen Stadtvierteln die Kolben der zur Vornahme der Hausdurchsuchungen designierten Detachements an die Türen aller Stockwerke. In den Wohnungen der Machthaber vom 4. September wurden sämtliche Papiere beschlagnahmt und die schlimmsten Verleumdungen ausgesprengt. Eine Schar lustiger Gardisten drang in das Haus des belgischen Konsulats und arrangierte einen Ball in dessen Salons. In den wenigen Marschkompagnien und den zahllosen ansässigen Bataillonen griff Disziplinlosigkeit und Desertion in erschreckender Weise um sich. Die Zellen der Gefängnisse waren überfüllt, sodaß immer neue Schlafsäle improvisiert werden mußten. Monumentale Barrikaden umschlossen den Konkordienplatz und sperrten die Straßen ab, in denen vagabundierende Musikanten und Bettler sich ansammelten. Immer mehr wurden der freie Gedanke, die öffentliche Stimme geknebelt; die Konfiskation von vier Zeitungen vertiefte das unheimliche Schweigen der öffentlichen Meinung. Die Kirchen wurden nacheinander geplündert und geschlossen. In Ménilmontant, unter den Gewölben von Notre-Dame de la Croix, installierte sich der erste der seit der großen Revolution an geweihtem Orte abgehaltenen Klubs und versammelte seine Mitglieder bei dem gespenstischen Dämmerlicht der Lampen ...

In den Klöstern von Picpus wurden die Mönche verhaftet und in die Conciergerie, die Weißen Frauen in Saint-Lazare eingesperrt. Der mit den Leichen der Kommune von 1793 gedüngte Boden gab, geschändet und durchwühlt, menschliche Überreste heraus. Die Phantasie des Volkes erblickte darin die Opfer der Priester. Alte orthopädische Betten, die man in einem Speicher aufgefunden, wurden zu Folterwerkzeugen. Aus einer Abhandlung über Entbindungen, einer wissenschaftlichen These, welche einer der Pater von seinem Neffen erhalten hatte, und die man auf einem Bücherbrette fand, schloß man auf regelmäßige Vorträge über verbotene Operationen, welche den Hebammen gehalten worden. Die rote Presse geiferte und schäumte. Vermesch beutete im Père Duchêne in »patriotischem Zorn« die Leichtgläubigkeit der törichten Menge aus und wühlte einen Sumpf von Kot und Gemeinheit auf.

In Saint-Laurent versetzten mysteriöse Gerüchte das ganze Viertel in Aufregung; eine gerichtliche Durchsuchung der Kirche hatte in der Krypta einen Haufen menschlicher Gebeine zutage gefördert, und dieser Fund gab zu einer Legende über noch schauerlichere Verbrechen Anlaß. Vierzehn Skelette, in Reih und Glied geordnet, legten Zeugnis ab von Mordtaten und Schändungen, von der ganzen vielhundertjährigen, lichtscheuen Arbeit der Geistlichkeit. Eintrittsgeld fünfzig Centimes. Verfolgt, beschimpft, hielt die Mehrzahl der in Paris gebliebenen Priester heimlich in entlegenen Kapellen oder den Wohnungen von Getreuen ihre Messen ab und gingen in weltlichen Kleidern und langen Bärten umher.

In der Rue Sainte-Scolastique ließ Poncet nach beendetem Frühstück Martial bei seiner Mutter zurück. Die vortreffliche Frau verwendete ihre Zeit dazu, in einer jener privaten Ambulanzen, die auf Veranlassung der Bürgerin Andrée Léo gegründet worden waren und da und dort dem Mangel an ärztlichen Instituten abhalfen, die Verwundeten zu pflegen. Durch den Abgang der renommierten Ärzte und Professoren war der ärztliche Dienst derart desorganisiert, daß die während der Belagerung so regelmäßige Funktionierung der Spitäler und der großen Ambulanzen darunter litt. Indessen war doch eine Anzahl von Ehrenmännern zurückgeblieben, welche die Pflicht der Menschlichkeit über politische Diskussionen stellten und mit doppeltem Eifer ihrem mühevollen Beruf oblagen; sie widmeten ihre Fürsorge den Verwundeten, woher immer sie kamen, waren sie alle doch gleich beklagenswert in der Unabwendbarkeit ihrer Leiden. So Broca, Verneuil, Trélat, so Danet im Luxembourg, Alphonse Guêrin in Saint-Louis. Die Vorlesungen der medizinischen Fakultät hatten sistiert werden müssen; die Kommune hatte an die Opferwilligkeit aller Ärzte, Studenten und freien Professoren appelliert.

Die Stunden, die nicht von dieser stillen Wohltätigkeit in Anspruch genommen waren, und die die Führung ihres Hauswesens ihr freiließ, widmete sie den Liebesdiensten in ihrer Umgebung. So ging sie täglich in Catisses winzige Wohnung, wo die fünf kleinen Mädchen wie Mäuschen durcheinander liefen, um unter der Aufsicht der Ältesten ihre häuslichen Arbeiten zu verrichten. Im Handumdrehen wusch Frau Poncet die eine, gab der Jüngsten ihren Löffel voll Lebertran ein und ließ sich von der dritten ihre Lektion aufsagen. Sie war eine Art gütiger Vorsehung für die Familie geworden und erschien nie, ohne in ihrem Beutel eine Näscherei oder irgendwelche Vorräte mitzubringen.

»Da du zu Catisse gehst, nimm das da mit!«

Mit diesen Worten stopfte sie einen halben Rosinenkuchen, den sie eiligst in reines Papier eingeschlagen, in die Tasche ihres Gatten. Dabei lächelte sie über Martials Lächeln, glücklich darüber, ihren großen Sohn, der ja Leben von ihrem Leben war, und den das Leben so lange von ihr getrennt hatte, für kurze Zeit wieder bei sich haben zu dürfen.

Poncet durchschritt eiligst das Gärtchen, ohne einen Blick auf seine Blumen, seine Bäume zu werfen. Er fürchtete, Catisse zu verfehlen, der in der Mittagspause stets nach Hause eilte, um sein bescheidenes Mahl in Gesellschaft seiner Kleinen zu verzehren. Er wollte mit ihm wegen Martial sprechen. Verdächtige Gesichter hatten den jungen Mann bei seinen ersten Ausgängen ins Auge gefaßt. Vielleicht, daß Catisse ihm in der Mairie irgendwie nützlich sein könnte.

Gesenkten Hauptes schritt der Chemiker dahin. Trotz der unbezwinglichen Zähigkeit, mit der er an der Hoffnung festhielt, wollte in dieser Stunde ein Gefühl der Müdigkeit ihn beschleichen. Die unermüdlich wiederholten Versuche zur Erlangung eines Waffenstillstandes für Neuilly – morgen wollten die Deputierten der Liga sich in dieser Angelegenheit zu Thiers begeben –, die Verhaftung bei Vauves und die widerrechtliche Gefangennahme Lockroys erfüllten ihn mit tiefer Bitterkeit. Der ehemalige Deputierte der Seine war gleich einem Missetäter zwischen Kavalleristen mit erhobenem Revolver nach Versailles geführt worden. Doch konnte man, wenn von seiten Thiers' und der Nationalversammlung keine Konzession zu erhoffen war, mit einem Schimmer von Zuversicht auf Hilfe von auswärts, auf die in der Provinz sich regende Versöhnungsbewegung hoffen.

Nur der Wunsch der großen Städte, der Wille einer großen, friedlich gesinnten Menge konnte die herrschende Partei zur Besinnung, das in ihren Händen befindliche blutige Werkzeug, die Armee, zum Stillstand bringen. Schon hatten zwischen dem 31. März und dem 10. April Perpignan, Roanne, Valence, Chalon-sur-Saone, Marmande, Besançon, Saint-Omer durch ihre Gemeinderäte ihre Wünsche bezüglich der Aufrechterhaltung der Republik und der kommunalen Freiheiten dem Präsidenten übermitteln lassen und gegen die Versailler Politik protestiert. Lille und Macon hatten auch ihrerseits sich vernehmen lassen, und vorgestern hatten fünf Delegierte von Lyon nach einer Unterredung mit Thiers sich in einer Abendsitzung bei Floquet mit der Liga ins Einvernehmen gesetzt. Gestern endlich hatte man in einer öffentlichen Versammlung beschlossen, sich mit der Union der Syndikatskammern zu vereinigen, um auf den früheren Grundlagen ein gemeinsames Aktionsprogramm zu entwerfen. Die Freimaurer ernannten eine neue Kommission, welche sich mit den beiden anderen Liguen in Verbindung setzen sollte, und erließen einen Aufruf an sämtliche Logen der Provinz. In diesem gemeinsamen Bemühen, in dem einmütigen Bestreben aller gemäßigten Geister, die Niederlegung der Waffen zu erzwingen und der wilden Verblendung ein Ende zu machen, lag die einzige Möglichkeit der Rettung, der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse, in der man sich gegenseitig erwürgte.

Von der Kommune war ebensowenig wie von Versailles Nachgiebigkeit zu erhoffen. Durch die Ergebnisse der letzten Wahlen hatte sie weder an Autorität, noch an Weisheit gewonnen; es war nur ein schwacher Zufluß von Blut, der die verstopften Adern, statt sie zu beleben, noch mehr bedrückte. Die feurige Aufwallung der Märztage war erloschen, die Erhebung eines ganzen, noch von den Leiden des Krieges zitternden, seine Rechte fordernden Volkes gebrochen. Das Herz von Paris, vereinsamt und ernüchtert, hatte diesmal in armseligen Schlägen pulsiert. Einundzwanzig Namen nur statt einunddreißig hatten eine dürftige Majorität zusammengebracht. Die Zahl der Stimmzettel war von 229 000 auf 53 000 gesunken. Der aufständische Effektivstand enthüllte sich mit einemmal. In manchem Arrondissement, welches zehntausend Wähler zählte, hatten nur zweitausend ihre Stimme abgegeben. Selbst in Batignolles, in Montmartre, in Buttes-Chaumont und Ménilmontant war die Zahl der Wähler auf die Hälfte zusammengeschrumpft. Der Erfolg hätte die Urnen gefüllt, angesichts der Niederlage blieben sie leer. Die Ungeschicklichkeiten und die Vergehen der Kommune, weit mehr aber noch die unleugbare Macht der Armee von Versailles und die Gewißheit ihres Sieges hatten das ganze Bürgertum ferngehalten und sogar das Volk erkältet.

Während er mit schnellen Schritten durch die Straßen wanderte, gedachte Poncet wehen Herzens jenes herrlichen Tages, da er, vor der roten Estrade, die Augen zum Zifferblatt der Rathausuhr erhoben, unter dem Getöse der Salven in den Jubelruf: »Es lebe die Kommune!« eingestimmt, in einem Augenblick des Taumels die Begeisterung des Volkes geteilt und jenen Magnetismus der Menge an sich erfahren hatte, der unwiderstehlich uns an die Nerven greift. Narr, der er gewesen, daß er gegen jede Möglichkeit, und trotzdem er die Langsamkeit des Fortschritts kannte, auf einen plötzlichen Aufschwung, auf eine geheimnisvolle Morgenröte, auf den Anbruch einer Ära des Glückes und der Gerechtigkeit gehofft hatte! ... Narr, der er gewesen, zu glauben, daß angesichts dieser friedlichen Revolution Thiers und die Nationalversammlung nicht wagen würden ...

Mit dieser pompösen Proklamierung der ersten Gewählten verglich er den heimlichen Regierungsantritt der letzten. Ein gar stiller Einzug in das Rathaus und die Geschichte! Zwerghafte Figuranten eines grandiosen Dramas, alberne Schatten der Gegenwart auf den Mauern der Vergangenheit!

Er zog die Rechnung. Nicht eine politische Persönlichkeit, die vor dem Kriege irgend eine Bedeutung besessen hätte. Das wüste Leben während der Belagerung mit dem Nebeneinander der Klubs, den dunklen Schleichwegen und dem verborgenen Kampf in den Reihen der Internationalen – aus dieser Macht der Verwirrung waren fast alle hervorgegangen. Einige von ihnen traten enttäuscht freiwillig in das Dunkel zurück, um nicht das gefährliche, unter ihren Füßen schwankende Gerüst besteigen zu müssen; Briosne, einer der besten Redner der revolutionären Versammlungen unter dem Kaiserreich, und Rogeard, der stolze Verfasser der Propos de Labiénus, hatten ihr Mandat abgelehnt, das sie, weil nicht von einem Achtel der Wähler bestätigt, als nicht legal betrachteten. Menotti Garibaldi, ebenso klug wie sein Vater, war vorsichtig genug gewesen, seinen italienischen Ruhm nicht hier in einer verlorenen Sache kompromittieren zu wollen.

Der Rest war eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, der Abbrand der Märzwahlen, ganz ebenso maßlos und ohnmächtig, nur von der Wut über die Niederlage noch wilder gereizt. Cluseret war zum zweitenmal gewählt worden. Journalisten, wie der lange, hagere Charles Longuet, der beim Sturz des Kaiserreiches wegen Preßvergehens in Gefangenschaft geriet, als Chef eines niemals bewaffneten Bataillons am 18. März sich an der Errichtung von Barrikaden beteiligte, er war der Theoretiker der ersten Tage und blieb ein Mann der Feder, ein Gemäßigter, dessen Finger sich wohl mit Tinte, doch nie mit Blut beflecken konnten ... Wie Andrieu, der außerordentliche Professor und Bureaukrat, Verfasser einer guten Geschichte des Mittelalters, ein dicker, einäugiger Mann voll Bonhomie und Einfachheit ... Wie Bésinier, der ehemalige Sekretär Eugen Sues und galanter Frauen, bucklig und hinkend, doch von lebhaftem Geiste, der von Brüssel, London und Genf aus Napoleon III. und die Kaiserin mit Pamphleten überschüttet und seine in den Zeitungen veröffentlichten Schmähartikel mit langen Aufenthalten in Saint-Pélagie gebüßt hatte; zuerst der Redaktion des Offiziel zugeteilt, hatte er nicht geruht, bis er sich eines der Fauteuils des Rathauses erobert, bereit, von dieser Stelle aus seine von Verdächtigungen und Schmähungen geschwollene Galle über seine Gegner auszuspeien ... Wie Eugen Pottier, der mit fünfundzwanzig Jahren gleichzeitig eine Badeanstalt und ein Etablissement für industrielle Zeichnungen leitete; ehemaliger Freund Murgers, Künstler und Liederdichter, der ebenso gut ein zärtliches Couplet und einen Refrain der Internationalen zu drechseln verstand, ein Ehrenmann mit klugen Augen, den sein soziales Ideal in dieses Chaos geführt hatte, wo er jedoch trotz seiner Grundsätze, in der Verwaltung seines Arrondissements verschanzt, sich nicht zu entfalten vermochte.

Ein Künstler, berühmt durch seine maßlose Eitelkeit ebenso wie durch seine kraftvollen, mit fetten und dicken Farben bedeckten Bilder: Courbet, einer jener Einfaltspinsel, die sich für Neuerer halten, weil sie das Gegenteil der empfangenen Meinungen verfechten und jeder Kontrolle und Überlegung unfähig sind. Ein toller Sozialist, der alle Maler im besonderen (sich selbst ausgenommen) und die Welt im allgemeinen in schmutzigen Aphorismen ankläffte. Eine Wirtshausberedsamkeit, durch die ironischen Bravorufe der Genossen berauscht. Ein Klubschreier, der seit Beginn der Belagerung die Niederreißung der Vendômesäule und die Umänderung sämtlicher die Namen von Generälen tragenden Straßenbenennungen forderte, welche »dazu beitrugen, das Andenken und den antidemokratischen Begriff des Krieges aufrecht zu erhalten.«

Kleinbürger verschiedener Berufszweige. Zwei Mitglieder des Zentralkomitees kehrten auf den eroberten Platz zurück: Arnold, ein Architekt und früherer Unterinspektor der städtischen Arbeiten, ein charakterloser Mann mit trockener, nein schriller Stimme ... Viard, ein schwerfälliger Kaufmann, behaart und bärtig, der sich »jung, aber praktisch« nannte, und als solcher sich gewalttätig und entschlossen zeigte ... Ein ehemaliger Beamter des Crédit foncier, A. Dupont, dreißig Jahre alt, blond, eine vornehme Erscheinung; für eine normale Existenz im Schatten geschaffen, war er durch den Prozeß von Blois und seine Verurteilung zu fünfzehn Jahren Gefängnis, wovon er, dank dem 4. September, nur fünfundzwanzig Tage abgesessen hatte, zu Ruf und Namen gelangt; in dem Glanz der Kommune hatte er sich vollends verloren ... Doktor Pillot, ein kahlköpfiger Greis mit trüben Augen und meckernder Stimme, ein Geistlicher, der die Kutte abgelegt und 1848 das Haupt einer kommunistischen und atheistischen Sekte, der Pillotisten, geworden war, Präsident des Klubs der medizinischen Schule und leidenschaftlicher Geisterseher.

Fünf Arbeiter, darunter ein Leistenschneider und drei Schuhmacher. Schon in dem ersten Wahlgang zahlreich, brachten diese über ihren Werktisch gebeugten Männer etwas von den bitteren Betrachtungen ihrer Arbeitsstunden in die Verhandlungen mit; während die Hand mechanisch schafft, folgt das Gehirn den Vorgängen, die draußen sich abspielen, und in der dicken, übelriechenden Atmosphäre der Werkstatt wird das Bild einer besseren Gesellschaft entworfen. Seraillier, mager und blatternarbig, ein intelligenter Kopf, dessen rauhe Stimme sich Gehör zu schaffen verstand, und der über die Arbeiterfrage reiflich nachgedacht hatte. – Sicard, der eine Binde über dem einen Auge trug, auch ein Sprecher, aber ein heftiger und unfähiger Sprecher. – Trinquet, aus Belleville, ein kleiner, dicker Mann mit verschlossenen und harten Zügen, der das falsche Geld der Klubs für bare Münze genommen hatte, übrigens einer überlegten und zähen Energie fähig. – Johannard, früher Verfertiger von künstlichen Blättern, nun Handlungsgehilfe, ein schöner, blonder Mensch in leichverschnürter Uniform, eines der tätigsten Mitglieder der Internationalen, mit dem Glorienschein eines Aufenthaltes in Mazas umgeben. Endlich zwei Dunkelmänner, Philippe und Lonclas, deren Gesichter das Gepräge der schmutzigen Weinspelunken trugen, in denen sie ihre Zeit zubrachten.

Was vermochten diese zwanzig Wortführer der höchsten Illusion? Konnten sie irgend etwas an dem unabwendbaren Gang der Dinge ändern? Poncet erinnerte sich einiger vertraulicher Einzelheiten, die Jacquenne ihm mitgeteilt hatte. Erbittert darüber, seinen Eifer fruchtlos, seine Bestrebungen verkannt zu sehen, eifersüchtig auf den Einfluß dieser und jener, hatte der Sektierer, den er kürzlich in seiner kleinen, kalten Wohnung aufgesucht, um seine Fürsprache zu Gunsten der Liga zu erbitten, ihm von den letzten Sitzungen erzählt, von dem, was der Officiel in seinen Berichten verschwieg. Eine lange Diskussion über die Gültigkeitserklärung der Gewählten hatte die Feindseligkeiten, den gärenden Haß zum Ausbruch gebracht. Eine Minorität von dreizehn gegen sechsundzwanzig Stimmen hatte von Anfang an die Differenz zwischen den Bedenken der gemäßigteren Sozialisten und der hartnäckigen Unversöhnlichkeit der Jakobiner deutlich zum Ausdruck gebracht.

Jacquenne hatte Poncet mit einem mißtrauischen Blick gestreift und, die Wangen mit einer plötzlichen Röte überzogen, dessen stummen Tadel mit den Worten erwidert: »Was wollen Sie? Ein Narr wäre man, sich jetzt noch um Legalität zu kümmern!« ... Düsteren Tons hatte er hinzugefügt: »Wir sind im Rechte, im Recht des Lebens für uns, für unsere Ideen, für die Zukunft! Wenn es uns jetzt nicht gelingt, diesen Traum aller Unglücklichen, diese Erhebung des Volkes, die ja auch Sie wünschen, zu verwirklichen, wenn diese einzige Gelegenheit uns entgeht ...« – er murmelte: diese Bataillone, diese Forts, diese Kanonen! – »dann ist es für zwanzig Jahre vielleicht damit vorbei! Morgen wird die Morgenröte im Blut ertränkt und erlöscht sein ...

Mit seiner schrillen Stimme hatte er seinen Glauben bekannt, die Utopie mit dem Möglichen vermengend, in knappen Strichen die Genossen geißelnd, die die Sache, weit entfernt, sie zu erleichtern, vielmehr noch erschwerten. Er hatte von Pyats schmählichem Zurückweichen erzählt, wie dessen Demission von der Verachtung aller abgewiesen worden, wie Bermorel den Schurken anzeigte und J. B. Clement dessen Gefangennahme verlangte; wie er eine plötzlich erwachte Liebe zur Legalität in sich entdeckt und diesen Vorwand benutzt hatte, um sich »bescheiden vor dem Siege« zurückzuziehen. Schon am 3. April, nach dem mißglückten großen Ausfall, hatte er die Nützlichkeit einer Reise nach Marseille, die Notwendigkeit des Besuches bei Garibaldi vorgeschützt ... Hohngelächter hatte ihn empfangen: »Nichts da, Pyat! Sie bleiben!« Diesmal hatte Delescluze sich ins Mittel gelegt.

Obgleich der Nimbus des Veteranen Jacquennes Eifersucht erregte, hatte er seine Überzeugung in die ernsten Worte zusammengefaßt: »Aus persönlichem Groll und wegen enttäuschter Hoffnungen durfte man sich nicht zurückziehen ... Glauben Sie daß jedermann billigt, was hier geschieht? Nun, es gibt Mitglieder, die geblieben sind und bis zuletzt bleiben werden ... Er selbst würde seinen Posten nicht verlassen, und dürfte er den Sieg nicht sehen, so würde er nicht unter den letzten sein, die auf den Wällen oder den Stufen des Rathauses die tödliche Kugel traf ...«

Poncet dachte bei sich: »Wissen sie denn überhaupt genau, für welche Sache sie kämpfen? Man würde es kaum glauben, nach dem verspäteten Programm zu urteilen, das sie soeben verkündet haben, und das Jacquenne selbst verleugnet. Das schmeckt nach einem eiligst abgemachten Faktum ...«

Unter dem Titel einer »Erklärung an das französische Volk« hatte der Journalist Pierre Denis seine Idee einer Erhebung von Paris zur freien Stadt wieder aufgenommen und weiter ausgeführt. Vallès und Delescluze hatten an der Arbeit hier etwas verbessert, dort etwas hinzugefügt, und man hatte ohne jede Diskussion das Ganze votiert. Zwischen einzelnen richtigen Ansichten über das Leiden und die Rechte von Paris legte der Autor seine Chimäre dar: die Ausdehnung der kommunalen Autonomie über alle Orte, von denen jeder selbst seine Steuern bestimmte, seine Behörden, seine Polizei, sein Unterrichtswesen, seine Miliz organisierte; die Wiedererrichtung der Föderation je nach Maßgabe der Sympathien, der Interessen, unter der politischen Einheit einer zentralen Delegation ... Das hieß, die von den Jahrhunderten allmählich zusammengekitteten Kräfte ins Unendliche zerstückeln, die Garbe mit einem Schlage auseinanderstreuen.

So verfiel man aus dem Übel einer übertriebenen Zentralisation in das gleich große Übel einer totalen Zersplitterung. Von der Machtbefugnis der Delegation, den gegenseitigen Verpflichtungen der Gemeinden, von diesen so hochwichtigen Punkten schwieg man gänzlich. Poncet, der ein lebhafter Bewunderer der Schweizer Republik war, dieses durch die Länge der Zeit fest zusammengekitteten Bundesstaates einzelner kleiner, arbeitsamer Völker, – Poncet fand diese plötzliche Umwandlung Frankreichs, diese Verneinung des revolutionären Werkes, welches schließlich die trennenden Mauern und Schranken niedergerissen, die einige und unteilbare Republik gegründet hatte, geradezu absurd.

Nein, nicht diese Männer, noch ihre Taten und Worte vermochten der Kommune die anfangs so bereitwillig entgegengebrachten Sympathien wiederzugewinnen, ebensowenig wie die von ihr in der Form ihrer Verwaltung eingeführten Veränderungen dies imstande waren. Die Exekutivkommission war als zu schwach abgeschafft und an ihrer Stelle eine Art leitenden Ministerrats eingeführt worden, in dem jedes Ressort durch einen Delegierten vertreten war: die Kriegsangelegenheiten durch Cluseret, die Finanzen durch Jourde, die auswärtigen Angelegenheiten durch Grousset, die Justiz und die öffentliche Sicherheit durch Protto und Rigault, die Arbeit und das Bankwesen durch Frankel, das Lebensmittelressort durch Viard, die öffentlichen Ämter durch Andrieu und das Unterrichtswesen durch Vaillant ...

Ach! wenn nur unter diesem Gerüste, auf dem die Machthaber im Bewußtsein ihrer Wichtigkeit sich blähten, nicht das Volk stände, das mit seiner Überzeugung und mit seiner Haut dabei im Spiele stand! Wenn nur nicht die Zukunft so ungewiß, das Los so vieler Unglücklicher gefährdet wäre! ...

Unter solchen sorgenvollen Betrachtungen war Poncet vor die Tür von Catisses Wohnung gelangt, die am Ende eines finsteren Korridors mit feuchten, schimmligen Wänden lag. Während er die Klinke suchte, drang leises, kindliches Kichern an sein Ohr und dann das tiefe, gutmütige Lachen des Vaters. Catisse saß, von seiner jungen Brut umgeben, noch bei Tische und ließ ein aus seiner Serviette geknüpftes, weißes, langohriges Kaninchen auf seiner Faust tanzen. Beim Eintritt des Gastes hielt er verlegen inne, und die blassen Gesichtchen wandten sich schüchternen Blickes dem Störenfried zu. Poncet zog den Kuchen aus der Tasche, und das helle Lachen begann von neuem, daß die dünnen Zöpfchen fröhlich auf und nieder hüpften.

Das waren neben dem Abendbrot und dem darauf folgenden Erzählen langer Geschichten die glücklichen Stunden des Tages für die Familie. Die Älteste versah mit würdevoller Miene ihr Amt als kleines Hausmütterchen. Seit einigen Tagen besuchte sie die Kapelle Saint-Pierre, wo Paula Minck eine Schule eröffnet hatte, unweit der in eine Frauenwerkstätte verwandelten Kirche, in welcher für militärische Lieferungen gearbeitet wurde. So bewies Catisse seinen Bürgersinn und diente als pflichtgetreuer Beamter der Regierung, die ihn bezahlte und ihn und seine Töchterchen ernährte. Für diese ausgehungerten Mäulchen, für diese anämischen, durch die Entbehrungen der Belagerung geschwächten Körper mußte das tägliche Weißbrot und etwas Fleisch geschafft werden, damit in diese oft von Fieber glänzenden Augen ein wenig Gesundheit und Frohsinn wiederkehrte.

Während die Älteste mit wichtiger Miene den Kuchen zerteilte, und die anderen, die Rosinen heraussuchend, aufmerksam zuhörend, aßen, sprach Poncet von Martial. Der brave Mann versprach zu tun, was in seinen Kräften stand. Leider hörte man in der Gemeindekommission nicht immer auf ihn, fand ihn zu lau ... Poncet wußte, daß Catisse nach Möglichkeit bestrebt war, ausgleichend und versöhnend zu wirken. Er hatte in dem Stadtviertel schon Vielen gute Dienste geleistet.

»Ach!« seufzte der Beamte, »welch eine Existenz! Und wie wird das enden?«

Er warf einen wehmütig zärtlichen Blick auf die fünf Mäuschen, auf diese lieben, kleinen Wesen, die so sehr der Verstorbenen glichen ... Sie knapperten fröhlich in ihren Kuchenschnitten. Was hatte er anderes tun sollen? Wohin sich wenden? Wo das Geld finden, dies armselige Geld, ohne das seine Töchter nicht leben konnten?

Mit einem dankbaren Händedruck und freundlichen Kußhändchen entfernte sich Poncet ... Noch sorgenvoller, als er gekommen, kehrte er heim ... Armer Catisse! ... Und wie viele waren gleich ihm an das Joch geschmiedet, an das ungewisse Schicksal, an den Erfolg oder das Scheitern dieser Kommune, zu deren Besten sie gehörten!


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