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Zweiter Teil.

I.

Unzufrieden verließ Du Breuil die Bureaus und blieb einen Augenblick auf dem Trottoir stehen. Offiziere aller Waffengattungen und aller Rangklassen standen gruppenweise in fieberhaft erregtem Gespräch beisammen. Er hatte seine Uniform, die er vor dem Kriege getragen, wieder angezogen, den Dolman, die über die bespornten Stiefel fallende schwarze Hose, und empfand ein lange nicht genossenes Wohlgefühl, dem die Demütigung des gestrigen Tages einen Schimmer schmerzlichen Stolzes verlieh. Die gewohnte Kleidung, das mit den vier Goldstreifen gezierte Käppi, sein Offizierskreuz gaben ihm wieder etwas von seinem ehemaligen Ich, die militärische Sicherheit, die Stärkung, welche die alten Gewohnheiten der Disziplin und der Kraft verleihen, zurück. Nur das Fehlen der Achselschnüre und die nachdenkliche Reife der Züge gemahnten an das Verschwinden der Vergangenheit, an den Zusammenbruch der Armeen mit ihren Generalstäben, an die Verwüstung Frankreichs, an den ganzen, fürchterlichen Umsturz.

Schmerzlich dachte er an seine gestrige Überraschung, als er das Ministerium leer, den Bienenstock leer und still gefunden. Welch peinlicher Kontrast mit der Aufregung und all der fiebernden Bewegung, die er hier vor Augen hatte: die Sekretäre, die nicht wußten, auf wen zuerst hören; keiner da um ihm zu sagen, wo der Minister zu finden wäre, wenn es ein Ministerium überhaupt noch gab, keine Artillerie, der er seine Dienste hätte anbieten können... Dafür dieses wirre Durcheinander, diese erregten Gruppen, – wie all das ein anderes, unvergeßliches Bild wieder aufleben ließ: den Taumel der ersten Julitage in der Rue Saint-Dominique, der von dem betäubenden Getriebe der Kriegsrüstungen erfüllte Bienenstock ... Sollte man nun, nach dem furchtbaren Kampfe gegen den fremden Feind, einen anderen, noch schrecklicheren Kampf zu befürchten haben?

Im Hotel des Generals Bruat, des Kommandanten der mit dem Schutze der Nationalversammlung betrauten Division, würde er vielleicht etwas erfahren können. Er erreichte die Rue des Réservoirs. Dasselbe laute Gedränge. Eine bunt zusammengewürfelte Menge füllte die Straßen, Mitglieder der Nationalversammlung, viele mit ihren Frauen und Kindern, die beginnende Einwanderung des Personals der Verwaltungsämter, das geschäftige Gewimmel der kleinen Beamten, alle die Leute auf der Suche nach einer Unterkunft, mit Reisetaschen und Handkoffern beladen, die Gasthöfe belagernd. Eine ratlose, fremd umherirrende Menge, neugierig betrachtet von den friedfertigen Einwohnern von Versailles, von den Kaufleuten, die sich bei dieser, nach Abzug der Preußen einer Sturmflut gleich die Stadt überschwemmenden zweiten Invasion vergnügt die Hände rieben.

Nach einer in seiner verstaubten Wohnung der Rue de Bourgogne verbrachten unruhigen, von den Schreckensbildern des Montmartre bevölkerten Nacht am frühen Morgen erwacht, war es Du Breuils Sorge gewesen, so schnell als möglich seine früheren Chefs aufzusuchen. Und wie sehr hatte er sich doch danach gesehnt, seine Eltern zu umarmen, in dem stillen Schlosse mit den grünenden Fluren, bei den geliebten Wesen Tage friedlicher Ruhe zu genießen! Seine Liebe zum Vater steigerte sich zu begeisterter Bewunderung angesichts der schlichten Größe, mit der der alte Mann mit der einen gesunden Hand wieder zu den Waffen gegriffen, um in den Reihen der Verteidigungsarmee die Stelle des gefangenen Sohnes auszufüllen ...

Wie oft hatte dieser Gedanke ihn gepeinigt, hatte die Sorge um dieses kostbare Leben den Zwiespalt seines Gewissens neu belebt; und das Ehrenwort, das ihn nutzlos an die deutsche Kette schmiedete, der quälende Zweifel über den eingeschlagenen, den einzuschlagenden Weg... Hatte er recht daran getan, sich der Disziplin zu opfern, hatte er sie richtig erfaßt? Was gebot die Ehre? Er wußte das traurige Problem nicht zu lösen. Wenigstens hatte er, bevor er Paris verließ, seinen alten Freund Thédenat noch sehen wollen, dessen Briefe ihn während der Gefangenschaft in Mainz gestärkt und gestützt hatten.

Und während seiner Fahrt nach Versailles in dem mit furchtsamen Gesichtern angefüllten, bei den Fortifikationen visitierten Zuge – welche Angst um seine unter dem Sitz versteckte Reisetasche, welche die denunzierende Uniform barg, – während seiner Suche nach einer Unterkunft, die glücklicherweise bald in der Rue de Satory, gefunden war, durchlebte er noch einmal alle Einzelheiten seines Besuches.

Tief ergriffen hatte Thédenat ihn umarmt. Ein kurzes Schweigen öffnete zwischen ihnen den Abgrund, der zwischen der Gegenwart und längst verschwundenen Tagen lag. Ach! die Voraussagungen des Greises und seine eigenen, jugendlichen Illusionen! ... Dann hatte er dem Gelehrten sein schweres Herz ausgeschüttet, hatte ihm seine Bestürzung bei der Ankunft geschildert, diesen Sturz aus einer Gefangenschaft in die andere, das blutige Schauspiel der Rue des Rosiers, seine Erschütterung, als die Flucht der Regierung erfuhr, als er dieses gestern so wilderregte, heute so sorglos heitere, geschwätzige in Sonntagskleidern sich des hellen Sonnenscheins, der linden Frühlingsluft freuende Paris sah. Frankreich war sehr unglücklich, Paris sehr schuldig!...

So wenig er den alten Mann begriff, so waren doch dessen Worte unbewußt gleich Samenkörnern in sein verbittertes Herz gefallen... Wie konnte dieser Gerechte eine Erklärung, mehr noch, eine Rechtfertigung für dieses Paris finden, das angesichts der Ermordung der beiden Generäle sich nicht in ehrlicher Empörung erhob? Wie kam er dazu, sich zu fragen, wo das Recht, wo die Vernunft war? Indem er Thédenats Zweifel teilte, hatte er aus den auf der Straße vernommenen Reden der anscheinend gemäßigten Bürger die Erkenntnis von der unglaublichen Loslösung der Riesenstadt gewonnen, in welche man sich als in ein fait accompli ergab, und in die er sich nicht finden konnte trotz des allgemeinen, auch von ihm selbst empfundenen Grolls gegen diese Regierung, die sich, so ungeschickt in ihrem Angriff, so kleinlich in ihrer Niederlage, selbst gestürzt hatte. Auf der einen Seite diese Mitglieder des Zentral-Komitees, dessen Anhänger sich mit einem scheußlichen Verbrechen befleckt hatten, auf der anderen die konstituierten Gewalten, die die Ordnung, die Aufrechterhaltung der Gesetze verkörperten...

Verwirrt, ohne ganz zu verstehen, hatte er Thédenats beredtem Plaidoyer für Paris zugehört – für sein Volk von Arbeitern, von Proletariern, die, kraft des während der Belagerung bewiesenen Heldenmutes aller Schonung und allen Mitleids würdig waren und nach alledem nur ihre legitimen Rechte verlangten: die Freiheiten der Stadt, die Anerkennung der Republik, ferner die Untersuchung gegen die unverständigen Herren und Gebieter, die, indem sie von der Monarchie träumten, die Anarchie entfesselt hatten... All das war viel zu verwirrt, viel zu kompliziert für seine schlichte, klare Soldatenseele, die die Legende von einem liberalen Thiers, den Begriff eines einigen, wohlgefügten Frankreich nicht aufgeben mochte.

Beim Abschied hatte die liebevolle Sorge, mit der Thédenat und seine Frau seine Hände gedrückt hatten, als sollten sie einander lange Zeit nicht wiedersehen oder ernste Ereignisse sie trennen, ihn tief gerührt, und er fragte: »Warum kommen Sie nicht mit? Sie können doch nicht unter diesen Menschen bleiben.«

Und Thédenat hatte mit ernstem Lächeln geantwortet:

»Das hieße, von meinem Posten desertieren. Das Collège de France bleibt offen, und dann, dann – ich kann es Ihnen nicht verschweigen, Versailles ist in meinen Augen nur ein Grab. Die Gespenster, die dort wohnen, werden es nicht lebendig machen, werden nicht die Vergangenheit, nicht den König wieder zum Leben erwecken. Hier in Paris liegt trotz alledem und alledem die Zukunft, hier wird die Geschichte geschrieben. Auf Wiedersehen, mein armer Freund. Ihr Platz ist dort, denn auch Sie sind der Sklave einer Pflicht.«

Er hatte gezögert, aus seinen schönen Augen blickte tiefe Rührung:

»Möge diese Pflicht Sie nie, ein trauriges Werkzeug der Gewalt, hierher zurückführen, in die Hände von Verbrechern und Verblendeten! Sollten Sie eines Tages gegen Paris kämpfen müssen, denken Sie daran, daß es viel gelitten hat, und daß hinter den Anführern, von denen ich noch nichts sagen kann, die Menge steht, die Menge, die nichts weiß, die man nicht unterrichtet hat, die das Elend aufreizt und die Unwissenheit irreführt. Dann, mein Kind, dann seien Sie menschlich.«

Frau Thédenat blickte ihn mit tränenumflorten Augen an. Seltsam bewegt war er gegangen. Als er beim Haustor Louchard in Pantoffeln und der galonnierten Uniform begegnete, erwachte seine Feindseligkeit mit erneuter Kraft. Thédenat war doch immer derselbe. Ein Roter! Er liebte ihn herzlicher denn je, doch vollkommen einander verstehen, das war unmöglich.

Du Breuil begab sich von neuem auf die Suche, er irrte durch die Erdgeschoßräume des Schlosses, durch die mit Gipsfiguren bevölkerten Säle, die hohen, marmorverkleideten Hallen, durch die mit Bildern, vergoldetem Schnitzwerk und kunstvollen Stickereien angefüllten Salons. Ein Haufe von Geschäftigen und Wichtigtuern kam und ging, drängte sich an den Türen, jeder sein Ministerium suchend. Er trat ins Freie.

Auf dem Place d'Armes, von wo drei breite Avenuen ausstrahlten, kampierten einige Regimenter: zwischen den grauen Zelten und den beschmutzten Gewehrpyramiden kotbespritzte Geschütze. Über diesen zerlumpten, um Küchenfeuer kauernden, in einem unbeschreiblichen Kotmeer stampfenden Horden lachte die wechselnde Märzsonne. Ein vorübergehender General wurde mit dumpfem Murren empfangen. Die Hände blieben in den Taschen, freche Spottreden folgten ihm. Du Breuil, den noch kein Soldat gegrüßt hatte, erbleichte, als er den Blick voll Trotz und Zorn gewahrte, den einige mit dem Schälen verfaulter Kartoffeln beschäftigte Soldaten ihm zuwarfen. Die mit Schmutz und Kehricht angefüllten Straßen, die mit deutschen Plakaten bedeckten Kasernen wiesen die Spuren des Siegers.

Entmutigt, keinen Bekannten in der Präfektur zu finden, wo Thiers untergebracht war, bemerkte er vor den Fenstern eines Kaffeehauses eine Anzahl Artillerieoffiziere. In der Hoffnung, das Gesicht irgend eines Kameraden wiederzufinden, schritt er zwischen den Tischen hindurch und betrat den Saal, wo ein aus der Zeit seiner Mainzer Gefangenschaft ihm nur allzu wohlbekannter Geruch ihm erstickend entgegenströmte, der Geruch von Tabak, Bier und Leder. Hastig entfernte er sich. Niemand! All diese fremden Gesichter, eine neue Armee, die mit der früheren fast nichts Gemeinsames hatte! In dem Gefühl grenzenloser Vereinsamung wandten seine verzweifelten Gedanken sich Anina zu. Wo weilte sie heute? Sicherlich würde er sie bald mit Bersheim wiedersehen. Er hatte ihr seine Heimkehr angezeigt. Dank den letzten Briefen aus Bordeaux hatte er ihre Leiden, ihren Schmerz über den Friedensschluß, über die grausame Wirklichkeit teilen können. Die armen Bersheims, die kein Vaterland mehr hatten, die die Treue zur Heimatserde, die Bande der Erinnerung und der ganzen Vergangenheit so mächtig mit Metz verknüpften! Was sollte aus ihnen werden? Dort bleiben, wo die Ihren, vom Vater auf den Sohn, gelebt hatten? Ihrer Tochter in die neue Heimat folgen?

Gesenkten Hauptes kehrte er zu seiner Wohnung zurück, die ungewiß war wie sein Leben, zu diesem banalen Chambre garnie, das mit seinen roten Federbetten, den in der Ecke des Spiegels steckenden Photographien, den abgenützten Fauteuils ihm einen wahren Widerwillen einflößte. Plötzlich fühlte er, wie eine Hand sich auf seine Schulter legte.

»Pierre!«

Er stieß einen Schrei aus und blickte in Bersheims gutes, rundes Gesicht, das ihn gerührt, beglückt betrachtete; sie sanken sich in die Arme, ließen sich los, um sich besser zu sehen, und drückten sich die Hände. Du Breuil, der sein Herz wohlig erwärmt fühlte, überschüttete den Freund mit Fragen. Und Bersheim antwortete:

»Anina ist hier. Es geht ihr gut; kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr.«

»In kurzen Worten berichtete der ehemalige Deputierte: eine Odyssee! Mit ihrem Cousin Jacques, mit dem sie bei seiner Rückkehr aus dem Osten, wo er den Feldzug mitgemacht hatte, zusammengetroffen waren, hatten sie Bordeaux verlassen...

»Jacques? Ach ja! d'Avol!«

Und Du Breuil fühlte eine unwillkürliche, wenn auch, wie er wohl wußte, törichte Eifersucht in sich aufsteigen, die durch die Gegenwart seines ehemaligen Nebenbuhlers um Aninas Liebe und durch den Schmerz über die gebrochene Freundschaft noch verstärkt wurde. Diese Wunde sollte nicht vernarben, sie blutete noch, so oft er daran dachte... Indessen sprach Bersheim unaufhörlich weiter. Welch eine Ankunft! Die Visitation, Chanzys Verhaftung. Sie hätten sich gern aufgehalten, um zu erfahren, ob Du Breuil dort sei ... Doch Paris bot so wenig Sicherheit, und Anina war so müde... D'Avol hatte sich erboten, sie nach Saint-Germain zu seiner Mutter zu bringen, die glücklich wäre, ihnen Obdach gewähren zu können. Doch sie hatten die alte Gräfin schwer krank gefunden, an einer Lungenentzündung darniederliegend. Natürlich war es unter solchen Umständen unmöglich, länger als eine Nacht zu bleiben. Am Morgen hatten sie trotz des Drängens d'Avols, der im Grunde froh war, sie ganz wieder seiner Fürsorge anvertraut zu wissen, einen Wagen genommen und waren hier ihrer alten Freundin, Frau von Grandpré, ins Haus gefallen, deren Sohn, dem Kabinett Thiers' zugeteilt, eine Cousine der Bersheims und Aninas vertraute Freundin geheiratet hatte. Sie war die verkörperte Herzensgüte und hatte sie mit offenen Armen in ihrem schönen, alten, in der Rue d'Anjou gelegenen Hotel aufgenommen.

Für Du Breuil war die ganze Welt plötzlich versunken, selbst das düstere Defilee eines vollständig erschöpften Regimentes, das mißmutig und in Unordnung durch die ansteigende Rue de Satory sich zu dem Barackenlager schleppte, ließ ihn unberührt. Er freute sich des Scheidens dieses frühlingsduftigen Tages. Die Sonne übergoß die mit zartgrünen Trieben bedeckten Spaliere hinter den Gittern des Potager mit mildem Lichte. Auf einer der mit steinernen Früchten gezierten schweren Vasen saß ein Segler und glättete sein Gefieder. Die Scheiben der Gewächshäuser funkelten. Er fühlte sich unendlich glücklich. Anina! Die Augen voll Licht und Glauben strahlten ihn an; und die weiße, von seinem Haar umrahmte Stirn, die keuschen Lippen... Dieses Bild erfüllte sein Herz mit seliger Freude, und doch empfand er dabei jenes unbestimmte Bangen, das so oft sich in ein zu tiefes und zu plötzliches Glücksgefühl mischt.

In dem Hotel der Rue d'Anjou angelangt, führte Bersheim ihn in einen großen Salon, dessen Fenstertüren sich in einen Garten öffneten. Die Art und Weise, wie Frau von Grandpré, eine alte Dame, deren weiße Haare unter einem Spitzenhäubchen sich verbargen, und deren magerer Körper in dem lila Wollkleide sich mit so vornehmer Eleganz bewegte, ihn begrüßte, mutete ihn wohltuend an; und als Anina, schnell benachrichtigt, in all dem Zauber ihres Liebreizes auf der Schwelle erschien, war alles vergessen. Er hatte nur noch Blicke für sie. Die lange Trennung hatte der ernsten Anmut des jungen Mädchens einen Hauch von Schwärmerei verliehen. In der Seligkeit des Wiedersehens erstrahlte ihre schöne, traurige Stirn; in harmonischen Linien rundete sich ihr biegsamer Hals, ihre Gestalt reckte sich empor, wie eine geknickte Blume sich wieder aufrichtet. Die Röte der ersten Überraschung war tiefer Blässe gewichen, ihr ganzes Antlitz leuchtete, alles Leben konzentrierte sich in ihren herrlichen Augen. Da erkannte er, wie sehr er geliebt ward.

Bersheim und Frau von Grandpré entfernten sich leise in den kleinen Salon. Du Breuil ergriff die Hand Aninas, die sie ihm zitternd überließ. Die ganze Welt lag ihnen im Austausch ihrer Blicke. Leise, flüsternd, erzählten sie von ihren Leiden: sie von der deutschen Okkupation, von den schrecklichen Sitzungen in Bordeaux und der Verzweiflung ihres Vaters, der Verstümmelung ihres geliebten Lothringen; er von den langen Stunden der Gefangenschaft, in denen er sich im Gefühl seiner Ohnmacht verzehrte, von den Gefahren und Erlebnissen des gestrigen Tages; und sie vertrauten einander ihre Befürchtungen für die Zukunft an. Dabei hörten sie weniger den Sinn der Worte, als die Musik ihrer Stimmen. Und selbst als Anina ihm ihre Hand entzog und beim Zuhören jene Haltung stolzer Anmut wieder annahm, die er seit Metz beständig vor sich sah, fühlte er klar und deutlich, daß sie verwandelt war, durch Leid und Liebe mehr zum zärtlichen, hingebenden Weibe geworden. Obgleich sie im Einverständnis ihrer Herzen das Wort: Verlobung nicht aussprachen, fühlten sie doch beide, daß in dieser Stunde ihr Bund geschlossen worden war. Fortan war sie auf ewig die Seine.

Als Bersheim zurückkehrte, stimmte er mit schweigendem Lächeln ihrem Verlöbnis zu. Frau von Grandpré bat Du Breuil mit mütterlicher Herzlichkeit, zum Diner zu bleiben; sie wollte ihm ihren Sohn vorstellen; vielleicht, daß dieser ihm in diesen kritischen Tagen irgendwie nützlich sein könnte. Dann trat ihre Schwiegertochter ein, eine blonde, zarte, junge Frau mit feinen und ruhigen Zügen. Du Breuil wurde gefeiert; ihm war, als säße er im Kreise seiner Familie. Das Gespräch drehte sich selbstverständlich um den Sturm, der zu dieser Stunde alle Gemüter erregte; indessen blieben die beiden Verlobten still in das Glück des Wiederfindens versunken. Unter den zusammengeballten, gewitterschwangeren Wolken brach ein langer, glücklicher Abend an.


In dem vollen Waggon, der ihn zu grauer Morgenstunde nach Versailles brachte, erwachte Poncet aus kurzem, unruhigem Schlummer. Von Müdigkeit wie gelähmt, entfaltete er eine der Zeitungen, mit denen seine Tasche vollgestopft war. Nachdenklich weilten seine Augen auf dem Kreuzband, das die Worte trug: »Journal officiel de la République francaise, 21 mars 1871.« Zwei Tage, und welche Fülle der Ereignisse! Sie waren alle in der Ironie dieses Titels enthalten, der in seinem gesetzlichen Charakter die aufständischen Gewalten von Paris stempelte. Poncet dachte: »Ich werde mir sofort den anderen Officiel kaufen, den der rechtmäßigen Gewalt von Versailles.« Und mit müder Hand seine graue Locke aus der Stirn streichend, sprach er zu sich selbst:

»Welch wüster Lärm! Und wie viele gibt es, die nicht, wie ich, wissen, daß beide recht und unrecht haben, und sich fragen müssen, auf welcher Seite das Recht ist! Wie viele andere folgen der Eingebung des ersten Augenblicks und werfen sich entschieden auf eine Seite! Wie soll man auf die Klugheit und Selbstlosigkeit des Zentral-Komitees zählen, das, mit seinem Sieg sich blähend, freier Gebieter über die bedeutendsten Streitkräfte, über die je eine Partei verfügt hatte, schon von den Heftigen und Ehrgeizigen umhergezerrt und von jenen, aus denen es hervorgegangen ist, überschwemmt wird: den Überwachungskomitees und dem Volke! Und andererseits, wie durfte man Hoffnung setzen in eine Nationalversammlung, in der die albernen Mordtaten vom Montmartre so günstig aufgenommen wurden, in diesen Haufen aus ihren Gräbern auferstandener wütender Mumien, die sich über den Vorwand, den Paris ihrem Hasse gibt, frohlockend die Hände reiben?«

Noch einmal durchlebte er jenen an Aufregungen reichen Tag des neunzehnten, da die Versammlung der Bürgermeister in der Rue de la Banque sich bemüht hatte, zu vermitteln und den endgültigen Bruch abzuwenden. Obgleich die meisten bereits aus ihren Arrondissements vertrieben waren, bildeten sie im Zentrum von Paris eine Insel, wo die wenigen gemäßigten oder reaktionären Bataillone im Notfall noch einen festen Punkt für ihren Widerstand finden konnten; der auf dem Boulevard erkannte Admiral Saisset erklärte sich unter Vorbehalt der Ratifizierung von Versailles bereit, die Führung zu übernehmen; die Besitzergreifung des XVI. Arrondissements sicherte ihm noch einige Tore; Picard hatte der Vereinigung der Bürgermeister von Versailles aus seine Vollmacht zur provisorischen Verwaltung von Paris nebst 50 000 Francs geschickt, die zur Besoldung der letzten übriggebliebenen Getreuen verwendet werden sollten.

Während der Sitzung erschien ein Abgesandter des Zentral-Komitees mit dem Vorschlag, das Rathaus und die Bürgermeisterämter den Bürgermeistern zurückzugeben unter der Bedingung, daß diese sich den Wahlen anschließen wollten, die am Morgen für den zweiundzwanzigsten angesagt worden waren. So erfüllte das Komitee die einzige Aufgabe, zu der es, wie er sagte, berufen und berechtigt war, und entledigte sich in loyaler Weise einer Macht, die es, weit davon entfernt, danach zu haschen, vielmehr vom Boden aufgelesen hatte. In den Meinungen geteilt, noch unter dem Eindruck der Überraschung stehend, hätten manche von ihnen gern ihren Triumph durch einen alles zermalmenden Marsch gegen Versailles vollendet; die Mehrzahl jedoch riet zur Mäßigung und zog es vor, sich in ihre Bürgermeisterautorität zu hüllen.

Bescheidene, nur in ihren Wahlbezirken bekannte Pariser, ehrbare Kleinbürger, ehemalige Arbeiter, schlechtbesoldete Beamte, Krämer, diejenigen, die dank ihrem Handel, ihren scheinbaren Vorzügen, ihren im Familienrat oder in den Klubs oft gehörten Stimmen zur Wahl vorgeschlagen waren, etwa, vierzig unentschlossene und doch zu jeder Gewalttat bereite Männer; sie alle, die Unbedeutenden, die Mittelmäßigen und die Intelligenten, die sich aus ihrer anfänglichen Verblüffung schnell zur Bedeutung ihrer Aufgabe aufgeschwungen hatten, indem sie es sich angelegen sein ließen, die Wünsche ihrer Mandanten zu erfüllen, schöpften ihre Kraft aus ihrer Anonymität, aus der unbestimmten und mächtigen Maske des hunderttausendköpfigen Volkes, das hinter ihnen stand. Neue Herren, mit besorgten Blicken beobachtet von den Ultras, den alten und den jungen Häuptern der Demokratie, Jakobinern, Blanquisten, Arbeitern der Internationalen Arbeiter-Föderation, die alle durch die Verfolgungen des Kaiserreichs, ihre Polemiken in der Presse, ihre Reden in den Klubs auf Posten gestellt waren und staunend die Revolution – zu Nutz und Frommen anderer – so schnell organisiert sahen.

Kaum, daß sich aus der am Ruder des Schiffes von Paris befindlichen Gruppe drei oder vier Persönlichkeiten abhoben, an die eine Erinnerung sich knüpfte: Assi, ein Südländer und Schönredner, mit einunddreißig Jahren Mechaniker, mit neunzehn Jahren Deserteur, in der Schweiz arbeitend, in Italien unter Garibaldi dienend, endlich bei Creuzot eingetreten, wo er bei einem bedeutenden Ausstand sich einen Namen erwarb, als Mitglied der Internationalen vor den Ober-Gerichtshof von Blois gestellt. Varlin, einer der Gründer der Societät, Buchbindergehilfe, ebenfalls noch jung, ein erlesener Geist, ein edler, gedankenreicher Kopf; Delegierter bei den Kongressen von Brüssel, Genf und Basel, 1868 zu drei Monaten politischem Gefängnis verurteilt, 1869 Gründer der Föderation der Arbeitergesellschaften, war er mit Malon eine der Hauptstützen der ökonomischen Evolution, die sich in dem Wunsche der niederen Schichten vollzog. Ranvier, seines Zeichens Lackmaler, das redliche Opfer eines Bankrotts, ein von Natur aus sanftes Gemüt, das durch Not und Leiden in die schärfste Opposition getrieben worden war, und dessen leidenschaftliche Stimme die Klubs zu heißer Erregung hinriß. Lullier, der unzähmbare Marineoffizier, der zweimal wegen Schlägen und Verwundungen und zwanzigmal wegen Angriffen gegen das Kaiserreich verurteilt worden war ... Eine neue Acquisition von hohem Wert, ein Agent namens E. Moreau, eine feine und vornehme Persönlichkeit, hatte sich zur Stimme aller gemacht, verfaßte Proklamationen, deren männlicher Ton überraschend wirkte. Am ersten Tag, als im Komitee von einer Erhöhung des Soldes die Rede war, hatte er die Worte gesprochen: »Wenn man ohne Kontrolle und ohne Zügel ist, ist es unmoralisch, irgend eine Bezahlung zu beanspruchen. Wir haben bis jetzt mit unseren dreißig Sous gelebt, sie werden uns auch weiterhin genügen.«

Anfangs verwundert und diesen Gebietern ohne Ruf und Namen mißtrauend, hatte Paris sich schnell beruhigt, indem es in dieser friedlichen Revolution nichts als die Bewilligung seiner Freiheiten erblickte. Es freute sich des Sonnenscheins, des unaufhörlichen Vorüberziehens der Bataillone, die diesmal einem bestimmten Ziele zumarschierten. Die einen waren kommandiert, die südlichen Forts, sowie das von dem Volke der Garnison ausgelieferte Vincennes zu besetzen – die anderen hatten Ordre, die Ministerien zu bewachen, wo die erstbesten Delegierten mit wichtigtuerischer Miene sich breit machten, oder in der Mehrzahl der Mairien die Vertreter des Komitees zu installieren. Lullier präsidierte, auf einem Rappen sich tummelnd, dieser feierlichen Einsetzung. Ein alter Abenteurer, der Ex-General des Königs beider Sizilien, R. du Bisson, diente ihm als Generalstabschef, denn zu dieser Zeit boten seltsame Führer, wie Ganier d'Abin, der ehemalige Sergeant-Major, Paketboot-Schiffskoch und Generalinstruktor der Armeen des Königs von Siam, ihre Dienste an.

Während Varlin und Jourde von den Finanzen Besitz ergriffen, während »General« Bergeret im Speisesaal des Palastes und Assi, der Militärkommandant des Rathauses, an der gemeinderätlichen Table d'hôte thronten, nahmen die Blanquisten angesichts des Zentral-Komitees die übrigen Verwaltungsämter, Eudes das Kriegsministerium, Ferré und Raoul Rigault die Polizeipräfektur in Beschlag.

Auf dem Place de Grève betrachtete man voll Neugier die den Zugang versperrenden Barrikaden, die fünfzig in Batterie aufgestellten Kanonen und Mitrailleusen und hinter dem blitzenden Wald von Bajonetten die regungslose Fassade des zum Zentrum der Bureaus gewordenen Gebäudes, in dem über die Aufhebung des Belagerungszustandes, über die Amnestie der politischen Verbrecher und die Abschaffung der Kriegsgerichte verhandelt wurde.

Um acht Uhr abends hatte eine Delegation der Deputierten von Paris, denen sich einige Bürgermeister anschlossen, die Aufforderung des Komitees angenommen. Bis in die Nacht dauerte die immer lebhafter werdende Zusammenkunft fort. Clemenceau leugnet das Recht, sich gegen Frankreich zu erheben; wolle man aus der Sackgasse herauskommen, und von der Nationalversammlung die Wahlen erlangen, so gäbe es dazu ein einziges Mittel: den Platz den Deputierten und den Bürgermeistern als der einzigen legitimen Gewalt von Paris zu überlassen. Millière prophezeit eine Wiederkehr der Junitage; die Revolution sei noch nicht reif; der Fortschritt werde durch einen langsameren Gang erreicht. Heute siegreich, morgen besiegt. Es wäre klug, Konzessionen zu machen. »Wir wollen«, protestiert Varlin, »nicht nur eine Wahl des Gemeinderates, wir verlangen auch die Abschaffung der Polizeipräfektur, für die Nationalgarde das Recht, ihre Chefs zu wählen, die Bestätigung der Republik, die Wiedererstattung der Mietzinse, ein gerechtes Wechselgesetz, die Ausweisung der Armee aus den Mauern der Stadt.« Malon beweist das Maßlose eines solchen Programms. Die Sitzung zieht sich endlos in die Länge.

Um Mitternacht sandte das Zentral-Komitee seinerseits vier seiner Mandatare in die Rue de la Vanque: Varlin, Moreau, Jourde, Arnaud. Die Debatten werden von neuem aufgenommen, die Stimmung wird erregt. Louis Blanc sucht ein Terrain zur Verständigung. Die Bürgermeister, jedes Einverständnis ablehnend, weigern sich, mit dem Komitee eine Ankündigung zu unterzeichnen, worin die Komiteesitzungen auf ein von der Nationalversammlung zu bestimmendes Datum vertagt werden sollen. Da bricht Jourde los, droht mit dem blutigen, erbitterten Bürgerkriege. Man setzt ihm das Holla! der Preußen, ihr verhängnisvolles Wiederauftreten entgegen. »Nun denn! werden wir besiegt, so werden wir Paris niederbrennen und aus Frankreich ein zweites Polen machen!« Langlois schreit und enthüllt den wahrscheinlichen Beweggrund der Unterhandlungen: »Es fehlt euch das Geld, ihr wagt es nicht, die aus den armen Bataillonen bestehende Armee achtundvierzig Stunden ohne Sold zu lassen. Die Bürgermeister wären eure Bankiers.« Endlich verständigt man sich dahin, daß nur die Deputierten und die Bürgermeister eine Proklamation an Paris verfassen sollten, worin diese sich verpflichteten, morgen in der ersten Sitzung der Nationalversammlung die beiden dringlichsten Gesetzentwürfe: Wahl des Gemeinderats, Ernennung sämtlicher Chefs der Nationalgarde durch diese selbst, vorzulegen. Dafür würde das Zentral-Komitee sich auf dem Vendômeplatz, in der Militärdirektion, installieren und das Rathaus und die Bürgermeisterämter wieder zurückstellen.

Leider war am Morgen nichts von alledem geschehen. Als die Repräsentanten der Bürgermeisterämter kamen, um von diesen Besitz zu ergreifen, stießen sie auf die Weigerung des Zentral-Komitees. Die Corderie war wieder erwacht. In der Nacht hatten die ehemaligen Wachsamkeitskomitees, durch zahlreiche Blanquisten und kampflustige Revolutionäre vermehrt, eine Beratung abgehalten und beschlossen, daß das Komitee die bürgerliche Gewalt nicht aus den Händen geben dürfte.

Die neuen Herren von Paris hatten wieder Herren über sich.

Beim Rütteln und Stoßen des Waggons durchflog Poncet mehrere Zeitungen hintereinander. Die meisten reproduzierten das von vierunddreißig gemäßigten und zur Enthaltung von der Abstimmung ratenden Blättern aller Nuancen unterzeichnete Manifest. Als wäre die Flucht vor der Wahlurne nicht gleichbedeutend mit einer Auslieferung des Schlachtfeldes an die Entschlossenen! Der Pariser Officiel erklärte ruhig, das Zentral-Komitee würde den Deutschen gegenüber die Friedensbedingungen respektieren. Hingegen signalisierte er eine neuerliche Belagerung, die Durchschneidung sämtlicher Telegraphenlinien rings um Paris, die von Versailles ausgehende Isolierung der Hauptstadt von Frankreich, die verdächtige Ankunft zahlreicher Sträflinge, auf welche die Nationalgarde, indem sie in ihren Reihen selbst eine Art Polizei bildete, ein scharfes Auge haben müßte. Dieser Bericht stimmte mit dem seltsamen Gerücht, das sich in Paris verbreitet hatte, überein; das Gefängnis von Poissy sollte durch Thiers geöffnet und damit den Räubern und Galgenvögeln die Freiheit geschenkt werden.

Unbedeutende Maßregeln wurden feierlich bekannt gemacht: Aufforderung an die Funktionäre und Beamten, auf der Stelle ihren Dienst wieder aufzunehmen, Verbot an die Hausbesitzer, bis auf weiteres ihren Mietern zu kündigen; endlich die Mitteilung, daß vom 21. an die Löhnung regelmäßig ausgezahlt werden würde. Um die Einhaltung dieses Versprechens zu sichern, hatten Varlin und Jourde, die es noch nicht wagten, die in den Kassen des Finanzministeriums zurückgebliebenen vier Millionen anzugreifen, von dem Gouverneur der Banque de France, Rouland, eine Anleihe von einer Million, sowie das Versprechen auf eine zweite, auf Konto der Stadt zu schreibende, erhalten.

»All das, sowohl der Aufruf an die Provinz, als auch das Ansichreißen der Redaktionsbureaus des Gaulois und des Figaro«, – so sagte sich Poncet, während seine Augen über die mit weißleuchtenden Landhäusern besäten Hügel von Saint-Moud schweiften, – »all dies sind klipp und klar gesagt, willkürliche Handlungen der Regierung. Sie wollen, sie wollen nicht; vor allem aber möchten sie gerne! Mißbrauch der Kraft, böse Absicht; schon alle Laster der Gewalt. Und diese seltsame Friedenserklärung an die Deutschen! So folgt also Paris dem Beispiel der Nationalversammlung und sieht nicht mehr den wahren Feind.«

Traurig erwog er die Bedeutung der gestrigen in Versailles abgehaltenen Sitzung, in der Thiers zu leugnen gewagt, daß er Paris im Stiche gelassen, und die Majorität vor Furcht gezittert, vor Wut geschäumt hatte. Wenn sie widerwillig für die Dringlichkeit der die Gemeinderatswahlen, sowie die Verlängerung der Wechsel betreffenden Gesetzvorlagen votierte, so designierte sie dafür fünfzehn ihrer Teilnehmer, um dem Exekutivkomitee angeblich beizustehen, in Wahrheit jedoch, es zu überwachen und aufzustacheln. Da Trochu seine Schuld, die Kapitulation von Paris, auf die »Anstifter dieses brudermörderischen Bürgerkrieges« schob, bestätigte sie den Belagerungszustand für Seine-et-Oise. Sie überhäufte die Bürgermeister-Deputierten Clemenceau und Tirard mit Hohn und Schmach und befahl ihnen, ihre »Freunde«, die Insurgenten, zu brandmarken. Man trennte sich inmitten der durch den Bericht des Abgeordneten Turquet verursachten Aufregung: Dieser hatte sich gleichzeitig mit Chanzy verhaften lassen, um das Schicksal des Generals zu teilen und wie er die Verwünschungen und Drohungen der Menge zu erdulden. Sie waren von Leo Meillet, dem Bürgermeister des XIII. Arrondissements beschützt worden und zwei Tage gemeinsam im Gefängnis des Sektors geblieben. Jetzt waren Chanzy und ein anderer General, Langourian, in der Sante eingeschlossen; während der Überführung waren sie mißhandelt und geschlagen worden. Er hoffe, man habe sie nicht noch ermordet ... Da erhob sich ein einziger Schrei: die Bürgermeister-Deputierten sollten wenigstens Chanzy retten!

Von neuem wurde Poncet von Angst erfaßt. Daß der tapfere Soldat von Josnes, von Vendôme, von Le Mans, neben Faidherbe die Ehre und der Ruhm der Verteidigung, als Geisel in den Händen derselben Leute bleiben sollte, die so laut den Krieg bis ans Messer gefordert hatten, welche merkwürdige Verleugnung der Grundsätze. Daß man aber auch noch für sein Leben fürchten sollte, das sie so schlecht zu schützen wußten, das überstieg doch wahrhaftig alles Maß, das war empörend. Denn nach der seltsamen Art und Weise, wie das Komitee sich wegen des an Lecomte und Clement Thomas begangenen Mordes zu rechtfertigen verstanden, war alles zu befürchten. Auf ein und derselben Seite des Officiel beteuerte es seine Unschuld an den »wenigen, immerhin bedauerlicher Weise vergossenen Tropfen Blutes« und versuchte dann, diese »Vollstreckung der Kriegsgesetze« zu rechtfertigen. Hier der schüchterne Widerspruch gegen die Bevölkerung, dort die Sorge, das Wohlwollen nicht zu verscherzen. Welche Hintergedanken, welche niedrige Denkweise!

Sorgenvoll las der Chemiker einen Artikel des Delegierten im Journal officiel: »Die Revolution vom 18. März«. Das Auftreten der Proletarier war darin besprochen. Und Poncet sagte sich: »Ist es der soziale Kampf, der mich schreckt? Nein, dieser entspricht viel zu wirklichem Jammer, viel zu berechtigten Bestrebungen, als daß ich ihm nicht beistimmen müßte.« Er las: »Sollen die Arbeiter, die alles produzieren und nichts genießen, die inmitten aufgehäufter Produkte, der Früchte ihrer Arbeit und ihres Schweißes, Hunger und Elend leiden, ewig der Not und der Verachtung ausgesetzt bleiben«? ...

Ja, jetzt mußte das Proletariat an die Reihe kommen! Warum sollte das Bürgertum – die leeren Mägen der Revolution, die heute voll und satt waren – den Arbeitern die Befreiung verwehren, die ihm selbst zuteil geworden? Sollte es nicht, für die Schwächung des Charakters, für die Lockerung der Sitten, für die Unglücksfälle, gegen die man zu kämpfen hatte, zum Teil verantwortlich, Bildung und Licht gleichmäßiger verteilen, die Privilegien der Intelligenz allen zugänglich machen und die Früchte der Arbeit, Brot, Feuer, mit mehr Gerechtigkeit den Darbenden zuteil werden lassen? Ja, dieser Krieg, dieser unselige, in der großen Revolution unvollendete, wiederaufgenommene und im Blute des Jahres 1848 erstickte Klassenkampf, er hatte keinen überzeugteren Apostel als ihn. Doch nicht durch die Gewalt wollte er ihn ausgefochten sehen. Millière hatte recht: die soziale Revolution war noch nicht reif, der Fortschritt war nur auf dem Wege der Evolution möglich.

Und er, der sein Leben hätte hingeben mögen, um unter der vollen und frohen Zustimmung aller die neue Ära anbrechen zu sehen, er zitterte bei dem Gedanken an diese Wahnwitzigen – sie waren nicht nur in Versailles zu finden! –, von denen die einen die Zukunft mit Gewalt zutage fördern, die anderen sie zermalmen wollten, alle gänzlich der Mutter, dieses Frankreichs, vergessend, das vor dem deutschen Sieger am Boden lag, bereit, zu vermitteln... Für jeden Menschen, der sich noch etwas Vernunft zu bewahren gewußt, war der Weg klar vorgezeichnet: sich zwischen die beiden werfen, sie zur Versöhnung zu bewegen suchen, ihnen die furchtbare Ketzerei vor Augen führen, die zu begehen sie im Begriffe waren.

Ein Stoß schreckte ihn aus seinen Grübeleien auf, seine Reisegefährten stiegen aus: Versailles! Bei den ersten Schritten auf dem Perron überkam ihn das Unbehagen des Erwachens an einem fremden Orte. Ein doppeltes Spalier von Truppen umgab den Platz vor dem Bahnhof. Leute mit Profoßenmienen blickten jeden Ankommenden prüfend an; einer von ihnen forderte ihn ziemlich unhöflich auf, ihm das aus seiner Tasche hervorschauende Exemplar des Officiel, sowie die anderen Blätter: den Cri du Peuple, den Père Duchesne zu übergeben. Nach und nach verdüsterte sich das Gesicht des Polizeimannes. Trotz des vorn abgedruckten Manifests der Presse vermochten selbst der Constitutionel und das Paris-Journal nicht, ihn zu versöhnen. Nur wenig höflich bat er Poncet, ihm zu folgen. Schon hatte sich im Strom der Reisenden ein Kreis von Neugierigen gebildet. Der Chemiker entfernte sich, von feindlichen Blicken gefolgt.

Von der Rue Duplessis an, wo die Malerleitern längs der frischgestrichenen Kaufläden aufgestellt waren, wo eine ungewöhnlich dichte, geschäftige und geschwätzige Menge zirkulierte, erkannte er kaum mehr die Stadt mit den großen Pflastersteinen, zwischen denen überall die Grashalme hervorsproßen, mit den breiten, einsamen Alleen, in denen sich jetzt bis zu den militärisch bewachten Toren die Reihen der Zelte hinzogen. Gleich bei seiner Ankunft hatte er das System der Vorposten und Vedetten bemerkt, die die Säume der Waldungen, die Landstraßen, die Täler und Hügel besetzt hielten, und in deren Schutze Versailles sich verschanzte, um seine Verhandlungen zu pflegen. Überall Truppen, überall Kanonen. Die Stadt war nur noch eine ungeheure Kaserne. Am Gitter des Schlosses prüfte die in ihrer grauen, mit gelben Aufschlägen versehene Uniform martialisch aussehende Marineinfanterie die Einlaßscheine.

Poncet, der sich, auf die Vermittlung irgend eines befreundeten Deputierten rechnend, mit keinem Passierzettel versehen hatte, wurde der Einlaß verweigert. Glücklicherweise kam gerade Louis Blanc vorüber. Dank seiner Fürsprache durfte der Chemiker eintreten. Der berühmte Staatsmann von 1848, der Organisator der Arbeit trippelte eilig weiter. Das glattrasierte Gesicht, dessen rote Wangen seltsam mit den Runzeln an den Schläfen und dem greisenhaften Munde kontrastierten, hatte einen verdrießlichen Ausdruck. Er besaß nicht mehr seinen revolutionären Glauben von ehemals, er zitterte davor, daß verbrecherische Gewalttaten das Ideal gefährden könnten, das das seine blieb und dem er kürzlich erst wieder mit seiner wunderbaren Beredsamkeit gedient hatte. Er wiegte das Haupt: die Sache stand schlimm. Einige Kollegen hielten ihn im Vorübergehen auf. Die Truppen wurden dichter und ergingen sich, mit lauter Stimme debattierend, in dem geräumigen Hofe, wo der Sonnengott, der Roi-Soleil, auf seinem bronzenen Rosse in gebietender Haltung über all diese Zusammenkünfte und Versammlungen emporragte.

In dem zu den Kreuzungssälen führenden Vestibül ging Poncet an dem Grafen La Mure vorüber, anscheinend ohne ihn zu sehen. Der Graf, wie immer à quatre épingles, trug als Krawattennadel eine goldene Lilie; seine an zersprungenes Porzellan gemahnende Hautfarbe schien wie frisch lackiert. Weit davon entfernt, ihn zu grüßen, maß ihn der Abgeordnete von Indre-et-Loire nur mit einem niederschmetternden Blicke stolzer Verachtung. Es war die Rache für Poncets beim Diner in Charmont gehaltene Lobrede auf die Bestrebungen der Delegation und für die Begegnungen in Tours. Jetzt waren es nicht mehr diese ungläubigen Republikaner, die das Haupt erhoben. La Mure troff von befriedigtem Hasse.

Auf seinem Wege durch die lange, kalte Galerie, die längs der Höfe von La Smala und Le Marve zu dem zum Sitzungssaale umgewandelten Theater führte, hörte Poncet voll tiefen Schmerzes auf die Sarkasmen und die zornerfüllten Worte der Sieger des Tages. Bleich in dem bleichen Lichte, das durch die Scheiben drang, umgeben von dem Marmor und dem kalten Gips der historischen Büsten und Statuen, sahen sie voll ostentativer Verachtung auf die leise sprechenden Republikaner. Plötzlich fuhr Poncet auf.

Neben dem Herrn mit der korrekten Haltung, dem geistreichen Gesicht und den spärlichen Haaren, jener Offizier, der sich mit ernster Miene mit ihm unterhielt, das war doch Major Du Breuil. Blitzschnell durchzuckte Poncet die Erinnerung an die schmerzlichen Stunden, die er vierzehn Tage vorher in Charmont verlebt, an das intime Gespräch mit dem alten Du Breuil nach Eugen Reals Beerdigung. Lebhaft bewegt, trat er mit ausgestreckten Händen näher. Du Breuil hatte ihn bereits erblickt und eilte ihm entgegen. Voll Herzlichkeit sprachen sie von den Ihren. Dann stellte Du Breuil vor:

»Herr von Grandpre, Attache im Kabinett Thiers; Herr Poncet, der bekannte Chemiker.«

Ehrerbietig verneigte sich der Beamte, weniger vor dem überzeugten Republikaner, denn vor dem Gelehrten von Ruf, und bot seine Dienste an. Ob sie nebeneinander plaziert werden wollten? Man betrat das Theater, wo sie dank der Fürsprache des Herrn von Grandpre, der sich sogleich verabschiedete, auf einem Balkon Platz fanden.

Der halbvolle Saal unter ihnen brauste; das Parterre, der ringsumlaufende Gang, die vorderen Sitzreihen füllten sich und waren bald dicht besetzt. In der überhitzten Atmosphäre, im gelben Lichte der Glasluster wogten die schwarzen Gruppen durcheinander. Die Spiegel der Logen warfen das Bild der rotdekorierten Marmorwände, der vergoldeten Reliefs zurück. Auf der Bühne waren das Bureau, die Tribüne untergebracht. Unwillkürlich schweiften Poncets und Du Breuils Gedanken zu den glänzenden Schauspielen von ehemals zurück, zu dem eleganten, gepuderten Publikum, das sich an Rameaus Opern erfreut, zu dem Bankett der Gardes du corps, welches mit den Klängen von »Richard, o mein König!« Ludwig XVI. und Maria Antoinette begrüßte am Tage, bevor sie auf immer Versailles verließen ... Hier hatte Louis Philipp durch eine Galavorstellung die Einweihung des dem Volke in dem Palast der Monarchie geöffneten Museums gefeiert. Hier hatte Napoleon III. der Königin von England ein glänzendes Diner gegeben ... Heute beherrschte die Nationalversammlung, die Herrin über die Geschicke Frankreichs, den Schauplatz. Schon schwebte das Drama, das diesmal sich hier abspielte, das aufregendste, das es für Männer von Herz und Verstand geben konnte, gleich einer mit Elektrizität geladenen Gewitterwolke über dem Gewoge kämpfender Leidenschaften. Jules Grévy eröffnete die Sitzung.

Gleich zu Beginn erregen Louis Blanc und General Billot die Gemüter durch einige Worte persönlicher Berichtigung. Der Sturm bricht los, als der Präsident die Adoption der Familie des Generals Lecomte durch die Nation befürwortet, als M. Gaslonde den Vorschlag macht, die ehemaligen, durch Gambetta aufgehobenen Generalräte des Kaiserreiches wieder einzusetzen; jeder derselben sollte unter seinen Mitgliedern einige Delegierte wählen, die sich mit den Präfekten in die Verwaltung teilen sollten. »Angenommen! Angenommen!« ruft die Rechte, und votiert für Einbringung des Dringlichkeitsantrags. Nun berichtet Picard, daß die Nachrichten aus den Departements günstig lauteten; mehrere von ihnen boten bewaffnete Hilfe an. »Vortrefflich!« Unter allgemeiner Aufmerksamkeit, der Stille vor dem Sturm, verliest der Akademiker Vilet die Proklamation an das Volk und an die Armee. Er brandmarkt darin die Verbrecher und die Sinnlosen, die Paris schänden und feiert in exaltierten Worten das souveräne Recht der Nationalversammlung: »Euer Werk, euer Vorbild, eure Hoffnung, euer einziges Heil!« Schon erhebt sich die Majorität zur Abstimmung. Millière verlangt das Wort. Peyret ruft: »Man setze hinzu: Es lebe Frankreich, es lebe die Republik!« Der Blitz hat eingeschlagen. Die Rechte gebärdet sich wie wahnsinnig: Millière darf nicht sprechen. Um der Freiheit der Tribüne Achtung zu verschaffen, ist Thiers gezwungen, selbst für den Gegner einzutreten; im höchsten Falsett, um den lauten Widerspruch zu übertönen, schreit er: »Seien Sie überzeugt, daß Sie Ihre Autorität im Lande nicht erhöhen, indem Sie den Chef der exekutiven Gewalt unterbrechen und Ihre Gegenpartei anzuhören sich weigern!«

Mit nervösem Interesse folgte Du Breuil diesen ihm fruchtlos scheinenden Debatten. Poncet, der deren Tragweite nur zu gut erkannte, litt bei dem erregten Ton der Stimmen, beim Anblick der leidenschaftlich erhitzten Gesichter unter einem drückenden Unbehagen. Wie weit war man doch von einer Aussöhnung entfernt! Jedes Wort von Millière, von Louis Blanc entfesselte Hohn und Schmähworte. Einer der Fünfzehn jedoch beruhigte die Versammlung: Thiers wachte über ihre Sicherheit, wendete alle seine Fürsorge an die Wieder-Disziplinierung der Armee. Am die Person Schoelchers tobte ein Bacchanal: er brachte beruhigende Nachrichten über Chanzy und sprach den Wunsch aus, Saisset, zum Kommandanten der Nationalgarde ernannt, möge eine Revue über dieselbe abnehmen. Lockroy weist auf die Gefahr einer solchen Maßregel hin: das hieße, die bewaffnete Macht in zwei Lager teilen. Clemenceau tritt auf, verlangt dringend die Beschleunigung der Wahlen als einziges Beruhigungsmittel, denn man könne doch nicht eine neuerliche Belagerung von Paris im Sinne haben, denke doch nicht an eine Intervention durch Gewalt? Immer wilder wird das Bacchanal. Vergeblich sind Henri Brissons, Leon Says Worte. Über die Brüstung geneigt, hätte Poncet hinunterrufen mögen: »Jawohl, schnell die legalen Wahlen, sonst finden die anderen statt!« Wie war es möglich, daß nicht alle fühlen, wie darin allein die Rettung lag?

Thiers betritt in steifer Haltung von neuem die Tribüne: »Paris soll seine Wahlen haben, doch nicht früher als die anderen Städte Frankreichs. Man muß sich Zeit lassen; man schafft nicht so plötzlich die Gesetze. Ja, Paris soll seine Herrschaft über sich wieder erlangen, bald, sobald es nicht mehr in der Gewalt der Fraktionen steht ...« Aufs äußerste betroffen, fährt Clemenceau auf: »Zeit! das ist's ja eben, was uns fehlt! Wenn ihr nicht eine sofortige Maßregel bewilligt, welche den guten Bürgern gestattet, sich zu vereinigen, ist das Verderben besiegelt ...«

Ratlos, unschlüssig folgt ihm Saisset, unfähig, seine Bestürzung zu verbergen. Er kommt aus Paris, und in Paris ist die Revolution im Ausbruch! Die bis dahin getreuen Bataillone des XVI. Arrondissements haben sich geweigert, Passy zu verlassen. Im ganzen hatte er nicht mehr als dreihundert Mann zusammenbringen können! ... Nun stellt Tolain das Dilemma: zu den Urnen oder zu den Gewehren! Will man nicht, daß das Blut in Strömen fließe, so setze man einen Tag fest! ... Geschrei antwortet ihm: »Paris soll sich entwaffnen, dann wird man weiter sehen!«

Erstaunt blickt Du Breuil auf Poncet. Seinem militärisch schlichten Sinn war all das Gesehene und Gehörte unverständlich. Was konnte es der Nationalversammlung verschlagen, wenn sie die Gemeinderatswahlen bewilligte, da diese Forderung doch eine gerechte war? Sollten um dieser Sache willen Franzosen mit Franzosen kämpfen und Bruderblut vergießen? Er, der den Wahnsinn des Pöbels mit erlebt, der nahe daran gewesen, eine Beute der Volkswut zu werden, er hatte dabei nur einen mit Mitleid gepaarten Abscheu empfunden. Warum nur waren all diese Männer, denen doch keine persönliche Gefahr drohte, von solcher Rachgier erfüllt, daß sie Paris für das Verbrechen einiger büßen lassen wollten? ...

Wieder steht Thiers auf der Tribüne. Lange verweilte er bei den Ursachen des Konfliktes, den Kanonen, den Unterhandlungen, den Gewaltversuchen, dem weisen und politischen Rückzug ... Mit perfiden Phrasen Paris einlullend, es tadelnd, es bedauernd, mit dem allerdings skeptischen Versprechen, sein Möglichstes zu seiner Rettung zu versuchen, ging er über die übrigens unwesentliche Gesetzesvorlage hinweg ... Wie sollte dieses harmlose Heiltränklein imstande sein, den guten Bürgern die Augen zu öffnen, wo es selbst dem Mord nicht gelungen war? Die einzig mögliche Rettung lag in dem machthabenden Organe, in der unerschütterlichen Entschlossenheit, um jeden Preis, mit Unterstützung des ganzen Frankreich, seine Pflichten zu erfüllen.

Poncet fühlte sein Herz sich zusammenkrampfen; war es möglich? Scharf und schrill klang die dünne Stimme durch das gespannte Schweigen:

Diesen Beistand, den das Land anbot, man würde ihn annehmen, sobald es notwendig wurde! Heute mit hunderttausend Mann gegen Paris marschieren, das hieße, sich zu den Urhebern des Bürgerkrieges machen. Die hunderttausend Mann konnte man ja haben; aber vorher möge Paris überlegen, zur Vernunft kommen! Dann »wird es unsere Arme geöffnet finden, vorher jedoch muß es uns die seinen öffnen.«

Angesichts dieser verbrecherischen Hartnäckigkeit – denn Sache der Mächtigsten, der Aufgeklärtesten, derjenigen, die sich rühmen, die materielle und die moralische Kraft zu besitzen, ist es, den ersten Schritt zu tun, – sah Poncet die Partie nahezu verloren. Du Breuil gab sich sinnend dem mächtigen Eindruck hin. Thiers' hinterhältige Auseinandersetzungen zeigten ihm eine bis dahin halb unverständliche Sache von einem neuen Gesichtspunkte aus. Denn schließlich, woher kam, was wollte die insurrektionelle Gewalt? Waren die Wahlen ihr einziger Zweck? ... In einer letzten dringenden Aufforderung belastete Clememecau die Nationalversammlung mit der ganzen zermalmenden Wucht der Verantwortlichkeit. Und nun ließ sich eine zitternde Stimme vernehmen.

Favre erhob sich und schüttelte sein von Groll geschwelltes Herz aus. Der 31. Oktober, seine geschändete, verachtete Macht, die Angriffe gegen sein Privatleben, das bittere Gefühl, mit Trochu der Besiegte von Paris, der Sündenbock der Kapitulation zu sein, die Furcht, wenn er Schonung übte, in den Verdacht des Einverständnisses mit diesen verhaßten Revolutionären zu kommen, deren Fanatismus, heftiger als der seine, ihn in den Augen der Rechten verdächtigte, all das wallte und sprudelte in seiner glühenden Beredsamkeit und ergoß sich, einer ätzenden Lava gleich, in den tiefen Abgrund, der fortan zwischen Paris und ihm gähnte.

Taten, energische Taten gegen diese Handvoll Elender, gegen diesen Versuch einer unseligen Doktrine, das blutige, räuberische Ideal! Paris eine freie Gemeinde! Paris der Fabel von den Gliedern und dem Magen vergessend! Nur die Energie allein vermochte mit einem solchen, der ganzen Zivilisation angetanen Schmach fertig zu werden! ... Er hatte der Nationalgarde ihre Gewehre gelassen und bat Gott und die Menschen, ihm diese Schwäche zu verzeihen! Was war der gegenwärtige Zustand von Paris anderes, als der erklärte Bürgerkrieg mit feigem Mord, Raub und Plünderung? Mit der Meute paktieren, hieße den Deutschen das Recht zu ihrer Unterdrückung in die Hand geben ...

Saisset: »Nun wählen Sie!« ...

Und Favre: »Möge diese letzte Schmach auf sie selbst zurückfallen! Welche Bürgschaft kann der Sieger für unsere Zahlungsfähigkeit haben, wenn die Insurgenten gegen die Nationalversammlung ziehen wollen, um sie zu stürzen! Denn das ist ihre Absicht. Und wenn ihr dann in ihre Hände fielet, wäre das Schicksal der unglücklichen Opfer ihrer Grausamkeit das eure ...«

Bei jedem dieser Worte, die einen Schaum von Haß und Angst der Hauptstadt ins Gesicht spie, erzitterte die Versammlung vor Freude und jubelte im Bewußtsein befriedigter Rache dem Redner zu. Poncet verwünschte diese verhängnisvolle Gabe zündender Beredsamkeit, die sich in den Dienst behenden Ehrgeizes und verletzter Eigenliebe stellte. Unermüdlich flossen die Perioden dahin, schüttelten die Leichen der toten Generäle aus ihrer Grabesruhe, wüteten gegen die unglückliche Stadt, gegen diesen »Sumpf der Gemeinheit«, der so viele verabscheuungswürdige Elemente enthielt, gegen die mörderischen Nationalgardisten ... Langlois konnte nicht länger an sich halten: »O, das ist, abscheulich, so etwas zu sagen!« Von seinen Worten berauscht, seine Zuhörer berauschend, fuhr Favre fort.

»Man muß an die Provinz appellieren!« schrie Gaslonde.

Und Saisset:

»Ja, rufen wir die Provinz herbei und marschieren wir, wenn es sein muß, gegen Paris. Der Zustand muß ein Ende nehmen!«

»Marschieren wir!« wiederholte La Mûre.

Mit galligem Gesicht und blutunterlaufenen Augen schloß Favre: »...endlich die Elenden richten, die die Hauptstadt tyrannisieren!« Ein ungeheurer Jubelruf folgte seinen Worten, hageldicht fielen die Bravorufe und trafen Poncet wie ebensoviele Backenstreiche. Die Empörung drohte ihn zu ersticken. Die Rechte heulte und stampfte mit den Füßen. Da erklärte Clemenceau im Namen der Abgeordneten der Linken, infolge der herausfordernden Rede des Ministers ihre Wahlvorlage zurückziehen zu wollen ... Das hieß: ihr habt es gewollt! Poncet, tief erblaßt, atmete mühsam. Das Schicksal war entschieden! Die Versammlung geriet in einen Zustand des Deliriums.

Endlich beruhigte man sich wieder einigermaßen, um Tirard zu hören, der, soeben aus Paris eingetroffen, ein letztes Mal die Versammlung umzustimmen versuchte: »Kehrt er mit leeren Händen zurück, dann kann er für nichts mehr einstehn!« Da besteigt Thiers zum viertenmal die Tribüne. Er reicht den Bürgermeistern geweihtes Wasser, er wird glücklich sein, ihre Versöhnungsversuche von Erfolg gekrönt zu sehen; inzwischen wird er bestrebt sein, Paris (natürlich mit der nötigen Reserve) seine Rechte wiederzugeben. Er wiederholt seinen Refrain: »Ich öffne meine Arme, aber nach euch ...«

»Bekannte Melodie!« zischt Poncet. Und während mit Mühe und Not eine Ordre du Jour für die bevorstehende Umänderung der Gemeinderatswahlen der Departements – und von Paris – ausgearbeitet wurde, enthüllte sich ihm Thiers' ganzer Plan in all seiner tragischen Klarheit. Saisset, die Bürgermeister, – ein Spielball seines Ehrgeizes. Was der gewalttätige kleine Mann wollte und gestand, das war: Zeit gewinnen, die Armee neu organisieren und sich inzwischen der Provinz versichern! Und dann ...

Man brauchte nur die Depeschen zu lesen, mit denen er allabendlich das Feuer der Erregung zu schüren wußte, indem er bald ein seines Rechtes, seiner Kraft gewisses, vom ersten Tage an durch fünfundvierzigtausend Mann geschütztes Versailles, bald ein der Plünderung, dem Morde preisgegebenes, zur Vernichtung seiner furchtbaren Tyrannen bereites Paris zu schildern wußte ... Ach! diese Isolierung durch die Belagerung, in die man wieder zurückgestoßen wurde, diese Ungewißheit! ... Denn es war eitel Prahlerei, wenn man Frankreich als zum Beistand der Nationalversammlung bereit hinzustellen suchte! Eine solche Ungeheuerlichkeit war unfaßbar ... Die Armee? Poncet blickte auf Du Breuil, hoffend, in dessen Zügen einen Widerschein seiner eigenen Gefühle zu lesen. Doch er sah nichts als einen Ausdruck schmerzlichen Ernstes. Durch Favres Heftigkeit verwirrt, sagte der Major sich vollends von Paris los, fragte sich, ob eine Inanspruchnahme der Armee zu vermeiden war, und wie er in diesem Falle sich einer Pflicht entziehen könnte, die ihm im voraus schrecklich schien.

Erkältet und hastig drückte Poncet ihm die Hand, nur nach einem verlangend: diesen Käfig von Wahnsinnigen fliehen, aus diesem von der Hitze der Gasflammen und dem fieberhaften menschlichen Fluidum erfüllten Opernsaal entkommen, in dem die ergreifende, die schauerliche Tragödie sich abspielte.


Unter dem Kastanienbaum, dessen frische Blättchen unter dem Hauche der lauen Frühlingsluft sich zu entfalten begannen, betrachtete am nächsten Tage Poncet von seiner Lieblingsbank aus eine Reihe geschäftiger Ameisen, die ihre mikroskopisch kleinen Lasten durch die Allee schleppten. Welche Ordnung in diesem winzigen Reiche! Und traurig zerknitterte er den Officiel von diesem Morgen, in dem er die Vertagung der Wahlen infolge Mangels an Einverständnis mit den Bürgermeistern gelesen hatte, und der Drohungen gegen die Presse enthielt für den Fall, daß sie ein Attentat wie das ihres gestrigen Manifestes wiederholte. Er seufzte:

»Schon Tyrannen geworden! Sie, die so wütend gegen Binoy loszogen!«

Vor allem aber machte der Hauptartikel ihn nachdenklich. Paris ist im Recht. Paris, nicht die Nationalversammlung, die, unter dem Druck des Feindes gewählt, durch zahlreiche Demissionen zusammengeschrumpft, nicht die integrale und freie Volkssouveränität repräsentirte und nur eine Aufgabe zu erfüllen habe: den Frieden. Vermöge ihres exklusiven und ländlichen Charakters streng reaktionär gestimmt, stand diese aus der Provinz entstammende Versammlung nicht auf der Höhe der Ereignisse und mußte von Paris in den Hintergrund gedrängt werden. Und Paris, das sich weder von der Provinz trennen, noch dulden konnte, daß man die Provinz von seiner Hauptstadt loslöste, Paris, Haupt und Herz der demokratischen Republik, einig und unteilbar, besaß alle Rechte, sich selbst einen Gemeinderat zu wählen und dank seiner Nationalgarde über die öffentliche Freiheit und Ruhe zu wachen. So befreite es Frankreich und rettete die Republik ...

»Ein Gemeinderat?« sprach Poncet mit lauter Stimme. »Vortrefflich. Die öffentliche Freiheit und Ruhe? Zum Teufel! Ist das der Weg? Frankreich befreien – doch natürlich von der Nationalversammlung? So ist der gestern hingeworfene Fehdehandschuh aufgehoben, der Bürgerkrieg angenommen! Die Republik retten? Oder sie zugrunde richten? Im Grunde denken sie, auch wenn sie es nicht äußern, daß sie über dem von ihr ausgehenden Wahlrecht stehe. Sie allein verkörpert das Ideal der freien Volkssouveränität. Gut. Alle Republikaner urteilen so. Und für das Regime ihrer Wahl tun alle Parteien desgleichen. Meinem Gefühl nach ist die Republik, die Flagge, unter der die Schlachten von Coulmiers und Bapaume geschlagen worden, dieselbe, unter welcher ich künftighin für den Fortschritt, für die Freiheit, für das Eintreten aller unter der Kontrolle jedes einzelnen arbeiten möchte. Und, zum Teufel! ich weiß, die Nationalversammlung, so wie das Unglück sie uns beschert hat, so wie ich selbst sie gestern gesehen habe, ist nicht das getreue Abbild dieses Landes, in dem die Überzahl König ist! Sind aber diese neuen Ankömmlinge, die mit den Deutschen Frieden schließen und den Krieg gegen die Franzosen aufnehmen, fähig und berufen, im Namen dieser Republik, die ich liebe, zu sprechen? Für die Unbekannten mag es noch hingehen: ihre Taten sprechen für sie. Schon haben sie ihre erste Regung, den Entschluß, die Macht aus den Händen zu geben, um sie den Bürgermeistern zu überantworten, dementiert. Gestern abend haben sie Clemenceau, und Lockroy, die gekommen waren, um nach der Sitzung der Nationalversammlung die Dinge womöglich zu arrangieren, in frechster Weise empfangen. Hausdurchsuchungen fanden statt. Die Verhaftungen werden unermüdlich fortgesetzt, Präsident Bonjean wurde ohne Veranlassung eingesteckt, Clemenceau aus seiner Mairie vertrieben. Chanzy ist immer noch gefangen ...«

Versailles im Wahnsinn, Paris in Verwirrung. Je mehr er darüber grübelte, je weniger konnte er für einen der Teile Sympathie empfinden. Schmutz und Gewalttat auf beiden Seiten. Es waren Taube, die nichts hören wollten. Die Kundmachung der Bürgermeister, die in ergreifenden Worten an die glorreiche Einigkeit während der Belagerung erinnerte, das Vaterland sterbend, den Fremden vor den Toren zeigte und die Bevölkerung beschwor, die von der Nationalversammlung verheißenen Gesetze zu erwarten, begegnete gegenseitigem Achselzucken.

Was war von dieser patriotischen Vermittlung der Abgeordneten und Bürgermeister zu hoffen? Ja, bei ihnen war Verstand und Klugheit. Wer aber hört auf die Klagen, wo Hochmut, Eigensinn, Egoismus alles mit fortreißt? Beiden Parteien verdächtig, unter sich selbst in ihren republikanischen Meinungen geteilt, die einen konservativ, beinahe reaktionär, die anderen zwischen der doppelten Drohung der Kommune und des Königtums die rechte Mitte einhaltend, einige endlich viel weiter von Versailles als vom Rathause entfernt und gleichwohl von letzterem der Lauheit bezichtigt, besaßen sie nicht die geringste moralische Autorität. Die materielle Macht, die ihrer friedlichen Gesinnung einen Nimbus verliehen hätte, fehlte. Im Dienste ihrer guten Absichten eine fruchtlose Aufwallung des Herzens und die vergebliche Unterstützung durch etliche Bataillontrümmer.

Tatsächlich fand sich in dem großen Paris, außer den Rädelsführern des Rathauses und ihrer Volksarmee, keine entschlossene Persönlichkeit. Sich sammeln, um wen? Um eine flüchtende Regierung, die die tapfere Stadt verkannt, ihre Interessen verletzt, den Aufruhr entfesselt hatte und gleich darauf mit ihrer Armee verschwunden war, zu den Leuten des von ihr im Stich gelassenen Regiments sprechend: »Tut, was ich nicht habe tun können!« – Und ist denn übrigens, – so schloß man – dieses Zentral-Komitee so gefährlich wie diejenigen, deren Stelle es eingenommen, behaupten? Es will die Wahlen durchsetzen und dann gehen. Es verlängert die Wechselverfalls-Termine ... »Trotz der Ernennungen also«, sagte sich Poncet, »welche die Bürgermeister verkündet haben: Saisset an der Spitze der Nationalgarde, Langlois als Generalstabschef und Schoelcher als Artilleriekommandant, darf man auf den Bindestrich einer dritten Partei nicht zählen. Ich sehe Führer, aber keine Armee. Und Versailles wird, mit der Organisierung der eigenen beschäftigt, ihr keine schaffen können! Le Flô hat fünfundzwanzigtausend Erdsäcke verweigert, die Saisset für die Verteidigung von ihm verlangte; Thiers gab Schoelcher, welcher Truppen forderte, die Antwort: »Weder fünftausend Mann, noch fünfhundert, noch fünf.« Und die gestrige alberne Herausforderung war nicht danach angetan, die Gemüter friedfertig zu stimmen!« ...

Einige hundert Manifestanten waren vom Börsenplatz zum Vendômeplatz gezogen, eine Fahne vor sich hertragend, welche die Worte trug: »Vereinigung der Freunde der Ordnung«, und hatten unter den Fenstern des Generalstabes der Nationalgarde »Hoch die Nationalversammlung!« gerufen. Von einem Fenster herab antwortete Bergeret: »Laßt die Delegierten heraufkommen, wir wollen uns mit ihnen verständigen.« – »Nein, keine Delegierten, ihr würdet sie ermorden!« Endlich war es einer Anzahl Nationalgardisten gelungen, die Schreier zurückzudrängen.

Schwermütig betrachtete Poncet den herrlichen Sonnenuntergang, das leuchtende Azur des Himmels, unter dem die Stadt mit ihren glitzernden Dächern und ihren wie flüssiges Gold funkelnden Fenstern sich breitete, den riesenhaften menschlichen Ameisenhaufen, den all diese gewaltigen Erschütterungen in Aufruhr gebracht. Dann kehrten seine Blicke zu seinem grünenden Garten, zu dem Zuge der geschäftigen Ameisen zurück. Das fürsorgliche Völklein vollführte sein Werk der Arbeit und des Friedens.

Der Riegel der Eingangstür klirrte, der Kies der Allee knirschte unter schweren Schritten. Poncet blickte auf und vermochte einen Aufschrei nicht zu unterdrücken. Erschrocken eilte seine Frau aus dem Speisezimmer herbei. Martial stand vor ihnen, verstört, den Arm in der Binde.

»Um Gotteswillen«, schrie die Mutter, »du bist verwundet?«

Poncet ergriff die gesunde Hand und zog seinen Sohn liebevoll zu einem bequemen Lehnstuhl, den die Auvergnatin in ihren roten Armen herbeischleppte.

Martial versuchte zu lachen:

»Es ist nichts, gar nichts!«

Die Eltern bestürmten ihn mit Fragen und neigten sich besorgt über ihn.

»Warte!« rief Frau Poncet. Und schon kehrte sie mit einem Glase Wundbalsam zurück.

»Trinke, das wird dich stärken!«

Doch Martial wies es zurück:

»Nein, danke, man hat mir schon in der Apotheke etwas zu trinken gegeben. Es ist vorüber. Die Aufregung war größer als der Schmerz.«

Und mit fieberhafter Hast stürzten die Worte von seinen Lippen:

»Ich wollte euch besuchen. Ich gelangte aus der Rue Neuve-Saint-Augustin in die Rue de la Paix. Ich hatte einen Umweg um den seit gestern abgesperrten Vendômeplatz machen müssen. Welch eine Menschenmenge! Die Trottoirs, der Fahrdamm waren schwarz. Leute mit blauen Bändern im Knopfloch heulten: ›Es lebe die Ordnung!‹ Vorübergehende sagten mir, man hätte sich gestern zu einer Kundgebung in großem Stil verabredet. Aus Neugier blieb ich stehen. Lauter friedlich aussehende Bürger, darunter ganz komische, närrische Gesichter! Ich erkannte einen Polizeispion, der zur Zeit Sr. Majestät den Totschläger geführt; Thérould hat lange Zeit einen Denkzettel in Form einer Beule von ihm bewahrt. Vorn, gegen den Platz zu, mag es heiß zugegangen sein. Man hörte schreien: ›Nieder mit dem Komitee, es lebe die Nationalversammlung!‹ und sah eine trikolore Fahne wehen. Plötzlich Trommelwirbel, stärkeres Geschrei. Ich sagte mir: das wird schlimm enden! ... Das Geschrei und die Kommandorufe dauerten fort ... Und dann plötzlich Revolver- und Flintenschüsse, Stöhnen, ein fürchterliches Gedränge, Menschen werden niedergeworfen, getreten ... Ich fiel zu Boden, gegen einen Laden. Ich sah nichts als fliehende Rücken, in wilder Panik flüchtende Gestalten. Kugeln pfiffen. Als ich mich erhob – ich glaube, mein Herz muß einen Augenblick still gestanden sein – sah ich meinen Ärmel von Blut durchtränkt. Entsetzte Gruppen verbargen sich unter den Haustoren, fegten in scheuer Hast über das Trottoir. Menschliche Körper lagen reglos auf dem Pflaster ausgestreckt, andere schleppten sich fort, und überall bedeckten Stockdegen, Revolver, Hüte den Boden ... Man verband mich in einer nahen Apotheke, wo ein Greis, dem eine Kugel in die Schulter gedrungen war, gepflegt wurde ... Jeder erzählte, was er gesehen hatte. Die einen sagten, es seien die Männer der Ordnung gewesen, die zuerst geschossen hätten, die anderen behaupteten, es seien die auf dem Platze aufgestellten Wachen gewesen. Auch unter ihnen scheint es Tote und Verwundete gegeben zu haben ... Ich selbst kann von Glück sagen, es ist nur eine Hautaufschürfung ...«

Frau Poncet bestand darauf, sich zu überzeugen, ob er die Wahrheit sprach, und den Verband zu prüfen. Sie verstand sich darauf besser als irgend jemand nach den in den Ambulanzen von Tours gesammelten Erfahrungen. Sie erblaßte beim Anblick des über den ganzen Vorderarm laufenden blutigen Streifens, des entzündeten Fleisches ... Nein, die Wunde war nicht sehr ernst! Aber wenig hätte gefehlt ... Er war glücklich davongekommen ...

Mit trauriger Zärtlichkeit blickte Poncet auf seinen Sohn, der der Stolz seines Lebens war. Aus der Tiefe seines Herzens fluchte er diesen Ungeschickten, die die Scharmützel eröffnet hatten und durch ihr sinnloses Dazwischentreten nur noch Öl ins Feuer gossen. Der Anblick seiner Frau, wie sie diesen Arm verband, der Fleisch von ihrem Fleische war, versetzte ihn in fassungslose Erregung. Ah, diese Wahnwitzigen, die aufeinander losschlugen und soeben das erste Blut vergossen hatten!


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