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Uns vor den Füßen haben zwei Menschen sich ins Jenseits befördert«, dachte Terra. »Wir haben dasselbe Blut auf den Schuhen, edelste Gräfin. Das der Schlangenbändigerin haben wir sogar auf dem Gewissen.« Er folgte ihr im Geist mit einer Art grausigen Frohlockens. »Die wird an mich denken.«
Nach dem Verbleib Mangolfs fragte er nicht mehr, so sicher war er, daß Mangolf seinem Minister nach, wenn nicht vorausgereist sei. Aber er selbst verkaufte sein Karussell und machte sich reisefertig. Wozu? fragte er, als es geschehen war.
Am gleichen Abend beim Wein, in einer abgelegenen Kneipe, erfolgte das Geständnis. »Auch ich werde an sie denken.« Er sah, daß er sein Zelt abgebrochen hatte, um dorthin zu fahren, wo sie weilte, – ohne anderen Zweck als eben sie. Die Erkenntnis kam überraschend. Terra empfing sie geduckt, die Stirn verschwand unter Falten, in den Augen flackerte Hohn. Ein anderer einsamer Gast ward angesichts dessen unruhig.
Terra bemerkte ihn erst jetzt, obwohl sie an dem einzigen beleuchteten Tisch einander gegenüber saßen. Beim Rockschoß holte er den Flüchtling von der Tür zurück in den Lichtkegel und sagte klangvoll: »Erschrecken Sie nicht, mein Herr, Sie sind an keinen Irrsinnigen geraten.« – »Um Gotteswillen«, sagte der andere. Eine selbst wohl noch unfertige Existenz, beruflich zwischen Dentist und Agent gelagert, – Terra fragte nicht lange, stellte sich vor und setzte den neuen Vertrauten eigenhändig auf seinen Platz zurück. »Waren Sie schon einmal verliebt?« fragte er, – worauf jener erleichtert »prost« sagte.
Terra vollzog gewissenhaft den Trinkakt, seine Augen aber irrten ab. »Dann werden Sie wissen«, äußerte er, »unversehens verschiebt sich das Bild des Herzens. Schon deckt es sich nicht mehr ohne Rest mit dem der Frau von drüben, der Dirnenfürstin Lili.« – »Ach so, Sie wollen heiraten«, warf der Vertraute ein. Terra lachte auf. »Haha, heiraten doch Sie, wenn Sie können, einen geistreichen Blick, einen unfaßbaren Hochmut und ein nicht vorhandenes Herz!«
»Es ist wohl eine Gräfin?« bemerkte der Vertraute und kicherte bedenklich. »Lassen Sie sich auf solche Mädchen nicht ein, wenn Sie vielleicht auch Künstler sind.«
»Sie sind ein erfahrener Mann.«
»Ich, wie Sie mich sehen, habe so einer geschrieben, auf ihr Heiratsgesuch in der Zeitung. Sie schickte mir sogar ihr Bild, es war aber das Bild der verstorbenen Königin von Serbien.«
»Und konnten Sie seither keinen Zusammenhang feststellen zwischen der ermordeten Königin und Ihrer eigenen Person?«
»Ich bin nicht verrückt.«
»Das gibt das Schicksal keinem schriftlich«, – und Terra bohrte seinen glühenden Blick in das erschreckte Gesicht. Der Vertraute schielte begehrlich nach der Tür. Da er nicht hoffen durfte sie zu erreichen, machte er sich klein hinter dem Tisch.
»Ist es nicht vielmehr der Irrsinn in Person,« rief Terra ihm zu, »daß Sie das Gottesgeschenk Ihres Daseins auf ein und demselben Karussell verfahren, immer im Kreis und taub gegen alles, was nicht Ihr schlechter Leierkasten spielt?«
»Erlauben Sie – das meinen Sie bildlich.«
»Treiben Sie selbst das Karussell, da können Sie was erleben.«
»Aha, jetzt kommt es.«
»Sie wissen schon im voraus, was ich beschließe? Der Himmel wird noch so viel Einsehen haben, mich davor zu bewahren, daß ich unter Ihren Einfluß gerate!« Terra richtete sich drohend auf. Der Vertraute verschwand zur Hälfte unter dem Tisch.
»Am stärksten war euer Einfluß, wenn ich es mit dem Aufgebot übermenschlicher Kräfte darauf anlegte, euch zu entgehen. Bleibe rein und verzichte, sei ein Spieler, Lächler und halte die Armseligkeit zum Besten,« – wobei er dem Vertrauten zutrank. »Die aufopferndste Weisheit erreicht doch immer nur, was eure Dummheit von Natur hat, sie macht mich zum faulenden Aas.«
»Oh! oh!« wagte der Vertraute, bemüht, sich einzuschmeicheln. Terra aber verließ seinen Stuhl, nahm Abstand und pflanzte sich auf, gedrungen und mit eherner Miene, um zu sagen:
»Herrschen!« – knirschend und rollend: »Herrschen zum Ruhme Gottes! Geschäfte kann man nur mit der bestehenden Gesellschaftsordnung machen.«
Da erhob sich auch der Vertraute, mit ausgestreckter Hand nach Anschluß suchend. »Auch ich wähle nationalliberal!«
Terra hielt die Hände hinter sich auf der Wand, er ward leiser, ihm schien es zu schaudern. »Man will nicht zeitlebens ein Schatten bleiben, der die Leute erschreckt und den sie liegen lassen. Das Ungemeine eröffnet sich uns, damit wir um es kämpfen.«
»Jetzt meinen Sie wieder die Gräfin.«
Terra setzte sich in Bewegung. »Es wäre kein Witz dabei, wenn nicht im Leben das phantastischeste Ziel den stärksten Atem lieferte. Da arbeitet es sich, wirkt es sich, erstrebt es sich Fernen, die alle näher liegen als die eine.«
Der Vertraute, immer hinterdrein, lachte aufgeregt. »Wie Sie das wissen! Woher haben Sie es, daß ich der Königin von Serbien mein Geschäft verdanke? Um ihretwillen hab' ich mich endlich zusammengenommen, und wieso denn, auf einmal ging es.« Er sank auf seinen Stuhl zurück. »Ich will es Ihnen nur gestehen, ich liebe sie noch immer,« – und küßte eine Photographie in Kabinettformat.
Terra zeigte die Zähne. »Die denkt an mich, wie ich an sie, dagegen wächst kein Kraut. Denn hier ist Blut geflossen.«
Der Vertraute hörte zu küssen auf, er sah entsetzt darein.
»Der Tropfen am Hals des Mädchens, das wir Beide auf dem Gewissen haben. Euer Exzellenz, wiegt schwer. Schwerer als Ihr geistreicher Blick, Ihr unfaßbarer Hochmut und als sogar Ihr nicht vorhandenes Herz.«
Von dem Vertrauten sahen nur noch die Augen über die Tischplatte. Dann versank er ganz, kroch drunter durch und war aus der Tür.
Terra stellte sich kampfbereit auf, in Erwartung einer Antwort. Kein Vertrauter mehr? Da ging auch er.
Eine Stunde später fuhr der Nachtzug nach Berlin, und Terra saß darin. Kurschmied, sein Freund bis in den Tod, erwartete ihn dort am Morgen, bereit, ihn unverzüglich in die »Generalagentur für das gesamte Leben« einzuführen. Es lag in der Friedrichstraße, gegenüber dem »Cafe National«. Am Haus stand: »Generalagentur für das gesamte Leben, von Praß macht alles.« – »Und dies ist die lautere Wahrheit«, erklärte Kurschmied, indes sie hinaufgingen. »Das Leben oder was von Praß so nennt, besteht aus Gelderwerb und Vergnügen. Infolgedessen unterhält er vor allem einen Ratgeber für Börsengeschäfte oder dieser ihn. Die Papiere, für die er in seinem Blatt sich einsetzt, erleben meistens eine Blüte und immer einen Zusammenbruch, an beiden aber war er interessiert. Ist es von da ein weiter Schritt bis zur Vermittlung reicher Liaisons?«
»Abteilung Vergnügen«, bemerkte Terra.
»Abteilung B stellt unter anderem Verbindungen mit dem Hof her, wenn nicht schon Abteilung A es täte.«
»Und ich?«
»Einen Augenblick. Wir versenden Ausstellungen, leiten Gastspiele, machen berühmte Namen. Auch hier, wie auf dem anderen Börsenmarkt, arbeiten wir mit den Mitteln des kleinen Mannes, es sind die größten. Die gesamte Künstlerschaft beteiligen wir.«
»Wir?«
»Ich bin der Reklamechef«, sagte Kurschmied bescheiden. »Wollen Sie es statt meiner werden?«
»Ich bin kein Enthusiast wie Sie, und darum kaum berufen.«
»Von Praß fragt nie nach Referenzen. Dagegen verlangt er, daß Sie sich ihm durch eine sofortige Ausnahmeleistung für die ersten fünf Jahre bezahlt machen.«
»Er zahlt?«
»Höchstens genug, daß Sie ihm nicht fortlaufen.«
»Es scheint, auch das nicht; denn Sie wollen fort.«
Kurschmied zögerte. »Mich treiben persönliche Gründe,« gestand er und ward rot. »Meine Schwester Lea«, sagte Terra, »soll in Frankfurt mit einer Rolle stark aufgefallen sein, in dem Stück eines gewissen Hummel, glaube ich.«
»Sie werden ihn kennen lernen«, rief Kurschmied freudig bewegt. »Ich bleibe noch mehrere Tage, bevor ich nach Frankfurt fahre.«
Schon standen sie in dem weit offenen Vorzimmer der Generalagentur für das gesamte Leben. Es hatte zwei kreisrunde Causeusen aus rotem Plüsch, ihre gefällig drapierte Mitte trug staubgraue Papiersträuße. Zu der frühen Stunde saßen darauf nur erst ein älterer Mann ohne Bart und zwei junge seiner Art, sie murrten. Gerade trat auch eine Dame ein, schön und elegant, nun vereinigten sich alle mit ihr, um laut zu schelten. »Der Raum stellt die festliche Seite des Lebens dar«, erklärte Kurschmied und lenkte die Aufmerksamkeit seines Begleiters auf die goldenen Kranzschleifen an den Wänden, alle die schwungvoll gerahmten Bilder von Höhenmenschen beiderlei Geschlechts in Stellungen, die volles Vertrauen zum Leben ausdrückten. Im besten Licht stand eine kleine Plakatsäule, verheißend bot sie vielstellige Zahlen riesenhaften Formates dar, und die blühenden Gestalten der tanzend abgebildeten Varietenummern verhießen eher noch mehr.
Links eine verhängte Glastür, aber drüben sah man in das nächste Gemach. Hinter einer hölzernen Schranke, die einen Kassenschrank schützte, bewegte jemand sich sprungweise hin und her, wie ein Tier des Waldes. »Herr Seifert?« fragte Kurschmied dort hinein. »Kommt der Herr Direktor?« – »Kommt nur, wenn Sie es nicht ahnen«, erscholl es zurück. Seifert fuhr sich mit der Hand wie der Blitz zwischen die Haarsträhnen, setzte über ein Papierbündel, blätterte auf dem Tisch, flink, flink wie ein Tier dürres Laub durchwühlt, in vielen kleinen Zetteln und war schon wieder bei der Kasse. Daneben stand aus der Wand die Öffnung eines Schallrohres. Kurschmied näherte sich ihm vorsichtig, – da riß er den Hut vom Kopf, eine unförmliche Stimme drang aus dem Loch. »Sehr wohl, Herr Direktor, sofort bitte«, sagte Kurschmied mit Verbeugung. Dann zog er, leise und eilig, Terra mit fort – in das Innere. Die Bewohner des Vorzimmers sahen verstummt hinterdrein.
Seifert öffnete ihnen selbst die Schranke, er wollte dem Gast sogar mit einem Schoß seines Gehrockes seinen Stuhl abwischen; aus seinem gehetzten, schwitzenden Gesicht sprangen ohne Pause Nachrichten über den Herrn Direktor und Höflichkeitsfloskeln; aber Kurschmied strebte weiter. Hinter der Kasse trafen sie in einem großen kahlen Gelaß zwei lebende Wesen an. Beim Fenster stand von seinem Pult ein blonder, stulpnäsiger Mann in grüner Jacke auf. »Das Volk steht auf,« sagte er dabei. In der Mitte grüßte vor dem geräumigen Küchentisch, woran er Adressen schrieb, ein bescheidener Jude. »Elias,« fragte Kurschmied ihn, »ist jemand drinnen?« Aber Elias bekam nur ein noch müderes Gesicht, indes er die Schultern hinaufzog. Statt seiner gab »das Volk« frischweg die Auskunft. »Wenn nicht jemand aus der Versenkung gestiegen ist.« – »Los«, sagte Kurschmied.
Nun ging es in eine Dunkelkammer, dort regte sich bei ewigem Gaslicht, hinter einem Brettergestell, das einen Kleistertopf und eine »Weiße« trug, ein alter Mann mit Brille und blauer Schürze. »Vater Lange, Alma wird schon wieder gut tun«, warf Kurschmied im Vorübereilen hin. Der Vater rief ihm, tiefdurchdrungen, nach: »Das sagen Sie nur immerzu, Herr, dann wird es am Ende!«
Die Tür, vor der sie anlangten, ließ sich widerstandslos öffnen. Dahinter zwei Schritte leeren Raumes, Terra dachte vorzudringen; da stieß er im Dunkeln an eine gepolsterte Matratze. »Zum Teufel, öffnen Sie!« – »Sie werden auf dieser Seite keinen Griff finden«, erwiderte Kurschmied. Terra knurrte: »Der Mann verspricht zu viel. Nach allem Bisherigen müßte er eine eiserne Maske tragen.« – »Sie können laut sprechen«, sagte Kurschmied. »Abgesehen von der Polstertür, ist er auch taub.« Da drehte die Matratze sich geräuschlos.
Gegenüber ein dreigeteiltes Büchergestell, halb aufgeklappt wie ein Wandschirm. Links noch eine Polstertür, rechts eine Treppe nach unten: die Versenkung, sah Terra, aus der sie steigen. Kurschmied schloß die Tür. Abgewandt sagte er: »Jetzt reden Sie nicht, er sieht Sie.« Dann Husten aus tiefer Brust, und hinter den Bücherwänden wuchs der Direktor herauf. Er näherte sich lautlos auf dem Teppich, grau gekleidet, den breiten Kopf spähend vorgeschoben in den knochigen Schultern, und der Blick hing an den Händen des Eintretenden: was er brächte. Einmal hielt er an und sah auf, da erschrak Terra vor der Glut seiner schwarzen Augen: sie sagten Irrsinn vorher, – und glichen sie nicht seinen eigenen? Der Direktor aber verzog den rasierten Mund und streckte die Hand hin, eine starke, langfingerige Hand. »Nun also«, sagte er, als sei die Ankunft Terras vom Schicksal längst beschlossen gewesen.
Sein Händedruck war klammernd aber kalt, sein Gesicht braun mit gelben Furchen, wie rissiges Leder, ein für alle Male gegerbt auf wer weiß welchen Fahrten. Er setzte sich in einen tiefen Sessel, streckte die hageren Beine unglaublich weit aus und zeigte, eingesunken und auf sein Knochengerüst zurückgeführt, das breite Elfenbein in seinem Munde. So machte er den Eindruck größter Dauerhaftigkeit. »Alle Wetter«, dachte Terra. »Worauf habe ich mich da eingelassen.«
Der Direktor eröffnete ihm aber kurzweg, wie sein Reklamechef sich zu verhalten habe. »Er soll sie nicht nur machen, er soll sie auch sein.« Das Publikum hatte aus dem Verkehr mit Terra den untrüglichen Eindruck zu gewinnen, daß jedermann Gott danken müsse, geboren zu sein, weil er so die Gelegenheit erhalten habe, sein Geld in die Generalagentur für das gesamte Leben zu tragen. »Lassen Sie sich nie, und wenn es tote Katzen regnet, durch Sachlichkeit beirren. Gut ist, was Erfolg hat. Für den Erfolg werden Sie bezahlt.«
»Wie hoch?« fragte Terra. Der Direktor zuckte nicht. »Ihr Posten«, sagte er, »ist eine Neuerung, sogar die wichtigste in der Geschichte des reinen Geistes. Es ist erreicht, er wird dem gesamten Leben nutzbar gemacht.«
»Ihre Generalagentur, Herr von Praß, verlangt von sich das Höchste.«
»Sie haben nichts, stellen nichts vor und treten an die Dinge mit sittlichen Forderungen hinan. Sie sind genau das, was man jetzt anfängt, einen Intellektuellen zu nennen.«
»Sie haben ein zu gesundes Selbstbewußtsein, Herr Direktor, um sich zu verhehlen, daß auch der Schwindel eine geistige Leistung ist«, sagte Terra scharf. Der Direktor, ohne zu zucken: »Die besonderen Hemmungen des Intellektuellen, die Herrn Kurschmied belasten, stören Sie nicht. Sie werden weit kommen. Voraussetzung ist –«
»Voraussetzung sind wenigstens hundertfünfzig Mark monatlich«, sagte Terra so ausdrucksvoll, daß der Direktor nicht umhin konnte, es zu verstehen. »Hat Herr Kurschmied etwas zu bemerken?« fragte er, dem Augenschein zum Trotz und mit einer Handbewegung, infolge deren Kurschmied sich schleunigst verneigte und hinter die Polstertür tauchte. »Eine Zigarre?« fragte hierauf der Direktor. Terra sah sich wütend um. Das dreigeteilte Büchergestell enthielt Zigarrenkisten, darunter eine offene, Terra wollte hineinfassen, da stieß er gegen gemalten Stoff. Auch die Bücherrücken saßen darin fest, Atrappe, soweit der Blick reichte. Terra schnellte herum, – aber der Direktor saß da, als sei alles in bester Ordnung, es schien unmöglich, auch nur zu lachen.
In diesem Augenblick gab das Telephon sein Zeichen. Der Direktor neigte aus seinem Sessel das Ohr gegen die Wand. »Wer untersteht sich?« fragte er barsch. »Was? Wie? Sie sind schon wieder da? Lauter!« Die Person drüben verursachte in der Leitung ein verzweifeltes Getöse, jetzt hatte der Direktor verstanden. »Was ich mache? Alles.« – »Wie? Was?« begann er wieder. »Die Aktien sind nicht zu bekommen? Weiß ich, ist nicht zu machen. Ich natürlich mache es, ich mache alles. Mit Ihrem Geld, sagen Sie? Wieviel? Lauter! Sie können nicht mehr schreien? Wer mir Geld gibt, muß schreien. Siebzig? Weil Sie es sind, siebzigtausend nehme ich. Zahlen Sie an der Kasse!« Er füllte ein Papier aus und trug es hinter die Bücheratrappe. Dann stellte er sich vor Terra auf, er lächelte großartig, indes er mit einer Verbeugung die gesenkten Arme öffnete, als sagte er: »Geschwindigkeit ist keine Hexerei.« Hiernach faßte er Terra ins Auge, in das eine; das andere schloß er. »Wenn nun statt meiner Sie allein soeben hier gewesen wären?« Das weit offene Auge verhieß eine ganze Welt von Durchtriebenheit; wer so angesehen ward, mußte mitschmunzeln. »Und Sie reden von hundertfünfzig Mark«, schloß, der Direktor herumwippend. Terra konnte nur den Kopf senken.
»Seien wir ernst!« verlangte der Direktor. Er versah sich mit einer Mappe, drehte seinen Sessel dem Kamin zu und legte die Füße auf das Gitter. »Ich gebe Ihnen knapp, kurz, bindend meine Direktiven. Sie haben schöpferisch danach vorzugehen. Aktuell sind heute zwei entscheidende Sachen: die Zulassung an der Börse für unser neuestes Papier – ein Papier, nehmt Alles nur in Allem, hier haben Sie die Unterlagen; und zweitens eine Oper.«
»Ich werde sie schreiben lassen«, versprach Terra. – »Eine noch unbekannte Oper von hoher Hand soll uns anvertraut werden«, berichtigte der Direktor und zog die Brauen hinauf. »Noch haben wir sie nicht, aber wir müssen sie haben. Sie ist von einer Hand, mit der verbündet wir Weltmacht werden.«
Terra verneigte sich zum Zeichen, daß er zu verstehen beginne. Der Direktor machte eine Pause, des Eindruckes wegen und um sich vorzubereiten. Inzwischen drehte sich hinter seinem Rücken die Polstertür links. Ein stattlicher Mann in feinem blauen Anzug, mit Bauch, Glatze, blondem Spitzbart, ging sicher und beschwingt hinter die Bücheratrappe, knisterte dort eine Weile mit Papieren und kam wieder hervor, in der Hand, was er gefunden hatte. Der vom Direktor kürzlich ausgefüllte Zettel war es. Der stattliche Mann nahm keine Rücksicht auf Terra. Erst bei der Tür wandte er seine, von fetten Wangen eingeengte Äuglein her und blinzelte witzig. Schon war er fort; und als habe der Hintergrund immer so leer gelegen wie jetzt, wiederholte der Direktor: »Weltmacht«. Er setzte neu an.
»Zu diesem Zweck bringen wir die Oper im Ausland heraus. Petersburg. Monte Carlo. Wir bearbeiten die Plätze, hier das Material. Ausstrahlen aber müssen wir mit unserer eigenen Presse. Die Schwierigkeit ist, daß offiziell nichts verlauten darf. Ihre Sache, Gerüchte zu verbreiten. Tauchen Sie die Menschheit in ein aufregendes Dunkel. Wer nichts weiß, kann alles wagen.«
»Mein gewohnter Zustand«, sagte Terra, in dem ein Plan entstand. »Ich mache mich hiermit anheischig, das hohe Meisterwerk an uns zu locken. Wenn in den nächsten vierundzwanzig Stunden nichts Neues geschieht, können Sie mich als hoffnungslos unbegabt zum Teufel schicken.«
»Das ist meine Absicht. Wer nicht als Sieger anfängt, kommt nie ans Ziel. Zuerst Erfolg – dann meinetwegen Arbeit.«
Plötzlich setzte der Direktor sich zurecht, er hörte etwas. In der Versenkung rechts entstand ein Rascheln, – und der Direktor, der taub blieb, wenn Geld kam, und auch, wenn es davonlief, hier hörte er. Ein Schritt; ganz leicht und verschwiegen knarrte drunten die Treppe, aber der Direktor war schon auf den Füßen. »Fertig, gehen Sie!« Ein Hut mit Veilchen schwebte herauf. Der Direktor stampfte. Mit seiner Person verdeckte er dem Störer die Aussicht und drängte ihn zur Polstertür links. Bevor sie sich schloß, erspähte Terra noch gelbes Haar und ein Stück Schleier.
Terra sah sich in einem gut ausgestatteten Schreibzimmer. Auf dem Teppich ging jemand umher, der freche Dickwanst von soeben. Hinter der Glastür drüben war ein Gesumm wie von einer beträchtlichen Anzahl Menschen. Terra hob die Gardine: das Vorzimmer. Er hatte also um die Generalagentur für das gesamte Leben die Runde gemacht. Das Vorzimmer hatte sich bevölkert, zur Qual des gehetzten Seifert. Er sprang von Augenblick zu Augenblick an sein Geländer, um gegen die Menge eine zurückdrängende Gebärde zu machen. Einer, der zu wild tat, durfte in die Öffnung des Schallrohrs brüllen – brüllte aber scheinbar umsonst. Rückwärts standen Wartende mit zuversichtlichen Mienen; in einem rotgesprenkelten Mann, der sich die Hände rieb, ahnte Terra den Glücklichen, der seine siebzigtausend Mark hatte abliefern dürfen.
Als Terra die Tür öffnete, hielt eine Hand auf seiner Schulter ihn fest. »Meine Name ist Mohrchen«, sagte der Dicke, mit seinen witzigen Äuglein. »Entschuldigen Sie, daß ich vorhanden bin. Dies ist nämlich Ihr Zimmer, darf ich Sie bekannt machen?«
»Ich danke, es wird mir nicht schwer fallen«, erwiderte Terra, und ohne Pause: »An der Polstertür zum Direktor ist ein Schloß, wer hat den Schnepper?«
»Ich«, sagte Mohrchen ertappt und zog ihn sogar hervor. Aber fortnehmen ließ er ihn sich nicht. »Spielen wir mit offenen Karten«, sagte er. »Sie glauben, daß ich klaue.«
Terra zündete sich wortlos eine Zigarette an.
»Nun, ich klaue nicht«, erklärte der Dicke und hielt den Zettel her. Darauf bescheinigte freilich Herr von Praß dem Herrn Mohrchen, daß er die siebzigtausend Mark an der Kasse zu erheben habe. »Und was tun Sie damit?« fragte Terra.
»Geschäftsgeheimnis. Nie sollst Du mich befragen.« Mohrchen blinzelte. »Im tiefsten Ernst, legen Sie gegen mich lieber keine Bombe, wer weiß, was sonst noch mit auffliegen könnte.«
»Ich habe Ihnen keinen Grund gegeben, mich für einen Spion zu halten.«
»Man wird es hier. Die siebzigtausend sind in guten Händen.« Noch vertraulicher: »Daß ich meine Bezüge davon habe, brauchen Sie nicht erst schriftlich zu sehen. Sie beziehen gewiß Ihre Gage fest und nicht zu knapp?« Da Terra nur Rauch ausstieß: »Leider nein? Dann können wir uns verstehen. Kommen Sie zufällig heute abend ins Café National?«
»Ich bin stark beschäftigt«, sagte Terra gemessen.
»Und ich?« fragte Mohrchen mitleidig. »Ich habe nämlich das Auswärtige. Ich laufe. Wo bliebe ich sonst mit meinem Fett.« Noch einmal durchtrieben gelächelt, und der Dicke öffnete schon die Hintertür. »Er tut Ihnen wohl leid?« fragte er unter der Tür, mit einem Kopfrücken nach der Seite des Direktors.
»Schurke«, sagte Terra hinter ihm drein.
Er prüfte die vom Direktor erhaltenen Schriftstücke und begann kurz entschlossen zu schreiben. Den Lärm im Vorzimmer hörte er schon nicht mehr. Die Zunge bewegte sich ihm zwischen den Lippen vor Vergnügen. »Bravo!« sagte er zu seinem jungen Talent. Was es hervorbrachte, war eine durch keinerlei Mitwissenschaft gehemmte Phantasie über die Oper des hohen Herrn, den er ein zivilisatorisches Genie von höchstem Rang nannte, – aber die blühende Wiedergabe des Kunstwerkes diente zugleich als Lockung für das benachbarte und befreundete Land, das nicht nur die Oper spielen sollte, sondern wo auch das zur Zulassung an der Börse empfohlene Papier zu Hause war. »Sonderbar« – dies fiel ihm auf – »der Artikel umfaßt A und B, Geschäft und Vergnügen, somit das gesamte Leben, und doch ist alles Hirngespinst, Geistererscheinung oder Schwindel: kein Mensch könnte jetzt noch beschwören, was.« Er ging an die Polstertür. »Hinter diesen Matratzen sitzt mein Direktor, hält sich, bei seinen Atrappen und seinem Telephon, für einen ausgekochten Lebenskenner und ahnt nicht, daß er nur ein kümmerlicher Poet in der Dachkammer ist, dem es verdammt hineinregnen könnte.«
Er schlug das Telephonbuch auf. »Der Schurke hatte recht, er tut mir leid, ich will ihm helfen gegen den Schurken.« Und das Sympathische an dem Direktor? »Daß er erschrickt, wenn die Wirklichkeit heraufsteigt. Am Rande der Versenkung erschien ein Veilchenhut und ein wenig gelbes Haar, da fielen ihm die Schuppen von den Augen, es ward ernst und er kam außer sich, der arme Narr.«
Terra rief an, mit dem Vorsatz: »Abgefeimter soll selbst mein Meister einem Geschäft nicht zu Leibe gehen.« – »Herr Doktor«, sagte er dem Redakteur, der sich meldete, »Sie sind der hervorragendste Börsenfachmann der Berliner Presse. Dies ist weltbekannt, ich will nicht der Fünfhundertste sein, der Sie damit langweilt.« Hierauf sagte er in verschiedenen Wendungen und Tonlagen etwa zehnmal dasselbe, und der Andere ließ es sich einträufeln. »Von Grund aus neu und einzig aber, Herr Doktor, wirken Sie auf den Untenstehenden erst vom Postament Ihrer Kultursendung herab.« – »Schluckt er es?« fragte Terra sich besorgt. Aber Jener schien Beifall zu murmeln. »Von allen Börsenberichterstattern«, rief Terra gehoben, »haben Sie allein einer wirtschaftstechnischen Funktion das Mittel für völkerverbindende Zwecke abgelauscht und gönnen sich keine Ruhe, bis Sie nicht auch die Seele einer Nation uns nähergerückt haben, deren Lose wir kaufen sollen. Als heißer Bewunderer Ihrer wissenschaftlichen Ausflüge in die unserem Unternehmungsgeist zu erschließenden Länder – und sind es nicht, in ihrer stilistischen Farbigkeit, auch künstlerische Taten?–« Nach weiteren fünf Minuten war Terra bei dem besonderen Fall, an dem ihm lag, und es schlug gerade Mittag, als er die Erlaubnis erlangt hatte, sofort seinen Artikel hinzubringen.
Unter dem Haustor traf er auf Elias, der dem Stürmenden bescheiden Platz machte. Terra hielt plötzlich an. »Sie gehen wohl auch zu Mittag, soll ich Sie mitnehmen?« Er drängte ihn in eine vorbeifahrende Droschke. Elias atmete kaum, es war eine Droschke erster Klasse. Über seinem fadenscheinigen Röckchen fehlte der Mantel, im Winde schützte er die Brust mit den verschränkten Armen. Er trug eine gefaßte Miene, und in seiner Kopfhaltung lag Vorsicht. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich esse nicht zu Mittag. Mein Brot habe ich schon verzehrt, jetzt wollte ich mir etwas Bewegung machen.«
»Sie sind eingeladen«, sagte Terra. »Die Generalagentur für das gesamte Leben macht Sie wohl nicht fett?«
»Mit fünfzig Mark im Monat –« bestätigte Elias und blickte freundlich aus braunen Augen. Auf eine Bewegung Terras erwiderte er: »Eigentlich fünfundsiebzig; aber den Rest trage ich auf die Bank.«
»Sie haben Charakter«, sagte Terra; und da sie anlangten: »Bestellen Sie nur, und entschuldigen Sie mich wenige Augenblicke, ich habe einen Auftrag vom Direktor.«
Bei der Tür holte Elias ihn wieder ein. »Sie machen doch keinen Witz und wollen mich hier nicht versetzen?« fragte er. »Ich habe kein Geld.« Terra sagte:
»Dafür interessiert mich unsere Generalagentur doch zu sehr.«
Der Angestellte der Generalagentur begegnete, sanft zudringlich seinem Blick, klappte mit den Lidern – und dann fand er sich unter dem Lächeln angeborenen Zweifels, in diese zwecklose Laune.
Terra war in der kürzesten Frist wieder da. »Die Redaktion der ›Lokalpresse‹ weiß nicht ein noch aus vor Begeisterung«, verkündete er. »Mein Einzug in die Generalagentur gestaltet sich triumphal.«
»Wenn Sie schreiben können,« meinte Elias und aß gierig, »legen Sie die Leute leichter hinein, als unsereiner.« Terra äußerte Anerkennung. »Ein Mann wie Sie, gedenkt nicht in alle Ewigkeit der Hereingefallene zu bleiben.«
Elias verschnaufte, die Wangen rot überflogen. »Nur erst tausend Mark beisammen haben, dann weiß ich ein Geschäft.«
»Aber der Generalagentur vertrauen Sie Ihre Ersparnisse doch wohl nicht an?«
Elias, den Kopf wiegend: »Bin ich verrückt?« Und Terra, scharf: »Aha.« Darauf sahen sie einander an.
Mit seinem angeborenem Lächeln nahm Elias die neue Wendung hin. »Wenn Sie von der Konkurrenz sind, was wollen Sie wissen und wieviel bieten Sie?«
»Mindestens zwanzig Mark Gehaltsaufbesserung, wenn Sie mir sagen, wer Mohrchen ist.«
»Herr Mohrchen«, den Kopf wiegend, »ist ein feiner Mann, er muß etwas wissen vom Herrn Direktor.«
»Zahlt der Direktor freiwillig?«
»Gott soll schützen. So oft sie in seinem Zimmer zusammen reden, kracht es gegen die Polstertüren, als ob sie werfen, und im Schallrohr können wir sie hören brüllen.«
»Ich habe die Weisung, die Dinge aufzuklären«, sagte Terra und preßte die Lippen aufeinander. Elias erblaßte; er verließ seinen Stuhl, um einen Kratzfuß zu machen, worauf er sich artig wieder hinsetzte. »Zu Befehl, Herr Polizeirat«, sagte er sanft. Terra befahl:
»Sobald Mohrchen wieder auftaucht, gehen Sie ihm nach, ich entschuldige Sie im Geschäft. Achten Sie darauf, wohin er das Geld trägt.«
Hierauf verabschiedete er seinen Gehilfen, trank den Kaffee aus und kehrte in sein Bureau zurück. Am Schreibtisch kramte Jemand, eine grüne Jacke – »das Volk.« Beim Erscheinen Terras warf es die Papiere in die Schieblade zurück, sagte »Mahlzeit« und wollte gehen. »So haben wir nicht gewettet«, rief Terra. »Was treiben Sie hier?«
»Das Volk verlangt Sicherheiten«, sagte »das Volk«, blond und frisch, und wippte auf den Absätzen.
»Wofür?«
»Daß unser Geld nicht flöten geht. Sie sind auch wieder einer.«
»Einer, von welchen?«
»Von der Judenbande, die das Volk um sein Geld bringt.«
»Sie haben das Ihre wohl in der Generalagentur für das gesamte Leben angelegt? Ihnen kann geholfen werden.«
»Das Volk hat schon zu oft das Nachsehen gehabt«, stellte »das Volk« fest und marschierte ab.
Das Vorzimmer hatte sich seit Mittags noch nicht wieder gefüllt, gleichwohl war Seifert zu hören, als beschwöre er eine unsichtbare Menge. Terra fand ihn, gehetzt wie je, hinter seiner Schranke, die ihn nur ungenügend schützte gegen die Angriffe eines weiblichen Wesens. »Um Gotteswillen, Fräulein Alma!« flehte er. »Aus der Kasse kann ich die Alimente nicht nehmen. Woher also?«
»Aus der Kasse«, verlangte die Dame unerbittlich. »Und dalli, sonst weiß man, was man zu tun hat.« Ohne weiteren Aufschub schrie sie »Vater!« und wollte die Schranke durchbrechen, ihr verregnetes Pelzwerk flog ihr voran. Da trat Vater Lange schon auf, »das Volk« und Elias stützten ihn, er war nahe am Versagen. »Alma, Kind,« jammerte er, »halte doch bloß den Rand, ich komme als alter Mann um meine Stelle.« Da sie aber nichts weniger als nachließ, erfaßte der Aufruhr auch ihn. »Haben Sie das nötig gehabt, Herr Seifert?« keifte er. »Nun sehen Sie sich Ihre Arbeit an, auf die Straße geht sie, nicht mal mehr ins Kaffee!«
Seifert stand gebeugt und beide Hände ins Haar gekrallt, »das Volk« hatte seine Freude, Elias sah freundlich drein. Terra erhob die Stimme.
»Mein Fräulein, würden Sie sich entschließen können, den Betrag für diesmal von mir entgegenzunehmen?«
»Aber ja. Kleiner«, erwiderte sie und wollte ihm eine Karte winzigen Formates zustecken. Er machte ernst einen Schritt rückwärts. »Ich bin Ihnen nicht zu nahe getreten, mein Fräulein, darf ich Sie um dieselbe Rücksichtnahme ersuchen.«
»Aber ja«, wiederholte sie, erstaunt, und wollte gehen. Jetzt schritt aber der Vater, die Partei wechselnd, gegen sie ein, mit seinem Vaterfluch beförderte er sie hinaus. Als er gebrochen wiederkehrte, empfingen ihn die Herren: »Vater Lange, Alma wird schon wieder gut tun.« – »Das sagen Sie nur immerzu«, seufzte der Vater und zog schleppend in seine Dunkelkammer ab.
Terra, mit dem Kassierer allein geblieben, sagte: »Seifert, Sie sind auch ein Unglückswurm.«
»Ich brauche ein Mädchen nur anzusehen, schon hat es ein Kind,« sagte Seifert erschlagen. Terra beugte sich vertraulich über die Schranke. »In dieser unverschuldeten Notlage würde ich eine vorübergehende Inanspruchnahme der Kasse – ich will nicht sagen verstanden, aber fast verstanden haben.«
Seifert hatte schon wieder die Finger in den Haaren. »Wenn ich das auch noch täte!«
»Wo bliebe die Generalagentur für das gesamte Leben«, ergänzte Terra. »Denn Herr Mohrchen hat das Seine besorgt.«
Da hielt Seifert in seinen Sprüngen ein. »Das haben Sie auch schon heraus?« Aus dem Kassenschrank brachte er eine Handvoll Zettel. »Statt Geld habe ich nichts, als seine Quittungen. Für sich holt er es zwanzigmarkweise, für den Direktor in Tausendern. Wo bleibt es Alles?«
»Wir wollen hoffen, daß unser Direktor es in glänzenden Geschäften angelegt hat.«
»Das können wir nur hoffen.«
»Ich habe den untrüglichen Eindruck von ihm gewonnen«, sagte Terra. »Ich halte ihn für ein Genie der Spekulation.«
»Damit ist er fein heraus. Aber ich kann hier die Leute vertrösten.«
»Das ist freilich ein Hundeleben«, bestätigte Terra. Der Kassierer raunte bleich: »Heute hat Mohrchen siebzigtausend haben wollen.«
»Sie haben ihn zum Kuckuck geschickt.«
»Nachmittag kommt er wieder.«
»Dann zeigen Sie sich als Mann.«
»Dann meldet er dem Direktor, daß ich das Geld aus der Kasse nehme, das ich ihm leihe. Er macht mit dem Alten, was er will.«
»Wir werden mit ihm selbst etwas machen, was sich seine Schulweisheit nicht träumen läßt«, behauptete Terra mit einer so unbezweifelbaren Sicherheit, daß Seifert, ohne weiter zu fragen, nur nach seiner Hand griff. Im nächsten Augenblick nahm das wiedererschienene Publikum ihn stürmisch in Anspruch.
Das Vorzimmer war inzwischen stark besucht, und über die Stimmung konnte Niemand sich täuschen, man kam, sein Geld zu holen, und fürchtete, vergebens zu kommen. Terra durfte sich sagen, daß es nur noch einen Anstoß brauchte, um alle diese Leute elementar aufzubringen gegen den, der ihr Kapital fortgesetzt aus dem Hause trug, und um den Direktor von seinem bösen Dämon zu befreien. Der Direktor erschien ihm vertrauenswerter mit jedem Augenblick.
Er ließ den Türgriff seines Arbeitszimmers wieder los und ging nochmals auf die Straße, denn das Erscheinen der »Lokalpresse« nahte. Der Börsenredakteur hatte das Sensationelle des Artikels sofort erkannt und wollte ihn schon im Abendblatt bringen. Gestrafften Schrittes durchmaß Terra die Friedrichstraße. Noch nicht einen Tag in Berlin, schon wußte er sich gestählt. Er sah in dem schnellen Durcheinander keinem ins Gesicht, aber er fühlte sie alle, wie das von ihren Tritten heiße Holzpflaster. Es galt zu handeln und den Erfolg im Sturm zu nehmen. Ringsum die Not, der Überfluß, die Hochstapelei waren im Recht, so eins wie das andere, denn sie waren im Kampf! Die Geschäftshäuser ließen Verkehr strömen, soviel sie irgend konnten, und verbrauchten die Kraft ihrer Angestellten, soviel die irgend hatten. Der Kampf geht weiter, trotz Deinen Schmerzen. Reiß' ihn an Dich, mach' Dich zum Führer.
Als der erste Verkäufer ihm die Zeitung hinhielt, entfaltete er sie mit einer Art Rausch. Die Spalten überfliegend im Licht der Gaslaternen, ernüchterte er sich freilich schnell, der Handelsteil enthielt nichts. Erst später fand er seinen Beitrag im Feuilleton, unter dem Haustor der Generalagentur las er ihn durch. Hilf Gott, verpfuscht und verfahren! Der Redakteur mit seinem Scharfblick hatte alles aus dem Manuskript gestrichen, was irgend der Generalagentur nützen konnte: die Zulassung des Börsenpapieres samt der Tätigkeit der Generalagentur für das gesamte Leben, zugunsten der Oper von hoher Hand. Die übriggebliebene literarisch-musikalische Würdigung des Kunstwerkes war allerdings im Feuilleton am Platz.
Terra erstieg die Treppen mit der Gewißheit: »Erste Abfuhr! Aber die zweite Tat stehe für beide, auf gegen Mohrchen!« Durch die Menge bis zu seiner Tür vorgedrungen, riß er sie auf – schloß sie ebenso schnell und sagte: »Um Vergebung.« Die Dame mit dem Veilchenhut befand sich in den Armen eines Herrn, der nicht der Direktor war. Stehend und von dem Arm des Herrn aufrecht erhalten, lehnte sie die Büste samt dem Kopf weit herüber und empfing auf ihrem Gesicht das seine. Die üppige Art es zu empfangen, ließ keine Zweifel, wer sie war. Noch blieb sie von dem Herrn halb zugedeckt und hatte geschlossene Augen, aber es war die Frau von drüben.
Die beiden trennten sich, ohne Übereilung. Die Frau von drüben winkte Terra zu, als habe sie ihn gestern herbestellt. »Wie war's denn inzwischen?« fragte sie kameradschaftlich. Er ging auf ihre Absichten ein.
»Großartig«, sagte er. »Anders kann es einem Reklamechef unmöglich ergehn.«
»Und unser Geschäft? Denn wir haben hier, scheint mir, alle drei das gleiche«, erklärte sie dem Herrn. »Ach!« machte Terra, ehrlich erstaunt. Der Herr blickte sogar peinlich befremdet darein. Er war noch größer als die Frau von drüben, ungeheuer breit, steifnackig anzusehen und von den Zügen einer Bulldogge, mit gewölbten Augäpfeln, kurzer Nase, ja, Backentaschen, trotz seiner Jugend. Der Riese sagte hoch und dünn: »Geschäft? Mir unbekannt.« Die Frau von drüben sagte mitleidig:
»Ersparen Sie sich alle diplomatischen Künste, Herr von Tolleben. Herr Terra vertritt unseren Direktor von Praß. Sie können ihn durch großartige Offenheit verblüffen, in der Art ihres früheren Chefs. Herr von Tolleben ist aus dem Auswärtigen Amt«, womit sie sich wieder zu Terra wandte. Jetzt erst bemerkte Terra, daß der Herr, mit noch weniger Haaren und noch mehr Augenbrauen, dereinst genau wie Bismarck aussehen werde. Bei dieser Entdeckung verbeugte er sich wie ein Reklamechef und stellte sich zur Verfügung. Nichts anderes könnte hier in Frage kommen, als die hohe Oper. Von Tolleben blieb leider ablehnend, er glotzte auf Terra in eine solche Tiefe hinab, als habe er höchstens das besiegte Dänemark vor sich. In Terra begann es zu sieden.
»Meine Wenigkeit ist unbegrenzt auf dem Laufenden«, versicherte er, die Hand am Herzen.
»Das will ich, im Interesse des Herrn von Praß, nicht hoffen«, äußerte von Tolleben unliebenswürdig. Viehisches Subjekt, fühlte Terra, in seinem siedenden Blut. Er neigte sich noch etwas tiefer, zuerst vor dem Herrn, dann vor der Dame. »Fürstin,« redete er, schwungvoll ergeben, die Frau von drüben an, »Eurer Durchlaucht habe ich die Ehre zu melden, daß ich den heutigen geschlagenen Tag lang meine gesamte Kraft bis zum völligen Versagen für das allerhöchste Opernwerk einzusetzen den Vorzug hatte«, – schloß er wankend.
»Wie? Was ist los?« fragte die Fistelstimme Bismarcks.
»Den Vorzug hatte.«
»Allerhöchstes Opernwerk geht Sie nichts an, verstanden?« »Ihr Vertrauen, Herr Baron, verpflichtet mich«, sagte Terra und überreichte dem Herrn die Zeitung mit der literarisch-musikalischen Würdigung. »Sie sind mir unangenehm«, sagte der Bismarck mit bekannter Offenherzigkeit. Die Feinde tauschten einen Blick, in dem sie einander verstanden.
Indes von Tolleben das Lampenlicht aufsuchte, um zu lesen, trat die Frau von drüben diskret zu Terra.
»Staatsgeheimnis, mein Freund«, flüsterte sie; und mit lautlos bewegten Lippen: »Die allerhöchste Oper ist hier im Hause erfunden, sie existiert nur für den, –« mit halbem Lächeln nach dem Leser hin: »der's glaubt.«
Terra verrenkte, stumm und mit großer Gelenkigkeit, den Mund und das ganze Gesicht. Hierüber lachte die Frau von drüben ihr klares, von Gefühlen ungefärbtes Lachen. Der Diplomat spähte argwöhnisch zu ihnen her, schon kam er.
»Gewandte Feder«, sagte er beinahe artig zu Terra. »Das musikalische Thema des Gottesgnadentums würde ich gern in der Partitur nachsehn, haben Sie sie zufällig da?«
»Ich muß ergebens! bedauern, sie liegt im Kabinett des Herrn von Praß.« Worauf der Herr von Terra verlangte, er solle sie holen, und Terra ihn höflichst aufforderte, es selbst zu versuchen. Der Diplomat bemühte sich wirklich, die Polstertür zu öffnen oder wenigstens hindurch zu schreien. Seine Stimme reichte nicht, die allerhöchste Oper blieb unzugänglich. Er ließ es Terra fühlen. »Herr! Sie sind ein unverschämter Intrigant«, sagte er ohne Maske. Terra erwiderte kühl und wohlerzogen:
»Ich besorge die Geschäfte meines Hauses. Hätte ich Ihnen die Partitur vorgelegt, Sie, Herr Baron, würden vielleicht auf den genialen Gedanken verfallen sein, sie mitzunehmen.«
»Frecher Bursche, Sie laufen mir schon noch in den Weg.«
»Zum Beispiel bei mir«, sagte die Fürstin vermittelnd. Sie wollte den Baron nicht begleiten, sie werde mit diesem Reklamechef ein Wörtchen reden. Noch in der Tür schickte von Tolleben über seine Augensäcke einen scharfen Blick her.
Terra hatte sich hinter den Schreibtisch zurückgezogen, er warf ein großes Papiermesser darauf umher. Die Frau von drüben setzte sich bequem vor den Tisch. »Da sind wir«, sagte sie und lächelte ruhig zu ihm hinauf. Er antwortete nicht, da entkleidete sie ihre Hand und ließ sie über den Tisch auf ihn zukommen. Er stieß hervor: »Ich konnte es auf meinen Eid nehmen damals, daß Sie am Morgen nicht mehr da sein würden. Ich schlief nicht, Sie entkamen trotzdem.«
»Noch böse?« fragte sie. Er lachte ingrimmig. »Ich wünsche einem ausgemachten Elternmörder die Lebensstimmung nicht, mit der ich Opferlamm diese ganzen Jahre Ihnen zu Ehren umherlaufen durfte.«
»Ich erhalte mir gern meine alten Freunde, – wenn sie irgend wollen.«
»Hochstaplerin«, – und er verzerrte das Gesicht.
»Was ihr euch darunter denkt, das gibt es gar nicht«, – sie krümmte nur die Lippen. »Das bringt das Leben mit anderem mit, als Beruf hat man es nicht.«
Dabei stand sie auf. Sie war groß, sehr weiß mit dunklen Brauen, hatte den schaukelnden Gang wie je, und die Stimme, die er jetzt leer nannte. Aber sein Herz krampfte sich, wenn er sie hörte. »Sie machen wahrhaftig den allerberuhigendsten Eindruck«, sagte er höhnisch. »Als hätten Sie seit meiner Zeit kein Wässerchen getrübt.«
»Sie können unmöglich noch glauben, unsereins gehe umher und werde Gymnasiasten gefährlich.«
»Allerdings nicht, meine Gnädigste. Ihr Haar ist gelber geworden. Sie führen eine andere Nummer vor, Fürstin Lili auf dem ungesattelten Drahtseil. Die Dame, die ich kannte, existiert nicht mehr; daher geben Sie sich um Gotteswillen keiner Sorge wegen meiner Verschwiegenheit hin!«
»Was geht mich der Bismarck an, er weiß vor Schulden nicht ein noch aus.«
»Also geht Sie der Direktor an.« Da fiel sie ein. »Der weiß alles, was er braucht. Meinen Sie, er würde mich zum Varieté zurückbringen und zur großen Attraktion machen, wenn ich nicht wäre, was ich bin? Der hängt keinen Sentiments nach, ihn muß ich nicht beschwindeln.« Über die Schulter leichthin: »Sonst würde ich ihn ganz gewiß nicht heiraten.«
Terra stand reglos. Plötzlich ging er, die Hand ausstreckend, auf sie zu. »Das hätte Ihr erstes Wort sein sollen.«
»Wir verstehen uns noch rechtzeitig.«
»Was wollen wir hier«, sagte er schneidend. »Erfolg. Durchlaucht werden Ihre guten Gründe haben, sich dieser Generalagentur für das gesamte Leben mit Haut und Haaren zu verschreiben.«
»Sie trägt uns beide«, sagte sie, und beide schoben sie die Brauen hinauf. Terra stellte ihr den Sessel zurecht, seinen Stuhl zog er vor sie hin. Die Hände auf den Knien, sagte er halblaut:
»Zuerst kam der Mann mir wie ein schlechter Zauberer vor, dann wie ein besserer. Es endete aber, Gott weiß warum, mit einer Art von Begeisterung. Wieviel ist er wirklich wert?«
»Er hat unabsehbare Mittel«, sagte sie, auch halblaut. »Erstens, er will mich heiraten. Dazu versteht sich entweder ein grüner Junge –« »Danke«, sagte Terra. »Oder,« schloß sie, »ein Mann an den nichts mehr hinanreicht.«
»Zweitens,« stellte Terra fest, »beschwingt er dermaßen die Seelen, die ihm zu nahe kommen, daß es ihm unmöglich jemals an größeren Geldmitteln fehlen kann. Für seine nicht vorhandene Oper habe ich mir die Nägel zerrissen, als hätte ich einen Fahrweg zur Seligkeit eigenhändig anlegen wollen.« – »Ich aber,« sie schlug ihn auf das Knie, »bringe es fertig, daß der Bismarck von der Wirklichkeit der allerhöchsten Oper überzeugter ist, als von der ihres behaupteten Urhebers.« – »Daraufhin kann die Generalagentur für das gesamte Leben beruhigt das gesamte Leben als ihr ausschließliches Monopol ansehen, sollte selbst die Oper niemals geschrieben werden. Anzunehmen ist aber«, setzte er hinzu, »daß unsere Reklame sie aus ihrem Urheber herauslockt. Niemand läßt sich gern Genie nachsagen, ohne prompt damit aufzuwarten.«
Sie lachten tief beglückt einander an. »So froh zumut war es uns beileibe nicht in unserer einzigen Liebesnacht«, bemerkte Terra, und sie wandte nichts ein. Er brach sein Lachen ab. »Ein Schatten fällt auf diese unvergleichliche Welt: Mohrchen.« – »Ja,« sagte sie, »auch mir macht er Sorge.« Terra raunte: »Was hat von Praß mit Mohrchen?«
»Nicht einmal ich bekomme es aus ihm heraus«, raunte sie. »Ich weiß nur, angewiesen zu sein auf den Menschen, das zehrt an ihm mehr, als das Geld, das es kostet.«
Terra: »Da komme ich weiter.« Er schlug vor: »Verdrehen Sie dem Schurken den Kopf! Er ist Stammgast im Café National.« Sie sann. »Wer etwas gegen ihn in die Hände bekäme.« Hier klirrte die Glastür ein wenig; mit einem Blick sagten sie einander, daß sie belauscht seien. Plötzlich spielte das Gesicht der Frau von drüben die sichtbarste Herausforderung, wie auf der Bühne. Terra führte begreifend die Hand in die Herzgegend und stammelte. Aus dieser Stellung erhob er sich, als die Tür aufging und Mohrchen sichtbar ward.
Mohrchen blickte witziger darein als je. Im Vorübergehen deutete er nach der Seite der Fürstin eine Verbeugung an, drohte Terra leicht mit dem Finger und steckte schon den Schnepper in die Polstertür. »Herr Mohrchen!« rief wohllautend die Fürstin. »Solchen Tönen widersteht man nicht«, sagte er tatsächlich und kehrte zurück. Sie wies ihm den von Terra verlassenen Stuhl an. »Der Direktor hat Geschäfte«, äußerte sie; und den Kopf im Nacken, ihr weißes Gesicht hinbreitend wie ein Paradies: »Sie dürfen mir alles sagen.«
Mohrchen wieherte auf, nicht anders, als lachte er sie aus. »Hier kommen komische Sachen vor«, brachte er heraus. »Sie glauben es nicht, die Kasse ist leer!«
Sie rümpfte die Nase. »Bester, wem wollen Sie das weismachen.« Aber er zeigte die Anweisung des Direktors vor und behauptete, die siebzigtausend Mark würden nicht ausbezahlt. Sie sagte, ohne sich zu besinnen: »Auch ich will mein Vermögen nicht verlieren. Es steckt bis auf den letzten Pfennig in der Generalagentur. Sie sollen mein Vertrauen sehen. Hier –« Sie zog die Perlen, die ihr am Hals schimmerten, unter ihrem Pelzmantel hervor, die Schnur ward immer länger. Sie warf sie in die schon hingehaltenen Hände Mohrchens. »Leisten Sie damit Zahlung!«
Mohrchen stand sofort auf, er war ernst geworden. Einen Diener, und er wollte fort. Sie ließ ihn bis zur Tür kommen. »Wieviel Uhr?« sagte sie hell in die Stille, und sah auf ihrem Armband nach. »Sechs ein Viertel. Sind Sie bis sieben nicht zurück, muß ich wohl annehmen, daß ich Sie in meinem ganzen Leben nicht wiedersehen werde.« – »Es würde Sie schmerzen«, sagte Mohrchen witzig. »Aber was kann ich tun«, schloß sie. »Meinen künftigen Gatten darf ich nicht in Ungelegenheiten bringen.« Glucksend verschwand Mohrchen.
»Ich habe es ihm nahe genug gelegt, endlich durchzugehen«, sagte sie zu Terra. »Das Übrige ist an Ihnen.«
Er gab zu bedenken: »Wenn aber der Direktor es nicht aushalten sollte?« – »Kein Gedanke daran«, sagte sie, und auch Terra schwankte schon nicht mehr. Sie hatte ihn verlassen, er durchmaß das Zimmer mit seinem entschlossensten Schritt, stieß Rauch aus und sah das triumphale Ende des Tages nahen, die Erlösung des Direktors der Generalagentur für das gesamte Leben von seinem bösen Dämon, Terra Mitdirektor, die Macht erobert an einem Tage ... Es ging auf sieben, er betrat das Vorzimmer, das summte und scharrte. Seifert sprang wie aufgezogen durch seinen Käfig. Beim Anblick Terras wisperte er: »Sie sind nicht zu halten, die siebzigtausend werden bald ausgezahlt sein, sie reißen sie mir aus der Hand.« – »Geduld«, mahnte Terra, voll Zuversicht. In der Menge stieß er auf Kurschmied, der die allgemeine Unruhe teilte. Gerüchte gingen um, und sie kamen aus dem Hause selbst. »Sind etwa Sie es, der die Dinge hier aufführt?« fragte er Terra, aber Terra begriff nicht. Ein noch junger, sehr bärtiger Mann, den Kurschmied bei sich hatte, zeigte gleichfalls tiefe Bewegung. »Herr Hummel und seine Freunde haben das Kapital der ›Weltwende‹ hier angelegt«, erklärte Kurschmied. »Die Weltwende mag kommen! Hier ist man bereit«, sagte Terra laut und sah sich um. Da bemerkte er Elias.
Elias stand in der Tür des Kassenzimmers, er folgte mit bescheiden zweifelnden Blicken den Schritten Terras. Sobald er sich bemerkt sah, kam er ihm entgegen. »Nun?« forschte Terra. »Wo ist er?«
»Ist er durchgegangen?« fragte Elias seinerseits. »Das hätte ich nicht von ihm gedacht«, – und er sah ehrlich erstaunt aus.
»Sie sind also nicht auf seiner Spur geblieben«, sagte Terra drohend. Elias aber gelassen:
»Hab' ich es nötig, Herr Polizeirat? Ich weiß auch so, was Mohrchen treibt. Er spielt.«
Es dauerte eine Weile, bis Terra dies erfaßt hatte. Mohrchen spielte, im Auftrag des Direktors, mit den Geldern der Generalagentur. Vom Gewinn hatte er Prozente, Verluste berührten ihn nicht. So einfach erklärte sich das Geheimnis. »Ich bin ihm daraufgekommen«, sagte Elias. »Da hat er mir manchmal zehn Mark geschenkt. Auch gut, ich hab' den Mund gehalten.« – »Die Bank, wo Ihre Ersparnisse liegen, soll auffliegen«, schnarrte Terra. Elias machte einen Sprung.
Seifert, der nicht Hände genug hatte, winkte verzweifelt. Terra trat statt seiner an das Schallrohr. Die Stimme des Direktors erscholl darin: ob denn Mohrchen noch immer nicht zurück sei. »Herr Mohrchen war nicht da«, sagte Terra mit der nachgeahmten Stimme des Kassierers. »Und die Kasse ist leer.« Der Direktor, klar und sicher: »Dann kommt er sogleich. Gerade heute wird ein Riesengeschäft perfekt.« Terra, aufgeregt wie Seifert: »Herr Direktor, Herr Mohrchen ist da. Einen Augenblick.«
Dann schickte er ein fettes Kichern voran und sagte mit der nachgeahmten Stimme Mohrchens: »Herr Direktor, kein Glück.« – »Alles fort?« – »Fassen Sie sich, Herr Direktor. Für mich habe ich gewonnen.« – »Schurke, Du hast mich ausgebeutet!« – »Das mir?« sagte die gekränkte Stimme Mohrchens. »Aber so sind Sie, Herr Direktor. Siebzigtausend verschmerzen Sie, aber meine fünfhundert sind Ihr Ende. Ich ziehe mich in das Privatleben zurück, Ihr Diener, Herr Direktor.«
Und Terra antwortete nicht mehr, so sehr der Direktor nach seinem Mohrchen schrie. »Was wünschen der Herr Direktor?« fragte er endlich mit seiner eigenen Stimme. »Ich kenne Sie«, rief der Direktor sogleich. »Sie haben sich bei mir eingeschlichen, um zu spionieren. Auch ich habe Sie beobachten lassen. Wo ist Mohrchen?« Er habe gute Gründe, sich nicht mehr blicken zu lassen, meinte Terra. Er setzte hinzu, es sei nicht schade um Mohrchen. Jetzt werde die Generalagentur für das gesamte Leben auf eine gesunde Grundlage gestellt werden können. Der Direktor aber blieb taub. »Sie wollen mir Mohrchen nicht wiedergeben?« schrie er nur immer. »Ohne Mohrchen geht es nicht. Sie wollen mir Mohrchen –« Die Stimme erstarb. Dann aber: ein Krachen. Terra fuhr zurück, er sah sich um.
Es stand bedenklich. Die Schranke, die den Kassenschrank schützte, hing gebrochen zu Boden, und in dem anwachsenden Lärm überwog der Ruf »Polizei!« Terra, umringt und um Auskünfte bestürmt, wollte alles auf die Untreue eines Angestellten beschränken, das Unternehmen laufe nicht die entfernteste Gefahr. Dabei sah er sich mit klopfendem Herzen nach einem Ausweg um. Wie stand es mit dem Direktor? .. »Das Volk« befreite ihn aus seiner Lage, denn es schrie dermaßen, daß es Alle an sich zog. »Die verfluchte Judenbande!« schrie es. »Das Volk hat wieder mal das Nachsehen!« Was alle ihm bestätigten, Sparer wie Spekulanten, Schauspieler, Zuschauer und herverschlagene Träumer. Der Dichter Hummel sah, schwer erschüttert, eine Weltwende in Frage gestellt durch das Versagen der Generalagentur für das gesamte Leben. Einzig Elias bildete eine Insel der Sorglosigkeit. »Was will der Bocher«, äußerte er und wies mit dem Daumen hinter sich auf das strampelnde »Volk«. »Muß er alles glauben?«
Terra drang heftig in das Zimmer vor. Er selbst hatte an den Direktor geglaubt, und gerade seine Zuversicht, die auf jede Vorsichtsmaßregel verzichtet hatte, zeitigte jetzt die Katastrophe! .. Die Dunkelkammer füllten wildbewegte Eindringlinge, indes dort hinten Vater Lange unter dumpfem Schmerzgeheul über die verlorenen, so sauer verdienten Groschen seiner Tochter Alma, eine ›Axt‹ schwang. Der Rahmen der Polstertür splitterte, endlich drehte sie sich, der Haufe quoll ein. Aber er fand das gesprengte Geheimnis anders als erwartet, das Zimmer mit seiner Bücheratrappe, seiner Versenkung und den leeren Wänden statt aller Stahlkassen und gehäuften Raubes, brachte Viele zum Lachen. Nach einem Blick hinter die falsche Bücherwand freilich lachten sie nicht mehr. Man sammelte sich schweigend, tauschte halblaut höchstens nur noch einige knappe Feststellungen aus und wich geschlossen zurück.
Terra zog die Tür an und sicherte sie mit den schwersten der Möbel. Dann erst trat er hinter die Wand. Der Direktor saß in seinem Schreibsessel, hergewendet über die Seitenlehne, die ihn aufrecht erhielt. Die rechte Hand hing mit der Waffe herab, es war, als wollte sie den Revolver dezenter Weise unter den Teppich schieben. Der Kopf hatte eine Drehung zur Schulter gemacht, sie stützte das Kinn; so blieb der vormals glühende, jetzt glasige Blick des Direktors ein Stück über den Boden erhoben, bis zur Höhe der Hände derer, die ihm nahten. Noch immer schien es sein erster Augenmerk, was sie brächten.
»Armer Schwindler,« sagte Terra ihm, »es kommt nichts mehr. Dies alles war einzig auf Deinen schwindelnden Geist errichtet, auf unser aller schwindelnden Geist. Je fester meinesgleichen sich auf die bestehende Gesellschaftsordnung verließ, umso unerschütterlicher erschienest auch Du. Da verfiel man auf Fehler im Betrieb und fragte nicht weiter nach, ob Luftspiegelungen Betrieb erfordern. Du bist das Opfer des allgemeinen Bedürfnisses nach dem Unwahrscheinlichen, seine Spender verschwinden unbedankt. Schlafe wohl!« schloß er, denn er hörte Schritte.
*
Die Frau von drüben entstieg der Versenkung. »Ich bin nicht neugierig«, erklärte sie, da Terra sie hinter die Wand geleiten wollte. »Es könnte auch wieder eine Enttäuschung sein.«
»Er sieht gut aus.«
»Er hatte endlich alles, was ich bei Männern suchte.«
»Doch nicht«, sagte Terra, in einer Regung vor Eifersucht. »Er hatte keine Zukunft.«
»Sterben ist das einzige Unverzeihliche«, – damit wandte sie sich ab. Bei der Treppe hielt sie an und stützte sich, die Knie zitterten ihr nun doch. »Ich würde ihn geheiratet haben«, – Grausen überlief sie. »Und niemals konnte ich einen Hereinfall weniger gebrauchen, als heute.«
»Mit einer Bewunderung, die von Fall zu Fall nur wächst, sehe ich Sie an einer neuen Lebenswende.«
Sie streckte plötzlich die Hand hin. »Ich habe Ihnen zu danken, Claudius.«
»Hierbei fällt mir besonders auf, daß Sie meinen Namen noch wissen«, sagte er unsicher.
»Man hat mir berichtet, was Sie heute alles getan haben, um hier die Rakete zum Platzen zu bringen.«
»Sie gaben mir darin nichts nach, Durchlaucht. Sie opferten sogar Ihre Perlenkollier.«
Sie sagte vornehm: »Geld spielt keine Rolle, wo es sich tatsächlich um mehr handelt.« Und gehoben, fast mit Hingebung: »Sie, lieber Freund, haben mich vor einem der Skandale bewahrt, die einer Frau nichts nützen. Das vergeß ich Ihnen nie. Sie können in jeder nur denkbaren Lebenslage auf mich zählen. Ich schwöre es Ihnen bei – bei dem Toten«, schloß sie und ging vor ihm her, die Stufen hinab.
»Ihre Wohnung bekundet einen erlesenen Geschmack«, stellte er drunten fest. Sie verzog den Mund. »Er hört Sie nicht mehr. Zum Glück ist alles auf mich überschrieben und schon bezahlt.«
In einem der Zimmer lief ein kleines Kind rastlos und unter Freudengeschrei von einer Ecke zur andern. Die Wärterin entfernte sich, als sie eintraten. »Mama!« rief das Kind entzückt, warf die Puppe fort, die es nachschleifte und hing sich an die Mutter. »Es hat das Talent, sich zu freuen«, meinte Terra. »Auch ich soll es in einem seltenen Maß gehabt haben.«
»Es hängt noch immer mit mir zusammen«, sagte die Mutter. »So oft ich mich aufrege, ist es außer sich.«
»Noch immer? Wie alt ist es?«
»Zweieinviertel Jahre ist es alt, mein Freund«, sagte sie und sah ihn an. Sein Blick, der den ihren aushielt, kam ins Zittern, ein Schrecken durchlief ihn, er wußte nicht, ob peinlich oder süß. Er lachte auf. »Und drei Jahre ist unsere nähere Bekanntschaft her. Sie haben die vorgeschriebene Zeit streng eingehalten, Lili.«
Sie sagte sachlich: »Es ist ein Knabe. Er heißt Klaus, wie es sich gehört. Gib dem Herrn die Hand, mein Klaus!«
Terra beugte sich hinab, um die kleine Hand zu fassen. Seine dunklen Augen forschten mit brennendem Ernst in den braunen des Kindes, auf seinem blonden Gesicht. Er hielt sich grade noch zurück, um nicht den Kopf zu schütteln. Schließlich konnte es sogar wahr sein. Eine Tatsache, nicht unglaubwürdiger als andere. Nicht schwerer zu befolgen diese, als jede Konvention ... Das eingeschüchterte Kind entzog sich dem ausdauernden Herrn. Es weinte eine Minute lang, dann durcheilte es wieder mit Freudengeschrei das Zimmer.
»Ich habe Ihnen meinen aufrichtigen, tiefstgefühlten Dank abzustatten«, äußerte Terra, er küßte der Frau von drüben mit erlesener Höflichkeit die reich beringten Finger.
»Es ist gern geschehen«, sagte sie und goß ihm Likör ein.
»Wenn ich mir nur die einzige bescheidene Frage erlauben dürfte: warum trifft gerade mich dies unverdiente Glück?«
»Es war nicht so unverdient«, erwiderte sie achselzuckend. »Sie wollten das Kind durchaus.«
»Und vor mir –« begann er rachsüchtig.
»Vor Ihnen, wenn Sie dies denn erwähnt wünschen, hatte wohl noch keiner es durchaus gewollt.« Worauf er, stärker atmend, vor sich hinsah. Versöhnlich fragte sie:
»Was fangen wir jetzt miteinander an?« Er schlug munter vor: »Das Einfachste wäre es, gute Freunde zu bleiben.«
»Wenn ich also Ihre gute Freundin bin: wie steht es mit Ihren Mitteln? Ich darf Sie nicht im Stich lassen. Sie waren Reklamechef in einer Generalagentur, die morgen schwerlich noch funktioniert.« Er wollte kurzerhand jede Besorgnis ablehnen. Aber sie: »Mir müssen Sie nicht erst beibringen, wie das Leben dreckig ist. Damals waren Sie es, der sein Geld für mich hergab.« Das sei etwas anderes, meinte er. »Sie sind auch der Vater meines Kindes.« Das lasse er sich grundsätzlich nicht bezahlen. »Aber Sie haben mich vor dem dummen Skandal bewahrt.« Hierauf lachte er, und sie mit ihm. Dies schien eine völlige Entspannung zu bewirken, weich brach sie in Tränen aus. Da sie aufstand, folgte er ihr. Sie gingen nochmals durch das Zimmer, das Kind stand und beobachtete mit spitzen Augen jeden ihrer Schritte. Er stützte sie im Gehen; die Hüfte der Frau von drüben glitt wieder über seine, ihre Wange neigte sich schmelzend seiner Schulter, ihr Atem traf ihn. Er sagte mit scharfer Stimme: »Ein so großes Unglück, scheint mir, ist eben nicht geschehen.«
»Ach! Lieber Freund, Sie begreifen noch nicht, was geschehen ist.« Schluchzend: »Herr von Tolleben geht mir durch die Lappen.«
»Der Bismarck? Lassen Sie ihn laufen! Er weiß vor Schulden nicht ein noch aus.«
»Aber seine Stellung! Die Reklame! Claudius, helfen Sie mir!«
»Der Mensch ist ein Unglück«, überlegte Terra. »Er hat keine Sinne. Was fesselte ihn an Sie, verehrte Freundin? Die allerhöchste Oper. Das Kunstwerk muß somit in Ihrer Gewalt sein. Mit dem Tode des Direktors ist es an Sie übergegangen. Vielmehr, der Verblichene hat es in die Ewigkeit mitnehmen wollen, er steckte es in Brand. Sie zogen es, mit Gefahr für Ihre schönen Hände, aus den Flammen.«
»So viel Phantasie!« sagte die Frau von drüben und umarmte ihn.
»Wenn er daraufhin nicht die lächerlichste Rolle bei Ihnen spielt, will ich es selbst tun.«
»Aber Sie müssen ihm einen Wink geben.«
»Die Gelegenheit würde sich finden«, sagte er – und schloß fest die Lippen. Denn er erinnerte sich der Gräfin und bemerkte auch, daß er ihrer, um derenwillen er durch diesen tatenreichen Tag gegangen war, kein einziges Mal heute gedacht hatte. Sie war ihm entrückt durch diesen Tag, als seien es hundert. Nahe an ihm stand die Frau von drüben und sah ihn erwartungsvoll an. In diesem Augenblick lief auch das Kind herbei und schmiegte sich zum erstenmal an seine Knie. Dies war ein besonderes Gefühl. Er setzte sich, um das Kind zu streicheln und weil er sich plötzlich erschöpft fand. Die Mutter sagte:
»Ihr Studium haben Sie wohl unterbrochen, aber natürlich nicht aufgegeben, ein Mann wie Sie! Wer Sie unterstützt, bis Sie fertig sind, hat sein Geld gut angelegt, und nun gar ich ... Wer weiß«, schloß sie träumend, einer ihrer Arme hing von rückwärts über seine Schulter.
Er verstand: vielleicht heiraten Sie mich, ich werde bald reif dafür sein, und machen Ihre Karriere mit Hilfe meiner Ersparnisse und meiner Verbindungen. Ihm ward ein Pakt angeboten, der den bürgerlichen Anstand verletzte und eine Demütigung war. Nicht die entfernteste Möglichkeit bestand, ihn einzugehen, – aber darum war er noch immer gewollt von seinem Dasein, denn es hatte hierher geführt. Demütige Dich! Habe den Mut zu mir! sagte sein Dasein. Der Arm der Frau von drüben hing noch immer von seiner Schulter. Er griff nach der Hand, er näherte ihr ruckweise sein Gesicht; plötzlich drückte er, mit wilder Hingabe, zuerst die feuchte Stirn darauf, dann seine bitteren Lippen.
Kurschmied und der Dichter Hummel standen noch immer im Haustor. »Erschütternde Szenen haben sich abgespielt«, sagte der Dichter. »Die soziale Frage ist das dankbarste aller Probleme.«
»Wenigstens haben Sie sich schadlos gehalten«, stellte Terra fest. Dies galt freilich nur im Hinblick auf das Geistige. Sowohl Hummel wie Kurschmied sahen für die Sitzung der »Weltwende«, wohin sie sich begaben, eine wahre Katastrophenstimmung voraus. Terra ward aufgefordert mitzukommen. Ihm war nicht wohl dabei, er war sich bewußt, zum Ausbruch der Katastrophe das Seine getan zu haben. Aber Kurschmied hatte Terra dem Dichter als wertvollen Bestandteil des Publikums genannt, für das Drama, das Hummel den Ausschußmitgliedern der »Weltwende« heute Abend vorzulesen dachte. Im Menschengewühl gelang es Kurschmied, mit Terra einige Schritte hinter Hummel zurückzubleiben. »Sie haben heute furchtbar gehaust«, sagte er mit einer Art Andacht. »Der Direktor wird nicht der einzige Tote bleiben.« – »Ich bin selbst wie vor den Kopf geschlagen«, gestand Terra. Kurschmied aber: »Ich flehe Sie an, vor mir keine Maske! Ihr unstillbares sittliches Bedürfnis schafft Katastrophen, wohin Ihr Fuß tritt. Aber sollte es auch mich selbst hinstrecken, ich bleibe der Ihre!« – mit glühendem Händedruck.
Die Vereinigung »Weltwende« tagte im »Askanischen Hof.« Ein kahles Separatzimmer enthielt an einem langen Kneiptisch die vollzählige Gilde der Modernen, Männer bis zu vierzig Jahren. Die Älteren waren Rechtsanwälte, sie gaben den geistigen Verschwörungen abseits lebender Literaten den bürgerlichen Rückhalt. Leider hatten auch sie in die Generalagentur für das gesamte Leben ein Vertrauen gesetzt, das verhängnisvoll enttäuscht worden war. Jetzt freilich gestanden sie, dem Zauber nie getraut zu haben; sie hätten nur der Vorliebe ihrer naiveren Genossen für das sozial Angehauchte, so sagten sie, nachgegeben. »Grünfeld soll nicht mithauchen«, erwiderte jemand dem, der Terra gegenüber saß und merklich am Magen litt. Der Ton war hier so scharf, wie die Geister. Es ging anspruchsvoll zu, erfordert wurden Witz, Entschlossenheit, die zeitgemäße Kunstdoktrin und eine soziale Gesinnung. Hinter der Spottsucht des Ausdrucks herrschte ein Glaube, bei dem einen echt, beim andern falsch, aber er herrschte, das Gespräch war durchtränkt mit ihm. Nichts geringeres stand mit Sicherheit bevor, als die Lösung der sozialen Frage. Im Zusammenhang damit war ein Jahrtausend neuen Geistes soeben angebrochen. So konnte es der Vereinigung »Weltwende« nicht fehlen. Was sie aber veranstaltete, waren Aufführungen in entlegenen Vorstadttheatern, neue Mittel mußten dafür herbei, Mitwelt und Zukunft geboten es.
Zu seinem Gegenüber sagte Terra unschuldig: »Ich habe ein großartiges Gefühl. Hier werden revolutionäre Maßnahmen ergriffen.« – »Wie lang sind Sie schon in Berlin?« fragte Herr Grünfeld. – »Einen Tag«, gestand Terra. – »Ich schon zwanzig Jahre, aber Weltwende ist bloß Mittwochs.« Nach dieser Zurechtweisung blieb es Terra nur noch übrig, beim Salamander nachzuklappen, und er war für die Nachbarschaft erledigt. Der Salamander ward kommandiert von einem Mitglied, das in einer goldbraunen Samtjacke an der oberen Schmalseite des Tisches saß. Terra unternahm es für sich, die herkömmlichen Formen der Tafelrunde mit ihren gewagten Zielen in Einklang zu bringen. Es gelang ihm nicht, er fand sich damit ab, als geduldeter Adept in unterer Stellung den Ereignissen beizuwohnen. Hummel las sein Stück vor.
Neben der goldbraunen Samtjacke saß er in seinem wollenen Gehrock nach Professor Jäger und las mit großem Aufwand von Dialekt und von Entrüstung. Den Dialekt sprachen in dem Stück die kleinen Leute, die Entrüstung des Dichters erregten die Reichen. Sie beuteten die Armen nicht nur von Ferne aus, sie saßen ihnen persönlich wie Tiger im Genick, töteten die Söhne durch Hunger und Arbeit, die Töchter durch ihre Lüste. Kein Zweifel, daß dies stark, düster und gerade kraft des Äußersten an Düsterkeit verheißungsvoll für den kommenden Tag war. Stellen gab es, an denen Terra rückhaltlos zu Hummel stand. So konnte man aussehen, so ungepflegt daherreden und dennoch stolzester Menschenwille sein! In solchen Augenblicken erschienen alle ringsum ihm neu beleuchtet, als hochherzige Wesen, die das Gute wollten: ein seltenes Geschlecht, schließ Dich ihm an! Der lesende Dichter, der wüste Bart entstellte nur leider die fein und sicher arbeitenden Züge seines Gesichtes, verflachte sogar den scharfen Blick: aber welch' eine Spannung der mageren Schultern unter seinem albernen Rock!
Zum Unglück erschienen nun wieder die kleinen Leute, und in dem Mitleid, das sie begleitete, ob es Natur oder Vorsatz war, verriet sich diese Art, die Welt von unten anzusehen, die Terra beleidigte und abstieß. Hier faßte er den Entschluß, seinen eigenen geteilten Kinnbart zu entfernen, damit keine Ähnlichkeit aufkomme. Er hörte weiter zu, um der weiblichen Hauptrolle willen. Anfangs war sie eine Lehrerin, was ihm nicht günstig schien, und verband das reiche Haus, wo sie geliebt wurde, mit dem armen, dem sie entstammte. Allmählich aber ward aus der Lehrerin eine Person mit Haaren auf den Zähnen, die eine fürstliche Villa bewohnte und das Haus der Reichen, samt ihnen selbst, so gut wie vollständig verschlang. »Nicht übel für Lea«, sagte er sich. »Nach ihrem Frankfurter Erfolg ist sie reif für Berlin. Aber hat diese ganze Gesellschaft Bedeutung genug, daß meine Schwester sich ihretwegen bemüht? Vielleicht war ihre sogenannte Bewegung nur ein Schwindel der Generalagentur für das gesamte Leben.«
Hummel war fertig, ihm zu Ehren wurde ein Salamander gerieben und dann kam die Kritik. Scharfgeistig, wie alle hier waren, hatte jeder etwas auszusetzen. Grünfeld brachte juristische Einwände vor, die das Ganze untergruben, die Samtjacke erklärte glucksend, daß sie bei der im Stück bestehenden Promiskuität zwischen den Beziehungen der Geschlechter nicht mehr hindurchfinde. Eine unvorhergesehene Pause ward von Terra unterbrochen. »Ich möchte als blutiger Laie und außerdem erst seit heute in Berlin, mit aller gebotenen Bescheidenheit mir eine kurze Frage erlauben.« Die befremdende Einleitung bewirkte völlige Stille. Er sagte von unten, es konnte anzüglich oder schüchtern sein: »Werden solche Stücke geschrieben, weil es eine soziale Frage gibt, oder kommt die soziale Frage von solchen Stücken?« Wie er es gehofft hatte, fanden sich mehrere, die das zweite bejahten. Der Dichter, gereizt durch die sachverständigen Ausstellungen, setzte sich mit seinem Bierglas zu dem wohltuenden Laien, der ihn so ernst nahm. Terra äußerte, daß die Figur der Lehrerin ihn besonders interessiere. »Sie finden,« schob der Dichter ihm unter, »daß die Rache der Ausgebeuteten sich in ihr verkörpert.« Terra erwiderte, die Rache der Ausgebeuteten scheine ihm Nebensache, aber solchen Damen sei er schon begegnet und wenigstens darin nicht ganz Laie. »Wir müssen die Sache zu Ende besprechen. Gehen Sie mit?« schlug Hummel vor. Terra begriff, daß jener bis in alle Ewigkeit über sein Stück zu reden gedenke; nur die Rolle für seine Schwester bewog ihn, aufzustehen.
Zu dreien, mit dem unvermeidlichen Kurschmied, gingen sie, ohne sich über ein Ziel zu einigen, immer redend durch die Straßen. Ihre gestikulierenden Gestalten spiegelten sich im nassen Asphalt. Man sah ihnen nach. Kurschmied, angeregt bis zur Schwärmerei, schwur, das Stück werde ein Welterfolg sein, aber nur mit einer einzigen Hauptdarstellerin! »Unmöglich!« rief Terra. »Meine Schwester kommt nicht in Frage, und wenn Sie Gold reden. Meine Schwester ist zu herb, zu sehr Natur und Volk, sie berauscht nicht.« Kurschmied, der aufsteigen wollte, bekam einen Stoß. Der Dichter frohlockte. »Das will ich gerade, und finde es nicht! Um Gotteswillen keinen Rausch, keine ruchlose Schönheit! Was für Haare hat ihre Schwester?« – »Sie ergraut schon«, sagte Terra.
Vor einem Bouillonkeller hielt Terra an. »Ich habe nur noch wenig Geld«, gestand er zynisch. »Wie steht es bei den Herren?« Aber Hummel, der von Rechts wegen hier zu Hause sein mußte, machte einen Bogen, er esse nichts. Den nächsten Versuch machte Terra vor dem glänzenden Eingang des Wintergartens, und Hummel war bereit. Die Vorstellung mußte noch eine Weile dauern; wie sie aber an der Kasse standen, kamen schon Fortgehende heraus. Terra riß sich herum, bot die Brust dar, und die Lippen krampfig geöffnet, zuckte er die Hand zum Hut. Er kam nicht so weit, ihn abzunehmen, die Gräfin war vorüber und hatte den Blick nicht hergewendet. Dennoch wußte er, daß sie ihn von weither betrachtet habe, noch bevor er sie erkannte. Da war sie blitzschnell zu ihrem Begleiter abgeglitten, und wer begleitete sie? Der Bismarck Tolleben. Ihr Bruder, schlank und schläfrig, folgte ihr neben einem blau und schwefelgelben Leutnant. Terra spähte mit einer Bewegung des Halses wie ein Tier, nach seinen Freunden, ob sie etwas bemerkt hatten, aber sie verhandelten über die Plätze. Sein Blut nahm einen Anlauf: hinterdrein, und sie gestellt, das Pack, das ihn verachten wollte, samt ihr! Auf offener Straße sie an ihre nächtlichen Beziehungen erinnert, den Tolleben aber vor das Maul geschlagen mit dem bloßen Namen der Frau von drüben! Terra hatte Schaum auf den Lippen, er hielt sich an dem Schalter fest. Seine Freunde ließen ihm den Vortritt, damit er bezahle, da sah er, wer sie waren, seine rechtmäßigen Gefährten und er selbst, mit seinem Hohenzollernmantel. Er schluckte hinunter und sagte, bleich, aber überlegen munter: »Wir sollten uns hier die letzten faulen Plätze anhängen lassen? Was kostet Berlin?« Womit er, ihnen voran, aufbrach.
Dies sei auf andere Art in Ordnung zu bringen, erkannte Terra, indes er das laute Gespräch fortsetzte. Jener Hochmut sollte ihn kennen lernen. »Ich mache mich anheischig, ihm eines Tages so zu begegnen, daß kein Mensch mich noch einmal übersehen kann, – und wär' es in zehn Jahren!« Aber es mußte sogleich sein, ohne Verzug und sobald nur der Tag kam. Er fühlte, die Nacht werde schlaflos sein. Er hatte, da sein Zweck bei ihm erreicht war, diesen Stückeverfasser seinem Schicksal überlassen wollen. Jetzt mochte geschwatzt werden bis an den hellen Morgen.
Er führte die beiden in eine gut bürgerliche Wirtschaft, wo er Zigaretten verschlang, indes sie aßen. Hummel aß gierig, aber mit dem Anspruch auf gute Erziehung; drüben glaubte er Bekannte zu sehen. Erst als sie es nicht waren, ließ er sich gehen. »Sie halten mich frei und haben es wohl selbst nicht reichlich«, sagte er zu Terra stöhnend, die übereilte Mahlzeit beengte ihn. »Nun sehen Sie dort draußen die gewissenlosen Genießer!« stöhnte er; denn den Theatern entströmte ein gut gekleidetes Publikum. Terra erwiderte, ob die Leute ein Gewissen hätten, sei nur ihre eigene Sache. – »Wie? Sie fühlen nicht sozial?« – »Eine Gegenfrage wollen Sie auf keinen Fall wie unverschämte Zudringlichkeit, sondern einzig und allein als den Ausdruck meines lebhaften Wunsches nach einer sachlichen Aussprache auffassen. Wie lange schreiben Sie schon ohne nennenswerten Erfolg?« Sichtlich vor seinen überfüllten Magen gestoßen, klappte Hummel zusammen. »Ich bin nicht älter als Sie«, – der Dichter hatte blaues Feuer in den Augen. »Nur habe ich mehr gehungert.«
»Dann werde ich lieber Jahrmarktskünstler. Oder ich mache, bis ich selbst Erfolg habe, Reklame für andere.«
»Ich«, sagte Hummel, »kämpfe Hand in Hand mit allen anderen Armen, der ganzen Proletarierklasse. Mich trägt die Bewegung, Ihr werdet es erleben, daß ich oben bin!« rief er prophetenhaft; und ergeben aber stolz: »Noch nenn' ich kein Bett mein eigen. Die Bude Kurschmieds ist meine Herberge für Obdachlose.«
Kurschmied bemerkte trocken, daß er seine Bude aufgebe. »Dann«, sagte Hummel, »verlege ich mein Erdendasein noch weiter nach unten. Demütigungen, Mißerfolg und Hohn sind meine wahre Nahrung, ich wachse durch sie.«
Terra fragte, zum erstenmal vertraulich: »Haben auch Sie sich überzeugt, daß Sie mehr Haß erregen, als üblich?«
»Und mehr Liebe!« – mit blauem Feuer. »Ich werde in den Höhlen der Armut wie ein Erlöser betreut.«
»Ich habe mit mir gerungen, aber ich kann Sie nicht länger dafür halten, Sie sind nicht stark genug«, entschied Kurschmied und rückte zu Terra hin.
»Sie werden schon noch um Rollen zu mir kommen, Kurschmied.«
Terra, dies hörend, summte laut durch die Nase, dann rief er lebhaft nach dem Kellner, zahlte und ließ aufbrechen. Plötzlich lud Hummel in das Café Bauer ein, er gebrauchte sogar das Wort »sich revanchieren«.
»Noch ist nichts verloren«, sagte Terra darauf. »Sie werden Ihren bürgerlichen Weg machen.«
Die Friedrichstraße zeigte das Bild ihrer Nacht, worin noch immer Geschäfte offen blieben, Lager billiger Kravatten, Zigarrenläden, Juxbazare. Pflasterarbeiter rissen den Fahrdamm auf, die Kette der Wagen umfuhr, ohne abzubrechen, das Hindernis. Ein Volk von Nachtwanderern, die einen zu satt, die anderen zu hungrig um schlafen zu gehen, hielt die Fußsteige in Bewegung wie am Tage, und vom Gaslicht der öffentlichen Lokale fielen blutige Flecken zwischen dies Volk. Besondere Stätten, dem Tage unbekannt und begraben im Grau der Häuserreihe, blühten jetzt rot beleuchtet auf, und ein Schutzmann stand davor. Verließen wenige Herren in Pelzen irgend eine Tür des Genusses, waren auch schon Schwärme derer zur Stelle, die vom Pflaster lebten. Wagen fuhren vor, blasse Halbwüchsige öffneten sie, und Hausierer faßten daneben Fuß, um hinter ihren geöffneten Jacken den Herren die verbotenen Bildchen anzubieten. Diebe stießen jemand an und wurden beim Verschwinden von den Umstehenden begünstigt, alte Kuppler versprachen im Vorbeischleichen den Pelzen etwas Außergewöhnliches in ihre breiten Rücken, aber aus dem Schatten eines Haustores trat ohne Umschweife die ältere Dame, die an der Hand ein geschminktes kleines Mädchen mit offenen blonden Haaren führte. Hochlila war der Puder, den die Dirnen für ihre Gesichter liebten.
»Wir haben keine Nachtruhe«, sagte Hummel, zum zweitenmal umkehrend, weil er sich nicht trennen konnte. »Wir haben noch keine Sonntagsruhe, wie in England, und selbst des Nachts darf der Zahlungsfähige die Menge der Enterbten zu seinem Auswurf machen, wer denkt an Fürsorge, sei's nur für Frauen und Kinder. Sehen Sie hier den unumwundenen Kapitalismus im Rohzustand! Das kommt nie wieder, haben wir ihn erst in Arbeit genommen, sind wir erst hindurch.«
»Wenn Sie hindurch sind«, wandte Terra ein, »werden Sie nicht mehr im Ostendtheater gespielt, sondern wo es fein ist, und der Kapitalismus hat dann Sie in Arbeit.«
»Sie glauben nicht, daß ein Umschwung kommt?«
»Nicht vom Stückeschreiben«, sagte Terra; und da Hummel seine Zuversicht in die Literatur umfassend begründete, forderte er ihn auf, statt des langweiligen Cafés, eine rötlich sich darbietende »Musichall« zu betreten, zehn Schritte von Unter den Linden. Durch den engen Gang und über eine schmutzige Treppe gelangten sie in eine Weinkneipe mit Bühne. Droben saßen im Halbkreis schön frisierte weibliche Gestalten, halbnackt wogend in meergrünen, ponceauroten oder pailletierten Kleidern, die straff die breiten Knie umspannten und die hohen goldenen Stiefeletten den Blicken freigaben. Die Sechste, deren Stuhl zur Zeit leer stand, sang atemlos in das tolle Treiben des bleichen Klavierspielers hinein, zwei andere bedienten den Saal, ihretwegen schien sogar Streit zu herrschen zwischen den Tischen, obwohl der Saal nicht voll war. Weine für drei Mark und höher waren nicht Vielen erlaubt, Hummel überließ jede Verantwortung seinen Begleitern. An ihrem leeren Seitentisch behielten sie die Bühne halb im Rücken.
Hummel unterbrach sich nur, um zu trinken, aber Terra ergriff die Gelegenheit. »Womit wollen Sie sich an die Welt, wie sie ist« – über den Saal und die Bühne hin beschrieb er eine Geste – »heranmachen? Mit Ihrem Mitleid. Ich meinerseits bin felsenfest überzeugt, daß die Welt Ihnen Ihr Mitleid noch nicht einmal mit fünfzig Pfennigen gutschreibt.« Hummel lächelte still. »Ich will nichts dafür.« – »Man soll für alles etwas wollen«, behauptete Terra, »Sie beleidigen die göttliche Weltordnung«, – da trank Hummel nur noch. Das Mädchen droben, besten Gestalt breiter als lang war, ließ sich vernehmen: »Erna und ihr Theodor gehn energisch vor. Sie schmachten, sie schmachten, daß die Nähte krachten.« Nach jeder Strophe rollte sie nachlässig zweimal die Hüften und drohte, ohne ihre ablehnende Miene zu verziehen, wie ein Schelm mit dem Zeigefinger. Terra rief:
»Reden Sie doch zwischen Ihren Kulissen wie eine ganze Legion Engel, im Parkett sitzt kein Börsenpirat, der nicht einflußreicher wäre als Sie. Bilden Sie immerzu Vereine zur Herbeiführung einer Weltwende, ein einzelner junger Mann, Wilhelm der Zweite, der ungehemmt nur seine Persönlichkeit ausschreit, dringt unvergleichlich weiter und tiefer, als alle Ihre Werbungen für eine sittliche Gemeinschaft. Zwanzig Jahre nach dem einträglichsten Kriege möchtet ihr dies Volk vergessen machen, woher seine Wohlfahrt stammt; da ist die Erzwand, vor der ihr verhungern könnt.«
Hummel, am Boden der Flasche angelangt, schlug mit den Armen Rad. »Daß Sie es nicht sehen! Sie wie ich sind ein Geschöpf jenes Krieges, des letzten. Ein blutgetauftes Geschlecht wie unseres mußte kommen, um, wissend von jung auf, der Welt den Frieden zu bringen. Die Lösung der sozialen Frage ist der ewige Friede!«
»Ich bin kein Grünschnabel mehr«, erwiderte Terra. »Auch sagt mir meine gröbere Natur, daß Geist sich am durchschlagendsten im Handeln zeigt. Das Völkchen gefällt mir«, sprach er in den Lärm, denn der Streit, den die Tische um die bedienenden Damen führten, war in eine Prügelei übergegangen. Ein wahrer Igel aus wehrhaften Männern wälzte sich, hackend und beißend, in der Pfütze, die ein umgeworfener Sektkübel verbreitete. Kampfrichter stiegen auf Stühle und gaben wilde Zurufe von sich, die Damen des Hauses kreischten hingerissen, der Kapellmeister paukte den Hohenfriedberger Marsch. Terra, aufmerksam in dies kleine, aber bewegte Leben versenkt, dachte: »Blutgetauftes Geschlecht.« Ein gutes Wort. Alle mörderischen Beziehungen, deren er sich blitzhaft bewußt geworden war auf jener schwindelnden Nachtfahrt, vom Turm die Spiralen hinab bis vor die Blutlache, worin zwei Ringer verröchelten, alle wurden festgehalten und klargestellt. »Ich vertrete mit besonderem Vorrecht mein blutgetauftes Geschlecht.« Ein Tag in der Generalagentur für das gesamte Leben, und eine Leiche! Er mischte sich in die Angelegenheit der beiden Athleten und der Schlangenbändigerin, schon machten sie alle reinen Tisch und brachten sich um. Katastrophen keimten in ihm und Seinesgleichen. Sofort zeigte sich ihm das Gesicht Seinesgleichen, das feindlichste, nächste, das verachtungstarrende, der Sünde des Ehrgeizes verfallene Gesicht Mangolfs! »Der geht mit mir! Er sähe mich gar zu gern unten, ich tauche aber auf, und fahren wir einst in den Orkus ab, dann sicher zusammen!« Terra knirschte frohlockend, er blickte, entrückt, in die fernsten Flammen seines Lebens. Da zuckte er auf, nahe an seinem Ohr war ein inbrünstiges Flüstern, Kurschmied. Er flüsterte: »Helfen Sie mir, ich winde mich in den unerträglichsten Zweifeln! Sie, mit ihrem unstillbaren sittlichen Bedürfnis, sollten den Krieg wollen?« Terra, den Blick auf dem kämpfenden Igel: »Was ich muß, will ich.«
»Sie wollen nicht«, sagte der Wirt des Lokales, »aber sie müssen;« – und zusammen mit seinen männlichen Angestellten riß er den Igel in Stücke. Zur Besänftigung der Gemüter schlug der Kapellmeister eine mildere Weise an, und eine resedagrüne Dame sang: »Aus dem Himmel segnet uns die Mutterliebe, daß in unseren Herzen heil'ge Unschuld bliebe. Sag' mir nur das eine, einzig holder Mann, ob man auch wie Du im Himmel küssen kann.« Sie sang mit einer Stimme rauh vom Trinken, aber umso getragener. Als sie, um zu segnen wie die Mutterliebe, die Arme hob, erschienen darunter große feuchte Flecken, und nach dem küssenden Himmel schielte sie hinauf, als sei es doch nicht geheuer mit ihm. »Prost«, sagte Hummel, versöhnlich gestimmt. »Aber was wollen Sie nur? Garnichts?«
Terra trennte sich gerade von dem Anblick der Sängerin, da fragte das bedienende Mädchen: »Gefällt Ihnen die?« Die Kellnerin war ein Baby, mit einer Schärpe, einem Häubchen, woran blonde Locken befestigt waren, und einem Korallenkettlein auf dem mächtigen Busen. Sie sagte sauer: »Die bildet sich ein, sie ist hier die einzige wirkliche Künstlerin, daß ich nicht lache!«
»Lachen Sie nach Herzenslust, mein Fräulein! Wollen Sie mir nur gestatten, daß ich meinem Freunde eine Frage beantworte, die schlechterdings keinen Aufschub leidet. Sie bringen inzwischen gütigst noch zwei Flaschen.«
Eingeschüchtert verzog sich das Baby. Terra kam dem Zutrinkenden gemessen nach. »Tatsächlich will ich nichts – fast nichts, oder doch nicht viel; nur einfache praktische Dinge, zum Beispiel, daß mir niemand auf die Hühneraugen tritt. Daß man nicht fortsieht, wenn ich dastehe – und nicht lacht, bei dem was ich der Welt zu sagen habe.« Denn Hummel und auch Kurschmied lächelten. Das Baby brachte die Flaschen und füllte ungebeten auch für sich selbst ein Glas. Terra trank mit ihr, mit den Herren, und noch ein drittes Glas für sich allein, immer stumm wie ein Erbitterter. »Nun erzählen Sie nur weiter. Kleiner«, sagte das Baby.
»Ich gehe durch Demütigungen, wie durch einen Platzregen, und man ist erstaunt, daß ich kein warmer und trockener Gesellschafter bin.«
»Mir gefallen Sie«, rief das Baby. »Sie origineller Kunde!«
»Nur Demut überwindet die Welt«, stammelte Hummel, müde und unglücklich, er hatte seine Bettschwere. Terra straffte sich nur noch mehr, seine Stimme schwang. »Eure schlafmützige Menschenbeglückung imponiert keiner Seele, solange ihr nicht ernstliche Anstalten trefft, sie bei Euch selbst vorzunehmen. Es gibt, genau besehen, nur eine einzige wirksame Idee; keiner, der an Geld und Gut zu viel besitzt, fürchtet sich vor einer anderen. Was ich von geistigem Dynamit in mir habe, hat jede Hure«, schmetterte Terra durch die Nase.
»Nanu?« machte das Baby. Die Musik war aus für heute, die Tische hörten auf Terra, die zweite Kellnerin, in der Tracht einer Spreewälder Amme, gesellte sich zu dem Baby, sie stützte sich auf seine Schulter. »Jede Hure«, schmetterte Terra, »hat ihre Geltung bei Gott, ihre Unverletzlichkeit, geistige Hoheit, ihr Recht auf Menschenwürde!«
»Bravo!« riefen das Baby und die Amme, sie machten Fäuste gegen die Tische, die wieherten. »Der Kampf um meine Menschenwürde«, schmetterte Terra, »ist ein für allemal mein ganzer Daseinsgrund auf Erden.« – »Und das Saufen«, rief jemand. – »Verschaff' ich mir Achtung,« Terra hob das Glas, er grüßte ringsum, »prost Rest, dann hab' ich sie auch Euch verschafft!« Er trank im Stehen, und alle folgten. Das Baby fiel ihm schluchzend um den Hals, die Amme sagte: »Endlich ein feiner Mann in dem Lokal!«
Von dem einmütigen Hochgeschrei erwachte Hummel, er nahm den Kopf von den Armen und wünschte einen Morgentrunk, aber Terra hatte bezahlt und brach rüstig auf. »Nur keine Wehmut, mein Fräulein!« sagte er noch zu dem heulenden Baby. »Niemand auf der Welt dankt es Ihnen, wenn Sie zur Heilsarmee gehen. Machen Sie gute Geschäfte!«
Draußen in der naßkalten Vorfrühe krümmte Hummel die Schultern und begann, schwach wie ein Kind: »Es ist doch schrecklich, was tue ich jetzt.« – »Sie gehen nach Haus, mit Herrn Kurschmied.« – »Ist das eine Freude?« fragte der Ärmste; und Terra: »Hier gehen noch immer vereinzelte Damen umher. Ich bin gern bereit –« Da brach der Dichter in Tränen aus. »Sie sind nicht mein Freund«, sagte er, sich fassend. »Aber der Erste sind Sie, der sich erbietet, mir eine Freude zu bezahlen, die Anderen denken, es sei genug mit der Notdurft. Viele verehren mich, aber keinem fällt es ein, daß ich, mit oder ohne warmes Zimmer, ein schwer beladener Mensch bin. Einmal doch solltet ihr mir die Last herunternehmen, ganz kurz, nur wenige Stunden der Nacht. Darauf warte ich, warte und warte.« Er schüttelte die Arme zum regnerischen Himmel hinan. Niemand unterbrach ihn. »Ein Fest mit Blumen, Silberzeug und Musik, das ganze Haus voll herrlicher Frauen, und alles nur um meinetwillen!« Lachende Schwärmerei, seine Stimme ward Tenor. »Ein Wink von mir, sie sind berauscht, oder stehen in ihrer Schönheit da, wie Marmor. Sie lesen in meiner Seele, sie kennen mich endlich, ich bin nicht mehr allein, und mir ist leicht. O leichte Nacht!« – und Hummel, Flügel schlagend in seinem durchsichtigen Kragenmantel, tat schwebende Schritte, schwebte auf die rauchige Spur eines Sonnenaufganges zu, Aura genug für seine hingehaltene Stirn.
Vorbeigehende blieben stehen, ein Schutzmann, der drüben daherkam, machte beobachtend kehrt. »Lassen Sie ihn nicht allein«, sagte Terra, der zurückblieb, zu Kurschmied. »Nur ein Wort!« bat Kurschmied. Die Halbkreise um seine Augen schimmerten bläulich. »Ich sterbe vor Scham, ich habe an Ihnen gezweifelt!« – »Schon gut.« – »Legen Sie mir eine Buße auf, die in mehr als Worten besteht. Eine Tat für Sie! Jede Tat!« – »Wir werden sehen«, entschied Terra und ging seiner Wege.
Ich habe eine Verabredung, bedachte er, und betrat das Café National. Nur an einem Tisch war noch Leben, aber, wie vorhergesehen, unterhielt Mohrchen es. Er saß umschlungen mit zwei weiblichen Stammgästen; von der Leibesfülle der drei Personen umfaßt, ward das Marmortischchen klein wie eine Untertasse. Die drei Sektgläser klirrten aneinander, als Terra, seitwärts, sich auf eine Polsterbank setzte. Beim Trinken bemerkte Mohrchen ihn im Spiegel; das ganze Gesicht ein Zwinkern, trank er ihm zu. Terra sagte laut schnarrend: »Leichengeruch ist nicht Jedermanns Sache.«
»Nehmen Sie bei uns Platz, hier ist keiner«, gluckste Mohrchen. Die eine der Damen äußerte erfahren: »Der Herr ist gewiß von der Anatomie? Macht uns alles nichts.« Aber Terra saß stumm und unverwandt, seine Augen brannten dort im Halbdunkel. Die Dame gestand: »Mir wird ganz anders.« Mohrchen fragte über die Schulter: »Sie ruhen wohl aus von Ihrem Tagewerk? Es hat sich gelohnt.« Terra, furchtbar: »Mörder! Sie haben die Generalagentur für das gesamte Leben am Spieltisch umgebracht.« Da lachte Mohrchen.
»Mit mir konnte der Selige noch hundert Jahre arbeiten, hätten Sie uns nicht gestört. Alles nur, weil ich mich nicht rechtzeitig bis sieben Uhr zurückbemüht hatte wegen einer Perlenkette –«
Er suchte in seinen Taschen.
» – die falsch war,« – und über die Schulter warf er sie Terra zu.