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Dritter Teil


Erstes Kapitel.
System Lannas. Sein Glück und Ende

Lea Terra trat endlich ein, Graf Erwin Lannas wartete volle zwei Stunden. »Sie sind zu geduldig, Graf Lannas. Inzwischen waren wer weiß wie viele da und haben die Geduld verloren. Sie allein überleben immer alle.«

Ihre glänzenden Schultern machten einen Ruck, ob es Unverständnis ausdrücken sollte oder nur dem schillernden Hauskleid galt, damit es tiefer falle. Auch von den Armen fiel es, sie standen als märchenhaft weiße Pflanzen in den aufgeblätterten Ärmeln. »Jetzt werden Sie sagen: diese Bewegung, gnädiges Fräulein, vergütet mir die zweistündige Wartezeit.« »Sie sind bescheiden, Graf Lannas.« Wobei sie vor ihm umherging.

Lange Schenkel wölbten sich schillernd bei jedem Schritt, das Gesäß ging wie die Wiege aller Träume. Er sah: sie führte ihm das Rennpferd vor, das Klassetier, Seligkeit und Hoffnung ganzer Volksmengen. Sie selbst nur blickte darauf nieder. Unwahrscheinlicher Schwung von Brust und Hals, darüber aber dies Gesicht in allem Glanz doch etwas hart und etwas müde. Die Malerei der Augen unterstrich nur, daß sie prüften und wollten. Beim angestrengten Rot dieser Lippen wurden die beiden blassen Züge neben ihnen um so fragwürdiger. Glorie hochblonder Haare um dies Gesicht?

»Sie müssen mehr fordern, Graf Lannas.« Schleierlose Bühnenstimme. »Sie müssen sich die Schauspielerin, ganz für Sie allein, in hoher Schule vorreiten lassen. Umsonst sitzt ein Mann wie Sie hier doch nicht Tag für Tag sechs Stunden Reklame.«

»Zuweilen haben Sie die Ausdrucksweise Ihres Bruders«, sagte er. Sie, schnell hin: »Also nein. Für Sie bin ich die Komödiantin nicht. Wozu? Ein alter Freund, da brauche ich nicht fortgesetzt auf der Höhe zu sein.«

Sie fiel, aus Gewohnheit vollendet wie für Zuschauer, in den nächsten Sessel. Schöner breiter Gobelinsessel, um die vergoldeten Lehnen gruppierten sich ihre fehlerlos modellierten Finger sofort auf die günstigste Art. »Dafür, mein Freund, müssen Sie mir den ganzen Abend vorlesen. Ich bleibe allein. Ich habe Kopfweh, Ihre Stimme beruhigt mich. Im Theater habe ich abgesagt – jetzt eben, sobald ich wußte, wir seien allein.«

»Ich liege zu Ihren Füßen«, sagte er höflich. »Aber geht es denn noch, daß Sie absagen? In anderthalben Stunden sollen Sie auftreten.«

»In eindreiviertel. Aber ich denke nicht daran.« Sie sah tief müde aus, er widersprach nicht. »Sagen Sie mir lieber, mein Freund, welchen Bilderrahmen Sie vorhin so eilig hinter die anderen schieben wollten. Es gelang nicht, da liegt er noch.« Sie langte danach.

»Ach ja«, – mit Seufzen, das auch im Parkett sowohl hörbar wie sichtbar gewesen wäre.

»Ein Kollege aus Ihren Anfängen«, sagte er, wohl wissend, es sei der junge Mangolf. Sie, überzeugt, er wisse es: »Ja. Tiefe Provinz. So jung sollte man selbst einmal gewesen sein? Durchaus unglaubhaft.«

»Sagen Sie mir eins!« Bei dieser Stimme sah sie auf; die Stimme war bewegt, sie hatte Klang, ja Wärme. »Was haben Sie, Erwin?« Er vollendete: »Wenn Herr Mangolf Sie damals hätte heiraten wollen, wären Sie jetzt glücklicher?«

Lea, starr: »Ja, Sie sahen immer viel. Ein Spaziergänger, der gerade vorbeikommt, wenn die anderen lachen oder weinen. Meistens natürlich weinen sie. Aber dazwischen sind die guten Zeiten. Sie kamen wohl gerade nicht zu den guten Zeiten.«

Er sagte mit seiner neuen Wärme: »Kein Spaziergänger, Lea. Schon längst keiner mehr. Sie sehen doch, wo ich festsitze die Stunden, die Tage. Zuerst freilich zeichnete ich Sie nur.«

»Mich? Meinen Schminktopf.«

»Das ist lange her. Wollen Sie nur selbst hinzugelernt haben? Ich sah, welch' eine Künstlerin Sie sind!«

Die Künstlerin horchte auf.

»Dies fing an mit Ihrem Schuh, mit dem Fuß, der darin ging, dann kam der Gang.«

»Bis Sie beim Gesicht waren –«

»Da war das menschliche Wesen entdeckt. Ich selbst war erst jetzt eins. Ich ward es an Ihnen, Lea Terra. Andere müssen vielleicht einen Fall tun oder Opfer werden. Ich aber erlebte an mir alles, weil eine Frau es so gut spielte. Schon damals sagte ich ganz laut: ich liebe sie.« Wobei er erschrak, noch heute.

»Nur weiter«, verlangte sie. »Was hielten Sie also von mir? Das war noch fast am Anfang; noch hatte es sich nicht herumgesprochen, ich sei ohne Herz.«

»Sie, ohne Herz! Ich bin der Gegenbeweis. Ich lernte fühlen nur durch Sie.«

»Immer Erfolge gehabt zu haben, und immer falsche!« Sie fragte vorgebeugt, die Hände gefaltet: »Wissen Sie noch, Graf Lannas? Toiletten mit Tiefe. Das war mein Kennwort, darin äußerte sich das Mißtrauen beider Parteien, der Partei der Tiefe wie der Partei der Toiletten. Mir durfte man Raffiniertheit lassen und allenfalls Kraft. Aber Herz? Kein Herz, – und wenn ich mich auf der Bühne wund schlug, ohne aufzuwachen aus meinem Gefühl.«

»Sie werden verehrt.«

»Junge Mädchen. Sie kommen wie Mäuschen zu der Katze. Möchten wissen, wie sie's macht, so stark zu sein, und schielen dabei nach dem Mäuseloch. Männer? Es gibt in Berlin keine Schauspielerin, zu der sie weniger wahre Beziehungen haben als zu mir: trotz dem großen Männerbetrieb hier«, schloß sie schleierlos.

Er sagte, die Augen niedergeschlagen: »Sie bleiben in allem doch unberührt.«

»Das reden nur Sie sich ein«, sagte sie ohne Spott.

»Die andere Seite ist, daß jene, was sie sonst an Ihnen auch zu schätzen wissen, das Menschenwesen nie lieben. Sie fürchten es. Jeder von ihnen sucht eigentlich das Mäuseloch.«

»Sie, Graf Erwin, fürchten nichts«, sagte sie ermunternd.

»Was wäre es wert?« fragte er. »Aber aus dem Spaziergänger, der Einblicke sammelte, wurde jemand, den die Einblicke erbarmten. Dann kam erst der Mann, der Sie liebt und daher Sie retten will. Lieben heißt wollen.«

»Erbarmen?« Sie schnitt eine Grimasse wie ihr Bruder. »Wenn nicht Sie es wären, der mir das sagt –. Mein Freund, Sie werden schon grau; wie lange noch soll man Ihnen Knabenfehler verzeihen. Sprechen wir deutlich! Ich habe unter Herrn Mangolf sehr gelitten – schon gut ein halbes Leben lang. Was ich geworden bin, kommt mit auf seine Rechnung: die Kunst – und dies hier«, – mit Wink durch das Zimmer, wo Gobelinsessel, tiefe kleine Sofas, dreieckige Rohrstühle in Form vergoldeter Käfige gruppenweise warteten auf den Harem von Männern.

»Wenn ich Ihnen alles zu sagen wagte!«

»Was noch?« fragte sie feindlich.

»Was ich mir wünschte.«

»Was Sie schon wünschen können!« Sie versank in Gedanken – dann in Schmerz. Er sah zu, er war im Schauspiel. Das Zucken der beseelten Hand, dieser tragisch gewölbte Hals, das überdeutliche Spiel von Brauen oder Mund, es machte den zum Zuschauer, dessen Herz doch selbst so schwer war. Verstumme!

In der Scham, der Qual seiner Geringheit suchte er nach dem Bild Mangolfs, das sie vorhin genommen und nicht wieder fortgelegt hatte. Sie mußte es bei sich selbst versteckt haben, sie trug es am Körper! ... Da sagte sie schon: »Herr Mangolf ist auch nicht alles ganz allein geworden, an einer Komödiantin hing er. O! er wird hängen bleiben.« Grausamer Blick, Erwin erbleichte.

Viel ruhiger: »Älter zu werden ist ein Glück. Vor Ihnen werde ich mich nicht verstellen.« Um ihn zu versöhnen! Das Herz ging ihm scheu auf. »Gefühle, die schon lange dauern, haben nun mehrmals einen Knick weg. Dienen sie noch immer? Dann scheinen sie unentbehrlich. Verbrennen Sie sich nicht die Finger, Erwin!« Sogar gütig.

Hier klingelte es. Schnell noch hingesprochen, wie das allenfalls noch Wissenswerte: »Herr Mangolf hat große Unannehmlichkeiten. Was zwischen uns stand, hat er herzlich satt. Wenn ich will, gibt er alles auf, er läßt sich scheiden ...« Schon kamen Herren.

 

Zusammen kamen Kommerzienrat von Blachfelder junior und Doktor Mörser, gleich nach ihnen erschien Mangolf mit dem jungen Schellen. Der Sohn des Zeitungsgottes, der hinter Wolken wirkte, war persönlich laut und sichtbar wie je, sogleich hatte er Geschäftsgeheimnisse mit der Schauspielerin. Er bat sie ins Nebenzimmer, schrie dort aber Liebeserklärungen, die man bis herein hörte.

Lea Terra war ihm gefolgt, um dem zudringlichen Mörser auszuweichen. Schellen hatte denselben Grund. »Gleich mit uns beiden hat es die Mißgeburt«, sagte Lea. »Mißgeburt war auch das Wort der schönen Schwertmeyer«, sagte Schellen. »So nennen ihn die Damen mit guter Witterung, bei denen er sich sein Alibi holen möchte. Welchen Jungen erwarten Sie denn hier? Außer mir?« fragte er den Nachschleichenden robust. Mörser war nachgeschlichen. Er tat zerstreut, aber die Augen wurden trüb vor Angst. »Sie müssen Ihren Herrn Vater wohl für restlos allmächtig halten«, sagte er dann doch und zog die Lippe drohend von seinen Zahnlücken weg. Zum Glück für ihn ging hier das Telephon; Lea holte Schellen, er sollte der Theaterdirektion sagen, daß sie liege. Es war zu hören, wie er sich für den Arzt ausgab. Aber da der Sekretär des Theaterdirektors noch zweifeln wollte, nannte er seinen furchtbaren Namen.

»Was tut er hier?« sagte drinnen Blachfelder zu Mangolf, – der seine unbeteiligte Stimme behielt.

»Und Sie, Herr von Blachfelder? Wir sind bei einer Schauspielerin. Sie haben ihr seit neulich wieder einen herrlichen Degas hergehängt.«

»Eine Tonalität! Kein Geld bezahlt das.« Der jüngere Chef der Kalifirma entzückte sich. Seine bleiche, mandeläugige Schönheit, die schon ermüdete, blühte wieder auf vor dem teuren Bild. »Die Kunst rechtfertigt alles«, sagte er entzückt. »Lea ist Künstlerin.«

Mangolf führte dies nur aus. »Die Kunst rechtfertigt Schellen, denn er sorgt für Reklame. Andere sorgen für anderes.« Wink über die Wände.

»Sie hält ihn doch noch an der Strippe«, dachte Blachfelder, sogleich aber dachte er gewählter: »Alles mag das Leben uns erfüllen. Das Weib streicht drüber hin: fort.« Laut sagte er: »Verzeihen Sie die Frage, Mangolf: früher schienen Sie manchmal Rot aufzulegen. Da waren Sie jung. Quält das Vergehen der Jugend Sie garnicht? Ich liege Nächte wach.« Mit Handbewegung: »Aber zur Politik! Die Tangerfahrt des Kaisers hat gewirkt wie Zauber.«

»Liegt sie Ihnen?« fragte Mangolf ruhig.

»Ich sage nur: blaues Meer, weißes Schiff, vorn drauf Gestalt im Adlerhelm, er versteht sich auf Wirkung.«

»Wir alle. Deutschland versteht sich auf Wirkung. Wenn das genügt –«

»Sie werden kritisch?« Man sah Blachfelder innerlich abrücken. »Herr Unterstaatssekretär, Sie sollten doch vorsorgen. Wird die Tangerfahrt ein großer Erfolg, müssen Sie es gleich gesagt haben.«

»Das wird sie, ich sage es.« Mangolf belebte sich. »Sie ist es schon. Infolge der Tangerfahrt hat Frankreich endlich den Mut gefunden, dem englischen Bündnis näherzutreten, das es schon längst haben kann. Darauf Anfrage von uns bei unseren Freunden in Rom. Darauf großes Durcheinanderrennen in Paris. Werden sie ihren wütenden Minister des Auswärtigen Krieg machen lassen?«

»Wir wollen Frieden«, beteuerte Blachfelder. »Wir tun alles für ihn.«

»Wir stellen ihn auf die Probe. Ein guter Friede muß tragfähig sein.« Worauf Blachfelder ihn ins Auge faßte; aber Mangolf blieb undurchsichtig. Plötzlich sagte er, daß er fort müsse, gerade jetzt werde im Auswärtigen Amt aus Paris die Entscheidung erwartet: Sturz des Ministers, sonst neun zu eins für Krieg ... Stürzt er, wird Lannas Fürst«, warf Mangolf noch hin. Aber Blachfelder verlor den Gleichmut erst jetzt. »Wie? Fürst? Also war was dran! Sagen Sie aber, stimmt es auch? Kann man ihm gleich gratulieren? Sie! Mangolf!« Es half ihm nichts, Blachfelder blieb allein.

»Man lebt in geschichtlichen Begebenheiten«, sagte er erfüllt, er trat an ein offenes Fenster, hoch über dem weiten, hastenden Platz, wo in der schönen Junisonne niemand so viel wußte. Kaum aber hatte er hinuntergesehen, jagte er dem Unterstaatssekretär bis in den Flur nach, er holte ihn bei den Schultern zurück. »Das müssen Sie noch abwarten.«

Da erblickte Mangolf seine eigene Frau mitsamt Alice Lannas. Soeben traten sie ins Haus. Erwin Lannas, der fortgegangen war, kehrte um und folgte ihnen.

Ihr Eintritt schuf Minuten erregter Stille. Kein Geschrei am Telephon mehr, Schellen konnte nicht genug Hände küssen. Den Mörser kam die schuftige Beflissenheit an, die auch seinen Onkel Knack vor noch Stärkeren ergriff. Mangolf schien plötzlich mit seiner Frau hier verabredet zu sein, er setzte sie neben Lea, als Lea zum Tee bat. Dann hatte aber Bella, durch eigene Kunst, Herrn Schellen neben sich. Auch Herrn von Blachfelder, den Mörser, ja selbst den Grafen Erwin zog sie an sich, – indes Lea mit Alice Lannas in ihr kleines Zimmer verschwand. Mangolf sah seine Frau im Salon seiner Geliebten vier Herren tummeln. Die Herren wußten nicht wie ihnen geschah, so herausfordernd war Bella; aber der Augenblick konnte nicht fern sein, da Schellen frech ward. Mangolf ging lieber vorher.

Lea und Alice betrachteten einander in dem kleinen bunten Zimmer, bei Lackmöbeln, Porzellanlüfter, hell bemalten Seidentapeten. Lea, mit Blick umher: »Hier bei mir! ... Ich gehe nicht fort, wissen Sie, ich habe Kopfweh. Nein, ich wußte. Sie kämen!«

»Von Ihrem Bruder? Daß ich Sie sehen darf! Sie, seine Schwester. Wissen Sie, daß Sie ganz anders wirken als auf der Bühne?«

»Weil ich alles dort spiele, nur nicht Bewunderung, nur nicht – Demut?« – und Lea wollte die Hand der anderen mit ihrem Mund berühren. Aber Alice zog Lea an ihre Brust.

Drüben tollte Bella. »Hände weg, Schellen! Wir sind bei der Schauspielerin, die die meisten Brillanten hat. So wohnt man heute. Wer auf der Höhe ist, zieht nach dem neuen Westen. Ich in meinem Möllendorffschen Palais sitze da wie Nauke. Hier sehn Sie nichts als Palais'!« Sprang aufs Fensterbrett und war kaum zu halten.

Blachfelder sagte, in Genua kenne er eine Straße, die aus zehn alten Palästen bestehe. Hundertsechzig neue seien mehr. Schellen benutzte dies zu überdeutlichen Anspielungen auf die erste Hochzeitsreise Bellas, als nur der Bräutigam Italien erreichte, die Braut aber umkehren mußte. Sie schwang sich weiter aus dem Fenster vor Gelächter; Erwin Lannas, schon längst um sie besorgt, zog sie ins Zimmer. Auf seiner Schulter lag sie einen Augenblick wie entkräftet. »Gott! bin ich unglücklich«, glaubte er gehört zu haben. Sie tollte schon wieder, sie sah kaum mit wem. Aber der junge Schellen hatte umso deutlicher erfaßt, welche Aussichten ihre Krise ihm eröffne.

Alice und Lea wichen vor dem Lärm bis in das Schlafzimmer. Weiß und Silber; das Bett so niedrig, daß die weißen Felle, hoch am Boden gehäuft, fast die Kissen berührten. »Ein einschläfriges Bett!« sagte Alice. »Was nichts beweist«, sagte Lea. »Doch, doch,« sagte Alice. Schüchtern setzte sie hinzu: »Sie spielen doch immer noch mehr Komödie, als daß Sie lieben.«

Die Schauspielerin ward bös und traurig anzusehn. »Nun also, ja: meine Kraft, mein Temperament, mein ganzes Liebes- und Lebensvermögen ist verzehrt – vom Komödienspiel. Meine Ausschweifungen sind Maske, sind Angst, sind leere Gier nach Versäumtem. Das hat mich's gekostet, dies verhaßte, undankbare, unentbehrliche Komödiespiel! Jetzt, in Jahren, wo es Zeit wird nachzuholen, laß' ich junge Leute beim Bühnenausgang warten. Junge Leute, deren Bild in erregten Zuständen ich den ganzen Tag vor meinen Sinnen gehabt habe: da stehn sie, ich aber, schlaff und verbraucht vom Spiel, schicke sie fort. Dreck! sage ich noch, wenn ich ins Bett sinke.«

Womit sie am Bettrand hinsank und den Kopf zwischen die Hände nahm. »Ich spreche zu einer keuschen Frau«, murmelte sie. »Sonst schwiege ich.« Alice, bei ihr: »Verstehen Sie denn, daß wir unser ganzes Leben einen Mann lieben, dem wir nie gehören?« – »Nur darum lieben wir ihn«, sagte die Schauspielerin.

Sie erklärte der Dame, die so wenig wußte, wie es sei, einen Mann, im Grunde der einzige, betrogen und verloren zu haben. Wiederbeginn, neuer Verrat, seiner, ihrer, samt Haß, Widerstand und Treue. Erfüllung? Genuß? Fast nie, vor lauter Kämpfen. Aber unverbrüchliche Treue, trotz allen Gewalten des Lebens, bei Erniedrigungen, im Selbstverlust. Die Stirn gerunzelt, die Worte stark hervorgestoßen: »Wäre ich nicht immer erschöpft vom Komödiespiel, vielleicht hätte ich andere geliebt. So ist er mein Leben.«

Alice Lannas aber, mit Rücksicht auf sich selbst: »Wäre es nur das?« Sie bedachte: »Wirklich nur, weil auch ich lieber herrschen als lieben will?« Ehrgeiz – höhere Stufe des armseligen Snobismus, der Leidenschaft aller. Aber selbst Bella liebte! Selbst die geborene Knack auf streng verteidigter Lebenshöhe versäumte nicht, zu lieben, verbotene Wege zu gehen. Alice Lannas kauerte sich neben der Schauspielerin hin.

»Ich frage mich oft, warum ich Ihrem Bruder nicht gehöre. Ich bin nicht fromm. Was bleibt dann. Die Klasse? Das Beispiel für das Volk? Mein Gott, wie lange dauern wir noch, inzwischen nimmt jeder noch schnell das seine. Es wäre leicht.« Sie schwieg; denn undeutlich erschien vor ihrem Sinn, daß es zu leicht wäre und daß tiefere Rache an ihrem Schicksal Enthaltsamkeit sei ... So versanken sie in den weißen Fellen, ganz eng beisammen, Alice und Lea.

 

Da ging besonders lärmend das Telephon. Zugleich erschien Frau von Haunfest-Blachfelder, sie stürzte sofort herein zum Telephon: »Theater? Schon wieder, na schön.« Nach dem Diktat Leas: »Sie denkt nicht dran, sie hat Kopfweh. Wahrscheinlich so lange, bis Sie mehr zahlen.« – »So ist es!« rief Lea. Die geborene Blachfelder, immer hemmungsloser: »Suchen Sie die Schumsky. Wenn sie statt Lea spielen soll, müssen Sie sie suchen, wir haben sie versteckt. Jawohl, hier im Badezimmer. Na denn auf Wiedersehn, Direktor. Sehen Sie wo Sie bleiben, ich muß was trinken.«

Die Blachfelder umarmte Lea; Alice Lannas sah leider, daß nicht einmal ihr starker Alkoholduft Lea abstieß, viel weniger die klebrigen Hände, das Figürchen, das unter der Berührung der Freundin hysterische Windungen machte.

»In dreiviertel Stunden soll er anfangen. Was tut der Mann!« rief Blachfelder junior, während sein Schwesterchen sich eigenhändig ein Drink mischte. Der Eidotter fiel ihr aufs Kleid, dennoch lehnte sie jede Hilfe ab. Ohnehin hatte sie sich schon wieder was abgetreten. Ihre Perlenschnur war offen, Lea schloß sie ihr, es fiel auf, wie zart. »Ihr Schwesterchen ist ein bezaubernder Mensch«, hörte Alice sie leider sagen. Blachfelder erwiderte: »Wenn ihr nicht immer das Rot zerliefe! Geben Sie ihr doch ein Rot, das standhält gegen Alkohol.« Hierauf bediente er Frau von Tolleben.

Auch Doktor Mörser war voll Aufmerksamkeit. Beide zugleich, die Diplomatendame und den schönen jungen Sohn des Zeitungsringes suchte er an sich zu fesseln, er gab Nachrichten über die internationale Krise. Die Nachrichten des Hauses Knack klangen schlimm. Von dem Ministerrat, der zu dieser selben Stunde in Paris tagte, war Nachgiebigkeit nicht zu erwarten: Knacksche Vertrauensmänner hatten es von den Teilnehmern selbst. Schellen warf ein, das brächten seine Blätter sowieso. »Nur nicht zurückbleiben!« – »Die Industrie rechnet mit Krieg«, sagte Mörser, der Speichel lief ihm herab. Sein schmutzfarbenes Gesicht bedeckte sich bis auf die Glatze mit dünnen Fältchen der Habgier.

Blachfelder junior aber lehnte sich zurück, er strich über seine glatte Stirn. »Ach ja, was ich fast vergessen hätte: in diesem Augenblick stürzt in Paris der Minister. A tempo ist der Herr Reichskanzler Fürst.«

Stille; Blachfelder badete in Wirkung. Er sah Alice Lannas an, sie sollte ihn bestätigen. Doktor Mörser verbeugte sich nach ihr. »Der hohe Herr Papa wird Fürst bei Kriegsausbruch. Sofort!« behauptete er und sah nach der Uhr.

»Und wir sitzen hier wie von unserem Jahrhundert vergessen«, sagte Blachfelder verwundert, worauf minutenlange Ausrufe des Erstaunens, der Spannung, der unbedenklichen Bereitschaft, diese von Bellona, der geborenen Knack. Lea Terra freilich mischte ihre private Kampfstimmung in die des Weltteils, sie erklärte das Theater nicht mehr betreten zu wollen, bevor Direktor Necker ihr die Gage erhöhe. »Necker soll auch fort!« rief Schellen. »Nackte Machtfrage«, rief Lea, – indes Alice und ihr Bruder sich ansahen. Ihm hatte sie von Kopfweh gesprochen, der neuen Freundin aber davon, daß sie nur ihretwegen bleibe.

»Nackte Machtfrage«, wiederholte eine Gesangsstimme von der Tür her, und Gräfin Altgott hielt Einzug mit dem Abgeordneten Schwertmeyer. Sie suchten Herrn Mangolf. Der Reichskanzler war unsichtbar, selbst für seine alte Freundin. »Ist es wahr, seine Ernennung ist heraus? Herr von Tolleben wird Staatssekretär?« Alice Lannas bekam sogleich wieder ihre ironische Zurückhaltung. Die Altgott kannte sie, daher unterließ sie Versuche; aus eigenem behauptete sie: »So viel ist sicher, daß das Stadium der Konversationen hinter uns liegt. Die nackte Machtfrage wird gestellt.«

»Habe ich das nicht auch schon gesagt?« rief Lea. Die Blachfelder, die in ihrem zweiten Drink die Schnäpse samt und sonders mischte, gab ihr lärmend recht. Jeder stimmte irgend jemandem zu, ohne daß er wissen konnte, welcher Konflikt gemeint sei, der mit Necker oder der andere. Schwertmeyer bemühte sich vergeblich um Klarheit. Sein Fuchsgesicht stieß spitzschnäuzig ins Gespräch, mit gefletschten Zähnen fuhr es ab. »Wozu regen Sie sich auf?« fragte Schellen ihn. »Sehn Sie Blachfelder an! Er wartet ruhig auf Mangolf. Mangolf kommt wieder, hier hängt er.«

»Eine Viertelstunde früher als die Börse erfahre ich es immer noch«, sagte Blachfelder; aber Schwertmeyer, außer sich: »Ich muß es eine halbe früher wissen!«

»Für wen?« fragte Schellen. »Für das Bankhaus Berberitz? Für Knack? Von der schönen nationalen Rede, die Sie gestern gehalten haben, werden Sie wohl nicht fett?« schrie er frech. Der Abgeordnete überschrie ihn. »Sie haben es leicht, junger Mann. Ihre Informationen dürfen falsch sein. Sie verdienen doch dran. Wenn meine nicht stimmen, flieg' ich.«

Noch stürmischer als sie ging das Telephon. Sicher Mangolf! Die Gräfin Altgott erreichte es allen voran, mit kicksender Gesangsstimme rief sie hinein: »Nicht wahr? Das Stadium der Konversationen liegt hinter uns, die nackte Machtfrage wird gestellt.« Gleich darauf taumelte sie zurück. »O Himmel, alle guten Geister, wer ist das?« Sie hielt sich die Wangen. »Der Mensch hat mir ein Wort zugerufen, in meinem ganzen Leben hatte ich es nicht gehört.« – »So lange Sie schon von der Bühne fort sind, haben Sie es vergessen«, sagte Lea rauh, sie nahm selbst den Hörer.

Mit einer Stimme, die niemand wiedererkannte, rief sie Beleidigungen zurück. Der Chor, vollzählig ins Schlafzimmer vorgedrungen, half ihr geberdenreich, neue zu erfinden. Weit hinter seinen Bekundungen, noch draußen, soeben eingetroffen, stand Terra mit seinem jungen Sohn.

»Sieh es Dir an, mein Sohn Claudius«, sagte Terra. »Es ist das Leben, es ist die Welt. Du mußt davor die höchste, tiefgefühlteste Achtung haben. Auslese aus Politik, Kunst, Wirtschaft führt sich Dir in Natur vor. Sie denkt an nichts Böses. So ist sie.«

Alice Lannas, die fortgehen wollte, stieß auf die beiden.

»Mein Sohn Claudius«, sagte Terra. Er sprach so würdig, weil er Alice den Tränen nahe sah. »An diesem bedeutungsvollen Tage bringe ich ihn zu Ihnen. Mein Sohn, die Frau Gräfin wird die nicht genug zu verehrende Güte haben, Dich anzusehen.«

Alle drei gingen sie vom Flur in das Eßzimmer. Es grenzte im Winkel an den Salon, von dort kam Erwin. Er wartete, daß man ihn bemerke. Noch stand Terra, aufmerksam geneigt, neben Frau von Tolleben, die, beim Tisch sitzend, seinen Sohn prüfte. Sie sah dem Knaben in das schöne Gesichts das ihre zitterte ganz. »Mache doch Deine Augen auf!« sagte sie, und »liebst Du Deine Mutter?« – alles so, als wüßte sie nicht, was sie sagte. Der Knabe bog sich rückwärts unter ihrem Griff; nun er die Augen öffnete, schloß der Mund sich fest. Sie erkannte die gepreßten Lippen, diese Furcht vor dem Leben. »Und Deinen Vater?« fragte sie. Er blickte um, welch argwöhnischer Blick! Terra trat getroffen fort. So fand er Erwin.

»Verzeihen Sie!« bat Erwin. »Ich bin wahrhaftig nicht gut daran. Mit Lea wie viel Schweres!« Auf einen Wink Terras: »Ja, auch Alice sieht schlecht aus. Aber um sie muß ich nicht sorgen; jener Mensch, der sie in seiner Gewalt glaubt, irrt. Er wird ihr die Freiheit niemals nehmen können. Ich sehe sie manchmal zu Fuß ausgehen: dann muß ich lächeln.«

»Wohin geht sie?« fragte Terra.

»Zu Ihnen.«

»Sind Sie toll?« Terra raunte entsetzt. Auch Erwin ganz leise: »Wäre es anders, ich würde Herrn von Tolleben töten müssen.« – »Ein guter Gedanke«, stammelte Terra.

»Aber Lea! Sie wird gequält, aus Not gibt sie sich selbst auf. Der sie quält, ist kaum noch schuldig, ich fühle es wohl. Ihre Qual ist zum Leben selbst geworden, – das unentrinnbarer ist als ein Mann. Was wird aus ihr!«

Stummer Aufschrei, Terra las ihn mehr in den Augen Erwins als von seinem Mund. Er erschrak. Da Erwin ihn wanken sah, nahm er alle Kraft zusammen. »Helfen Sie mir! Wir reißen sie heraus. Auch Alice. Beide führen wir fort – weit fort. Es gibt Südseeinseln, Neuland mit wenigen, noch frommen Menschen. Kommen Sie mit, Terra!«

»Wirklich? Weder Telephon noch Ministerrat? Die Spannung nicht, ob Schurken durchdringen, die das Völkerschlachten sofort wünschen, oder andere Schurken, die sich das Schlachtvieh erst noch mästen wollen?«

»Nicht Gier, nicht Müdigkeit, kein Verrat – o! kein Verrat. Von Gefahren, nur was Natur will, und sie ist mild.«

»Nicht unsere. Unsere Natur ist anders; wie kommen Sie ihr bei?« – »Mit körperlicher Arbeit«, sagte Erwin. »Mit traumlosem Schlaf.« Worüber Terra auflachte. Alice dorthinten wandte eine ratlose Miene her, der Knabe eine verschlossene. Dann setzten beide Seiten ihre leise, dringliche Verhandlung fort.

»Sprechen Sie mit Lea!« flehte Erwin. »Wenn ich ihr alles zu sagen wagte!« Angstvoll aufhorchend nach dem Getriebe drinnen, das näherkam: »Es ist keine Zeit zu verlieren. Kommen Sie mit auf die Südseeinsel!«

Da störte man sie auch schon. »Es gab in meinem Leben –« konnte Terra noch vorbringen. »Jetzt bin ich unzerreißlich angebunden ... Man geht umeinander her. Keiner trifft keinen.« Die Altgott samt Schwertmeyer brachen auf, der Rest der Gesellschaft sah sich nach Frau von Tolleben um. Der junge Claudius stand kaum unbeachtet, schon hatte ihn der Mörser, er führte ihn Kuchen essen.

Lea bemerkte es, sie wollte hin; ihr Bruder selbst hielt sie ab. »Verehrte Künstlerin«, begann er stockend. »Was mir Graf Erwin an herzzerreißendem Jammer mitteilt, solltest Du selbst dem letzten Deiner Hörigen nicht zumuten.«

»Was hat er, er ist mein Freund.«

»Das muß eine Arbeit für den jungen Herakles sein.«

»Hast Du mir sonst noch Eröffnungen zu machen?«

»Leonore!« sagte der Bruder mit Strenge. »Ich rate Dir in Deinem eigenen wohlverstandenen Interesse, mit der bestehenden Gesellschaft nicht Deinen Spott zu treiben. Wenn Du Dich über sie zu beklagen hast, solange sie Deine Freundin bleibt: als Feindin wäre sie von ungeahnter Zuverlässigkeit.«

»Ich bin, was ich bin.«

»Das denken erstaunlicher Weise Künstler – grade sie, die ohne jeden Vorbehalt das sein müssen, was zu sein die Gesellschaft ihnen nahelegt. Die Gesellschaft ganz allein gibt Dir Gelegenheit, Deine Künste zu zeigen, – wozu sie rechnet, daß Du auch im Leben ihre eigenen Neigungen unter besonders gelungenen Formen vorführst. Keinesfalls aber erlaubt sie Dir, über das Maß des Lasters und des Verbrechens hinauszugehen, das sie im gegebenen Augenblick gerade noch für gesellschaftsfähig hält.« – »Aha«, machte die Schwester.

»Du kannst bis an die Grenze gehen, es wird erwartet; nicht aber daß Du sie vorrückst. Dies bleibt Mächtigeren als wir sind, vorbehalten. Frau von Haunfest-Blachfelder ist Dir bestimmt nicht erlaubt.«

»Warst Du selbst denn immer so gefügig?« fragte sie mit tiefdringendem Blick. Dunkel vertraulich der Bruder: »Mein Kind, wir sind, was wir übrigens mit ihr vorhaben, Nutznießer der bestehenden Gesellschaftsordnung. Hüte Dich, sie Verdacht schöpfen zu lassen. Du seist über sie hinaus!«

»Was aus Dir jetzt zu werden scheint, bewundere ich, aber es liegt mir nicht«, sagte Lea bescheiden, nicht ohne Wehmut. Unvermittelt abschließend: »Jetzt lasse mich aber bitte Deinen Jungen vor den Nachstellungen der Mißgeburt retten, das kann doch nur in Deinem Sinne sein!«

 

Doktor Mörser hielt seine Bemühungen um den jungen Claudius streng dezent. Man sah, daß nicht offene Türen ihn bewogen, nur eigene Würde. Sein auf besonders guter Seide gearbeiteter Gehrock stand offen ohne Falte, auch die Hände blieben unbenutzt. Schmutzfarbe der Haut, der Augen, besorgte Fältchen der Gier bis auf die Glatze gehörten ohnedies zu der Erscheinung. Beunruhigender wirkte der Knabe. Er fühlte in seiner Unschuld das Gelüst des Mannes, er ging darauf ein! Unwissend hoben sich die langen Wimpern, durchsichtiger Blick stand fragend über kokettem Hals. Solche reine Haut, solch große blonde Locke auf reiner Stirne schwankend: – aber der erste, sich selbst noch unbekannte Liebesblick war für die Mißgeburt.

Dies sagte ihm Lea, als sie Mörser fortgeschickt hatte. Sie hielt dem Knaben die Häßlichkeit des Mannes vor; er aber hatte die Wimpern schon wieder heruntergelassen, was verstand er. »Magst du Frauen, zum Beispiel mich?« fragte Lea. Für den scheu aufhuschenden Knabenblick spielte auf einmal die ganze berühmte Kunst ihrer Augen. »Ich mag Dich sehr«, sagte sie – nicht in ihrem eigenen Ton, sondern wie es von ihm hätte kommen müssen. Er preßte aber entschlossen den Mund, sie begriff nicht, was geschah.

»Machen wir keine Dummheiten, Tante Lea«, verlangte er. »Ich muß Dir etwas sagen. Wem sage ich es denn? Mama kann ich nicht fragen, sie selbst ist mit drin in der Sache.«

»Du hast ein Geheimnis?«

Er öffnete mehrmals den Mund, der geöffnet noch so töricht und so schön war; Lea wollte ihn endlich darauf küssen. Da bog er den Kopf weg, leise stieß er aus: »Ein Herr schreibt mir.« Sie ließ ihn los, sie wollte abrücken, aber er setzte hinzu: »Mein Vater.«

Lange Pause. Lea begriff nicht, aber was sollte alles noch kommen? Sie sah sich schnell um: die Blachfelder war im Gehen, sie ließ den armen Erwin Lannas nicht los. Bella Mangolf verschwand mit Schellen, der zufrieden schien. Dem Teetisch entgegengesetzt saßen voreinander, inständig hingegeben den kärglichen Minuten, Terra und Alice. Aus dem Eßzimmer, wo Blachfelder und Doktor Mörser konferierten, waren beide Seiten sichtbar, die Liebenden und der beichtende Knabe.

»Wie konnten Sie das tun!« flüsterte Alice hingegeben. »Sie sind entsetzlich kühn. So mit der Liebe Ihres Sohnes zu spielen. Was haben wir armen Frauen von Ihnen zu erwarten.«

Ihre Miene, so hingegeben an Schrecken und Zärtlichkeit, entging nicht den konferierenden Herren. Mitten im Aussprechen hoher Ziffern dachten sie: »Da stimmt etwas nicht.« Mörser dachte: »Geht das Verhältnis auseinander? Dann verlöre der Mensch an Gewicht bei Onkel Knack, ich müßte ihn weniger schonen.« Blachfelder dachte: »Auch 'ne Hure!« Und gleich darauf gewählter: »Das Differenzierteste bleibt die Frauenseele.« Sie behielten es aber für sich, sie sprachen weiter in Ziffern.

»Jetzt verstehe ich seine Mutter«, hauchte Alice. Ihr Stolz beugte sich bis zu Vergleichen mit der Fürstin Lili! Er sagte daher: »Seine Mutter verfügt über große seelische Kräfte – beileibe nicht im Zerstören nur, wie ich glaubte. Sie betätigt unausgesetzt die elementare Fähigkeit, sich in falschem Glanz zu wiegen, sich ewig zu verwandeln, beliebig zu verjüngen, Erweckerin immer neuer Illusionen und die erste, die darauf hineinfällt. Ich habe triftige Gründe, ihren Sohn für ähnlich begabt zu halten. Claudius ist der Sohn des Weibes.«

»Sehen Sie hin!« sagte Alice. »Er steht da wie ein Bekenner, ein ganz törichter, ganz junger Bekenner. Der Büste eines Knaben Johannes in dem neuen Kaiser Friedrichsmuseum fällt die Locke genau so, öffnen die Wimpern sich genau so. Aber Ihr Sohn preßt den Mund doch wie Sie.«

»Tante Lea,« flüsterte der Knabe, »es ist aber wahr. Das ist mein richtiger Vater. Er kann niemand sonst sein, denn in seinen Briefen stehen Dinge, die niemand weiß, sogar Herr Terra nicht.«

»Herr Terra? Der sorgt aber für Dich.«

»Nicht mehr; ich will, daß Mama ihm alles zurückgibt. Mein richtiger Vater schickt Geld. Er schickt es geheimnisvoll, denn er ist bestimmt vom höchsten Adel und Rang.« Er ließ sich nicht unterbrechen. »Das weiß ich. Ich hab' es geträumt – und auch sonst. Mir sagt es mein Blut«, behauptete er, weit die klaren grauen Augen der Mutter öffnend, – jetzt preßte er, unweigerlich entschlossen, den Mund.

»Du bist verrückt«, sagte Lea, aber er, drüber hin: »Ich bin aufgewacht – seit seinen Briefen. Er hat mich im Herbst ans Meer geschickt. Sonst wollte ich nicht einmal im Sommer ohne Mama. Da hab' ich mich abgehärtet, ein anderer Mensch, fühl' die Muskeln!«

»Vielleicht«, sagte Terra zu Alice, »wird er das, was ich nicht sein konnte, ein wirklicher Tatmensch im Dienst des Heiligen Geistes. Vielleicht auch liefert er seiner Lebtage nichts weiter, als eine arme überspannte Saite. Ich muß aber glauben an die Kraft seines Gemütes, das meinen ganz gewöhnlichen Schwindel mit so unbeirrbarer Begeisterung verficht.«

»Um Gotteswillen, machen Sie es rückgängig«, bat Alice. Terra aber schmerzlich: »Er würde denn doch wohl zerbrechen ... Ich wollte ihn kennen lernen. Ich kenne ihn jetzt.«

»Ach!« sagte Alice. »Sie kenne ich tiefer. Es hat Sie nicht ruhen lassen, Sie mußten erproben: wird er Ihnen entgleiten? Ach! das ist bald getan. Nicht umsonst haben Sie ihm die Briefe seines hohen Vaters geschrieben. Sie wird er jetzt hassen.« Beim Erschrecken Terras: »Versuche, die tragisch enden könnten, machen Sie mit denen, die Ihnen gehören.«

»Tragisch?« fragte er.

»Sie denken nicht daran, daß wir aufhören könnten, Sie zu lieben?« – und unverkennbar forschte sie in seinem Gesicht mit demselben Mißtrauen, wie vorhin sein Sohn. »Dies ist wohl eine Warnung«, murmelte sie, und indes er tiefer erschrak: »Sie haben mich schon verraten an meine Freunde Mangolf, ich darf es nicht vergessen.«

Lea drüben machte heftige Bewegungen: »Hast Du denn gar keinen Sinn für Tatsachen? Junge, darauf kommt es doch an! Ich bin entsetzt, Du kennst nicht einmal den Namen des Menschen, der schlechte Späße mit Dir macht.«

»Kannst Du schweigen, Tante Lea?« Obwohl sie nur die Achseln zuckte, enthüllte er sich. »Ich kenne ihn, es ist Fürst Waldemar – ja, der Gemahl meiner Mutter. Ich bin sein ehelicher Sohn. Zwischen den Zeilen seiner Briefe lese ich, warum er mich noch nicht zu sich nehmen und standesgemäß erziehen lassen kann. Er befindet sich in den Händen einer Frau, vor der er mich schützen will.«

»Das hätte ich ihm nicht zugetraut«, sagte Lea trocken. »Ich kenne ihn als einen alten Taugenichts.«

»Du kennst ihn?« Im Auge des Knaben erglänzte süß und schaurig das Wunder. Sein erträumter Vater war da, jemand kannte ihn: mehr hörte er nicht. Die Schauspielerin fühlte Mitleid mit dem Knabentraum, sie umarmte Claudius. Dies sah Doktor Mörser. »Ich glaube, unsere Lea geht zur Jugend über«, sagte er dem Kommerzienrat von Blachfelder, der nur fragte: »Wieso ist sie Ihre Lea?«

Die Herren hatten fertig konferiert; noch immer kein Mangolf? Nun denn, Kunst und Liebe kamen dran. »Als Schauspielerin hat sie kein Herz«, behauptete Doktor Mörser, denn sie hatte als Frau keins für ihn. »Das haben Sie nicht erfunden«, stellte Blachfelder fest. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß man irrt. Aber sie hat das Herz der Frau von heute, der einzigen, die uns angeht. Was wollt ihr denn? Haben wir Mondscheinsüchtige zu Geliebten? Wir kennen Weiber mit Zähnen und Klauen, die Männer fressen, ohne sich je den Magen zu verderben. Wenn hier Herz kommt, ist es ein großes Naturereignis.« Blachfelder hielt sichtlich zurück. »Wer das erlebt hat, –« äußerte er durchdrungen. »So siehst Du aus«, dachte Mörser.

Laut, aber gedämpft sagte er: »Die klügste Frau Berlins macht doch keine Dummheiten?« Mit Wink nach Alice. Der Blick des Kommerzienrates wies ihn zurecht, Mörser ging schleunigst zu Terra über. »Dieser Terra mit seiner falschen Würde und seiner Übermoral ist für die Industrie keine Empfehlung.« Blachfelder war auch hier großzügiger, wie er es nannte. »Angesichts der so vornehmen, Vergleiche so gut wie ganz abschließenden Künstlerin Lea Terra bin ich verpflichtet, auch ihren Bruder mit Großzügigkeit zu betrachten. Er begegnete zufällig der Wirtschaft, bleibt aber musisch von Natur. Wer das aus sich selbst kennt, äußerte er durchdrungen. »So siehst Du aus«, dachte Mörser.

Alice und Terra wechselten mehrmals den Platz. Sie taten, als besähen sie Gemälde. Der Name des Malers fiel laut; leise und mit Bewegungen, die ganz andere Worte vortäuschten, sagten sie: »Mißtrauen! Von Dir!« – »Ihr Denken ist ungrade, Sie verstecken Ihre Gründe. Ist Ihnen Herr Mangolf wirklich lieber als ich? Du ängstigst mich, wer bist Du?«

Terra, laut: »Zu denken, daß der Degas einmal für fünfhundert Francs zu haben war, man möchte sich aufhängen.« Und leise: »Der bin ich, der Dich vom ersten Tag an geliebt hat und einst statt einer Seele Deinen Namen aushauchen wird!« Aber neue Ängste erfaßten ihn. Sie wollte natürlich Fortschritte machen in der Liebe! Sie war doch Frau! Immer nur Erinnerungen? Zartheit und Aufschub?

»Bist Du uneigennützig oder kalt?« fragte sie gerade. Sie war durch Lyrik nicht mehr überzeugbar? »Was haben wir davon,« sagte er etwas zu laut, »daß die Herren Mörser und Blachfelder uns nachsehen wie den ruchlosesten Glücklichen? Zum Donnerwetter, seien wir es! Was hindert mich, meine Gnädigste, heute Abend mit Ihnen zu schlafen?«

»Wir werden wohl wissen, was uns hindert«, sagte sie sanft. »Wir sind mit so viel anderem beschäftigt.«

Er widersprach, zu dem Bilde gewandt: »Alles in allem bin ich gegen die Richtung. Ehrgeizige Bravour ist nicht das Leben. Schlichte Gefühle! Ein niemals abgelenkter Wille, Glück zu nehmen, zu geben!« Und die Angst, die nach seinem Herzen griff, setzte heimlich hinzu: »Ich liebe sie und möchte, recht bedacht, nicht mit ihr schlafen. Was heißt das?.. Liebe ich sie weniger als jede Fürstin Lili?« fragte er wieder.

»Daß sie nur nichts entdeckt! Mein Gott, nur nichts entdeckt!« Sie sagte aber prüfend:

»Wir sollten uns wohl einfach heiraten.«

Terra sofort auf das Klarste: »Ich bin nicht dazu da, meine soziale Stellung durch Heirat mit der einzigen Tochter des Reichskanzlers Fürsten Lannas zu heben und zu festigen. Ich bin da, meine Alice zu lieben.« Über das Bild geneigt.

Auch sie sah nahe hin, ihr Kopf streifte seinen. »Nur Sie lieben so. Sie muten mir das Opfer meiner Stellung nicht zu. Jetzt werde ich noch mehr nachdenken müssen, warum wir uns trotzdem nicht gehören«, sagte sie und zog sich zurück, nahm sich wieder einmal zurück. Er wollte Hohn hören. War es im Grunde nicht Haß? – obwohl sie selbst sich nach Kräften davor gehütet hätte, weder Scheidung noch Ehebruch je zu vollstrecken.

»Das Rätsel«, raunte Terra, »werden wir ins Grab mitnehmen.« Worauf er seine Dame hinunter zu ihrem Wagen brachte.

Doktor Mörser, hinten im Eßzimmer, sagte dem Kommerzienrat: »Jetzt ist er für die Industrie keine Gefahr mehr. Er tut nur noch wie der Geist von oben, der Glanz in unsere Hütte trägt. Aber ich halte ihn für den richtigen Philister, den, der es wird, sobald er Bauch kriegt. Wir haben ihn glatt gekauft. So einer verliert sein Rätsel spielend.«

»Wenigstens ist der Junge da«, sagte Blachfelder anzüglich, denn er folgte den begehrlichen Blicken Mörsers. »Der hat noch sein Rätsel.«

Lea Terra stieß den Knaben fort, sie stand auf. »Mit Dir ist nichts zu machen, Du hassest Deinen Vater. Aber merke Dir, dann bin ich fertig mit Dir.«

»Tante Lea!« Der Knabe bat. »Er ist doch nicht mein Vater.«

»Dann hast Du auch keine Tante Lea mehr«, schloß sie und ließ ihn stehen, denn es läutete. Der Knabe stand verdutzt, diese Folge hatte er nicht vorhergesehn.

Alle eilten hinaus. Ja, Mangolf – und auch Direktor Necker gleich mit ihm. »Herr Unterstaatssekretär hat mich gütigst in seinem Auto mitgebracht«, erklärte der Direktor.

»Also was?« keuchten die beiden Herren, die aus dem Eßzimmer brachen. »Der Minister ist gestürzt«, sagte Mangolf. Blachfelder lief fort. »Kein Krieg?« fragte Mörser noch, in seiner tödlichen Enttäuschung. Dann lief auch er; aber Blachfelder hatte Vorsprung, er ward Erster beim Telephon.

»Mein Auto war nämlich beschädigt«, erklärte Direktor Necker. »Meins«, sagte Lea, »kann ich mir von meiner Gage nicht kaufen.« – »Darum bin ich hier, Fräulein Terra«, sagte der Direktor verbindlich. »Kein Krieg?« fragte Terra, der zurückkehrte. »Auch bei Euch nicht?« Denn nach allen ihren telephonischen Beleidigungen lächelten sie sich an, als sei nichts geschehen. »Es ist kein Zustand«, erklärte die Schauspielerin. »Ich bin Ihr teuerstes Mitglied, ich mache das Haus voll, –« was Necker, an seinen Manschetten, seinem Taschentuch, seiner Weste zupfend, alles zugab. Nur bat er sie, gleich mitzukommen im Auto des Unterstaatssekretärs. »In zwölf Minuten sollen wir anfangen!« Sie lief schon, gleich darauf flogen Blachfelder und Mörser aus dem Schlafzimmer.

Sie ergänzten ihre Fragen an Mangolf. »Lannas hat den Minister gestürzt, er ist Fürst«, bestätigte Mangolf. Doktor Mörser behauptete: »Auch für Krieg wär' er es geworden.« Mangolf sagte: »Warum nicht? Auch der gestürzte Minister ist bloß Vorwand. Seine Kollegen hatten ihn schon fallen gelassen. Tanger war überflüssig.«

»Das werden die Herren im eigensten Interesse streng für sich behalten«, verlangte Terra stark, und sie versprachen es erschreckt, Direktor Necker mit Hand am Herzen.

Direktor Necker beteiligte sich an dem Gespräch geschmeichelt, aber nicht tiefer berührt; immer war er mit der Vervollkommnung seines Anzuges beschäftigt. Er persönlich ließ auch Politik gelten – überzeugt freilich, daß seine eigenen Theatersorgen nicht nur ihm, sondern auch Publikum und Presse unvergleichlich näher lägen. Terra war der Ansicht des Direktors.

»Es ist von einschneidender Wichtigkeit für alle und jeden, daß Ihre öffentliche Anstalt, mein sehr verehrter Herr Direktor, nicht etwa gar versagt. Den Sturm der öffentlichen Meinung möchte ich nicht erleben. Über die Frage: Krieg oder nicht, hat sich wieder einmal kein Mensch ernstlich aufgeregt.«

Der Direktor dankte, leer lächelnd, wie für die gewohnten persönlichen Anerkennungen. »Wer liest Zeitungen«, sagte Mörser voll Verachtung. »Die Leute merken schon längst nicht mehr, wenn etwas drinsteht. Von Krieg war zu oft was drin. Sie machen Geschäfte, uns sehen sie nicht auf die Finger.«

Blachfelder blickte wie fremd ringsum. »Nun ist es also wieder vorbei. Daraus hätte der Weltbrand werden können! Man hat einen faden Geschmack im Munde, wie nach einem aufregenden Rennen. Mindestens!« schloß er, und er ging fort, mitsamt Mörser und dem Direktor, der voraus zum Auto eilte. Lea rief von drinnen, daß sie komme. Der junge Claudius stand ihm im Weg. Der Direktor rief noch hinein: »Ihr Junge ist reizend, Fräulein Terra, ganz Ihr Bild. Das wird mein bester jugendlicher Liebhaber.«

 

Mangolf rührte sich nicht, er blieb vor Terra stehen, um sie her alles leer, offene Türen, aufgelöste Gruppen von Stühlen. »Du hattest mir etwas zu sagen.«

Terra, ebenso schnell, leise, bestimmt: »Mein lieber Wolf, ich verstehe Dich. Tolleben ist diesen Augenblick Staatssekretär im Auswärtigen geworden. Mein tiefgefühltes Beileid, aber Du solltest Dich soweit beherrschen, daß Du keine staatsgefährlichen Indiskretionen begehst. Unser allverehrter Reichskanzler weiß ohnehin, daß Du, gleichgültig wodurch, an seinen ihm peinlichen Schwiegersohn gebunden bist.«

»Gebunden? Ich? Das war Dein Plan, als Du mich von dem unendlich weniger tödlichen Zweikampf mit Herrn von Tolleben zurückhieltest.«

»Das mußte kommen«, sagte Terra und senkte den Kopf, denn Mangolf hatte recht; so war sein Plan gewesen. Mangolf schwindelnd schnell: »Ich gebunden? Mit der Gewißheit, nie an die erste Stelle zu kommen? Ich werfe alles hin. Ich bin unabhängig. Bin ich Du, der dick wird und sich verkauft? Einem gewissenlosen System, das alle sechs Monate aus Leichtsinn zur Kriegsgefahr wird?«

»Welche Worte von Dir!« konnte Terra nur dazwischen murmeln, Mangolf war mitten in einem großen Aufbruch. »Ich, der ich den Krieg als äußersten Ernst des Lebens nie geleugnet habe, verachte ihn, wenn er Spielzeug wird. Der Mord, ich weiß es, bleibt letzte Stufe im Daseinskampf. Das blutgeile Gelichter der Menschen ermattet wohl, es tut gesittet, tut blaß; dann befällt doch der Blutrausch es wieder.«

Eine Tür schlug zu. Laufen und Rauschen, das helle Gesicht Leas rief herein: »Bravo! Charakterspieler!« Fort war sie. Mangolf taumelte. »Die hatten wir vergessen«, sagte Terra. »Sonst hast Du recht mit jeder Silbe. Du hast Dich gefunden und bist auf geradem Wege. Nimm den Glückwunsch eines käuflichen Schuftes ... Sei ein Mann!« sagte er verändert, denn Mangolf schloß die Augen.

»Also mich scheiden lassen«, hauchte Mangolf, die Augen geschlossen. »Alles ist zugleich aus.«

»Wegen des jungen Schellen? Unsinn. Deine Frau gibt Dir einfach zu verstehen, daß sich mit Zeitungsreklame für Dich vielleicht doch noch manches machen ließe.« Terra schnappte und schloß den Mund; was hatte er da Grausames gesagt! Mangolf aber öffnete die Augen, er fragte: »Und Lea?«

Welch eine Angst um Lea! Mehr als um die geborene Knack, mehr als um Karriere! »Wenn sie will, wenn sie mich noch will,« sagte Mangolf unsicher, »wir gehen in die weite Welt.«

Aber Terra brauchte dies nicht mehr, er hatte sich abgewendet nach dem offenen Fenster.

Drunten fuhr heftig ein zweites Auto vor, noch im Fahren ward der Schlag geöffnet, eine Dame sprang ab, plötzlich stand sie Lea gegenüber. »Wo ist mein Kind?« rief sie. Die Fürstin Lili! Terra erfaßte erst jetzt, was vorging.

Lea, am Rande des Trottoirs, sah sich um, der Knabe Claudius fehlte. Sie sah den Direktor Necker an, dann die anderen Herren. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und wollte einsteigen. Schon aber war die Fürstin Lili zwischen sie und den Wagentritt geglitten. Diese Schlankheit, diese Raschheit, bemerkte Terra. »Sie empfangen meinen Sohn ohne mich, dann aber wissen Sie nichts? Das geht nicht.« – »Daß Sie mich aufhalten, geht nicht«, – wobei Lea sie wegschieben wollte. Dies mißlang. Atempause, Direktor Necker zog die Uhr. »Noch drei und eine halbe Minute.« Die Herren Blachfelder und Mörser rührten sich nicht. Ironische Unbeweglichkeit des Chauffeurs.

Lea warf den Kopf zurück, wie vor einem dramatischen Abgang im dritten Akt. »Gnädige Frau, der Vater des Jungen fand es offenbar nicht richtig, Sie mitzubringen in mein Haus.« – »Ihr Haus, gnädige Frau, ist bekannt«, erwiderte die Fürstin Lili gelassen und kollegial. Dabei berührten sich die Ellenbogen der Damen, ein Geschiebe drohte. Auf Wink des Direktors glitt der Wagen zwei Schritte vor, Lea flog hinein, Necker und Blachfelder gaben sich Schwung. Nur Mörser versäumte den Anschluß. »Ein drei Viertel«, sagte Necker mit der Uhr. Und Lea im Abfahren laut, um von den unfreundlichen Äußerungen der Fürstin Lili abzulenken: »Wieso ein drei Viertel? Ich komme erst in der dritten Szene, ich habe volle zwölf Minuten und geschminkt bin ich. Meinen Sie, ich hätte sonst den ganzen Abend die Zicken gemacht? Der Direktor aus New York ist doch heute drin.«

Vor der Fürstin Lili verbeugte sich ehrfurchtsvoll Doktor Mörser. Er nannte seinen Namen, seine Adresse, sprach von starken Eindrücken, längst gehegten Wünschen; sie blieb zurückhaltend. Darauf begann er eifrig nach dem Knaben Claudius zu rufen. Die lockende Stimme überzeugte sie wohl, sie folgte ihm ...

Terra sah nicht mehr hin. Der schnelle Vorgang drunten klapperte und zerfiel, denn Terra hörte Mangolf. Der Freund sprach für ihn noch immer. Die Verzweiflung des Freundes lähmte den Sinn des Vorgangs drunten. Er hörte wieder von vorn: »Ich, der ich den Krieg als äußersten Ernst des Lebens –«. Nur hierauf antwortete er.

»Du bist der Ernstere, mein lieber Wolf. Dein Ideal geht Dir nie verloren, weil Du Dir selbst das Ideal bist. So sollte es sein, oder man ist kein Mann. Zu meiner Entschuldigung kann ich höchstens anführen, daß mir der Zweck des Systems Lannas zu sein scheint, den Ernst des Lebens nach Kräften aufzuheben, und daß ich dies herzlich begrüße – vor allem in Deinem eigenen Interesse. Was würde aus Dir, wenn der Krieg nun käme? Du würdest das blutgeile Gelichter erleben, und Dir wäre sehr übel.«

Er sah nach Mangolf nicht um, er sprach halb aus dem Fenster.

»Du solltest auf das Innigste ersehnen, daß das Gelichter fernerhin gesittet und blaß tut. Empfiehl ihm das Vaterland immer nur als mündelsichere Kapitalanlage, niemals aber für gewagtere Spekulationen. Dafür ist es ungeeignet, ich bin Geschäftsmann. Was Du werden willst –«

Er wollte sagen: » – kann Deinesgleichen nur im allertiefsten Frieden werden«, und wandte sich dazu um. Wie? Kein Mangolf mehr? An seiner Stelle ein Kind: Claudius, aber kein Kinderblick. »Ich will Soldat werden«, sagte der Sohn.

»Es ist der geachtetste Stand«, sagte der Vater.

»Trotz Deinem ewigen Hohn«, sagte der Sohn.

Erste offene Herausforderung. »Sprechen wir in allem Ernst!« – und der Vater trat ihm entgegen. »Willst Du Soldat werden, wünschest Du damit noch nicht den Krieg. Was man nicht kennt, kann man nicht wirklich wünschen, und den Krieg kennt von uns allen niemand.«

»Ich liebe mein Vaterland.« Harter junger Blick. »Aber von uns Jungen liebt keiner es wegen Geschäfte.« – »Sondern als Held. Das ist Euer Vorrecht.«

Aber der Junge wollte nicht Duldsamkeit. »Und weil wir Eure Überklugheit hassen. Eure Haarspalterei, Euren Hohn. Wir hassen Euch.«

Sein eigener gepreßter Mund öffnete sich und sagte ihm dies! Ergriffen sah Terra die Brust des Knaben fliegen. Sie flog, so schwach, unter der Selbstbehauptung. Ein ganzes neues Geschlecht, ein Umsturz wollte hervor aus ihr. Wie furchtbar überspielt – schon jetzt! Terra war versunken in den Sohn, und der in sich. Draußen läutete es stark, sie rührten sich nicht.

»Der Sommer ist da. Nächsten Monat, mein Sohn, gehst Du wieder an die See.« – »Mit Deinem Geld – nein.«

»Du hast anderes Geld, mein Sohn?« Feindliches Schweigen.

»Wenn es aber ausbliebe?«

Rot und blaß, mit Ringen: »Dann weiß ich noch immer, in wessen Hand ich stehe.« – »Nicht in Gottes Hand?« fragte der Vater.

»Auch«, sagte der Sohn. »Ganz recht, ich bin mit dem Himmel im Reinen.« Terra hörte sich selbst sprechen aus jenem ähnlichen Mund. »Ich lasse mich auf nutzlose Ironie nicht ein. Was über mir ist, bleibt über mir. Dafür behaupte ich selbst meinen Platz. Wenn nötig, gegen Dich!«

»Ich aber werde Gott für Dich bitten«, sagte Terra so vieldeutig, daß der Sohn erschrak ... Das Sturmläuten war schlechterdings nicht mehr zu überhören, Claudius mußte öffnen gehen: da lag er im Arm seiner Mutter. Er wollte ohne weiteres mit ihr fort, aber sie weigerte sich, sie legte Wert auf das Betreten des Zimmers. »Dies ist der geweihte Raum?« bemerkte sie abweisend. »Hier empfängt die große Künstlerin ihre Verehrer?«

»Und Verehrerinnen. Du bist zu einem schlichten Familienessen morgen Mittag geladen.« Nahe bei ihr raunte Terra: »Du hast ein Interesse zu kommen. Dein Sohn ist verliebt in Lea, er weiht sie in tolle Dinge ein.«

Sie war erschrocken, sie wußte also Bescheid. Sie begünstigte den Märchenglauben Claudius' und seine Erziehung zum Hochstapler! Schon hob Terra gegen sie die Hand – besann sich aber noch rechtzeitig, wer dies angerichtet und sowohl Mutter als Kind in Versuchung geführt habe. Die Hand fiel ihm am Leib herab, er blieb stehen wie verkracht, er sah seinen Drang zu mystifizieren Verbrechen zeugen. »Ich, so gut wie mein Sohn, wir können nach Gottes unerforschlichem Ratschluß nicht anders enden denn als Verbrecher!« fühlte er zitternd und ohne Gegenwehr.

Zu sich gekommen, fand er seinen Sohn in Angriffsstellung, eine Hand gegen den Vater, die andere im Rücken, die Mutter zu schützen. Dann bot er ihr den jungen Arm. Er reckte sich, erreichte fast ihre Höhe, er ging ab mit ihr wie eine Klinge.

Da räusperte sich jemand, es klang nach aufrichtiger Bewunderung. Doktor Mörser, er verließ seinen Schatten, er öffnete dem schönen Paar die Flurtür, ergeben folgte er ihm. Die Fürstin brauchte ihn nicht erst als Zeugen des ihr Widerfahrenen anzurufen, er stellte sich restlos zur Verfügung. Vor allem bitte er die Frau Fürstin mit dem jungen Grafen zum Souper führen zu dürfen. Junger Graf! Der Knabe Claudius ward davon noch etwas höher. Sein Gesicht vergalt so viel Begnadung des Lebens, es ward noch schöner. »Sage ja, Mama!« bat er zauberhaft.

Die Fürstin Lili zögerte. »Wie heißt Ihr herrlicher Sohn?« fragte Doktor Mörser. »Waldemar«, sagte Claudius schnell.

Worauf seine Mutter ablehnte. Sie hielte es für verfrüht, mit dem Jungen auszugehen. Was nicht stimmte, sie hielt es für verspätet, er war zu groß als Sohn. Hiervon abgesehen aber nahm sie Anstoß an einem gewissen Einverständnis des Jungen mit der Mißgeburt. Ja, Mißgeburt! Sie sah ihn an, das Wort in den Augen und so gut wie auf den Lippen, er konnte es nicht mißverstehen.

Er hielt aber, trotz verstörtem Zwinkern, alles aufrecht, Würde und galanten Anspruch. Mörser war Widerstände gewöhnt, dafür kannte er Zuneigung der Unschuld. Wie köstlich mundete Werbung von diesem Kleinen, sein Vertrauen, die ihm selbst noch unbewußte Zärtlichkeit, die mit langen Wimpern wehte nach dem Mann, indes der Knabe leise die Mutter um sein Vergnügen anging. »Kindliche Lebenslust!« fühlte Mörser. »Hier blüht mein Feld, ich darf beglücken.«

»Mama,« flüsterte der Knabe, »Du wirst ihn nicht los. Er hat mich immer nur nach Dir gefragt, er ist in Dich verliebt.« Worauf die Mutter, besiegt, den Sohn in ihren Arm ließ. Vielleicht log er schon, wie sein Vater? Ach, er schmeichelte wie keiner. Männer hörten auf, ein trauriges Gebiet zu sein, bei diesem werdenden Mann, der nur ihr war!

Bewegung der Eifersucht nach der Mißgeburt, die unverdächtig ihrem grade eintreffenden Auto winkte. Wie ein liebendes schönes Paar stiegen sie hinein, Mörser hinterher, nur schlichter Gast, ja, abhängige Existenz, hätte man gemeint. Er wollte sich rückwärts setzen. Die Fürstin hätte ihn gelassen; sie dachte an ihre Schulden und verdoppelte ihre Zurückhaltung. Der Knabe war es, er nötigte spielend die Mißgeburt neben seine geliebte Mutter.

Das kupplerische Spiel ward noch ertappt von Terra.

 

Worauf es für Terra feststand, er werde Mörser in seine Hand bekommen. Nur das Privatleben der Mächtigen macht sie verwundbar, und Doktor Mörser hatte ein ausgeprägtes Privatleben. »Welch ein Ehrenmann ist doch Ihr hochverehrter Herr Onkel«, sagte Terra zu seinem Opfer, eines Abends im Schlafwagen erster Klasse nach Knackstadt. »Vorgeblich hatte er die Tänzerin Christalli, nur zu bald aber stellte sich heraus, daß er aus reinster Mannentreue einen sehr hohen Herrn deckte.«

»Er kann nichts weiter«, brachte Mörser unter Kichern hervor.

»Da sind Sie, mein Herr Doktor Mörser, ein anderer Mann! Sie bewahrten nicht nur als Kavalier die schöne Schwertmeyer vor Schlimmerem, ganze adelige Klubs leben von Ihnen!«

Als Mörser, die Miene plötzlich lang, hinter sich nach der schwankenden Wand tastete, sprach Terra ihm Mut zu. »Sie halten mich doch nicht für einen Feind der männlichsten Freuden? Nur Klassen und Völker, die herrschen sollen, kennen die Jünglingsliebe.« Das Wort fiel zu laut, Mörser prüfte beunruhigt den Gang. Aber es war spät, die anderen Industriellen hatten sich schon zurückgezogen. Auch Mörser wollte verschwinden, da lehnte aber Terra sich gegen seine Tür. Mörser war genötigt, seinen Halt an der Tür Terras zu suchen. Terra sagte: »Es muß Sie viel kosten.«

»Sprechen Sie leise!« raunte Mörser. »Was wissen Sie und was wollen Sie?«

»Das ist ein rechtes Wort zur rechten Zeit.« Terra schöpfte Atem, dem Mörser stockte er. An ihre dahinsausenden Schlafgemächer gedrückt, erwarteten sie einander. Endlich ward die Nase Mörsers vor Angst so schmal, daß der Kneifer herabfiel; da begann Terra.

Er schilderte zuerst sein Büro in Knackstadt, die Bildnisse der Chefs schmückten es. Der Großvater, Begründer des Hauses, trug Sonntagsrock; die blaue Schürze in der er noch mitgearbeitet hatte, sah man nicht. Sein Gesicht war hart und fromm, die Linien der Hände vermutlich schwarz. Mit den schwärzlichen Händen hatte er gerechnet im Kontor, bis sein Sohn der vollendete Großbürger war. Das Bildnis des Sohnes zeigte den Vollbart der siebziger Jahre, es war ganz Bildung und Besitz, befestigter Besitz und bürgerlicher Freisinn, gegründet in die Gewißheit, so sei die Welt gewollt, so bleibe sie.

»Das war kurzsichtig«, sagte Terra. »Aber ein rechter Mann ist immer kurzsichtig. Der mittlere Knack konnte nichts wissen von dem, erst uns geläufigen Phänomen des Knack-Enkels, jener lieferte noch einfach seinem König die Kanonen.«

»Auch schon anderen Leuten«, meinte Mörser.

»Auch schon dem feindlichen Ausland? Aber doch nicht die besseren – die besseren ins feindliche Ausland?« fragte Terra. »Und hatte der mittlere Knack seine Hände schon in Staatsgeschäften? Sie sehen, wir sind weitergekommen.«

»Wir brauchen immer größeren Absatz, und dabei wird er immer schwieriger.«

»Das wollte ich sagen. Kauft! Oder wir hetzen Euch in den Krieg. Die Völker aber sehen nur den unkriegerischen Bürgersmann. Wie sinnvoll, daß unser allverehrter Chef Diabetiker ist! Sie selbst, mein Herr Doktor Mörser, waren als Kind rachitisch und tragen die Spuren. Häßlich wie ein Verwachsener schleppen Sie sich Ihr Leben lang mit der furchtbaren Aufgabe, Gebrechen Ihres Leibes zu verstecken. Achtung, zum ersten Male lassen Sie sich ertappen über den grausigen Zuckungen Ihres Gesichtsmuskels! Ich war längst dahinter gekommen, zeigen Sie doch endlich aller Welt das Abbild ihrer namenlosen Blutgier!« Mit allen Zähnen knirschend: »Mein Sohn –«

»Es ist wegen Ihres Sohnes«, kreischte Mörser. »Sie reden sich um den Kopf wegen Ihres Sohnes.«

Terra, wieder beherrscht: »Mein Sohn hat nichts gegen Sie. Jünglinge liebten auch die Mißgeburt Sokrates. Ich meinerseits bin duldsam mit dem jungen Geschlecht.« Was ihm von seiten Mörsers verächtliches Feixen eintrug. Dann lobte Mörser die eigene Seelenreinheit, zuletzt fragte er, ob Terra Geld brauche.

»Ich habe bei weitem nicht Ihre Bedürfnisse«, sagte Terra. »Sie überschreiten Ihre Mittel. Sie bestehlen den Dispositionsfonds.« Hier wurden die Mörserschen Zuckungen wahrhaft furchtbar. Terra sah ihnen schweigend zu, ohne Grausamkeit, sogar mit Bedauern. »Sie wären glücklich, wenn Sie nicht der Neffe der Firma, sondern mit fünfundsiebzig Mark monatlich bei ihr angestellt wären. Nur sinnloser Reichtum hat Sie ausschweifend und endlich, sehen Sie, gar zum Dieb gemacht.« Terra sprach lehrhaft.

Der andere fragte wehrlos: »Das wissen Sie auch? Stehen Sie im Dienst meines Onkels?«

»Trauen Sie ihm nicht zu sehr!«

Da verlor der Neffe ganz den Kopf. »Über ihn könnten Sie aber auch Geschichten erfahren, Sie würden staunen.«

»Ich staune nicht. Hingegen werden Sie, mein Herr Doktor, sich unverbrüchlich verpflichtet halten, mir sofortige Winke zu geben bei jeder geheimen Gaunerei unseres allverehrten Chefs. Sein Privatleben ist notgedrungen rein. Wir wissen beide, daß man sich einzig und allein des industriellen Hochverrats von ihm zu versehen hat.«

»Na, na, Ihre Ausdrucksweise«, bemerkte Mörser, aber sie unterhielt ihn; die Gefahr sah er von sich abgewendet. Neugierig fragte er: »Was wollen Sie eigentlich? Ihnen geht es doch nach Wunsch. Wir haben im Geschäft natürlich auch Nörgler, sogenannte Idealisten, von Natur nur auf mittleren Stellen verwendbar und damit unzufrieden. Darüber sind Sie doch hinaus.« – »Ich will weiter hinauf«, sagte Terra klar. »Ich will zur Macht.«

»Das geht nur, wenn wir einig sind.« Gelassen schlug Mörser vor: »Stärken Sie meine Position!«

Hierüber verhandelten sie bis zum Morgengrauen.

Dennoch behielt Terra auch künftig die Sorge, Mörser könnte bei Knack gegen ihn arbeiten. Kein gewiegterer Gegner als Knack, Terra kannte ihn. Sie belauerten sich vor dem Angriff, aber wahrscheinlich zeigte nur eigene Schlauheit dem Industriellen den unversöhnten Feind. Nicht Mörser; der ward von Terra sicher gemacht, Mörser durfte stehlen mehr als je. Darüber vergingen Monate, in denen Terra nach Knackstadt fuhr, und andere, in denen Knack auf seinem Berliner Büro mit ihm saß. Den Winter über zeigte er ihm mehrmals Angebote von Putois-Lalouche. Die Vorschläge kamen von anderen, aber trotz Umwegen waren sie nicht mißzuverstehen. Ob Terra eine Falle sehe? – »In welchem Sinn?« »Im vaterländischen. Die Konferenz von Algeciras eröffnet große geschäftliche Möglichkeiten, freilich gefährliche.«

»Ich bin Jurist, das Vaterland spricht nicht mit, solange ich nicht ins Zuchthaus komme.« Was Knack bedenklich fand. Terra wieder ward wochenlang nicht mit dem Zweifel fertig, das verhältnismäßig harmlose Schriftstück sei vielleicht auf Bestellung verfaßt – und eigens für ihn?

Er dachte daran, Mörser zu fragen. Aber Ermittlungen, die er als Fürst Waldemar brieflich bei seinem Sohn Claudius anstellte, ließen ihn den Mörser denn doch als zu gefährlich erscheinen. »Es wird hohe Zeit, daß Fürst Waldemar in Person seinen Sohn Claudius warnt. Woher nehme ich einen Fürsten Waldemar?«

Er entsetzte sich, daß ihm kein Mittel bleibe, zu sich selbst den Knaben herzuziehen. Er konnte einzig der Mutter eröffnen, sie werde mißbraucht, auf ihr Kind sei es abgesehen. Aber das hatte die Fürstin Lili sich schon selbst gedacht, nur ihre Lage verbot ihr, des näheren daran zu denken. Claudius verschwand, sobald Terra auftauchte. »Ich bin verworfen von ihm«, fühlte Terra, da die Tür zufiel. »Mit vollem Recht. Denn ich lasse ihn schuldig werden, dann verliere ich die Zügel. Nie hat ein Vater zugleich duldsamer und schurkischer gehandelt. Eine Menschenseele geht verloren. Das bleibt die schwärzeste meiner Taten!«

»Die Grimassen hast Du schon lange nicht mehr geschnitten«, bemerkte die Frau von drüben aus dem Spiegel, in dem sie ihre zeitgemäße Schönheit pflegte. Er stöhnte. »Ich war auch nicht häufig in der Lage, mich mit den sämtlichen haarsträubenden Ungeheuern dieses Lebens auf einmal herumschlagen zu müssen.«

»Wenn das einen Sinn hat, mußt Du Deine bekannten Dummheiten etwas reichlich gemacht haben.«

»Wüßtest Du, wie es einem Elenden meiner Gattung herzerquickend wohl tut, von einer bewährten Freundin Deiner Gattung nach Gebühr in Grund und Boden verachtet zu werden!«

Sie kam mitleidig herbei, ihr Gesicht war ohnehin fertig. »Alter Freund,« sagte sie, »es wird hohe Zeit für Dich, zur Vernunft zu kommen. In gewissen Jahren ist man kein Außenseiter mehr, oder es nimmt ein schlechtes Ende.«

»Wohin zielst Du?«

»Frage. Deine Liebe meine ich natürlich. Man sieht doch, wie sie Dir bekommt. Kind, mir machst Du nichts vor. Du hast die Frau nie gehabt.«

»Man glaubt es aber allgemein«, stammelte er erschreckt. »Lassen wir die Leute dabei. Euch Männern ist das lieber. Ich weiß, was ich weiß. Wo trefft Ihr Euch denn zu Eurem aufreibenden Verkehr?«

»Ganz draußen«, gestand Terra, gehorsam wie ein Kind. »Es ist ein unhaltbarer Zustand bei der Witterung. Sie haßt ihren Gatten wie toll. Dies ist der hauptsächliche Grund, daß wir einander quälen müssen und zu keiner Befriedigung gelangen.«

Die Frau von drüben hob ihre schönen Schultern. »Und Du merkst nichts. Dich macht sie verrückt, und den Mann behält sie. Was riskiert sie für Dich? Na und Du? Du willst nicht im Ernst, sonst wärt Ihr schon fertig.«

»Endlich gesunder Menschenverstand«, sagte er erleichtert, indes sie sich schon wieder im Abendkleid vor dem Spiegel drehte. »Ich könnte eher Nacht für Nacht bei Dir verbringen«, gestand er. – »Das möchte Mancher«, sagte sie im Drehen. – »Das ist gerade meine unfaßbare Verirrung«, sagte er, ohne an sie zu denken. Sie lachte aber von Herzen, unanfechtbar und beglückend, »Du wirst nicht mehr anders«, sagte sie.

»Verändere nur Du Dich nicht!« riet Terra ernst. »Du warst richtig, auch als Mutter. Schone unser geliebtes Kind!« bat er flehentlich.

»Deswegen kommst Du her«, sagte sie gelangweilt. »Was hast aber Du für ihn übrig, außer Deinen gewagten – na Faxen«, schloß sie, unbesorgt um das rechte Wort. »Ich, alter Freund,« wobei sie mehrmals auf ihren weißen Hals schlug, »ich mach' ihn für mich gebrauchsfertig.«

Auf sein Stichwort stand der Junge schon in der Tür. Terra sprang auf vor Überraschung: ein junger Herr in Dreß. Schwarz machte ihn länger, Schmalheit, Anmut und die sanften Farben ließen an verkleidete Mädchen denken. Er legte seiner Mutter den Mantel um. Sie nahm seinen Arm, welch ein Paar! Ein vornehmer Jüngling hatte diese erfahrene Frau erwählt, die jung war. Das Paar der leichten Freuden, ungehemmt, unermüdlich. Das Paar, dem Reigen von Augen nachzogen, wie ihrem eigenen, Dichtung gewordenen Verlangen. Jede welkende Lebensgier mußte hintappen nach dem Paar. Es war Gold wert. »Ich wünsche gute Geschäfte«, murmelte Terra.

»Sieht er jetzt noch wie mein Sohn aus?« fragte die Mutter.

»Bei allem, was Dir heilig ist: nein«, sagte Terra.

Er fragte noch: »Und dies alles für Herrn Doktor Mörser?«

Beide bekamen den wegwerfenden Mund. »Da gibt es andere Kavaliere«, sagte der Fünfzehnjährige und zog ab mit seiner Dame.

»Das ist der Anfang vom Ende«, rief Terra nach einer langen Weile. Er war allein und er sprach laut. »Du hast es gewollt, Schurke! Abgefeimter Schurke, Du versiehst die Mutter überreichlich mit Mitteln, damit sie Dein eigen Kind zu Grunde richtet und Dir aus dem Weg räumt. Du fürchtest den jungen Mann. Das wird ein anderer Schlag, der könnte Dich endlich zur Erkenntnis Deines verfehlten Lebens bringen. Meuchelmörder, Du stößt ihn mit Geld versehen in den ersten erreichbaren Abgrund!«

Die Selbstverdächtigungen drängten einander. Als aber alles gesagt war: »Wann war der Augenblick, ihn seiner Mutter zu entreißen?« Still für sich entschied er: »Der Augenblick war nie. Mein Claudius ist der Sohn des Weibes. In dem blonden Haar meines Kleinen, in das ich einst mein Gesicht senkte, war's dunkel. Nur sein Herz sollte nicht dunkel sein? Ich kann es nicht ungeschehen machen, das Haar nicht, das Herz nicht. Aus dem Kleinen, der mich ernst ertrug und der abwartete, ward der Große, der mein Feind ist. Überdies hege ich den schrecklichen Verdacht, daß wir uns bei alledem dennoch lieben ... Schicksal, nimm Deinen Lauf!« schloß er und ging.

»Und meine alte Freundin, die mir zur Norm riet! Sie soll sich selbst raten! Wir fahren.« Er bestieg sein Auto und fuhr nach Liebwalde.

 

Was für Wege in Winternächten, um sich eine Stunde lang zu sehen! Die Gefahr war unvergleichbar größer, als wenn Alice ihn einfach in ihrem Roten Salon empfangen hätte. Furcht vor dem Gatten? Nicht ganz. Aber der Gatte sollte die Spur verlieren, er sollte noch lieber den Verstand verlieren. Wo sie sich trafen, würden ihm seine Spione schon melden – nicht aber, was der Spaziergang in der Nässe, an ausgefallenen Orten, für einen Sinn hatte. Terra dachte: »Legen wir es nicht eigentlich darauf an, daß er an unserer körperlichen Unschuld durchaus nicht zweifeln kann? Wir treiben die hintergründigste der Heucheleien, denn sie stimmt überein mit der Wahrheit. Wie soll ein Tolleben sich da herausfinden; schon längst würde er vorziehen, wir betrögen ihn einfach. Keine Handhabe; nicht einmal die greifbare Niederlage kann er sich holen, wie im Fall Mangolf. Es ist ein teuflisch angelegter Plan, um einem Mann seines Gewichtes den Verstand zu nehmen.«

In diesem Augenblick haßte er Alice – auf der leeren Landstraße, wo der Wind heulte. »Man sollte soweit mit dem Weib sich nicht gemein machen. Der Mann muß wenigstens kämpfen dürfen. Achte ich Tolleben nicht höher im Grunde als die Frau? ... Wie, wenn ich umkehrte?«

Aber beim Betreten des Parkes von Liebwalde ergriff ihn die Reue. Die Bäume knarrten und klatschten im Wind, feuchtes Laub hob sich im Dunkeln schlangenhaft vom Boden, Wasser gurgelte kalt. »Dies alles birgt meine Alice. Ich suche im einsamen Unwetter meine Alice!«

Er suchte den Baumgang ab, den großen Baumgang zwischen Terrasse und Fluß. Stand sie nicht unter Bäumen im tiefsten Dunkel, gleiche Gedanken des Überdrusses lähmten sie, und sie wollte nicht wissen, daß er kam?

Am Flußufer liefen Pfade durch dürres Gebüsch, war dies noch immer nicht der traurigste Platz? Von Dornen gestreift, so schmal ist der Weg, und durch zähen Lehm, der der Schritt fesselt: da sah er, als ob der Himmel zerrisse. Hier der enge Platz zwischen den Dornen, und gebückt, mit knotig geöffneten Armen der tierartige Umriß eines Baumes! Sinnbild des Mordes, Terra erkannte alles wieder. Hinter den Büschen das überall gurgelnde Wasser schwillt an und ruft, gleich zu vergießendem Blut! Hier hatte er sie töten wollen, hier mit ihr sterben wollen. Hier hatte alles erst angefangen ... »Hier finde ich meine Alice!«

Sie ging die zehn Schritte hin und her in der Dunkelheit, wie im Käfig. Er mußte sie anhalten, sie sah und hörte nicht, im Käfig ihrer Gedanken. »Was wir erleiden mußten von damals bis heute!« rief sie. »Ist das den anderen je zu vergelten?«

Er nahm sie zart in den Arm. »Du kommst aus Nizza. Meine Alice hatte um sich nichts als strahlende Bläue, und daraus kehrt sie so schnell zurück, geradenwegs an diesen Ort, der so schlimm ist. Für mich, Alice, für mich?«

Sie hielt, in seinem Arm, die Augen geschlossen. »Ich war bis Nizza geflohen. Ich möchte immer fliehen, aber es gibt keine Zuflucht. Eine Nacht habe ich dort gelegen und gehaßt. Dann kehrte ich um. Nimm mich!« Er kniete vor ihr in den Schlamm. Sie hielt aber den Kopf abgewendet, die Augen fest zugedrückt; er mußte aufstehen, ohne daß sie sich rührte.

Auf dem Weg durch die Allee sahen sie dort vorn einen bleichen Schimmer, das Parkgitter. »Davor hielten wir einst im Laufen an, es gab einen Ruck, und wir keuchten. Ob es heute offen ist?« – »Es war immer offen, aber Du entführtest mich nicht.« – »Dann schließen wir es endlich!« sagte er. »Wir bleiben die Nacht in Liebwalde.«

»Das wäre!« sagte sie, ohne anzuhalten, er vertrat ihr aber den Weg. »So geht es nicht weiter. Deine Rache in Ehren, unsere Selbstachtung und Besonderheit hin und her, aber eines Tages wird man Mensch. Im Haus ist kein Licht, Du hast den Schlüssel. Dein Freund, der Wächter wird nichts hören, und weckt seine Frau ihn, wird er behaupten, wir seien Geister.«

»Das Haus war diesen Winter noch nicht bewohnt. Bitte nicht in ein kaltes Haus! Wenn Du willst, bei Dir.« Womit sie ihn auch bewog, sie fortzulassen. Während sie aber das Auto bestiegen, lief der Wächter herbei: warum Frau Gräfin nicht wieder ins Haus komme, seine Frau habe inzwischen geheizt. Alice antwortete ihm nicht, sie hielt den Kragen des Pelzmantels derart an ihr Gesicht, daß auch der Chauffeur es nicht sah. Fort! – und unterwegs klagte sie, auch der Wächter habe sich ihrem Gatten verkauft. Ob Terra seinem Chauffeur traue? »Sie belügt mich«, träumte Terra, – denn er hatte das Gefühl, er entführe seine Alice. Viele Jahre früher, ein Leben früher, noch damals, – sie hatten es gewagt, sie waren auf und davon. Da log Alice, was war geschehen? ... Sie klagte leise: »Als ich heute Abend in Liebwalde aus dem Hause trat, verfolgte eine Gestalt mich, ich lief. Ich mußte durch den ganzen Park laufen, bis zur Stelle, wo Du mich fandest, ich wagte mich nicht zurück. Die Gestalt war ein Spion. Überall hat er Spione.«

»Es waren Bäume! Du sahest Bäume im Winde schwanken, als käme jemand ... Armes Geschöpf!« Er hielt sie an sich gedrückt, sie sollte endlich geborgen sein. Sie entwand sich aber fiebernd. »Es wird immer ungeheuerlicher mit ihm«, stammelte sie. »Auch Du würdest den Kopf verlieren, wenn Du es wüßtest. Ich kann es nicht sagen.«

»Wir setzen ihm zu, das muß ihm der Neid lassen. Was gäbe er, wenn Du eine ganz gewöhnliche Frau wärest, die einen Liebhaber hat! Er tappt mehr im Dunkeln, als wir in Liebwalde. Ihm ist unheimlicher. Merkst Du keine Veränderung an ihm?«

»Er betet.«

»Das ist ein Zeichen.«

»Ich höre ihn in seinem Zimmer laut beten. Vorigen Sonntag hat er mich zur Predigt in den Dom geschleppt.«

»Der Ärmste!« – Das Mitleid, das ihn bei der Verwirrung Alices ergriffen hatte, Terra fühlte es jetzt mit dem Gatten. Sie aber empörte sich. »Schamlos, ein Hund! Er mutet mir zu, sein uneheliches Kind bei mir aufzunehmen!«

»Wie?« Terra rang nach Worten. »Dann habt Ihr Euch darüber ausgesprochen.«

»Er hat mir alles gestanden – aus Gewissensbedenken, sagt er; aber es ist Niedertracht, es ist Marter: ich soll Tag ein Tag aus sein uneheliches Kind vor Augen haben. Er will mich martern mit dem Gedanken, daß ich keins von Dir habe! ... Halte Niemand mehr für so dumm, daß er nicht martern kann!«

»Ich will es mir gesagt sein lassen.« Terra zog sich zusammen bei diesen Enthüllungen. Ihm fiel ein: »Es wäre Dir ein Leichtes, ihm den Spaß zu verderben. Sage ihm, von wem das Kind ist, das er für seines hält!«

»Das doch nicht«, – sie lachte verzweifelt. Richtig, ihr blieb, daß sie dies allein wußte.

»Aber ich will, daß er stirbt«, sagte sie plötzlich. Es klang wie jeder andere Satz. Terra ging darüber hin. »Er ist Staatssekretär und nach menschlicher Voraussicht der Nächste im Fall, daß Deinem verehrten Vater etwas zustieße. Ich selbst könnte Dir mit gutem Gewissen nicht raten, Dich jetzt noch scheiden zu lassen.«

»Du hörst nicht. Ich töte ihn. Ich bin entschlossen, ihn zu töten.«

Das Auto hielt. Die Haustür Terras, aber er rührte sich nicht. Der Chauffeur erschien. Terra gab ihm gleich durch das geschlossene Fenster das Zeichen, weiterzufahren. Sie schwiegen, sie fühlten beide, sie träten unter ein fremdes Tor. Hier ging es weit und in Dunkel – ruhelos. Nie würden sie in Betten liegen wie Liebende. Sie würden in die Irre gehen, würden Bosheit und Furcht erleiden. Der letzte ihrer Vorsätze, zu lieben, war nun verfehlt. Statt ihrer Liebesnacht die Todesnacht jenes andern!

An einer unbeachteten Stelle stiegen sie aus. Terra begleitete Alice noch einige Schritte. Er flüsterte ihr ins Ohr:

»So einfach geht es nicht. Du hättest Aussicht, die ärgsten Folgen der Tat von Dir abwenden zu können. Gut. Aber zu viel Peinliches bliebe. Nein, wenn es denn sein muß, ist meine nächstliegende Herzenspflicht, es statt Deiner zu tun«, schloß er höflich aber bestimmt – und war schon fort.

Er wußte, sie stände noch da, aber er sah nicht um. Jetzt ward die Tat ihr klar, nun nicht sie selbst sie begehen sollte. Jetzt zitterte sie.

Erst am Morgen überraschte ihn der Zweifel, ob sie es dennoch getan habe – übereilt aus Furcht vor seiner Dazwischenkunft, ohne Sicherheiten und gegen bessere Einsicht. Um nur fertig zu werden mit dem Gedanken an das Töten, hatte sie vielleicht getötet?

Es war zu früh, um nachzufragen. Eine Stunde immer steigender Angst, dann rief er an. Bedacht waren alle möglichen Wege, den Zustand Tollebens unauffällig zu erkunden. Im Augenblick des Entschlusses aber verlangte er einfach Tolleben selbst. Noch meldete sich niemand, da klopfte es an seine Tür, herein trat Tolleben.

»Sogleich«, sagte Terra geschäftsmäßig und sprach erst noch mit der Wohnung Tollebens, fragte, ohne Namen zu nennen, nach dem Verbleib dessen, der vor ihm saß, zog es hin. Endlich mußte er sich seinem Gast doch zuwenden. »Sie sehen nicht wohl aus, Herr von Tolleben«, sagte er, um den andern sofort in Nachteil zu setzen. »Freilich sehen wir uns vorzugsweise bei Anlässen, die es wenigstens einem von uns erschweren, lustbetont zu bleiben. Womit kann ich Ihnen diesmal dienen?«

»Mit einer anderen Art zu sprechen ... Es ist nur eine Bitte«, setzte er hinzu, beim Auffahren Terras. Tolleben konnte sich nicht verkleinern, sein riesiger Rumpf schwankte gewohnheitsmäßig von einer Lehne seines Sessels zur andern. Aber sein Gesicht bat nahezu um Entschuldigung solcher Kraftmassen. Übrigens war er müde. War Tolleben nicht ermordet, geschlafen hatte er auch nicht.

»Es ist ehrliche Besorgnis«, erklärte Terra, die Stimme gesenkt. »Wir sind auf einige Arten miteinander verbunden. Das Leben hat es gewollt, nicht wir ...«

Tolleben bewegte die Hand, als sagte er, hierüber zu streiten, sei zu spät.

»Daher«, schloß Terra, »ist Ihr Wohlergehen für mich nicht ohne Bedeutung. Darf ich Ihnen raten, verlassen Sie für mehrere Wochen Berlin!« Wobei er tiefernst den Mann im Auge behielt. Erblaßte Tolleben? Er hatte sowieso jetzt die hellere Farbe, schon mehr Kanzleipapier. Wem ähnelte er nur mit dem fallenden Fleisch des Gesichts, das oben abgezehrt schien? Jenem Hofrat, Günstling Lannas'! Der Wunsch Lannas' begann erfüllt zu werden, der Bismarck wich dem angegriffenen Beamten. Die Augen natürlich quollen nur noch weiter aus dem erschlafften Gesicht.

Jetzt errötete er sogar. »Sie haben nicht nötig, mich fortzuschicken«, sagte sein Stimmchen. »Meine Frau tut auch so, was sie will.«

»Sollten Sie der Meinung sein,« begann Terra, »ich sei auch nur im mindesten Ihrer Ehre zu nahe getreten –«.

»Dann würde ich Sie nicht fordern. Ich habe mal Ihren Freund Mangolf gefordert, seitdem weiß ich, wie Ehrenhändel mit Ihresgleichen aussehen. Das nächste Mal müßte ich unterschreiben, daß ich Pferde gestohlen habe.« Das Stimmchen pfiff wie je, der Mordblick war da. »Wir finden uns wieder. Tolleben, wie wir uns kannten.« Terra raunte vorgeneigt. »Sie waren mein Blutfeind, das mordäugige Tier der Urnacht. Sie sind es geblieben.«

Furchtbare Vertraulichkeit, aber Tolleben lehnte sie ab. »Das liegt mir nicht«, sagte er und hielt sich steif. »Beichten liegen mir nicht.« Worauf Terra wegsah. Pause.

»Was Sie mit meiner Frau haben, sind so moderne Beziehungen.« Tolleben begann tastend, um nichts zu zerschlagen. »Aber ich bin meinem Zeitalter nicht so fremd, daß ich sie mißverstände«, schloß er geläufig. Es war auswendig gelernt und hergesagt, er atmete auf.

Terra dachte, weggewendet: »Ein abhängiger Mann, und ich mißbrauche es!« – »Herr Staatssekretär! Wenn Eure Exzellenz sich die Mühe des Erinnerns nehmen wollen, ich bin zuweilen in der sicherlich unverdienten Lage, Ihnen bei Ihrem Herrn Schwiegervater, unserem hochverehrten Reichskanzler nützen oder schaden zu können. Ehrliches Spiel, ich tue weder dies noch jenes!«

Beim letzten erhob Terra unvermutet den Blick, da sah er: Tolleben hatte ihn beobachtet mit Sorge und mit Scheu. »Ich bin nun doch der Bittende«, sagte der Betroffene schnell. »Bringen Sie meine Frau davon ab, im Zirkus aufzutreten!«

»Wie?« fragte Terra.

»Im Zirkus aufzutreten«, wiederholte Tolleben. Er stutzte. »Ach so. Ich dachte, Sie wüßten. Also auch Ihnen sagt sie nicht alles.«

Terra verließ seinen Platz. »Das müssen wir verhindern«, entschied er.

»Wir sind einer Meinung. Aber was wollen wir machen, wenn sie auch Ihnen nicht alles sagt.«

»Wie unsinnig war schon die Reise nach Nizza!« fand Terra.

»Verschleiert hohe Schule reiten, ist in unseren Kreisen auch nicht üblich«, bemerkte Tolleben.

»Steht sie auf dem Zettel?«

»Das fehlte noch.« Der Gedanke trieb auch den Gatten aus dem Sessel. Gatte und Geliebter kreisten mehrmals umeinander durch das Zimmer. »Harte Prüfung«, sagte der Gatte. »Nicht zu überleben«, der Geliebte.

»Ich verspreche, daß es unterbleibt«, Terra hielt an. »Zugleich aber drücke ich Ihnen meine Mißbilligung aus. Das liegt am Mann.«

»Dann also an uns!« pfiff das Stimmchen. Terra horchte auf. Natur! Das Tier war los, im nächsten Augenblick konnte er die Pranken in seine Schultern schlagen fühlen. Tolleben stand nur noch auf den Absätzen. Er stemmte sich gegen seinen Trieb, bis er blutrot war und Muskelkrampf drohte. Terra hatte das Gefühl, sich zu ducken, so grade er noch blieb. »Endlich verstehen wir uns richtig«, sagte er. Aber Tolleben:

»Nein. Denn Sie denken, ich muß es schlucken. Ich schlucke es aber nicht, weil Sie, Mensch, es wollen. Zur Ehre höherer Mächte schlucke ich es.«

Terra dachte schon, er habe sich mit dem Kaiser ausgesprochen. Tolleben schloß aber: »Meine Ehre kommt erst nach der von Gott.« Wobei ihm die Wangen ganz nach dem Hals abrutschten und die Augen erblaßten.

Terra, durch die Nase: »Wie gefällt Ihnen der neue Dom, Exzellenz? Ich versäume keine Predigt.« Beim Schweigen des andern: »Die letzte war: schlägt Dich jemand auf die linke Backe, halt' ihm auch die rechte hin!«

Darauf Tolleben vor, Terra auch; grade rechtzeitig ging noch die Tür auf. Alice erschien.

Sie war vollkommen bleich. Ein Blick auf die Lage, sie fiel mit Rücken und Kopf gegen den Türpfosten, sie atmete, die Augen geschlossen. »Doch noch rechtzeitig«, hauchte sie.

Tolleben, es hören und Abstand nehmen. Was ging vor? Terra hatte sofort die Haltung bekommen, als sei er abgefaßt bei vorbedachtem Mordversuch; dazu die Stellung der Frau. »Was haben sie mit mir vorgehabt?« fragte Tolleben seinen Geist. »Vielleicht verdanke ich mein Leben nur meiner großen Selbstbeherrschung, – und die ist Frömmigkeit. Ich habe meine irdische Ehre geopfert, dafür rettet Gott mich.« Er stand ergriffen, Blick aufwärts; seine Hände falteten sich von selbst.

Terra inzwischen raunte Alice zu: »Frau Gräfin, Sie werden nicht im Zirkus auftreten.«

»Wie?« Sie verließ den Pfosten. »Ach darum war's nur? Das eure ganze Wut!« Sie betrachtete abwechselnd die beiden: Tolleben, der sich errötend seiner auffallenden Haltung bewußt ward. Terra und sein Fratzenschneiden, sein Schnappen. Sie lachte auf.

Beide Männer hörten ihr Lachen von einst, ohne Vorbehalt, ohne Schwere. Sie drehte sich um sich selbst und lachte. Hielt an und lachte weiter mit den Augen. Getrübte, blicklose Augen der Bedrängten, wo seid ihr. Noch einmal die schmalen, geistvollen Blitze der Lider, ja Strahlen, wenn sie aufgehn. Keine Lebensangst mehr, den Augenblick lang. Widersinn des Erlebens befreit auch einmal. Man muß nicht denken; es gibt nichts zu denken. Welch ein Spiel!

 

Aber unrühmliche Lasten auf seinen Schultern, blieb Terra sitzen. Das Ehepaar war fort, er spürte noch die Hand Tollebens, den ungemein vorsichtigen Druck, der um Gotteswillen nicht ausarten sollte. Er sah die Augen Alices noch. Vielleicht strahlten sie jetzt schon nicht mehr – und sahen umso verzweifelter drein. »Mich haben sie unnütz an bessere Tage erinnert.« Hier trat jemand ein.

»Ich sehe recht, Herr Kurschmied?« Gleich noch eine Erinnerung; Terra freilich hatte nichts erkannt in dem verwitterten, verwegenen Gesicht, als die Augen, die hellere Farbe der Halbkreise unter den Augen, deren geschärftes Blau aber viel kühner hersah. »Was ist aus Ihnen geworden?«

Das sei mit zwei Worten nicht abzutun, entschied Kurschmied. »Dafür ist mir bekannt, was aus Ihnen geworden ist.« Worüber Terra erschrak.

»Vor mir verstellen Sie sich nicht!« bat Kurschmied. »Sie sind hier, kurz und gut, um die Banditen in die Luft zu sprengen.« Seine Handbewegung lehnte Beschönigungen ab. »Dazu haben Sie sich bei ihnen eingeschlichen, sich aufgeschwungen bis an die Spitze. Ich habe es nicht anders von Ihnen erwartet, Sie waren schon immer mein Held.«

»Leiser wenigstens!« Terra gab ihm Likör. »Den gemeinsten!« verlangte Kurschmied. »Ihr Feind ist ein gewisser Mörser.«

»Sind Sie noch Schauspieler?« fragte Terra, Halt suchend. »Er warnt vor Ihnen in Paris«, schloß Kurschmied. – »Ah! Daher kommen Sie.« Kurschmied, unbeirrt: »Mörser verkauft eure Pläne nach Paris.« – »Nun muß ich doch wissen –« begann Terra. Kurschmied schnitt ab. »Pläne werden auch von dort an euch verkauft. Ihr und die Franzosen überbietet euch gegenseitig mit neuen Erfindungen. Ist einer von euch vom andern überboten worden, schreit er, schlägt Lärm und bezahlt ihn. Erreicht wird vielleicht Heeresvermehrung, jedenfalls neues Geschütz, so läuft das Geschäft. Habe ich es erfaßt?«

»Ich bin ein Kind«, dachte Terra. »Ich habe mir eingebildet, der Mörser begnüge sich mit dem Dispositionsfonds ... Nein doch, grade jetzt lasse ich mich hineinlegen, er schickt mir diesen Menschen!« – »Prost, Herr Kurschmied!« – und Terra vollzog den Trinkakt, wie in alter Zeit. »Als wir uns das letztemal begegneten, hatten Sie kein Glück. Sie versuchten umsonst einen Bräutigam auf seiner Hochzeit zu erdolchen, es war Ihre ritterliche Verehrung für meine Schwester. Ob die Verehrung heute noch vorhält, und ob das Unternehmen Ihnen jetzt bester gelänge?« Da senkte Kurschmied seine kühnen Augen.

»Fräulein Lea Terra ist alles geworden, was ich voraussah, und darüber. Sagen Sie ihr gefälligst, sie könne über mein Leben verfügen wie je, – und es werde ihr diesmal nützlicher sein. Ich war in der Fremdenlegion.«

»Prost. Sie müssen Durst haben. Sie haben etwas erlebt.«

»Nicht was Sie glauben. Ich ward nicht enttäuscht, denn vom ersten Tage an war ich mir bewußt, einen Mordversuch zu büßen. Da tut man am besten seine Pflicht und macht sich beliebt.«

»Sie sind breiter und kräftiger geworden. Ihr Haarschopf war früher fade, jetzt glänzt er über der verwitterten Stirn. Sie haben jetzt Haltung, wahrscheinlich auch Seelenstärke. Ich will mir verdammt merken, daß dies alles Folgen eines Mordversuches sind.«

»Genug –«, Kurschmied blieb unbeirrt, »zuletzt wurde ich Chargierter, eine große Ausnahme. Ich hatte nun unter mir einen Mann, den ich richtig behandelte. Er nannte sich Ausländer, lernte aber auffallend schnell französisch. Ich merkte, er sei gebildet, und ich vermutete, woher er käme. In Jahren lernten wir zusammen das afrikanische Land und die Menschen kennen. Wir kamen hinter Geheimnisse, er war gebildet. Wir kamen daher auch in Gefahren. Gemeinsam, die Gefahren wie die Träume, – obwohl wir Deutscher und Franzose waren ... Bis er verschwand.«

»Desertiert.«

»Er mußte verfolgt, er konnte sogar erschossen werden. Der Kommandant nun will es nicht.« Kurschmied spielte, die Halbkreise wurden bläulich. »Er scheint zu wissen, wer der Mann ist, so spricht er mit mir. Ich, als Freund, soll ihn schonend zurückholen, ihn vielmehr retten; denn er kann verschleppt worden sein ... Der Kommandant gibt mir Leute mit. Die Leute sollten zunächst ein Auge auf mich, den Chargierten haben, das merkte ich.«

»Das sind militärische Unmöglichkeiten, Herr Kurschmied.« Was aber unbeachtet, wahrscheinlich ungehört blieb. Kurschmied stellte dar: »Wir kommen zu einer Kette von Sandhügeln, mir und dem Verschwundenen wohlbekannt. Meine Leute ersteigen sie schon, ich bleibe am Fuß noch zurück, ich überblicke durch den Fernstecher die sandige Weite. Da fühle ich mich am Bein gezogen und falle in eine Versenkung.« – »Prost.« – »Ich war bei meinem vermißten Kameraden, und zwar in einer Schatzkammer.«

»So mußte es kommen«, bemerkte Terra. Er setzte sein Glas hin. »Ihr beachtenswerter Freund hatte den Schatz des Hamilkar aufgefunden. Aber es kostete ihn sein vielversprechendes junges Leben. Mühen und Entbehrungen hatten ihn erschöpft, und er ging von hinnen in einem Augenblick, als es sich endlich zu bleiben gelohnt hätte.«

»Halt, es war anders!« versuchte Kurschmied, aber Terra ließ ihn nicht. »Nein, mein Lieber, das kann ich besser. Ihr Held war aus erster Pariser Familie und hatte seinen Vater, bevor er das Weite suchen mußte, viel Geld gekostet. Aber der bürgerliche Kern ist unzerstörbar. Zu märchenhaften Reichtümern gelangt, bedenkt er schnell noch testamentarisch seine heiratsfähigen Schwestern, deren Mitgift er einst verpraßte.«

»Sie haben doch Geld wie Heu! Der Alte ist im Aufsichtsrat von Putois-Lalouche.«

»So kommen wir wieder zu dem Auftrag, mit dem man Sie mir geschickt hat.«

Da Kurschmied mit völlig leerer Miene dasaß: »Auch dumm können Sie tun. Herr Kurschmied, Sie waren niemals in der Fremdenlegion. Sie waren ununterbrochen beim Theater, vielleicht beim Wandertheater, aus Ihrer gesunden Farbe zu schließen. Herr Doktor Mörser, der seine Gründe hat, sich mit meiner Vergangenheit zu befassen, entdeckte darin eines Tages auch Sie. Grüßen Sie ihn!« – mit Wink. Kurschmied stand auch folgsam auf und ging der Tür zu.

Fast war er dort, als Terra die Hand erhob, wie um ihn anzuhalten. So ging doch nur die ratlose Unschuld? Solche Fortschritte hätte der kleine Schauspieler gemacht? ... Terra ließ die Hand fallen, da wendete Kurschmied sich von selbst wieder her.

»Hier habe ich ein Papier der Gesellschaft.«

»Welcher Gesellschaft? ... Alle Achtung!« rief Terra nach Lesung des Papiers. Über seinen Kneifer hinweg nickte er Kurschmied zu. »Dies beweist, daß die Herren, um ihre Produktion zu steigern, sich nicht einzig und allein auf ihre Spionage verlassen. Dies sind gewagtere Mittel.«

Er preßte den Mund, er bewegte das Papier. »Es könnte nun wieder Fälschung sein ... Gleichviel, Herr Kurschmied,« Hand hingestreckt, »ich glaube Ihnen auf Ihr ehrliches Gesicht hin und das hätte ich gleich tun sollen. Setzen Sie sich!«

»Hätten Sie mir gleich geglaubt, Sie wären nicht der, den ich verehre«, sagte Kurschmied, verwittert und rein.

»Immer noch?« fragte Terra halblaut ... »Zur Sache. Sie haben die Verlassenschaft des Sohnes benutzt, um sich an den Vater in Paris heranzumachen.«

»Ich war nach Ablauf meiner Dienstzeit von meinem Kommandanten an ihn empfohlen, sonst wäre es schwerer gegangen. Er glaubte trotz allem zuerst, es sei ein Erpressungsmanöver seines Sohnes. Dann erhob er aber vor allem Anspruch auf die Verlassenschaft.«

»Die dem Staat gehört. Beraubten Sie den Staat zugunsten dieses Großindustriellen?«

»Nicht sehr. Ich verkaufte ihm ganz geringe Proben des Fundes. Glauben Sie nur nicht, ich hätte jenem Harpagon die Lage der Schatzkammer verraten. Ich will, daß sie wieder für Jahrtausende in Vergessenheit gerät. Ich will nicht reich werden, Herr Terra. Mein Einblick in das Leben der Reichen hat mich gelehrt, daß Schätze schön nur im Traum sind.«

Kopfwiegen, Lauschen, dann sagte Terra: »Harpagon zog Sie also an sich. Privatsekretär? Nur nächste Nähe, um eines Tages Ihnen doch zu entlocken, wo das Gold liegt.«

»Auch aus Furcht, ich könnte zu andern sprechen. Je verschwiegener er mich wünschte, desto offenherziger ward er selbst. Er sah mich als ihm verkauft an, weil ich etwas zu verkaufen hatte. Daher die ganz geheime Sendung, in der ich hier bin.«

»Die Seelenkunde solcher Menschen gehört zum Schwierigsten, Kurschmied. Meine Standesgenossen halten ihre Opfer ausnahmslos für naiv genug, sich von ihnen ausbeuten zu lassen, gleichzeitig aber für vollauf ausgestattet, ihnen gut zu dienen.«

»Ihre Erfahrungen geben ihnen recht«, sagte Kurschmied schlicht.

Sie kamen überein, wie die besonderen Kurschmiedschen Erfahrungen und Möglichkeiten günstigst auszunutzen seien. Vor allem durften sie einander nicht kennen. Für den Fall, daß Doktor Mörser ihre alte Verbindung herausbrachte, mußten sie sich verfeinden. Kurschmied mußte bei Knack eingeführt und gehalten werden durch Mörser, – der an ihm verdienen mußte. Was Kurschmied in seiner zwischen Knackstadt und Paris geteilten Ermittlungstätigkeit verdiente, war mit Mörser zu verrechnen. Mörser mochte glauben, er habe die Hälfte, wenn er das Ganze bekam. Es komme wie immer, hielt Doktor Mörser doch sicherlich fest an solchem glänzenden Abschluß, auf ihn war Verlaß.

Anders Knack. Er selbst blieb im Problem der Unbekannte. Eine entscheidende Blöße hatte Knack sich nie gegeben. Er konnte in den Händen internationaler Verräter, aber gutgläubig sein. Er sollte dafür gehalten werden zur Ehre seiner Klasse, so lange Hoffnung erlaubt war ... Kurschmied, durch Mörser tatsächlich in die erstrebte Vertrauensstellung gebracht, ließ sich von Knack betreffen bei seiner unmißverständlichen Tätigkeit. Aber hatte nicht Knack die Ehre des Hauses zu schonen? Erzwang sie von ihm nicht scheinbare Duldsamkeit für die Verirrungen des Neffen? Unter der Hand entfernte er wohl die Spuren, der Boden war wieder blank, wenn man eintrat.

Geboten schien, daß Terra ihm noch viel näher trat, ihm persönliche Aufmerksamkeit erwies. Knack war krank, in einem gewissen Zustand verriet er halbwegs, wovon. Terra wieder lehnte ausdrücklich ab, noch jetzt um den Brei zu gehen. Er legte dem Alten nahe, sich des abgenutzten Neffen beizeiten zu entledigen. Nur die taktlose Sittenwidrigkeit Mörsers machte es dringlich; seine geschäftliche Einstellung entsprach, Terra zufolge, dem Zeitgeist. Sie war erlaubt, selbst wenn sie verboten schien, keinem geglaubten Gesetz widerstrebte sie mehr, nur erheuchelter Konvention.

Da aber Knack. Er litt unter dem Doppelspiel. Sein Prozentsatz Zucker stieg unweigerlich bei jedem neuen Zusammenstoß der überlieferten Staatsgesinnung des Hauses mit seiner erweiterten Tätigkeit. Gebrochen, tränend sah er hinan zu seinen Vätern, die an der Wand hingen und kein Zugeständnis machten. Der internationale Rüstungsring, folgerichtiger Ausbau ihres ehrbaren Unternehmens, mißfiel ihnen; der Enkel in seiner jetzigen Schwäche fürchtete sie. Er hätte rückwärts gewollt. Die blaue Schürze, die rußigen Hände seines fromm und gediegen blickenden Großvaters sprachen ihm scharf ins Gewissen, so nahe vor der Wiedervereinigung. Ob Wiedervereinigung in Rechnung zu ziehen sei? Terra wollte es nicht ausschließen. Da beichtete Knack.

Er beichtete letzte Geheimnisse, die, wie er sagte, auch seinem hervorragenden Mitarbeiter bisher entgangen seien. Der Blick aus seinen schwer noch zu öffnenden Lidern hieß freilich: »Wir kennen uns. Gerade Dir beichte ich, Du bist mein nächster, eingeweihtester Feind. Werde ich um einen Strich zu weit gehn? Wirst Du mich in die Hand bekommen? Das Leben hat doch noch Reiz?« So hohes Spiel lernte der Großbürger, der längst alles gewonnen zu haben glaubte, erst knapp vor Schluß kennen. Gewissen! Das Jenseits und seine Vergeltungsmaßnahmen nicht ganz ausgeschlossen! Und beichten dem, der schon auf Erden Rache plante. Wie er lauerte! Denn Terra gab sich das Gesicht des Spießgesellen, dem es nicht schlimm genug kommen kann. Angesteckt von seinen Grimassen, bekam Knack, den jeder undurchdringlich kannte, hier zuerst schiefes Maul und Stirn voll Knoten ... Nur schriftlich zeigte er nichts. Sogar noch in seinem Zustand behielt Knack genug Selbstbeherrschung, er ward zur rechten Zeit ohnmächtig.

So kam nichts zu Ende. Kurschmied und Terra griffen zu einem langwierigen Gemächte, bestimmt, den Verwaltungsrat, jene Pariser Größe, in Person nach Knackstadt zu lenken. Als es gelang, war der Sommer 1907 da, die bevorstehende Friedenskonferenz im Haag brachte Gefahren, denen die verschwisterten Industrien leichter gemeinsam begegneten.

Schwüler Tag, Knack fürchtete zu sterben. Kein Spitzbauch mehr, nicht einmal Schultern. Das Jackett mußte täglich gebügelt werden, um nicht gänzlich einzufallen über den entgleitenden Körperformen. Arme, listige Verbrechermaske, weiß wie ein Schmutztuch! Verlor beim Sprechen das Gebiß, hatte aus Schläfen und Scheitel alles was übrig war von rostigem Haar, bis an die Augen gezerrt. Irrende Augen, kratzende Hand, – und die Weltmacht dieses aus zersetztem Innern Atmenden erhielt waffenstarrende Völker aufrecht und unbeugsam im Haß und in der Spannung auf Krieg!

Terra ließ Knack allein, als der Besuch kam. Er war als Arzt gemeldet, fremder Spezialist. Er blieb eine Stunde, die Kraft für Konferenzen behielt Knack auch jetzt noch. Terra und Kurschmied waren draußen auf ihren Posten. Eine Minute nachdem der Gast den Chef verlassen hatte, prallte Kurschmied im Korridor heftig mit ihm zusammen. Noch drei Minuten, Terra hatte das Schriftstück gelesen, es war durch zuverlässige Beförderung in Sicherheit gebracht.

Er ging zu Knack, auch der fremde Besucher stand wieder dort. Er und Terra faßten sich ins Auge, der Fremde war ein blonder, gesund geröteter Kerl im elegantesten Aufzug. Da seine rechte Hand nicht sichtbar war, zog Terra die seine halb aus der Hosentasche, ein Gegenstand zeichnete sich darin ab. »Mir war wieder schlechter geworden«, klagte Knack sofort. Terra sagte: »Das Rezept des Herrn Doktors ist auf unerklärliche Weise unterwegs verloren gegangen. Der Herr Doktor wird es noch einmal schreiben müssen.«

Nebenan polterte Kurschmied, die Sekretäre hatte er entfernt. Der gesunde Kerl mußte sich überzeugt haben, im Augenblick sei nichts zu machen, er ging und ließ den kranken Kumpanen selbst für sich sorgen. Knack, halb ohnmächtig, zu Terra: »Lieber Freund! Ich habe einen Herzenswunsch. Zuerst Ihre Hand!«

Terra gab ihm nur die linke, der Ohnmacht war nicht ganz zu trauen. »Heiraten Sie mein Kind! Ich gebe es Ihnen.«

Terra fuhr denn doch zurück. Das einzige Kind Knacks war Bellona Mangolf. Dies seine Antwort auf den Raub seiner schriftlichen Geständnisse? Terra überzeugte sich durch Fragen. Jawohl, Bellona sollte geschieden werden. Mangolf, der beruflich festgerannt schien, wurde einfach fallen gelassen. Knack fand Worte hohen Vertrauens. »Nur Sie gehören an die Spitze des Unternehmens als mein Schwiegersohn. Wie könnte ich es anderen unberufenen Händen überlassen bei den Zeiten, die bevorstehen. Denn wenn nicht bald Krieg kommt, was Gott verhüte,« sagte Knack, »dann sind Wirtschaftskrisen unvermeidlich.«

Er werde sich möglichenfalls schon vorher vom Geschäft zurückziehen, sagte Terra vieldeutig. Seine politischen Aufgaben bekämen nachgerade den Vortritt. Womit er Knack verließ, um nach Berlin zu Lannas zu fahren. Was er berichten wollte, schien keinen Aufschub zu dulden. Terra wartete nicht bis zum Schnellzug. Sein Auto stand fertig, da ließ Frau Bellona Mangolf ihn bitten, er möge sie mitnehmen.

Er wußte nicht einmal, sie sei hier, und er glaubte es nicht. Ein Trick des Alten, ihn aufzuhalten! Aber als er seinen Wagen bestieg, erschien sie selbst; er mußte wohl nachgeben.

 

Sie wartete kaum ab, daß angekurbelt war, schon begann sie zu klagen. Ihre Ehe war unglücklich. Sie war betrogen – von Anfang an, wie ihr jetzt klar ward. Wer litt überhaupt wie sie? ... Hier überfuhren sie einen Menschen. Der Wagen hielt sofort, der Chauffeur sprang ab, er half dem alten Mann auf die Füße, dann sagte er ihm bündig: »Das haben Sie mit Willen gemacht.« Der Alte brüllte umso hartnäckiger; er wollte sich wieder hinfallen lassen, nur der Chauffeur ließ ihn nicht.

Ein Strom Arbeiter, der seitwärts zur Fabrik ging, ward abgelenkt durch das Geschrei, sie umstanden stumm und drohend das Auto. Terra, neben der verschleierten Tochter Knacks, hatte Mütze und Autobrille entfernt, er zeigte ein Gesicht von überdeutlicher Verzweiflung, einen Ekel, der jeden fernhielt. Die Drohenden wichen vor dem Ekel. Der Chauffeur sagte: »Alle acht Tage macht das einer«, – in der Meinung, dem gelte die Miene Terras. Aber Terra dachte daran, er sei einst Armenanwalt gewesen. Was war geschehen, bis er neben der Tochter Knacks sitzen konnte und kein Wort fand, wenn ein Armer sich preisgab? Er begriff nicht.

Bella machte eine Anstandspause. Erst draußen auf der Landstraße begann sie wieder, halblaut, im Tone des nie abgebrochenen Gedankens. Wer litt wie sie? Daß sie den Mut gefunden hatte, sich zu rächen, es war nicht Mut. Und wozu Rache, die niemanden schmerzte als sie. Denn sie liebte Mangolf, sie konnte keinen andern je lieben!

Da ward sie überrascht, Terra nahm ihre Hand, er zeigte gefühlte Teilnahme. Er nannte sie anständig im Tiefsten und Leidensgefährtin seiner Schwester, dies ganz ungebeten. Die armen Frauen! Sie gingen im Zug des Lebens zu ungewählten Zielen mit, wie er, oder wie vorhin die Arbeiter, die nur stillstanden bei Unglücksfällen.

Sie ward befangen durch seine Teilnahme, ihr Jammer floß weniger reichlich. Als es dunkel war auf der Straße, sprachen sie nichts mehr; Bella setzte wohl an, aber das fühlende Herz neben ihr anstatt des Geschäftsmannes erschwerte das Eigentliche. Erst nach Erreichung des Schnellzuges, in wohlgeschlossener, beleuchteter erster Klasse, kam sie damit heraus: Terra sollte Mangolf politisch wieder flott machen. Davon hing alles ab. Sie selbst hatte ihm leider geschadet, damals in der Sache mit dem Duell. Seitdem war wieder Lea – obenauf, verschluckte sie noch gerade. Ach! er würde sie wieder lieben, was hieß aller Betrug, – kam er nochmals in Aufstieg! ... Dies aber lag bei Terra.

Sofort fragte neben ihr der Geschäftsmann: »Ihr Angebot, meine Gnädigste?«

Es war einfach. Er heiratete endlich seine Alice, was war dann noch Tolleben – trotz Pakt mit Mangolf. Lannas beseitigte ihn; kein Schwiegersohn, kein Nachfolger. Staatssekretär ward Mangolf, und er verpflichtete sich Terra –.

»Wie er sich Tolleben verpflichtet hat«, ergänzte der Geschäftsmann, – was aber die Frau nicht abschreckte. Ob er denn glaube, für seine so modernen Absichten einen Halbmodernen wie den Fürsten Lannas ja wirksam einsetzen zu können. Auf Lannas bauen, statt auf seinen eigenen Jugendfreund? ... Bella war eingeübt, sie sprach die ganze letzte Stunde. Beim Abschied endlich wies er sie an Alice. Bella, die um ihr Glück kämpfte, mußte doch Sinn dafür haben, wie viel schwerer dort, und nicht einmal mehr um Glück, gekämpft ward? ... Nein, niemand hatte wohl Sinn für das neben ihm. Jedes für sich in seiner unverbrüchlichen Schranke.

»Ich«, dachte Terra noch in seiner Wohnung, »habe den höchsten Trumpf meines Lebens in Händen. Was ich ihm mitzuteilen habe, erträgt nie im Leben ein Lannas. Keine halbe Stunde, und wir haben die Revolution von oben! Ich wäre ein Narr, ihm in Haus und Familie gerade jetzt Verlegenheiten zu machen.«

Er kam nach zwei, zur Zeit der »Insel«, fand aber den Reichskanzler schon nicht mehr in der Bibliothek. Am Schreibtisch denn? Wahrhaftig. Söchting selbst erstaunte über soviel Arbeitsdrang. Aber Terra durfte eintreten.

Fürst Lannas schrieb mit einer Gänsefeder, die vorn modern und aus Stahl war. Er winkte den Gast auf die Rohrbank neben dem Schreibtisch, schrieb die letzte Zeile, hob den Blick, der repräsentierte, wenn auch zur Stunde etwas matt.

»Ich bringe Wichtiges«, sagte Terra sofort.

»Sind Sie davon durchdrungen?« fragte Lannas. Den Kopf geneigt, ließ er sehen, daß sein glatter Scheitel jetzt glänzend weiß, die Wange aber blaß und viel magerer war. »Was ist wichtig in unserer Welt? Nicht daran rühren, ist wichtig.«

»Das war der ganz alte Bismarck. Eure Durchlaucht ist in voller Aktivität und bleibt es, so Gott will.«

»Wissen Sie, daß ich dem Kaiser meine Entlassung angeboten habe?« Seufzen des Verzichts.

»Jetzt?«

»Nein. Jetzt würde er sie vielleicht annehmen.« Was kräftiger klang, Terra war beruhigt. Lannas, fast schelmisch: »Außerdem würde ich es Ihnen dann nicht sagen. Nein, der Kaiser hatte damals eine Art Privatvertrag mit dem Zaren gemacht, über die entscheidenden Angelegenheiten dieser Welt. Ich pflege ihn für seine Handlungen unterschiedslos zu loben – mit dem Vorbehalt, daß ich dann gutmache, was noch geht. Aber Lob erwartet er mit Recht an der Stelle, wo man ihn doch nun einmal läßt. Ließe man ihn, wenn er nicht lobenswert wäre?«

Die verwirrten Falten waren fort, glatte Stirn und diese Worte! Terra verlor den Faden.

»Die absolutistischen Grundirrtümer des Kaisers«, sagte Lannas mit deutlichem Wohlwollen, »machen ihn der nationalen Sache gefährlich. Sie ergeben Improvisationen, denen Rückzüge folgen. Auch tiefe Depressionen. Der Kaiser ist sehr krank.« Leichtsinn, zärtliche Nachsicht. Dann stärker:

»In Zeiten der Depression habe ich ihn. Nicht ganz so, wenn er wieder hoch ist. Dann werden Schiffe gebaut. Dann ist Fischer daran. Ich habe dem Oberadmiral einen mäßigenden Brief geschrieben, damals war Depression. Als aber Hochgefühl herrschte, kam seine Antwort, ich möge seine Entlassung befürworten. Das konnte ich nicht, ich hätte meine eigene riskiert.«

»Wird die Nation jemals so viel Geist haben, die Gefährdung ihrer Sache sich selbst zuzuschreiben?« fragte Terra.

»Was will die Nation?« fragte Lannas, zum erstenmal ungeduldig, daher mit unschöner Stimme. »In Algeciras hatten wir die Welt fast vollzählig gegen uns, und leben noch. Ich weiß, daß man jetzt sagt, ich hätte Marokko hinter den verschlossenen Türen der Kabinette liquidieren sollen, nicht auf einer Weltkonferenz das Schauspiel unserer Isolierung geben. Aber das ist immer noch ein Schauspiel, – und bei dieser Nation, diesem Kaiser –«. Er brach ab, die Ordnung der sechs Bleistifte neben dem Tintenfaß verdroß ihn, er warf sie durcheinander.

Geglättete Stirn, aber prüfender Blick auf das Gegenüber. »Und die guten Reichstagswahlen? Einer Gesellschaft, die sich in den drohenden Umsturz schon fast ergeben hatte, Gegengift beibringen, sie neu aufpulvern!«

»Nur Eure Durchlaucht vermochte es noch«, bestätigte Terra.

»Habe ich zu viel erreicht?« fragte Lannas unvermittelt. Vor innerer Unruhe war er im Aufstehen, bezwang sich aber.

»Aus eigenster Erfahrung kann ich Eurer Durchlaucht versichern, daß der von Eurer Durchlaucht geschaffene Bürgerblock eine ungeahnte geschäftliche Blüte zeitigt. Wenn wir nur Geschäfte machen!«

»Wie Sie vernünftig geworden sind!«

»Umso vertrauensvoller können Eure Durchlaucht aus meiner Hand den unumstößlichen Beweis dafür entgegennehmen, welche Geschäfte wir machen«, – und Terra reichte sein Schriftstück hin.

Lannas sah es nicht an, er hielt den Blick Terras fest. »Lieber Freund, Verlegenheiten habe ich genug. Ihr Glaube an meine Kunst, mit allem fertig zu werden, soll nicht enttäuscht werden, machen Sie mir darum, wenn ich bitten darf, keine ganz aussichtslosen!«

»Lesen Sie!« sagte Terra leise und dringlich. Der Blick Lannas' schwankte, er wich. Lannas stand auf. Um die Rohrbank und Terra ging er herum, machte im Rücken Terras einige Schritte, dann ward es still. War er geflohen?

Terra ließ es darauf ankommen, er sagte ohne sich umzuwenden und wie ins Leere: »Wenn der mächtigste Mann des Reiches mir ins Gesicht behaupten würde, es werde untergraben und nächstens in die Luft gesprengt von einer internationalen Verbrecherbande, Hauptsitz Knackstadt, ich hätte unbedingt meine Zweifel. Natürlich glaubt auch mir der mächtigste Mann es nicht. Mit einem Schlage bin ich wieder das verdächtige Subjekt. Auto! Ich gehe.«

Noch während er aufstand, sagte die entfernte Stimme Lannas': »Gewisse Dinge dürfen zwar Sie wissen, aber der mächtigste Mann nicht.« Lannas saß dahinten in der Ecke beim Rauchtisch, unter der Büste mit dem Adlerhelm. »Sonst flöge das Ganze vielleicht wirklich«, schloß er, als Terra vor ihm stand.

Glättende Handbewegung, er reichte den Zigarettenkasten, aber Terra nahm nicht. »Das Gleichgewicht erhalten!« erklärte Lannas. »Das ist meine Aufgabe. Ihre ist es, Entdeckungen zu machen, die es stören. Ich erkenne Sie an, Sie sind mein Freund.«

Terra schob wortlos das Dokument hin.

»Nur nicht lesen!« sagte Lannas – nahm es aber und hielt fern brennendes Streichholz darunter. Terra wollte zugreifen, da brannte das Papier schon. Er fiel, Beine in der Luft, über die Seitenlehne des nächsten Klubsessels. »Aus«, fühlte er; und »dieser Aal hat alles schon gewußt. Ich komme zu spät.«

Seufzer der Erleichterung, Lannas zerdrückte die Asche der Enthüllungen. »Es ist photographiert!« rief Terra aus der Tiefe des Klubsessels. Er hatte Mühe, sich herauszuarbeiten, der Tisch beengte ihn.

Lannas, ruhig: »Dann rate ich Ihnen, nur am unbelauschtesten stillen Ort sich in die Photographie zu versenken.«

Terra war auf, er lallte vor Wut. »Stillster Ort, mächtigster Mann. Mächtigster Mann am stillsten Ort. Eure Durchlaucht werden schlimmstenfalls immer noch am stillsten Ort der mächtigste Mann sein.« Vor Wut und Haß am Fleck aufhüpfend, – Lannas sah dem Phänomen zu. Auch folgte er ihm, nicht ohne Teilnahme, mit den Augen, wie es um das Zimmer lief, an der geschnitzten Bank mit Kunstmappen vorbei, an der Büste, dem reichen Ofen, um das Museumsstück von Mitteltisch mit chinesischer Vase, holländischem Sessel, und wieder vor den mächtigsten Mann hin. Fletschte Zähne, schnob wortlos, raste nochmals los, höhnisch auflachend nach dem Prunk der Wände ... Eine Tür verschob sich leise, Söchting vergaß sie hinter sich zu schließen, dies hatte er noch nicht erlebt.

Er flüsterte dem Reichskanzler zu, der erwartete Botschafter sei da, aber Lannas zuckte die Achseln. Als Söchting fort war, stand er auf und stellte sich Terra in den Weg. »Nun?« fragte er, wie ein Irrenarzt. »Sie haben sich gehen lassen. Ist es besser?« Da der Mensch noch immer nur lachte vor Wut: »Das zeigt man doch nicht.« Und Lannas lächelte glatt, wie um sich zu üben. Er dachte an den Oberadmiral als Verkörperung aller Feindschaften, die ihm drohten, er dachte an seine Entlassung – und lächelte Terra, der nichts sah, glatt an.

»Ihr Erz- und Kohlenmonopol!« sagte Lannas milde. »Damit wollen Sie den Krieg verhindern? Wenn der leitende Staatsmann will, macht er ihn trotzdem. Ich will ihn nicht, weil meine Gegner ihn wollen, das ist Ihre Bürgschaft. Und ich bin geschickt genug, ihn jedesmal zu verhindern, im selben Augenblick, da ich ihn herauszufordern scheine, – das ist die noch bessere Bürgschaft. Wie fanden Sie die Aktion, für die ich Fürst wurde? Warten Sie die nächste ab!« Er fühlte sich sichtlich besser als am Beginn der Unterredung. Er klopfte Terra auf den Arm.

»Ihre Nachrichten, lieber Freund, werden möglichenfalls anders verwendet, als Sie dachten, bleiben aber wertvoll. Versäumen Sie doch, bitte, nicht, auch am anderen Ende der Leitung nachzusehen, die von Knackstadt nach Paris führt! Betrachten Sie sich als meinen geheimen Agenten!« Er strich begütigend über die Hand, die Terra ihm nicht reichte, er brachte ihn selbst hinaus.

Erst am Fuß der Treppe bemerkte Terra, wie unklar er sah. Er erkannte die Stunde auf der großen Uhr nicht. Doch wieder wie einst! Zu früh hatte er sich gerühmt, zu reifen. »Schamlosigkeiten der Art werden mich noch längere Zeit nicht stumpf lassen, ich muß es fürchten. Dafür gearbeitet! Für dies glatte Herz. Dafür werden gemußt, was ich bin!« Laut stöhnend zog er sich zusammen wie von Schmerzen, in der Ecke seines Autos. Gerade hielt es im Gedränge, eine Dame sah verwundert zu ihm hinein. Er fuhr auf: Alice! Nein, auch diesmal falsch gesehen; aber sie sollte von ihm hören, es war aus. »Mich von der Welt zurückziehen und Bomben anfertigen, ich möchte wissen, was sonst ... Doch! Nach Paris noch fahren. Eine Verhandlung noch führen, eine einzige!«

Der Tochter Lannas', die ihn erwartete, schrieb er ab, schrieb ihr für immer ab. Am Abend fuhr er.

 

Am nächsten Abend verließ er in Paris sein Hotel, er ging zu Fuß nach einem Haus, das er zuweilen hatte nennen hören. Mittleres Wohnhaus, die Pförtnerin wies ihn in das Stockwerk, das er suchte. Ihm ward geöffnet, er sagte, mit wem er sprechen wolle. Noch nicht zu Hause? Aber er wurde, obwohl unbekannt, in das Zimmer geführt. Die Arbeitslampe ward angezündet und auf den Schreibtisch gestellt. Der Besucher blieb allein.

Er saß zuerst im grünen Schein der Lampe, ringsum lag Dunkel. Sie rußte, er stand auf, um den Docht herunterzuschrauben, er machte einige Schritte die Reihen der Bücher hin. Hielt an dazwischen wie ergriffen, stieß halblaut Gemurmel aus, umspannte plötzlich seine Stirn. Sah um, fand sich zurecht, kehrte zurück auf den Platz unter der Lampe. Eine Weile stillerer Gedanken, dann wieder auf. Der Wartende merkte nicht, daß Stunden vergingen.

Weit aufgerissene Tür, da stand er gerade im dunkelsten Winkel. Er hatte sich noch nicht gefaßt, der Eingetretene war schon vorbei an ihm, schon beim Schreibtisch, über Briefe gebeugt. Breiter Rücken, breiter Kopf, der Bart um die gerötete Wange glänzte silbrig ... Der Herr des Zimmers machte eine schnelle Wendung, er hatte laut atmen gehört. Eine Stimme sagte: »Ich bin in furchtbarer Verlegenheit. Jetzt kann ich nur noch als Überraschung auftreten.«

Wie der Fremde vorkam und sich verneigte, trat allein sein Kopf in den Lampenschein. »Sie sind Deutscher?« fragte der Herr des Zimmers. Nach Zögern: »Geistlicher?«

»Ich sage lieber nicht, wer ich bin«, stotterte der Besucher. »Sie würden mir noch schwerer glauben können. Unermeßlich viel ist aber daran gelegen, daß Sie mir glauben.« Dies laut und scharf.

»Reden Sie, bitte!« Geschäftsmäßig.

Der Fremde reichte, ohne zu reden, ein Stück Papier hin.

Nach Prüfung unter der Lampe: »Photographiert? Was soll ich davon halten? Mir wird so vieles gebracht.« Er hob die Schultern und beide Arme mit. Der breite Körper bewegte sich wie aus einem Stück. Der breite Kopf mit breiter Nase, Augen geschnitten wie Löwenaugen, Brauen aufgestellt schräg zur gewölbten Stirn: was sagte er? Mißtrauen? Zu klein für den Kopf. Ironie des Stärkeren sprach daraus, die einzige Drohung höherer Vernunft.

Der Fremde versuchte nochmals. »Bedenken Sie, daß seit der Dreyfus-Affäre die Stimmung hier bei Euch flau für Krieg ist! Was spräche denn dagegen, daß der internationale Rüstungsring seine Maßnahmen trifft, um dies zu ändern.«

»Nichts. Aber es wird ihm nicht gelingen.« Nochmaliger Blick auf das photographierte Schriftstück, dann schneller Schritt gegen den Gast. »Sie selbst haben das mit unterschrieben, wie?« Worauf der Gast zurückfuhr ins Dunkel.

Entspannung, warme Stimme. »Ich will nicht in Sie dringen, ich bin nicht gegen Sie. Setzen Sie sich!« Auch er nahm Platz. Seine warme Stimme: »Die Affäre damals hat zu viele Geister geklärt. Nicht auch bei Euch? Ihr habt Euch doch miterregt, habt mitgekämpft! Nicht umsonst sind so viele Wellen von Vernunft und Güte durch die Herzen und die Köpfe gerauscht. Versöhnung!«

Die Arme ausgebreitet, senkte er den Rumpf im offenen, weit gebauschten Schoßrock rückwärts über den Tisch, der Kopf lag im Lichtschein.

Aus dem Halbdunkel der Fremde: »Die Unversöhnlichen sind mächtiger.«

»Der einstimmige Protest der Arbeiterparteien wird den Krieg verhindern!«

»Ich darf es nicht glauben. Sie sind in der Politik, wo jeder von seinen Hoffnungen spricht. Ich bin in der Industrie, da sprechen nur Tatsachen. Die Arbeiter werden mitgehen.«

»Nicht, so lange ich da bin!«

Schweigen. So selbstgewiß war noch gestern in Berlin einer gewesen.

Der beschienene Kopf nahm sich zurück, der Stuhl bekam eine halbe Wendung. »Wenn Ihre Freunde es aber durchaus so wollen, wird man ihnen einen Krieg geben, den sie nicht werden wiederholen können, den Krieg, aus dem wir den Frieden der Welt und den verwirklichten Sozialismus nach Hause bringen.«

»Illusionen!« sagte die scharfe Stimme.

Die andere sagte nüchtern: »Man muß es sie fürchten lassen.« Stärker: »Man muß es glauben.« Die Stimme schwoll an, indes der Mann den Stuhl wegstieß. »Man muß verwirklichen! Was ist der Sozialismus? Er ist das Ideal. Aber das verwirklicht man nur durch Übereinkommen mit dem Gegebenen, und wir werden stark genug sein, es zu verwirklichen.« Dies in der Bewegung zwischen Kamin und Tisch, mit Spiel wie für Zuschauer, voll Glanz, Kraft, aber immer besonnen.

»Was ist Pazifismus? Das Ideal. Seine Verwirklichung ist ein Ausgleich friedlicher Vernunft mit der gegebenen Menschennatur, – die noch nicht friedlich ist. Erst der Sozialismus wird sie befrieden ...«

Zweifel inmitten starker Gesten, die ihn beseitigten; viel Anpassung, aber betont ward die Entschlossenheit; Glaube an Geist, mehr noch Wille zur Welt: dies alles arbeitete dort prachtvoll und menschlich auf angenommener Tribüne. Dann setzte der Redner sich, breit und wie unter Beifall. Sein Zuhörer sagte: »Ich danke Ihnen. Sie haben mich Weltfrömmigkeit sehen lassen. Ich kenne nur Intellektuelle ohne Weltfrömmigkeit. Ihr wißt nicht, wie trostlos das Leben sein muß, in dem sie gedeihen.«

»Seid keine Narren! Ihr habt dieselben Feinde wie wir. Das Gute wird bei euch von genau derselben Art bedroht, warum wäret ihr mutloser? ... Ich weiß wohl«, – jetzt nahm der Löwe sein listiges Gesicht an – »daß bei euch großmächtig im Vordergrund der Alldeutsche Verband steht, bei uns dagegen die Liga für Menschenrechte. Der äußere Unterschied besteht. Darunter aber ist es hier wie dort, der Feind wühlt hier nur heimlicher, die Interessenten des Bösen zeigen nicht ihr Gesicht.«

»Was aber, wenn in einem Lande kein anderes Gesicht öffentlich hervor darf als nur ihres? Ist einer der Freund des Guten? Der muß im Dunkeln wühlen sein Leben lang.« Fremde Stimme der Verzweiflung; aber der sie hörte, warf den starken Rumpf herum und sagte ihr, daß sie schweigen solle. Sie sei sträfliche Schwäche.

»Warum seid ihr schwach, warum? Wie kann eine Mehrheit Vernünftiger ruhig zusehen, daß ihr Land isoliert wird wie ein Pestträger – nicht durch Verschwörung, sondern allein durch den Gegensatz zwischen seinem willkürlichen Kastenregiment und der gesamten europäischen Demokratie.« Das war Zorn; er steigerte sich.

»Jetzt im Haag überbietet eure Regierung das in Europa erlaubte Maß von Brutalität. Wenigstens heuchelt man hier. Es ist Übereinkunft, auf Friedenskongressen guten Willen zu zeigen, so wenig auch ernstlich geschieht. Eure Regierung aber trumpft auf. Sie macht den anderen das kostenfreie Vergnügen, daß sie sogar gegen ein Schiedsgericht stimmt. Und als Krone von allem eure Geiseltheorie!« Hier sprang der Zorn auf beide Füße, er stemmte sich auf.

»Wenn ihr mit England Krieg habt, wollt ihr ihn auf französischem Boden führen, ob wir mitgehen oder nicht. Frankreich soll eure Geisel sein. Ihr kennt das Geheimnis, sogar mich gegen euch aufzubringen!« Anderer Ton: »Und ich bekämpfte doch lieber den Feind im Innern, unsere gefährlichen Streber, die nicht weniger als einen Weltbrand brauchen, um von sich reden zu machen. Daß ich da bin, bannt sie in ihr unehrliches Dunkel. Dort mögen sie Krieg erschleichen, indes der Friede offen triumphiert. Auf uns liegt das Licht des Tages, auf uns!« Dies war Selbstgenuß, der außer sich nichts hörte.

Auch war die fremde Stimme nur Murmeln. »Schande!« Zwischen gepreßten Fingern hervor immer wieder dies Murmeln und Zischen: »Schande!«

Der andere horchte endlich auf, er kam näher, ganz nahe rückte er seinen Stuhl, saß zuletzt nur am Rand, kniete fast am Boden, und hinübergeneigt hörte er.

»Ich habe ein Leben geführt wie ein Sträfling. Ich war der Ausgebrochene, der seine Schande versteckt. Meine Schande verdankte ich dem Besten in mir, meiner Menschenwürde. Wohl dem, der keine hatte! Ich habe, um mich durchzusetzen, lügen müssen. Den Mächtigen die Geschäfte besorgen, damit ich heimlich gegen sie arbeiten konnte. Ihnen mein Menschentum vorspielen zum Gelächter – da als Mensch zu handeln, dort, wo ich lebe, der beste Witz ist. So macht man selbst Geschäfte, wird reich und kann die Reichen verraten. Ich bin alles nur um zu verraten. Ich weiß vor Schleichwegen nicht mehr ein noch aus. Ein ganzes Leben in Lug und Trug!«

»Weiter!« verlangte der Beichtiger, aber lange kam trockenes Aufschluchzen. Dann hatte der Beichtende sich zurück.

»Es ging nicht anders«, – harte Stimme. »Jetzt könnte ich nicht mehr die Wahrheit sagen, selbst wenn ich es dürfte. Ich werde weiter lügen und betrügen, wohin es auch führe. Es kann zu nichts Gutem führen. Einmal muß ich vor Verzweiflungstaten stehen. Geheimkrieg gegen die Macht! Bedenkt es, ihr, die offenen Krieg gegen sie führt. Beklagt uns, er wäre bei uns schon vor Beginn verloren ...«

Da die Stimme nachließ und abklang, sagte der Beichtiger: »Sie sind nicht gekommen, mir die Photographie eines Schriftstückes zu zeigen. Dies wollten Sie mir sagen. Ich danke Ihnen. Man sieht nicht über die Grenze – unsere so nahe Grenze. Man sieht von Mensch zu Mensch nicht.«

Hier erlosch die Lampe. Der Herr des Zimmers schob vom Fenster den Vorhang, es ward Morgen.

Sie traten zum Abschied einander gegenüber. »Ich hoffe Sie nicht allzu sehr gelangweilt zu haben heute Nacht«, sagte der Gast mit überaus fragwürdiger Miene.

Der andere, offen und höflich: »Möchten Sie mir nicht mit allzuviel Vorbehalten zugesehen haben heute Nacht! Sie sehen doch, der Unterschied unserer Länder ist nur der von Temperamenten. Sonst gehen wir beide den Leidensweg –«

»Der nie endet.«

»Auf dem wir uns stützen müssen.«

Dann gaben sie sich die Hände, beide Hände.

 

Terra verließ Paris mit dem nächsten Zug. Am Bahnhof in Berlin ward er erwartet. Kurschmied: – er führte ihn zu einem Wagen, worin Alice Lannas saß.

Trotz der Stunde haben sie ihn sprechen müssen. Ihn rechtzeitig aufklären, bevor er sich festlege in der Krise, die so gut wie da sei. Kein Wort von ihnen selbst. Sein Abschiedsbrief blieb unerwähnt, die Absage war einfach überhört. Da stellte auch er die rein geschäftlichen Fragen, die am Platz waren.

Lannas war aufzugeben, seine Tochter riet dringend dazu. Es ging um das eigene Dasein, das Schiff sank. Das Leck kam von den letzten Reichstagswahlen. Die Blockwahlen! Lannas hatte zu viel persönlichen Erfolg damit gehabt, am Abend der Wahlen hatte er zum Volk gesprochen aus dem Reichskanzler-Palais – zugleich mit dem Kaiser, der aus dem Schloß zum Volk sprach. Unvorsichtige Gleichzeitigkeit! Nicht zu reden davon, daß die gut ausgefallenen Wahlen den Kaiser sicher machten. Eine immerhin noch nicht dagewesene Selbstsicherheit, er überwachte den Verkehr seines Kanzlers. »Wissen Sie, daß Ihr Besuch vorgestern meinem Vater einen Allerhöchsten Verweis eingetragen hat?«

Sie wiederholte dies mehrmals und von verschiedenen Seiten, als instruierte sie Tolleben. »Ich verstehe«, sagte Terra, er hat wieder einmal nur seinen Feinden genützt. Zu keinem anderen Zweck gibt Gott ihm Erfolg. Er hat ihnen die Sozialisten vom Hals geschafft, – als ob er die Sozialisten nicht bitter nötig hätte, um tagtäglich die Gesellschaft vor ihnen zu retten.«

»Er hat vor allem Seine Majestät übermütig gemacht«, wiederholte sie. »Das verrät die Abgenutztheit des Systems. Etwas Neues muß kommen. Wir müssen gegenüber den Kriegstreibern unsere Selbständigkeit behaupten. Oder soll ich sagen, zurückgewinnen?«

Terra glaubte mißzuverstehen, aber es war so. Alice versprach ihm in Tolleben einen Reichskanzler, der für das englische Bündnis, den Schrecken Fischers wäre. Mehr! Das Kohlenmonopol leuchtete ihm ein.

»So lange Du im Zimmer bist!« sagte Terra bestürzt. Nein, es lag anders. Tolleben ward, stärker als von Alice, beeinflußt von seiner Frömmigkeit. Er war aus dem Herzen gegen Krieg – gegen die Klasse, die für Krieg arbeitete, das Kapital, das ihn herbeirief.

»Als Mann vom alten Schrot und Korn«, sagte Terra. Aber sie blieb dabei, es sei Bekehrung. »Willst Du es wissen? Er fühlt sich unwiderstehlich versucht von Dir und Deinen Plänen.«

»Von meinen? Weil es meine sind?«

»Fasse es, wer kann! Es muß wohl die christliche Demut sein.«

Nichts stand im Wege, daß Terra sich persönlich überzeugte. Tolleben wich ihm nicht aus. Ganz recht, er suchte ihn ... Alice wollte nur noch wissen, ob bei solcher Übereinstimmung Terra für sie arbeiten wolle. Seine Beziehungen, seine Kunst der Menschenbehandlung –. Er hörte: sein Falschspielertalent. Er sagte nicht nein.

Der Wagen hielt an der unauffälligen Stelle, wo er aussteigen sollte, sie sagte noch schnell: »Kein Wort zu Mangolf! Alles was er Dir verspricht, ist abgekartet mit Deinen schlimmsten Feinden.«

Der Nachsatz erst verriet den Zweck des Gespräches. Es war Antwort des Hauses Tolleben auf jenes andere, vor drei Tagen, mit der Frau Mangolfs.

Am Morgen freilich schon kam ein Briefchen von Alice. Nichts tun! Ihr armer Vater war unglücklich, er hatte sich ihr anvertraut. Die Welt war gar zu ungerecht gegen den Fürsten Lannas. Es hatte schon seinen Magen angegriffen. Nichts tun gegen ihn! Seine Tochter wenigstens hielt zu ihm, ihr Ehrgeiz mußte schweigen! Der Fürst trat zurück. Sie begleitete ihn nach Italien, glücklich waren sie beide nur dort gewesen. Diese umwälzenden Entschlüsse waren nachts noch gefaßt worden. Die Politik nahm jetzt zweifellos unerwartete Wendungen. »Und alles, weil ich gestern Abend noch in den Roten Salon ging, wo er wartete. Von solchen Zufällen hängt das Schicksal der Welt ab.«

Wären sie nur gereist! dachte Terra. Was waren Regungen des Tochterherzens, bald klagte Alice nur noch, daß ihr Vater wieder Erfolg habe. Es schien, er werde mit Rußland fertig, er war von Österreich herausgefordert. Solange dies Spiel ging, kam niemandem der Gedanke sich zu vergreifen an dem Diplomaten, der es führte; am wenigsten dem Kaiser, denn jede sichtbare Kriegsgefahr machte ihn plötzlich zum vorsichtigsten Menschen.

Mangolf suchte Terra von selbst auf, nur um ihm den Verlauf der bosnischen Sache zu berichten. Überzeugt vom Erfolg Lannas', glaubte Mangolf dennoch an seinen nahen Sturz. Terra für sich zu haben, war ihm wichtig. Aber es machte den Eindruck, die Kunst Lannas' erfülle Mangolf ganz. Anstatt von dem österreichischen Durchgänger sich mitreißen zu lassen der Katastrophe entgegen, hatte Lannas die Zügel ergriffen, er führte. Haarscharf am Abgrund – aber er kam vorbei. Was immer in unbewachten Stunden mit ihm vorging –

»Nichts«, sagte Terra. »Er weiß sich die Nerven des Handelnden zu geben, und ist doch Zweifler.«

»Wie, wenn er keiner wäre und uns alle nur immer zum Besten gehalten hätte?« fragte Mangolf voll tiefer Teilnahme. »Sein Scharfsinn – aber der wäre noch nichts. Die Festigkeit, das ist es, diese geheimnisvolle Kraft der Haltung, die den Gegner zum niederschmetternden Bewußtsein seiner Schwäche bringt. Dies aber schlicht. Dies aber mit männlicher Anmut. Ich sehe einen Mann.«

In aller Hingabe bekam Mangolf das abgezehrte Leidensgesicht, das sein Ehrgeiz ihm gab. Dies alles hätte er selbst tun sollen – er, der es konnte, besser als jener, zu größerem Zweck. Wann kam sein Tag!.. Daher schränkte er Lannas gleich ein.

»Wohin kommt er mit seinen Erfolgen? Er hat über Paris gesiegt, jetzt siegt er über Petersburg – und dann? Die Zahl der Unversöhnlichen wächst mit jedem Sieg. Eines Tages versagt sogar eine solche Kunst: dann kommt, was er nicht gewollt, aber mit allen seinen Erfolgen nur noch sicherer gemacht hat.«

»Was würdest Du tun?«

»Nicht das Bündnis mit England ablehnen im Namen unseres guten Verhältnisses zu Rußland, – das man sich dann zum Feind macht.« Mangolf schlug die Luft weg. »Aber nichts kann halten, solange der gediegene Unterbau fehlt. Die Grundmauer steht im Wasser. Der Frankfurter Friede, dieser alte nationale Aberglaube.«

Terra riß die Augen auf. »Daran wolltest Du Dich wagen? Ich verspreche Dir, mein lieber Wolf, daß ich Dich hieran nie erinnern werde – auch nicht, wenn Du wieder bessere Geschäfte machst und daher als Patriot wieder auf der Höhe bist.«

»Was trifft mich noch«, – sagte die Bewegung Mangolfs .. Denn Lannas siegte bis zur Unerträglichkeit.

Vollendeter Triumph, da hatte Lannas auch noch die Kraft der Selbstbeherrschung, er verhinderte, daß zu viel davon geschrieben ward. Mehr, er benutzte den Augenblick seines Sieges, um gegen den überspannten Nationalismus schreiben zu lassen ... Immerhin überzeugte er sich, daß das Geleistete gesellschaftlich glanzvoll zu vertreten sei.

 

Galaempfang beim Reichskanzler, das lebhaft bewegte Bild der nächtlichen Straße, vor strahlendem Palais. Zwischen Pfeilern hohe Fenster, die strahlten bis unter den alten First. Ankunft der Wagen, der Portier empfing jeden. Stab, Dreimaster, reiche Livree, er half beim Aussteigen, da zeigten sich Hermelingestalten und das Sternengefunkel auf entblößten Damenhälsen, gewölbten Herrenbrüsten. Wagen auf Wagen fuhr hinein; die angesammelte Volksmenge, herbstlich schaudernd hinter dem Gitter, hatte an allen ihren Augen kaum genug für die Pracht, sie sah die Herrschaften auf rotem Teppich über die Treppe entschweben, sie sah Lakaien. Weiße Perücken! Die Kleidung hell und ganz bestickt, so waren Diener eines Fürsten! Sichtbare Erscheinung höherer Welt, an die nicht jeder geglaubt hatte, eines Glanzes, der von weit rückwärts hier einfiel. »So etwas gibt es doch nicht«, sagten manche.

»Wo zahlt man Eintritt für die Maskerade?« fragte jemand Terra, der noch zusah, bevor er selbst hineinging. Die ungewöhnlich große Volksmenge beschäftigte ihn. Hatte Lannas sie bestellt? War er das Opfer mehr oder weniger gutgläubiger Anhänger? Hatten sie ihm eingeredet, sein geglückter diplomatischer Bluff begeistere das Volk, und wollte er aus dem Fenster sprechen? Es konnte zur süßen Gewohnheit werden. »Ich bitte mir Ehrfurcht vor dem Herrn Reichskanzler aus!« sagte Terra scharf nach hinten. Ein junger Mann trat vor. »Geduldig«, sagte er – und gleich hinzu: »Ich verlange nicht, daß Sie es sein sollen. Ich heiße so.«

Terra sah ihn an, es war ein hübscher junger Mann, zarte Farben, Leuchtaugen, schwarze Locke unter dem Hut, und er hob ihn mit Schick. Der Mund war beweglich, er sagte: »Herr Terra! Sie haben sich wohl auch schon mal gesagt, daß dies alles nicht mehr lange dauern kann.«

»Mein junger Freund, Sie irren. Unser Regierungssystem, denn hiervon sprechen Sie offenbar, ist das glücklichste der Welt. Sie sollten diese Meinung schon darum zu der Ihren machen, weil Sie es niemals werden ändern können.«

»So dachte ich Sie mir«, sagte der junge Mann.

»Ihr Eintrittsgeld zu der Maskerade bezahlen Sie, wenn Sie sehr viel arbeiten. Dann werden Sie eines Tages mit dabei sein. Unser System erlaubt jedem, reich zu werden, und –« mit Blick auf die schwer geladene Stirn des Jungen: »Geist wird von ihm gefeiert.«

»Herr Geheimrat,–Sie sind doch Geheimrat, Herr Terra? – gleich werde ich Ihnen sympathischer werden.« Immer Hohn, jeder Ton überheblich, aber mit soviel Jugendreiz. Terra sah die Stirn Mangolfs und seinen eigenen Mund, einst am Anfang der Wege. »Nun?« fragte er.

Da wurde droben in das Fenster des Kongreßsaales ein Armleuchter gestellt. Terra behielt den Mund offen, Lannas wollte reden! Vorn am Gitter versuchte einer Hoch Lannas, schwaches Wagnis, niemand ging darauf ein. Lange Minuten, dann wurde der Armleuchter fortgenommen. Terra atmete auf. Jetzt hörte er auch wieder den Jungen sprechen.

»Aber den Unterschied hat er mir nicht ausgezahlt.«

»Welchen Unterschied?«

»Ich sagte doch, den Unterschied zwischen dem, was die Stimmen uns gekostet hatten, und dem Voranschlag der Regierung.«

»Welche Stimmen?«

»Der Wähler natürlich. Sie überhörten wohl, daß ich und Ihr Sohn uns als Wahlagenten der Regierung betätigt haben«, sagte dieser Geduldig inmitten gedrängter Wähler. Schleunig schlug Terra sich mit ihm seitwärts.

»Mein Sohn hat Sie geschädigt? Was verlangen Sie dafür – schnell, ich bin eilig.«

»Sparen Sie Ihre Verachtung – Herr Geheimrat!« Böse junge Stimme, die Überhebung ward gereizt, nur Scham blieb aus. »Ich habe das Schmutzgeld Ihres Staates genommen, um damit für die Revolution zu arbeiten.« – »Was durch konservative Wahlen offenbar am Sichersten geschieht«, ergänzte Terra; der Junge aber: »Das verstehen Sie noch nicht, wir gehen von anderen Gesichtspunkten aus. Lassen wir es!«

»Ich bin gespannt, die Generation meines Sohnes kennen zu lernen.« – »Das werden Sie noch früh genug«, sagte der Junge dazwischen. – »Sind es viele Erpresser?« Worauf er freilich den Menschen erbeben sah. Er war völlig weiß und bebte in der Ohnmacht seines Stolzes. »Sie haben nie gewußt, was es heißt, für das Ideal sogar zum Schuft zu werden«, keuchte er.

»Das hätte mir nun freilich im ganzen Leben nicht zustoßen können«, bestätigte Terra auflachend. Aber er sah die anspruchsvolle kleine Gestalt, ihre aus Geldmangel nicht fertig gewordene Eleganz, er lenkte lieber ein. »Dem Durchschnitt kommt alles nur auf sein Genußleben an, voran das befriedigte Selbstgefühl. So ist mein Sohn, der es wohl von mir hat. Mit Ihnen steht es anders, sagen Sie. Aber darum müssen Sie doch zuerst für sich sorgen, dann meinetwegen für die Idee. Ich werde versuchen, Ihnen eine Laufbahn zu öffnen. Das ist mehr, als wenn ich Ihnen das von meinem Sohn – verdiente Geld erstatten wollte. Ihre Adresse?«

»Ihr Vorschlag ist mir recht.« Mit der Miene des Geschäftsmannes zog der junge Geduldig die Brieftasche, grüßte mit Schick und entfernte sich festen Schrittes. Terra betrat das strahlende Haus und den roten Smyrnaläufer.

Oben empfing der Haushofmeister, eine Person mit Dreispitz und Degen. Der Kanzler, im ersten der Salons, gab jedem die Hand. Zu Terra sagte er: »Ich hatte Ihnen versprochen, Sie würden zufrieden sein«, – und strahlte dabei wie sein Haus, Widerspruch brachte man nicht über das Herz. Sein Glück verbreitete Zauber, die betitelte und reiche Menge grüßte es, Diplomaten sogar, die es verwünschten; ja, angelockt durch den Zauber des Glückes, stellte sich neben Lannas der russische Botschafter, einmütig ließen sie die Menge vorbeiziehn.

Sie zog vom Gelben durch das Grüne in das Rote Zimmer, dort hielt die Tochter des Reichskanzlers sich auf; gedämpftes Saitenspiel aus dem Wintergarten. Dann umkehren, das Büffet war im Kongreßsaal, dem vergoldeten Riesenraum von der Höhe zweier Stockwerke. Gefüllt selbst er! Lannas hatte weit sein Haus geöffnet, gehobenes Bürgertum war zugelassen. Nicht hoffähig, berührte die Industrie doch hier sich mit der Welt verbriefter Macht. Die Herren standen, nahmen Schüsseln und Getränke von gepuderten Perücken und konnten gleich nebenan von Uniformen die Frage hören, ob der Kaiser noch komme. Zweifel bestanden merkwürdiger Weise.

Seine Majestät hatten dem Botschafter – welchem? – gesagt: »Krieg werde ich nicht dulden.« Wie also, wenn Lannas, statt gegen Rußland zu gewinnen, ausgerutscht wäre? Alles war wieder einmal nur auf sein angeborenes Glück gestellt, aber »auch zu viel Glück ist unerlaubt«, sagten Kritiker. Abgeordnete bemerkten: »Nun hat er die Einkreisung durchbrochen, das Nachsehn hat England.« – »Was tut er aber nun mit Gubitz?« fragte Berberitz aus seinem schwarzen Bart. »Er hat doch seine Einfälle meistens von Gubitz, dem ganz Geheimen; Gubitz aber lebt von der Einkreisung.« – »Das ganze Deutschland freut ihn nicht mehr ohne die Einkreisung.« – »Keine Sorge, die bleibt uns erhalten, ob Lannas auch mal 'rüberhüpft.« Man scherzte.

Die Laune ward verwegen. Ein General zu einem Admiral: »Na, nun aber los gegen England!«

»Wie stellen Eure Exzellenz sich das vor?«

»Eine Division muß hinüber.«

»Erst können.«

»Na dann mit Rußland nach Indien!«

Stimmung aus Sekt, viel Blumen, vielen erwärmten Damen, und auch den Herren ward es leichtgeschürzt zu Mut, laut und gerötet bliesen sie ihren Rauch in den goldigen Nebel der italienischen Prunkräume. Fremdes Licht aus kristallenen Ketten, aus geschnitzten hohen Kerzenträgern, Licht worin Madonnen wohnen. Sie verschwammen an den Wänden, Alice, die Altgott, wer noch alles saß darunter, immer bückten sich die Herren. Alice behielt ihren Vater im Auge.

Sie fühlte: lieber Vater! – und ihre Brauen schlossen sich vor Sorge um ihn in seinem Glück, vor Kummer über ihr Schicksal, ihn verraten zu müssen ... Er ließ sich doch nicht gehn? Gab doch kein Schauspiel, über das sie lachen würden, wenn er morgen lag? O nein! So viel Haltung hatte nur er, aber nur sie verstand sie ganz. Diese Würde dessen, der einzig auf seine Kraft zählt! »Ich lächle, ihr gebt mir nichts dazu. Die Dinge sind nicht gefügt, daß ich glatten Fußes auf die Nachwelt gelange. Was noch gut geht, ist alles meine Größe.« Wie stolz war Alice!

Indessen kam der Vater aus dem Gelben in das Grüne Zimmer, fast hätte sie seine Worte verstanden. Aber hinter ihr setzte Musik ein ... Er streifte die Gruppe Fischer, sie hielten ihn an. Der Oberadmiral spielte wie immer den Seebären, intriganter Büromensch der er war; aber so konnte er seine ordinäre Gegnerschaft billiger äußern. Ihn hörte sie brüllen, trotz Musik. »Ich hoffe noch so lange im Amt zu bleiben, hat Pizzter der alte Bursche mir gesagt, bis eure Flotte am Grunde des Meeres liegt, und ich hab' ihm gesagt: Auf Wiedersehn dort unten!« – brüllte der Oberadmiral.

Hatte der Vater erwidert, die Einkreisung sei durchbrochen? Nein, darauf hätte der gemeine Mensch nicht brüllen können: »Aber nur aus Mangel an Courage!« Jetzt stellte er sich sogar, als sei er nicht mehr fest auf den Füßen, griff nach dem Arm des Vaters und schrie: »Prost Durchlaucht, ihr besorgt alle zusammen nur mein Geschäft!« Der Vater freilich hatte den Trick vorhergesehen, er war ausgewichen. Fischer wäre lang hingeschlagen, nur seine Freunde fingen ihn ab. Daneben, aus einem sehr weiten, flachen Sessel richtete sich mühsam eine Leiche auf: Knack, Geheimrat von Knack, bei dem Wort Geschäft richtete er sich auf. War es nicht seins, noch mehr als Fischers?

Der Vater wendete sich fort, jetzt strich aber Herr von Hannemann, Chef der Reichskanzlei, über seinen Weg, rutschte in der Fahrt ein Stück zu weit, faßte endlich Fuß und meldete etwas. Er hatte die betont atemlose Haltung der Meldungen ersten Ranges, obwohl der Vater abwinkte. Er stand, das Gesicht hierher, sah Hannemann nicht an. Da ließ aber Alice ihren Fächer fallen, der Herr der sie unterhielt, sollte sich bücken und nichts sehn. Der Blick des Vaters war erstarrt, wie vom Tode berührt war er, – indes Mund und Wangen noch weiterlächelten.

Alice sprang auf, ihm zu Hilfe. Inzwischen ging auch er. Sie änderte im Laufen ihren Plan. Lachenden Gesichts, mit dem Fächer grüßend lief sie, man konnte glauben, einer ersehnten Freundin entgegen. Schlank die Schleppe gerafft, Kopf hoch und gestreckte Gestalt. »Übermut der Jugend noch immer, welch reizende Frau!« sagten Damen zu Herrn von Tolleben. »Muse zweier großer Staatsmänner!« sagten sie.

Als Alice die Salons hinter sich hatte, lenkte sie seitwärts zum Bismarck-Erinnerungszimmer. Niemand gab acht zum Glück in dem ungeheuren Kongreßsaal, sie öffnete vorsichtig die Tür, nur einen Spalt. Richtig, dort drinnen wartete jemand allein. Sie erkannte ihn noch nicht, er saß auf dem Schreibsessel Bismarcks, eine Hand tastete am Tisch. Jetzt sprang er auf wie ertappt, es war Herr Mangolf.

Gegenüber eingetreten, ging Lannas schnell auf Mangolf zu. Der Unterstaatssekretär öffnete eine Mappe. Lannas hörte ihn sprechen, er las, was jener ihm gab. Dabei dachte er an den Augenblick der Meldung Hannemanns, als er, ohne noch ein Wort zu wissen, im Fluge das Unglück erblickt hatte. Die Musik spielte Hoffmanns Erzählungen, die Barkarole, er würde nie die Minute vergessen, fühlte Lannas – las aber, hörte und dachte scharf.

Er sah Mangolf in die Augen. »Ihre Verbindungen sind gut«, sagte er. »Sie sind der erste, der mir das bringt. Sie hätten es mir sogar eine Stunde früher bringen können.« Fest in die Augen, aber sie zuckten nicht. Lannas hob die Schultern.

»Schwerer Schlag, aber wir haben zu retten, was noch zu retten ist. Unsere behütetsten Geheimnisse stehen plötzlich in einer englischen Zeitung, ausgeplaudert von unserem Allerhöchsten Herrn. Was tun? Ihn schonen wie gewöhnlich? Noch immer beschönigen? Hilft hier nicht mehr. Wir müssen ihn bloßstellen.«

»Den Kaiser? –« unterdrückter Aufschrei.

»Lieber das Reichsinteresse?« fragte Lannas.

Repräsentativer Blick nach dem Bismarckbild über dem Schreibtisch. So erteilte er auch die nötigen Befehle an Mangolf. Noch Nachts, sobald er das Fest verlassen könne, komme er selbst in das Auswärtige Amt ... Stand weiter repräsentativ, als Mangolf schon fort war.

 

Er hatte alles erkannt, beim ersten Blick in das Gesicht jenes Menschen, – der seine Weisheit nicht aus England hatte. Der Mensch wollte an die Stelle Tollebens, wenn Tolleben Kanzler ward statt Lannas'. Ihn wollten sie stürzen, wie sie da waren; erklärlich, wenn auch unverzeihlich. Aber die Methode? Sich dem Kaiser, dem schädlichen Kranken zur Verfügung stellen für seine wahnsinnigsten Streiche! »Das hätte ich auch um die Macht nie getan.«

Lächerliche Schlauheit, ihr Getriebe lag bloß. Verbindung Tollebens zum Kaiser war sein Vetter von der Platze, Generaladjutant ... Beunruhigung Platzes durch die neue fromme Friedfertigkeit seines Vetters. Dieser Mangolf, der mit Tolleben zusammen Dreck verscharrt haben muß, vermittelt bei Platze, läßt sich einweihen in kaiserliche Plötzlichkeiten, schanzt die persönliche Deckung der Majestät sich und seiner Clique zu. »Tolleben weiß schon die Sache. Alice weiß sie schon ...«

»Impassible Miene«, dachte der Diplomat. »Aber fester Griff. Ich bin der Besieger Rußlands, er aber soll, oder ich kann gar nichts, das Land diesmal bis zum Ausbruch gereizt haben. Er hat Neigung gezeigt, mich fortzuschicken. Jetzt halte ich ihn in der Hand.« Versunken in seinen Zweikampf mit dem Ungenannten, merkte er nicht, seine Tochter sei da.

Sie hatte ihre geistreichsten Augen, ihr frischestes Lächeln. »Mein geliebter Papa, Du machst mir Sorge. Dieser Herr Mangolf, verzeih' daß ich zusah: er hat mir noch nie gefallen, aber so wenig wie heute traute ich ihm denn doch nicht.«

Ah! Ihr sollte er trauen, drum gab sie den Mangolf auf. Sofort ward Lannas glatt – in aller Vaterliebe.

Er traf in den Tagen, die folgten, seine Maßnahmen, allein, ohne Vertraute und mit ganzem inneren Aufgebot. Dem Sturm im Lande setzte er eine undurchdringliche Stirn entgegen, sie konnte sagen: »Ich hatte noch immer verhindert, ihr wißt nicht wieviel.« Oder: »Ich decke meinen Herrn.« Oder: »Warum schreit ihr jetzt, da ihr selbst es so weit habt kommen lassen?« Oder einfach: »Sklaven!« War er zufrieden, daß sie schrieen? Gefügige Liberalpatrioten, voran Schwertmeyer, lärmten plötzlich gegen den Kaiser, sie glaubten dem Reichskanzler gefällig zu sein; er sollte leichter erreichen können, daß der Kaiser »es nicht wieder tat.« Aber war er zufrieden? Er hörte einfach mit undurchdringlicher Stirne an, was man ihm brachte. Die Liberalpatrioten brachten nationale Proteste, Sturm im Lande. Lannas kannte den Sturm und was er wert war.

Aber auch Jerichow kam, sein alter Freund Kammerherr von Jerichow. Er sagte die erste halbe Stunde nur: »Was zu doll ist, ist zu doll.« Lannas unterstützte ihn nicht, er sagte vielmehr: »Reiner Zufall, hätte viel früher eintreten können.« – »Was zu doll ist, ist zu doll.« – »Läßt sich nicht ändern.« – »Kann aber mal schief gehen.« Worauf Lannas die Schultern hob. »Ich bin dafür da, daß wir möglichst bis an sein Ende gelangen, ohne daß die Katastrophe kommt.«

Das Mitglied des Herrenhauses wollte etwas sagen, schluckte, aber auch schlucken ging nicht. Dann brachte es vor: »Sicher ist sicher, er muß weg.« – »Wir sind keine Römer«, bemerkte Lannas. Da schlug Jerichow auf den Tisch. »Aber entmündigen!« Lannas sah sich um, als stände jemand hinter ihm. Hatte er sie so weit?

Er sprach mit Mitleid von dem Kranken; aber Jerichow war über Mitleid hinaus, die konservative Partei hielt nichts vom Mitleid. »Triarier hin und her, – und überhaupt verkehrt er mit Juden.« Sofort faltete Lannas die Stirn, denn auf diesen Punkt hatte Jerichow ihn zu prüfen. War er zuverlässig? ... Der arme Jerichow verriet auch ohne Umstände, weshalb er hier war. »Sie wollen einen Reichsverweser.« Angestrengt beobachtete er seinen alten Freund, der magere den dicken, – aber so viel Überraschung mußte echt sein. »Das geht nicht!« rief Lannas. »Das träfe mich selbst. Ich fühle mich als seinen Vormund, für mich ist er ein pflegebedürftiger Unmündiger. Aber es vor der ganzen Welt proklamieren! Als alter Monarchist mache ich das nicht mit.«

Die Sprache gefiel dem Kammerherrn. »Das berichte ich ihnen«, erklärte er, »und weißt Du, was dann kommt? Der Kronprinz muß sich erst noch bewähren, den nehmen sie nicht. Dich nehmen sie.«

»Die Lage ist allerdings nach langen Versäumnissen so ernst geworden, daß man im höchsten Maße rompu aux affaires sein muß, um nur gerade durchzukommen.« Lannas sprach nicht mehr als Freund, der Staatsmann sprach. »Ich befürworte nicht die Entmündigung Seiner Majestät, ich würde vielmehr Widerstand leisten nach meinem Gewissen, solange er noch irgend Aussicht hat. Gegebenenfalls aber überzeugt mich meine genaue Kenntnis der verwickelten Zusammenhänge, nur wer nourri dans le sérail ist, versteht sie noch –, daß ein leitender Staatsmann von reifster Erfahrung rettend eingreifen muß«. Wohl warf Lannas sich die französischen Worte vor; aber es war das einzige Zeichen von Erregung, das er nicht hatte unterdrücken können. Schlußwort, Jerichow ging es melden.

Jetzt kam der Reichstag. Alles im Lande war von diesem Novembersturm ungeahnt geschüttelt worden, nur der Reichstag noch nicht. Die Fraktionen beschlossen, sich heftiger schütteln zu lassen als irgendwer, eine überbot die andere an unabhängiger Vaterlandsliebe, heilige Scheu fiel ab von Nachgeordneten und Untertanen, es blieben Männer. Sogar der Abgeordnete Terra, gewiß ein Herr, der leicht den Mund zu voll nahm und in Gesinnung nicht koscher war, bei dieser Gelegenheit ward er vorgeschickt von seiner Partei, er sollte reden in der historischen Sitzung, die verabredetermaßen bevorstand. Terra dachte: »Recht und schön, aber Lannas wird nicht kommen, dumm war er nie. Er wird nicht mit anhören, wie sein Herr, der einzige Mensch, von dem er abhängt, zum Schindluder wird für das gesamte hohe Haus! Sein Herr hat sich irgendwo weitab zu einem Vergnügen laden lassen, er paßt. Das kann auch Lannas.« Gleichwohl hoffte Terra, daß der Fuchs sich in die Falle locken lasse. Reichsverweser! Vielleicht betörte das Wort sogar einen Lannas. Aber Terra glaubte es nicht. Die einzige ernste Hoffnung war Alice; sie hatte versprochen, dem Vater abzuraten – derart, daß er nun erst ging.

Sie konnte an dem Tage der historischen Reichstagssitzung nicht mit ihm frühstücken. Drang der Geschäfte verbot es ihm; sie mußte ihn in letzter Stunde ausdrücklich und dringend zu sich bitten. Ihn holen, damit er kam. »Heute wären wir sogar in der Bibliothek nicht sicher gewesen«, begann Alice. »Es ist ein so gefährlicher Tag ... Ich bewundere Dich, Papa, Du scheinst Dir garnicht bewußt –«. – »Wessen? Mein Kind, ich gehe den Schicksalsweg, ausweichen wäre Feigheit. Ist übrigens unmöglich.« Ernst, entrückt. Dann zärtliche Nähe, Lächeln, Kuß auf die Stirn. »Du kommst doch in die Loge?« – »Sprechen willst Du auch?«

Sie versuchte falsches Mitleid auszudrücken, er sollte Geringschätzung fühlen; er sollte ins Unglück rennen, weil sie, der er nicht mehr traute, ihm abriet. »Armer Papa, läßt sich mißbrauchen. Merkst Du denn garnicht, daß alle Dich vorschieben? Nachher zieht jeder sich aus der Sache, nur Du nicht. Dann lassen alle Dich sitzen. Der Kaiser bleibt zuletzt doch der Stärkere.«

Lannas sagte: »Ich habe mir als höchste Gunst des Schicksals, wohl auch als unwahrscheinlichste, immer einen Auftrag von meinem Lande gewünscht. Aufträgen des Monarchen suchte ich, wenn ich handelte, Geltung und Widerhall zu geben, als seien sie schlechthin deutsch. Heute endlich stehe ich wahrhaft für das Land da, der deutsche Staatsmann, auf den es blickt.«

Feierlich – und so gutgläubig! »Du Kind!« schluchzte die Tochter, sie umschlang ihn. »Laß Dich nicht betrügen!« flüsterte sie heiß. »Denke an Deine alte Erfahrung! Keinen Rausch, um Gotteswillen! Du warst einmal arm und ohne Aussichten, jetzt siehst Du Dich am Platz des Kaisers, das ist Dein Unglück.« Ach! sie heuchelte ihr Mitgefühl nicht mehr. Er, den sie hatte verderben wollen, mußte sie trösten. Er streichelte sie, bis sie wieder sprechen konnte.

»Du glaubst, mit den Konservativen, denen Du nie gefallen hast, werdest Du den Kaiser stürzen. Wie aber, wenn sie gerade mit ihm verabredet wären, Dich, ja Dich zu stürzen!« – »Falsch genug sind sie,« meinte Lannas, »aber zu dumm – und jetzt noch dazu geistig getrübt.« Alice rang die Hände. Konnte sie ihm denn ihren eigenen Verrat gestehen? Wenigstens Terra begann sie preiszugeben; aber Lannas erwiderte, er kenne seine Feinde, jeder stehe einflußlos für sich. Dann wollte er gehen. »Geh' nicht!« – im Tone dessen, der noch viel weiß. Aber Lannas lächelte voll stolzer Nachsicht, und er ging.

Terra schätzte ihn ab, wie er sich setzte am Tisch des Bundesrates, wie er die Reden anhörte. Was geschah hinter dem repräsentativen Blick? »Impassible Miene«, dachte Lannas wohl nur – bei den einmütigen, furchtbaren und beispiellosen Majestätsbeleidigungen des Hauses. Das Wort Reichsverweser vermied er wahrscheinlich zu denken, der impassiblen Miene wegen, – indes die Abgeordneten der Nation sich entluden gegen ihren Kaiser, daß man es roch bis in die weite Welt. Alle langjährig gestaute Feigheit brach aus und tanzte öffentlich, verlogene Treue zeigte endlich das Gesicht, die immer vorgeschützte Bewunderung behaupteten Genies war auf einmal nichts anderes mehr, als jene trübe Rachsucht des Durchschnitts. Sie rechneten ab, mit ihrem Herrn, mit sich selbst, ihrem Zeitalter, ihrer Art. Sie kannten sich nicht mehr, da erst erfuhr man alles.

»Der Abgeordnete Terra hat das Wort.« Aber was war noch zu sagen. Er lobte die Nation für ihren gesunden Sinn, die Abgeordneten, weil sie sich so schnell hineinfanden: voran die Stützen des Throns. Sie waren heute die Schärfsten und waren es mit der größten Sachkenntnis, als Stützen des Thrones kannten sie ihn. Ihr Augenmerk war einzig, ihn zu schützen gegen seinen Inhaber. Umstürzler, die hier mitmachten, sollten sich nicht zu früh freuen; der Umsturz wirkte in diesem Fall erhaltend. Konservative wieder stürzten um, es war ein allgemeiner Ausgleich, die verwirklichte Volksgemeinschaft – gegen den Kaiser.

»Und Lannas, der mich kennt!« dachte der Redner. »Mich hört er nicht zu Ende an. Gleich steht er auf und sagt sich los von der ganzen Gesellschaft.« Da aber Lannas sitzen blieb, lobte Terra ihn dem Hause. Ausgleich, Volksgemeinschaft, das war so recht Ziel und Wesen des Systems, das seinen Namen trug. Redner verbreitete sich über die Abgewogenheit aller Interessen, den kulturellen Eifer, den humanen Anstrich bei innerer Unerbittlichkeit, alles, was das System zur schlechthin vollkommenen Erfindung machte, – und rühmte den Erfinder, diesen Diplomaten der weichen Hand und des stählernen Griffes, als einzigen, der nach allen seinen Siegen über die Herren der Welt bestimmt auch mit dem Kaiser würde fertig werden.

»Jetzt springt er doch auf? Schlägt auf den Tisch?« ... Nein. Lannas erhob sich wie sonst. Unbewegte Miene noch immer, aber er nahm an. Er nahm den Auftrag des Hauses an; Zurufe und Winke, die von allen Bänken und von den Galerien ihm zuflogen, er sammelte sie in einen Strauß und hatte den Auftrag. Welchen? »Die Wünsche des deutschen Volkes dem Kaiser zu überbringen«, sagte er selbst, aber die Wünsche gingen weit.

Bald kam der Tag, Lannas fuhr nach Potsdam. Er begab sich auf den Bahnhof; öffentlich wollte er hinfahren als Beauftragter des Volkes zu dem, der sich schon verkroch wie verbannt. Dies sah seine Tochter ihm an, sagte aber nichts mehr. Sie begleitete ihn bis zum Zuge, aber nur noch, um ihn nicht sichtbar verlassen zu haben. Ihr Mitleid war erschöpft, jetzt sprach das Geschick.

Beim Zuge drängte ein Häuflein herzu, es war das Volk. Aus Gehröcken reckten einige Arme sich hin. Auch einem Arbeiter durfte Lannas die Hand schütteln. Er wiederholte ihm, daß er die Wünsche des Volkes dem Kaiser überbringen werde. Als er abfuhr, erklang mehrstimmiges Hoch, es hatte einen gewissen Nachdruck. Lannas grüßte ernst, – aber wie locker saß der Ernst auf dem Glück. Plötzlich verschob er sich: o Strahlen! O stummer Jubelgesang!

Alice, dies sehn und sich abwenden. Sie wußte: ein verlorener Mann. Sie wußte: wo der Sinn für den Erfolg nachläßt, verweile nicht, und wäre es dein Blut ... Zu kühne Ziele, zu hochsinnige Gedanken, selbst übergroße Kraft sind Feinde des Erfolges, wir aber müssen Erfolg haben. Erfolg bei Gleichgültigen und Schwachen, Erfolg, den wir verachten; aber wir müssen zuerst ihn haben, dann vielleicht Menschenwert. Über die weggehen, die mehr Menschenwert haben, wie wir wohl wissen. Aber sie waren nicht geschickt.

Wenn ihr Vater aus Potsdam zurückkam, hatte die Welt sich weiter verändert, schon jetzt glich sie der nicht mehr, die ein einziger Tag ihm vorgetäuscht hatte. Sie kehrte zu ihren Geschäften heim, der Sturm war vorbei, wer stürzte noch Kaiser. Ihr Vater glaubte an Wandlung und Entschluß, – wo alles doch nur Geschäfte machte. Wie konnte sogar er dahin kommen, den Sinn für den Erfolg zu verlieren? Seine Tochter war ernstlich besorgt, weil es so nahe bei ihr hatte geschehen können.

 

Wie lange täuschte er sich noch? An dem Tage des nächsten Mai jedenfalls, als sein alter Freund Jerichow ihn nochmals aufsuchte, fehlte noch manches zu seiner Aufklärung, – Lannas sagte: »Ich freue mich, daß die guten Leute für den Kaiser jetzt wieder etwas übrig haben. Er rührt sie in seiner ungewohnten Demütigung. Die meisten Geschäftsleute sind sentimental, wenn es nichts kostet. Aber das ändert nicht die Forderung der Stunde«, sagte er zum Erstaunen Jerichows. »Sehen wir ruhig ab von seiner Entmündigung, die mir niemals lag«, behauptete Lannas. »Politisch muß er doch stillgelegt werden. Zunächst habe ich mich mit ihm ausgesprochen und versöhnt«, sagte er lauter und mit Klopfen auf die Tischplatte. Denn Zweifel quälten ihn immerhin, sah Jerichow. Für Versöhnung hielt ein Lannas nicht das hinhaltende Lächeln seines Todfeindes.

Der alte Freund blieb schonend. »Du bist mit ihm ein bischen weit gegangen. Alle Achtung, aber diesem Hohenzollern war so was noch nicht vorgekommen ... Ich sage nicht wie die andern, daß Du uns alle in Ungnade gebracht hast, – obwohl es auch mich um ein Haar meinen Kammerherrn gekostet hätte. Na, wir kommen wieder dran, er braucht uns.«

»Ihr waret mir im Gegenteil damals zu wild«, behauptete Lannas. »Ich machte Dir gegenüber Vorbehalte.« – »Aber auf französisch,« – Jerichow platzte heraus. »Das werfen sie mir jetzt vor. Sie sagen: Deine fremde Bildung, und was weißt Du von Mark Brandenburg.« Roter Kopf des alten Freundes. Lannas saß, mit abgerundetem Wissen, noch lange allein da.

Sie ließen ihn fallen! Er hatte für sie Mut haben müssen, aber zum Verrat langte es bei ihnen. Vielleicht stimmten sie nächstens gegen die Erbschaftssteuer? Natürlich, da sie ihnen ohnehin nicht paßte. Bei der Gelegenheit stimmten sie ihn nieder, dann war es ganz in der Hand seines Herrn. Sein Herr wie je! »Ich bin geworden was ich bin, damit all mein Können und das ganze unsäglich schwierige Gleichgewicht, das ich halte, in Frage gestellt wird durch eine falsch einsetzende Depressionsperiode. Wann soll sie einsetzen?« Er verlor sich in Berechnungen. Er ging umher, rechnete und rief dazwischen: »Er wird es nicht wagen! Er hat vor mir geweint, hat gebettelt, daß ich bleibe!« Söchting machte die Tür auf, was los wäre, aber Lannas rechnete.

Er brachte die Gesetzesvorlage über die Erbschaftssteuer im Reichstag ein, sie fiel, und Lannas fuhr nach Kiel, den Kaiser um seine Entlassung zu bitten. Niemand merkte, dies sei ein parlamentarisches Ende.

Er bekam die Entlassung; – und zurückgekehrt ging er zu Fuß in die Voßstraße, zur Gräfin Altgott. Dem Portier sagte er: »Ein Telegramm aus Kiel wird herübergebracht werden.« Denn das Telegramm, das seine Entlassung widerrief und sein Kommen erflehte, mußte eintreffen so sicher wie die Nacht. Keine Stunde mehr hielt der Kranke aus!

Fürst von Lannas erstieg allein die weite alte Treppe, nur wenig schwerer als sonst auf die dünne Rampe gestützt. Vor ihm öffneten sich lautlos drei stille Räume, der leere mit der großen Vase, der lange, der kleine spiegelnde, alles still, alles gedämpft durch so hohe matte Vorhänge. Im vierten saß am Teetisch seine Freundin, er bemerkte, daß sie alt war. Er küßte ihr die runzelige Hand, setzte sich zu ihr und aß. In den Spiegel seitwärts wollte er nicht sehen. Der Diener, der um sie herging, war alt und leise. Sie sprachen nichts, jeder lächelte ermunternd.

Nun kam Alice. Die Tochter tauschte mit der alten Freundin einen Blick, den der Vater sah und doch nicht gesehen hatte. So oft als möglich neigte sie sich zärtlich, bis sie ihn berührte »Überall spricht man von dem unausdenkbaren Unglück, daß Du gehen könntest. Aber niemand glaubt es.« – »Einmal wird der Lauf der Natur selbst dies fordern« erwiderte Lannas – und horchte, denn das Telegramm kam.

Der aufmerksame Diener öffnete schon die Tür, da sahen sie eine Gestalt erscheinen, ganz hinten erst bei der Vase; dort arbeitete die sich fort, das leere Parkett hin, auf das ihr Stock stieß. Eine Kralle griff in die Luft, ein weißer Kopf hackte nach dem Boden bei jedem Schritt, der fortstrebende Körper im hageren Leibrock krümmte sich winklig. Langsame Reise aus gefürchteten Fernen, dann traf er ein, Wirklicher Geheimer Legationsrat von Gubitz. Sowohl die Altgott als Alice empfingen ihn mit verzweifelt deutlichen Zeichen, aber was erkannte dies irre Vogelgesicht. Kreischen, Kralle in die Luft. »Aus. Tolleben nach Kiel gerufen!« Worauf er abgewandt in den Sessel fiel, sich drin verkroch.

Alice und die Freundin sahen auf ihre Teller. Nichts? Jetzt, ein Schrei. Fremder Schrei, schwach, klagend, entsetzensvoll – gleich aber ein höherer. Lannas war auf, er hielt seine Schläfen umfaßt, er schrie vor Schmerz, er irrte, blind vom Schmerz, gegen die Wände. Winkelige Wände, eingefaßt in flache Pilaster; jede Wand hatte unten eine schmiedeeiserne, vergoldete Pforte, dahinter ging es in gemalte Landschaft. Lannas strebte hinaus, blind schlug er an eine Wand nach der andern, und so oft ihn eine zurückschlug, schrie seine fremde Stimme von neuem. Die letzte Wand nun war statt der Landschaft ein Spiegel, darin erblickte er sich. Konnte nicht anders glauben, als dies sei sein Gesicht, dieser schamlos aufgerissene Abgrund sein Gesicht. Er machte es aber zum seinen, drehte sich um und zeigte es ihnen.

Seine Tochter wollte hin, ihn halten, ihn auffangen. Die Freundin streckte die Hände vor. Er stieß beide zurück. »Verräter!« rief er. »Verräter!« noch einmal, noch zwanzigmal: »Verräter!« Da die Tür aufging, rief er es dorthin. Terra stand dort, er stammelte: »Ich konnte unmöglich fern bleiben in solcher Schicksalsstunde.«

Aus dem abgewandten Lehnstuhl drang Kreischen. »Alle Verräter! Die Einkreisung nicht mehr zu durchbrechen! Fürst Lannas, Sie gehen. Ich auch.« Schwach endend, die gekrallte Hand tastete nur noch.

»Ihr sollt es bezahlen!« rief Lannas, er hielt sich, furchtbar gerötet, inmitten aufrecht. »Ihr alle bereut noch, daß ihr mich verrietet. Ihr glaubt zu erben, aber mich beerbt keiner. Nach mir kommt nichts. Ich war der Letzte, ich trug noch den Bau, ich allein. Jetzt der Zusammenbruch!« Er wankte.

Sie rührten diesmal sich nicht, – nur Gleiten einer Masse. Die aus dem Lehnstuhl tastende Hand brach ab, eine Masse glitt auf den Teppich ... Als sie still lag, trat Lannas davor hin, er sah in die gebrochenen Augen. Seine Stirn entleerte sich langsam vom Blut, die Miene ward kalt, sie ward von Verachtung eisig. Tod, was wollte er. Tod, was konnte er. Die Macht nicht mehr haben! Die Macht! Die Macht!

Er wendete den Rücken. Hinter ihm preßte seine alte Freundin die Hände vor das Gesicht, aus offenen Augen weinte seine Tochter. Terra mit dem Diener hob den Toten auf, sie trugen ihn fort. Zuerst schrittweis feierlich über das leere Parkett, aber im zweiten Zimmer ging es schneller. Im dritten, an der Vase vorbei, liefen sie.


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