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Es schlug vier.
»Wir müssen fort«, sagte Alba. »Zwei Stunden noch, und wir kommen nicht mehr ungesehen über den Platz.«
»Zwei Stunden noch«, sagte Nello. »Bleibe doch, bleibe! Du hast mich so lange warten lassen auf diese Stunde.«
Und beim nächsten Glockenschlag, der sie aufschreckte:
»Fünf Uhr! O Nello, ich bin verloren.«
»Laß mich in den Abgrund springen, und du bist gerettet!«
Er lehnte sich schon hinaus; sie hängte sich an ihn.
»O Nello, du liebst mich nicht!«
Sie schloß die Augen. Als sie sie öffnete:
»Ich bin bereit. Wir werden über den Platz gehen und uns zeigen.«
»Alba! Verzeih mir. Warum nicht hierbleiben bis zur Nacht? Wir wären so glücklich! In der Nacht trage ich selbst dich fort, ich verspreche es dir.«
»Es geht nicht, man würde mich vermissen. Jetzt müssen wir durch das Kloster und den Berg hinab nach Villascura. Komm, deine Hand, mein Geliebter!«
Am Tor des Klosters:
»Um halb sechs wird eine der Schwestern öffnen: wird es Amica sein? Amica ist die Tochter unseres Gärtners, sie war zu Hause meine Dienerin und sollte es nun hier sein.«
Alba sah das Tor des Klosters an und schlug die Augen nieder.
»Als um Mitternacht alle in der Kirche beteten, hat Amica sich fortgeschlichen, um dir zu sagen, daß ich dich erwartete. Wird heute die Pförtnerin Amica sein?«
Sie war es. Wie sie ihr folgten, mit heimlichem Händedruck:
»Sind wir nicht zu glücklich? Wie groß muß einst das Mißgeschick sein, das unser Glück endet.«
»Rasch durch den Garten!« flüsterte Alba. »Wenn man hier einen Mann sähe – und mit mir! … Gottlob, der Baumgang schützt uns … Jetzt hinab. Oh, fürchte nicht für mich! Es sieht steil aus wie eine Mauer, aber ich weiß Stufen, und vielleicht weiß nur ich sie. Dies ist ein vergessener Weg. Die Stufen sind zerfallen: gib acht! Hier unterbricht eine Schlucht sie, aber ich finde sie wieder. Deine Hand, mein Geliebter!«
»Alba, an deiner Hand ist Blut. Ich sehe es kaum im Zwielicht, aber meine Lippen schmecken es … Wir sind in einer Höhle aus großen Steinen. Willst du nicht rasten? Dein Mund, meine Geliebte!«
»Wir müssen weiter. Werde ich das Haus offen finden? Wirst du entkommen? … Gleich haben wir die Terrasse erreicht. Die Tür auf der Terrasse steht offen. Jetzt soll es also sein?«
»Jetzt soll es also sein? Noch einmal, bevor ich dich nicht mehr sehe, deine Augen, Alba!«
»Nein! ich kann's nicht. Wir steigen nicht weiter hinab. Jenes Gebüsch verdeckt einen Vorsprung des Felsens; es steht eine Bank dort.«
Auf seiner Brust:
»Wie oft, o Nello, habe ich mich, als ich Kind war, an dieser Stelle vor den andern versteckt, vor Gespielinnen, die mich holen wollten. Ich fühlte mich von ihnen verschieden. Wenn sie später vom Heiraten sprachen, dachte ich: ›Mein Gatte wird also größer sein, als die euren alle‹ … Nun gehöre ich dir; und das scheint mir noch seltsamer, furchtbarer und süßer, als wenn ich Christus gehörte.«
»Du machst mich beklommen, Alba. Denn ich, ach, ich bin wie alle. Wir sind so viele in Verona, die das Singen lernen und durch das Land ziehen. Ich bin arm. Glücklich war ich, wenn ich vier Monate im Jahr singen durfte für wenig Geld. Die übrige Zeit sah ich den Himmel an und ließ das Leben vergehen. Was aber geschieht mir, seit ich dich liebe!«
Sie löste sich von ihm, richtete sich auf, sah geradeaus. Ihr bleiches Profil, die Nase zierlich und scharf gebogen, das Kinn in gerade Schatten gefaßt, erblickte er im düstern Glanz des Auges geschliffen wie einen Dolch.
»Wirst du mich immer lieben?« fragte sie und sah ihn an. Er drückte die Lider zu, betastete das Herz, als schmerzte es, und schüttelte heftig den Kopf:
»Immer.«
»Sage mir, welche Frauen du vor mir geliebt hast!«
»Keine! keine! Ich schwöre es dir. Ich weiß von keiner andern Frau, ich werde von keiner wissen. Alba, wie ich dich liebe!«
»Nello, wie ich leide!«
»Auch du?«
»Und wie wir glücklich sind!«
Sie saßen sich zugewandt, die Knie verschränkt, die Hände eines jeden gespreizt auf dem Rücken des andern, und atmeten einander, aus tödlich gespannten Gesichtern, leise keuchend in die halboffenen Münder.
»Um Vergebung!« wisperte es; und immer durchdringender:
»Um Vergebung!«
Aufseufzend ließen sie sich los. Drunten auf der Terrasse tanzte der Barbier Nonoggi, zwei Finger preßte er unter schwindelnden Grimassen ans Herz, auf die Lippen und wieder aufs Herz.
»Ich wollte, da ich gerade dem Herrn Nardini den Bart gemacht habe, die Herrschaften nur warnen, weil Gefahr droht. Meine Absichten sind die redlichsten, und niemand kann schweigen wie ich. Sogleich aber wird der Advokat Belotti hier sein, und Sie wissen wohl, daß er das böseste Klatschmaul der Stadt ist … Nicht dorthin! Gehen Sie das Haus entlang, nach dem Wasserfall. Sie werden zufrieden sein mit meinem Rat, – und wenn ich Ihnen sonst mit etwas dienen kann: ich habe Parfümerien, Zöpfe, Fächer …«
Sie klommen, und riefen einander leise Mut zu, ein Stück hinan, um den Abstieg nach dem dunkelsten Flügel des Hauses zu finden, wo der Wasserfall vorbeischnellte. Sie liefen hinab: unversehens war der Berg nach innen gekrümmt; Steine rollten in die Höhlung; unter ihren Füßen schwankte es. Sie wagten sich nicht mehr zu rühren. Der Staub des niederschießenden Wassers sprühte sie an. Da zischelte es von der ebenen Erde her:
»Vorsicht! Wir sind nicht allein.«
Der Advokat Belotti machte drunten einen Kratzfuß; er rundete die Hände um den Mund.
»Auf mich können Sie sich verlassen, wie Sie wohl wissen; aber das Unglück will, daß der Barbier Nonoggi in der Nähe ist, der die böseste Zunge von allen hat. Fliehen Sie!«
Da sie regungslos hinuntersahen –
»Wie? Sie werden mir doch nicht mißtrauen? Ich bin, wie gewöhnlich, der Eier wegen da, und zum Beweise kann ich Ihnen sagen, daß sie heute um zwei Soldi teurer sind.«
Dabei begann er, sich hinten ein langes Netz herauszuwickeln.
Plötzlich krachte der Boden und sprang ihnen fort. Der Busch vor ihnen ward von steiniger Erde hinuntergerissen.
»Halten Sie sich an jeder Pinie!« rief der Advokat. Aber sie griffen nicht um sich: sie faßten nur nach einander. Die Arme einer um des andern Schulter, stürzten sie.
Nello öffnete die Augen und tastete nach Alba. Sie glitt von ihm herab; dann richtete auch er sich auf; sie sahen sich um. Droben über dem Wasserfall, beim Elektrizitätswerk, standen Arbeiter und bogen sich vor Lachen auf ihre Knie. Unten lehnte der Advokat Belotti breitbeinig hintenüber und schmunzelte fett. Der Barbier Nonoggi lief, die Hand vor dem Munde, davon. Alba und Nello stiegen, und bei jedem Schritt betrachteten sie einander ernst, auf den Weg hinab.
»Der Herr Nardini kommt«, zischelte der Advokat, – und sie flüchteten das Haus entlang, über die Terrasse, in die Tiefe des Gartens und das Dunkel des Zypressenganges. Auf einer begrünten Bank sanken sie einander an die Brust.
»Hat nicht vor langer Zeit eine Uhr geschlagen: viele Schläge?« fragte Alba. »Ich hörte sie wohl, aber mir war, es sei nicht wirklich und es gelte nicht. Nun werde ich gehen müssen.«
»… O Himmel! Die Stunde des Essens ist versäumt, der Großvater wird mich suchen, was tun? … Mein Geliebter, tritt in die große Brunnennische an der Bergwand. Der Knabe und das Mädchen auf dem Brunnenrand blasen einander nur einen schwachen Strahl ins Gesicht; sie werden dich nicht naß machen, wenn du hinter den hohen Pflanzen in der Nische stehst.«
»Ich kenne sie. Wie oft habe ich darin gestanden, wenn Schritte durch den Garten kamen. Aber nie, o Alba, waren es deine!«
»Hinter der Terrassentür stand ich und sah dich. Ich habe dich meine Fußspuren küssen sehen, Schöner, der du bist.«
Sie hielt an, um sein Gesicht mit ihren Händen zu umrahmen.
»Alba, dein Haar! Als ich es zuerst sah, glänzte es darin rot wie Kupfer. Jetzt ist es ganz schwarz.«
»Es war niemals wie Kupfer. Möchtest du, daß es schöner wäre?«
»Du bist eine Hexe! Ich fürchte mich vor dir.«
Da bemerkten sie, daß sie ganz nahe beim Hause standen. Sie riß sich los; er entwich in den Schatten.
Er hatte kaum das Versteck erreicht, da kehrte sie zurück. Er stürmte ihr entgegen; sie erwartete ihn mit einem flammenden Lächeln; und um ihn aufzufangen, knickte sie ein wenig ins Knie und schnellte wieder auf, wie beim Kommen und beim Sturz einer großen Welle.
»Der Großvater ist gleich nach dem Essen fortgegangen; wir sind allein und frei. Begreifst du es? Begreifst du es?«
»Ah! wir können uns also auf die Bank bei den Blumen setzen.«
»Die Hyazinthen duften so süß, daß man sterben möchte«, sagte Alba.
»Ich brauche mich nicht mehr hinter euch zu verstecken«, rief er den beiden Figuren auf dem Brunnenbecken zu. »Ihr könnt gehen!«
Er warf dem Knaben einen Stein in den Mund. Der Wasserstrahl brach ab. Ein Schrei.
»Er hat sich nach uns umgesehen! Sie hat geschrien! O Nello, was tust du, wir werden Unglück haben.«
»Du, Alba, hast geschrien: du«, – und er schloß ihre angsterfüllten Augen an seiner Brust. Ihre Hand erhob sich, weiß langend, nach seinem Kopf; er drückte den Mund in ihre Schulter; und durchtränkt mit dem beißenden, schmerzlich berauschenden Geruch ihres feuchten, halb wahnsinnigen Körpers, erschrak er, weil er hatte spielen können.
Sie begann zu sprechen.
»Sonst, wenn ich am Abend aus der Kirche kam und in unserem schwarzen Hause ein Fenster hell sah, dachte ich: wie lange wird mein Großvater sein Licht noch anzünden, dann brennt meins dort oben, in dem Hause auf der Bergkuppe. Es war mir befreundet, ich nickte ihm zu. Jetzt – sieh hinauf, ich kann es nicht –, hat es nicht eine furchtbare Gestalt? Will es mich nicht töten?«
Bauchig und grau in den Felsenrand gekrallt, mit krummschnabeligem Dach und zwei böse blinkenden Fenstern daran, hockte das Kloster in der Höhe wie ein Raubvogel, der den Fang abpaßt.
»Es will mich nur noch tot. Im Leben habe ich einzig dich. Was soll aus mir werden, wenn du mich verläßt? Noch niemals wußte ich, was es heißt, allein zu sein: jetzt ahnt mir's.«
Er griff fester um sie, die der Schauder schüttelte.
»Nie, nie verlaß ich dich!«
Sie legte das Gesicht nach oben, bewegte es langsam und stark hin und her, und große Tränen stockten auf ihren Wangen.
»Es ist unmöglich, daß du mich liebst, wie ich dich.«
Sie machte sich los, sie tat, die Hände vor den Augen, zwei wankende Schritte in den Schatten hinein.
»Wir sollten sterben«, sagte sie. »Schon jetzt.«
»Da sind Blumen«, sagte er, »ein weicher Teppich. Wenn wir heute nacht darauf einschliefen?«
»Du willst? Du liebst mich also?«
»Wir würden tun, was die Tonietta und ihr Piero nicht taten«, setzte er hinzu und lächelte stolz.
»Wer sind die?«
»Berühmte Liebende. Werden auch wir einst berühmt sein?«
»Ich will dich singen hören, ich will dich wieder singen hören!« und sie hängte sich, zitternd, an seine Schulter. »Nello! das ganze Leben für deine Stimme. Meine ist schwach, ich kann nicht sagen, wie ich liebe. Du kannst es!«
»Die Probe!« rief Nello. »Der Maestro war nicht zufrieden mit mir, und heute abend soll ich vor dir singen! Denn du wirst kommen: sage, daß du kommen wirst!«
»Da du es willst … Ich werde über den Berg zurücksteigen. Vom Kloster führt ein Gang ins Schloß, Amica wird mich begleiten. Werde ich mich bis vor die Tür der Loge wagen, deren Schlüssel der alte Corvi mir heimlich verkauft hat, und die Lichter, die Menge, das Fest des Saales wie eine Glorie um dich her sehen, mein Geliebter?«
»Ich fühle, daß ich zum erstenmal gut singen werde. Komm mit mir, gleich jetzt! Solange ich dich habe, bin ich mir solcher Kraft bewußt, als wäre ich ein Held.«
»Ich gehe mit! Die Straße ist leer, es ist heiß, – und kämen auch Leute; was wissen sie? Was können sie gegen uns?«
»Was können sie gegen uns!«
Ein Ebereschenbaum flammte im blauen Himmel. Alba lief hin; – da schrie sie laut auf: eine große Schlange lag, quer über die Straße, schwarz im Staube. Nello hob einen Stein auf; und da Alba ihn zurückhielt:
»O laß! Was kann mir geschehen: mir, den du liebst.«
Er ging, und holte schon zum Schlage aus, rasch auf die Schlange los. Seine Hand zuckte schon: da sah er am Halse der Schlange Blut. Sie war tot! Im selben Augenblick flog der Stein. Alba lief herbei.
»Du hast mich geängstigt, Böser. Wie tapfer du bist! Ein Held, mein Geliebter ist ein Held!«
Sie küßte ihm die Hand. Er entzog sie ihr und stöhnte.
»Was hast du, mein Nello?«
»Dieses Tier ist widerwärtiger tot als lebend. Steige nicht darüber weg, Alba. Kehre um, ich sehe Leute. Kommst du ins Theater? O komm! Ich werde singen können heute abend, und vielleicht kann ich nur das?«
Er ging, den Kopf gesenkt zwischen den heraufgezogenen Schultern, allein weiter.
»Ich habe Alba belogen! … Aber ich hielt die Schlange, als ich zuschlug, für lebend. Habe ich Alba also belogen? Ich bin nicht feige. Wie sie mich liebt! Wie wir uns lieben! Sterben wäre nichts …«
Der Platz war noch unbelebt; vor dem Café las Gaddi eine Zeitung.
»Auch du kommst umsonst!« rief er ihm entgegen. »Die Probe ist abgesagt. Der Maestro hält lieber eine Probe für seine Messe ab. Versteht sich: der Maestro Viviani ist ihm weniger wichtig als der Maestro Dorlenghi.«
»O Virginio!« – und Nello preßte die Hand des Freundes, als wollte er sie zermalmen: »Wie wir uns lieben!«
»Gemacht? Meinen Glückwunsch. Da es ein reiches Mädchen ist, wirst du dich nun nicht sträuben, sie zu heiraten. Ohnedies lese ich da gerade von dem Bankrott der dramatischen Gesellschaft Valle-Bonisardi, von der ich mich fast hätte engagieren lassen.«
Nello lachte, klar wie Gold.
»Du weißt ja nicht: ich singe ihr vor, ihr ganz allein. Ah! du weißt nicht: ich habe eine Schlange getötet, die daran war, sie zu beißen.«
Er strich sich das Haar zurück, seine Brust dehnte sich, ein kraftvolles Lächeln ging durch seine Züge. Gaddi betrachtete ihn.
»Ich leugne nicht, daß du aussiehst wie ein Gott. Aber man kann nicht alle Tage Schlangen töten; und auch das Singen ist eigentlich keine Beschäftigung für das ganze Leben.«
Das Lächeln des Glücklichen erlosch auf einmal; er ließ ein bleiches, abgespanntes Gesicht auf die Brust sinken.
»Was ist fürs ganze Leben«, murmelte er. »Wenn ich umkehrte und zurückginge, gleich jetzt, gleich jetzt: bin ich denn sicher, sie noch zu finden, noch die Liebende zu finden, die ich erst eben verließ? War nicht alles ein heftiger Traum?«
Da Gaddi ehern lachte –
»Ich bin verrückt, wie? Sage mir, daß ich einfach verrückt bin!« – und er stimmte ein. In den Fenstern ihres Hauses keuchte Mama Paradisi: »Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus«; eine ihrer Töchter schrie blechern über den Platz das Gebet der Tonietta, indes die andere brummte: »Ich habe ein Recht auf eure Weiber, ich bin der Herr.«
»Und meine Frau!« sagte der Barbier Nonoggi, der herbeihüpfte. »Sie singt schon, seit sie aufgewacht ist: ›Welche Erlösung, nicht mehr von Liebe zu wissen‹, und doch erinnere ich mich nur zu gut, daß sie noch diese Nacht davon gewußt hat.«
Nello schüttelte sich. Die Herren Polli und Giocondi trafen ein und klopften dringend auf den Tisch.
»Einen Vermouth, Gevatter Achille, der Tag wird heiß werden. Siehst du, wie hoch es bei der Konkurrenz hergeht?«
Der Wirt des Cafés »Zum Fortschritt« hob seine schweren runden Schultern.
»Eine Konkurrenz nennt ihr das? Habt ihr, die ihr doch schon fünfzig Jahre in der Stadt seid, schon je gewußt, daß hinter dem Vorsprung des Hauses Mancafede noch ein Café steckt? Das Café ›Zum heiligen Agapitus‹: ich habe erst heute meinen Alfò hinübergeschickt, um zu sehen, wie es heißt.«
Und er spie aus. Trotz seiner Verachtung atmete er kürzer als sonst und hatte die Stuhllehne nötig, um seinen Bauch zu stützen.
»Das Café ›Zum heiligen Agapitus‹!« rief Nello hell. »Bekommt man dort Weihwasser zu trinken?«
»Wieviel Geist der Herr hat!« sagte der Gevatter Achille und kicherte. Nonoggi zog einen Zopf aus der Brust.
»Sie sind ein glücklicher Mann, Herr Nello Gennari. Da habe ich alles, was Sie wünschen. Auch Fächer sind da.«
Nello lachte, ohne zu hören.
»Das hindert nicht«, erklärte Polli, »daß sie schon jetzt dort drüben zu Haufen sitzen, und der Freund Giovaccone fängt erst an, seine Tische auf den Platz hinauszustellen. Der ganze Mittelstand ist in Aufruhr: man sollte es nicht glauben, wegen der leeren Loge!«
»Und es scheint, daß sie sich mit Don Taddeo verbünden«, setzte der Herr Giocondi hinzu.
»Für Sie!« kreischte Nonoggi. »Alles für den Herrn Nello! Und wenn Sie meinen Laden beehren –«
Er zerrte den jungen Mann am Arm.
»– werden Sie ein hochelegantes Necessaire finden, wie es für einen Mann in Ihrer Lage paßt.«
Nello wehrte ab. Er sah sich leuchtend um. Wie alles belustigend war!
»Ah! Dieser Don Taddeo!« – und Poli verschränkte die Arme. »Es scheint, er will den Entscheidungskampf.«
»Ein Demagoge«, rief Giocondi, »der heute früh bei der Predigt das Volk aufwiegelt gegen die Herren! Sie waren nicht in der Kirche, Herr Gaddi? Auch ich setze keinen Fuß mehr in die Bude. Ist es etwa erlaubt, dem Volke zu predigen, es solle das Theater demolieren?«
Der Barbier riß eine Hälfte seines Gesichtes schwindelnd hoch.
»Was höre ich, Herr Nello? Sie wollen nichts kaufen? Wissen Sie denn, was das heißt? Es heißt, daß Sie mich ruinieren! Denn habe ich nicht alle diese feinen Waren nur für Sie kommen lassen und auf Ihren ausdrücklichen Wunsch?«
»Das Theater demolieren!« rief Nello und warf den Zopf in die Luft.
»Wir werden zuerst das Café ›Zum heiligen Agapitus‹ demolieren«, sagte der Gevatter Achille. »Es ist längst baufällig.«
»Ich bin ruiniert!« kreischte Nonoggi und rannte einem Jungen nach, der mit dem Zopf davonlief.
Polli nickte ernst.
»In einem hat der Priester nicht unrecht: die guten Sitten sind bei uns sichtlich im Schwinden begriffen. Man weiß nicht, wen er mit der großen Babel gemeint hat, die er so viele Male verflucht hat …«
»Die große gelbe Choristin wird er gemeint haben«, schlug Giocondi vor und stieß Polli vor den Magen.
»Man muß zugeben«, erklärte der Gevatter Achille, »als ich heute früh meinen Laden aufmachte, fand ich auf dem Sofa ein Liebespaar, das bei mir die Nacht verbracht hatte.«
»Auch ich habe eins überrascht«, sagte der Tabakhändler, »auf meiner Treppe, wie ich heimkam.«
Giocondi erhob die Handfläche gegen ihn.
»Fange nicht davon an! In meiner Gasse: – ich versichere euch, daß man darauf tritt. Und ich spreche noch nicht vom Hof des Rathauses, wo es so dunkel ist.«
Sie platzten aus: sie mußten sich auf die Knie stützen.
In diesem Augenblick kam der kleine Uralte vorbei, vor sich hin lächelnd, mit einem dünnen Trällern.
»Brabrà!« schrie der Herr Giocondi. »Auch er war unterwegs heute nacht, und ich bürge euch dafür, daß er manches zu sehen bekommen hat. Noch immer amüsiert er sich darüber.«
Der Barbier tanzte vor Nello umher; er verzog den Mund zum Weinen.
»Sie werden begreifen, mein Herr: ich habe eine Familie zu ernähren, und wenn der Herr darauf besteht, mich zu ruinieren, dann bleibt mir nur übrig, allen Leuten zu sagen, was ich weiß …«
Dabei hielt er an und spähte dem jungen Mann von unten in die Augen. Die Frauen sahen aus den Fenstern: Nello stand, die Hände auf den Hüften, und lachte, daß es wie Gesang klang. Die andern lachten mit.
»Und der Advokat!« brachte Polli hervor. »Man weiß wohl, warum er an diesem wichtigen Tage noch nicht auf dem Platz ist. Er hat die ganze Zeit in seinem Studierzimmer zu tun. Er sitzt, weil es warm ist, in Unterhosen an seinem Schreibtisch und empfängt die kleinen Choristinnen, die um einen Vorschuß bitten …«
»Ah! ihr Schweinigel, was singt ihr da?« rief donnernd der Gevatter Achille.
»Sie wird vielleicht das Leben kosten, die kostbare Nacht«, sang die Rotte von Buben, aber mit veränderten Worten, und marschierte im Eilschritt vorbei. Nello Gennari folgte ihnen lachend um den Platz. Vor dem Hause des Kaufmannes Mancafede riß es ihn zurück: im ersten Stock hatte ein Fensterladen sich bewegt; und Nello stand, sein letztes Lachen noch im Halse, blinzelte scheu und hatte eine lange, ermattete Miene.
›Die Unsichtbare! Ich hatte sie vergessen, sie aber hat mich immer im Auge behalten. Sie kennt meine Schritte, sie weiß auch, wohin ich den letzten tun werde. Wohin? Wohin?‹ – und er richtete, einen leidenschaftlichen Blick auf die Dunkelheit zwischen den Brettern des Ladens. Gleich darauf, den Hals abgewendet, die Hand gespreizt:
›Nein! Nichts sagen! Lieber sterben, wenn es sein müßte: sterben, ohne zu wissen … Aber sterben?‹
Er verschränkte die Arme, senkte das Gesicht auf sie, und ein Schauder durchlief ihn heftig.
›Albas Hände nicht länger um meinen Kopf spüren, noch den Geruch ihrer feuchten Haut je wieder einatmen; ihr Lächeln, dies weiße Feuer, nie mehr brennen fühlen … Ich hätte gestern sterben sollen: gestern war es zu ertragen … Welche Angst, wie viele Gefahren! Und ich konnte lachen? Nonoggi hat mir gedroht; ich verstand es nicht; mir war, er triebe seine Späße dort ganz unten, irgendwo am Boden. Jetzt sehe ich die grausame List in seinen blutigen Augen. Ich muß zu ihm, ich kaufe alles, was er will!‹
Aber wie er herumfuhr, stand in der Ladentür der Kaufmann und lächelte bedeutsam. Er wußte alles, – da seine Tochter alles wußte! Das Schicksal beschwichtigen! Sich Frist erkaufen!
»Hätten Sie nicht, mein Herr –«, stammelte Nello. »Hätten Sie nicht –«
Mancafede rieb sich die Hände.
»Ich hätte einen Posten rotes Flanell, sehr geeignet für dramatische Künstler. Auch Stoff für Herbstanzüge hätte ich. Aber überstürzen Sie nicht Ihre Wahl, Herr Nello Gennari. Wenn ich meinen Laden am Sonntag schlösse, würde ich ihn doch für einen Kunden wie Sie wieder öffnen.«
»Dieser Anzug gefällt mir; aber er wird für mich zu teuer sein.«
Der Kaufmann fiel ein:
»Ich schicke ihn Ihnen – und werde mich hüten, einen Kunden von Ihrer Bedeutung, mein Herr, wegen der Bezahlung zu drängen. Ich weiß zu gut, daß man an Ihnen nichts verliert. Auch diesen Anzug vielleicht, der Ihnen bezaubernd stehen würde, oder diesen, an dem die Liebe jeder Frau sich weiden muß?«
»Wie Sie wollen«, murmelte Nello.
»Also beide. Gut, mein Herr, Sie werden bedient werden. Dafür bekommen Sie den roten Flanell zu einem Ausnahmepreis«, – und auf den grauen Wangen des Kaufmannes zeigte sich etwas wie ein Widerschein seines roten Flanells.
»Zu welchem Preis also?« fragte Nello ergeben. Mancafede antwortete nicht; er dienerte in der Tür. Darauf entschuldigte er sich. Sein altes Hasenprofil lächelte zahm und schlau.
»Eine Kundin ging vorüber, mein Herr: nichts als eine Kundin.«
Und indes Nello über die großkarierten Stoffe gebeugt stand, fiel die Matratze der Domtür hinter Alba zu.
Die Kirche war ganz leer. Alba strich den Schleier von den Augen, sah, leise keuchend, umher wie nach Verfolgern und sank in der nächsten Bank auf die Knie. Sie legte die Stirn in die Hände. Als die kalte Luft ihren heißen Nacken wollüstig erschauern machte, zog sie das Tuch darüber. Ihre Schultern zuckten, ihre Stirn preßte, als würde sie immer schwerer, die schmerzenden Hände gegen das harte Holz. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, betrachtete diese Hände, betrachtete den See von Tränen, den ihre beiden Augen auf der Bank zurückgelassen hatten, und schüttelte langsam den Kopf … Ein Geräusch in der Vorhalle: Alba flüchtete in den Schatten eines Beichtstuhles.
Sie glitt hervor, stahl sich bis hinter die Nonne, die vor der Kapelle des heiligen Agapitus kniete, und tastete leise nach ihrem Saum: tastete und stockte. Die Hand fuhr zurück, angstvoll um den Hals, woraus ein Schluchzen brechen wollte. Die Augen heiß auf der im Frieden Anbetenden, schlich Alba rückwärts davon in das Dunkel.
Die Nonne war fort. Weite Stille: – aber der lange gelbe Vorhang des letzten Fensters dort hinten bewegte sich; etwas Schwarzes raschelte herab; und unter der Türöffnung zur Seite des Hochaltars erschien Don Taddeo. Er beugte die Schultern, worauf Kalk lag; wie gebrochen ging er; sein entzündeter Blick irrte durch das Schiff. Wie unversehens Alba hervortrat, erschrak er, daß seine Soutane schlotterte. Bei ihrer bittenden Gebärde nach dem Beichtstuhl wich er jäh aus und zog, als sei ihm übel, das Gesicht zusammen. Sie legte die Finger aneinander und führte ihre Spitzen an die Lippen. So ging sie, die erweiterten Augen geradeaus, vorüber. Auf der Schwelle zögerte sie, wandte sich um nach ihm: ihre Blicke fielen ineinander, unmerklich nickten ihre Lider sich zu. Der Priester schloß seine. Er strich mit der Linken über sie hinab; die Rechte stieß er unsicher in die Luft; mit großen, flatternden Schritten erreichte er die Sakristei.
Alba, auf der Schwelle, stand atemlos … Endlich senkte sie die Schultern mit Kraft, ließ über die Augen den Schleier Und hob von der Tür die Matratze auf, die den Lärm des Platzes erstickt hatte.
Eine Frau mit dem Spitzentuch auf den Haaren, eine Fremde, streckte draußen soeben die Hand aus. Alba reichte ihr die Matratze – und Italia neigte sich, um mit großen, neugierigen Tieraugen hinter der verhüllt Fliehenden dreinzuschauen.
»Hier kommen Sie nicht durch, Fräulein«, sagte die Magd Felicetta; denn den Dom entlang staute sich quer über den Platz ein Haufe Frauen, die Kinder hinaufhoben und durcheinander riefen.
»Obwohl ich bei keinem der Herren mehr diene, sondern beim Bäcker Crepalini, der mit den Herren Krieg führt, gebe ich Ihnen doch einen Rat, Fräulein, denn Sie haben Mitleid mit den armen Leuten. Steigen Sie also vom Corso die Gassen hinunter und kommen Sie beim Rathaus wieder herauf. So werden Sie keine Unannehmlichkeiten haben. Denn der Platz ist voll von Männern, die sich schlagen wollen. Sehen Sie meinen Herrn, den Bäcker, vor dem Café des Freundes Giovaccone sitzen? Die Seinen sind zahlreich, und er hat einen gewissen roten Kopf, den ich kenne. Wehe dem Advokaten Belotti! Er wird nicht mehr lange das Wort führen drüben beim Gevatter Achille.«
Frau Nonoggi und die Frau des Schusters Malagodi schrien einstimmig:
»Seht die Gottlosen! Sie sind die Feinde des Don Taddeo, und sie wollen ihm den Eimer nehmen.«
Das Gebell des Bäckers drang durch.
»Ah! die Herren wollen uns die Schlüssel zu den Logen nicht verkaufen, dafür werden sie den Schlüssel zum Eimer nie zu sehen bekommen.«
Er begann sogleich von vorn:
»Ah! die Herren wollen uns –«
Der Advokat Belotti keuchte seinerseits etwas herüber, immer dasselbe, das niemand verstand; aber man sah die Herren drüben höhnisch lachen.
»Pappappapp«, machte sein Bruder Galileo am Tisch des Bäckers.
Plötzlich kreischte aus ihrem Fenster die Frau des Apothekers Acquistapace und schüttelte die Faust:
»Ah! Lügner, ah! Verräter, er sagt, Don Taddeo habe den Eimer verkauft, an einen Amerikaner habe er ihn verkauft.«
Vor dem Café »Zum heiligen Agapitus« war sogleich alles auf den Beinen; alle Fäuste waren in der Luft. Die Frauen vor dem Dom zeterten.
»Der Advokat wird recht haben«, schrie vor dem Rathaus aus Leibeskräften der Barbier Bonometti, und er stieß in der Schar von Männern den alten kleinen Beamten Dotti an.
»Schreit mit! Der Advokat wird recht haben mit dem Eimer. Er enthüllt die Intrigen der Sakristei. Er ist ein großer Mann, der Advokat!«
Die Beamten schrien:
»Es lebe der Advokat!«
Der dicke alte Corvi setzte hinzu:
»Er ist ein großer Mann, der Advokat, denn er wird mir die Stelle bei der öffentlichen Waage geben.«
»Hat er uns nicht das Waschhaus erbaut?« fragten die Mägde Fania und Nanà die Frau des Schusters. »Es lebe der Advokat!«
Die kleinen Choristinnen riefen im Gedränge der Weiber:
»Und er gibt Vorschüsse, soviel man will! Er lebe!«
Der Advokat winkte seinen Anhängern mit dem Hut; er sagte zu den Herren um ihn:
»Die braven Leute! Bei solcher Gesinnung eines Volkes ist es nicht zweifelhaft, wer recht behält: die Widersetzlichkeit, verbündet mit der Reaktion, oder die Ordnung, die eins ist mit der Freiheit.«
»Immer die großen Worte«, murmelte der Gemeindesekretär. »Wer weiß, auf welcher Seite hier die Freiheit ist. Freiheit ist nicht dasselbe wie Zügellosigkeit.«
»Beabsichtigen Sie eine persönliche Anspielung, Herr Camuzzi?« fragte der Advokat. »Dann erfahren Sie, daß ich mich eines Lebens, das frei von Heuchelei ist, nicht schäme. Ich weiß mich einer ruhmreichen Tradition verbunden. Offenbar ist Ihnen unbekannt, mein Herr, von welchen Müttern wir stammen. An der Stelle unserer Stadt hat ein Heiligtum der Venus gestanden, mein Herr.«
»Nun, es ist abgebrochen«, – und der Sekretär zuckte die Achseln.
»Freuen Sie sich darüber mit Ihrem Don Taddeo, diesem Demagogen im Priesterkleid. Hat er nicht heute früh in seiner Predigt dem Volk angeraten, wenn die Mächtigen sich der Wollust ergeben, solle es sie niederreißen? Ich weiß wohl, welche Mächtigen gemeint sind –«
Der Advokat wies sich auf die Brust.
»– und Ihr Don Taddeo soll bei dieser Gelegenheit erst merken, was Macht heißt!«
Er schwenkte eine Zeitung. Der Tabakhändler kratzte sich den Kopf.
»Sehr gut. Aber inzwischen sind wir wenige, – und der Mittelstand läßt ganze Regimenter aufmarschieren. Man muß unsere Freunde holen. Auch werde ich meinen Olindo suchen. Wenn er sonst nichts taugt, hat er doch Fäuste.«
Der Stadtzolleinnehmer erklärte, ebenfalls werben zu wollen, und betrat die Apotheke. Der alte Acquistapace stapfte heraus; er stieß mit dem Stößel seines Mörsers um sich.
»Romolo!« rief er schrill von oben.
»Es gibt keinen Romolo!« brüllte er. »Es gibt nur einen Soldaten Garibaldis, der die Sache der Freiheit in Gefahr sieht.«
Und immer tapferer:
»Wo sind die Feiglinge, die sich, aus Furcht vor ihren Weibern, in ihren Läden verstecken? Wo ist Mancafede?«
Er machte sich, seinen Stößel schwingend, auf den Platz hinaus, dem feindlichen Heer entgegen und mitten hindurch; niemand beim Café »Zum heiligen Agapitus« wagte, so sehr sie fuchtelten, den alten Krieger anzurühren; – und wie Mancafede gerade den Rolladen herabzog, ward er gepackt. Zitternd kam er mit.
»Wucherer!« schrie der Tapezierer Allebardi mit einer Stimme wie sein Bombardon dicht unter der Nase des Kaufmannes, der erbleicht zurückfuhr. Das Volk wiederholte:
»Wucherer!«
»Dieb!« – und der alte Kneipenheld Zecchini war blau vor plötzlicher Wut; »Dieb, der allen Wein aufkauft, so daß niemand ihn bezahlen kann und wir verdursten müssen!«
»Wir wollen nicht verdursten!« grölten seine Zechbrüder.
»Und wir hier wollen nicht verhungern«, rief vom Rathaus her ein riesiger Fuhrmann. »Nieder mit dem Bäcker!«
»Nieder mit dem Bäcker!« wiederholte das Volk; und Crepalini verschwand rasch zwischen den Seinen.
»Und die Kuchen des Serafini!« gellte hinter dem Rücken des Fuhrmanns der Konditorlehrling Coletto. »Wollt ihr wissen, was er statt Zimt hineingibt? Zerstoßene Wanzen! Wanzenkonditor! Wanzenkonditor!«
Ein Schrei des Abscheus; – und über allem jammerte eine Frauenstimme:
»Isidoro! Mein Isidoro!«
Mama Paradisi hing, alles vergessend, aus ihrem Fenster.
»Flieh, mein Isidoro, sie werden dir weh tun. Lauf, lauf!«
Mancafede sandte ihr einen trostlosen Blick hinauf; sein Häscher lieferte ihn schon beim Café »Zum Fortschritt« ein.
Der Herr Giocondi führte den Baron Torroni herbei. Auch die Herren Salvatori, Onkel und Neffe, folgten ihm.
»Sie haben mir meine Fabrik wegeskamotiert«, sagte er zum Salvatori und klopfte ihn vor den Bauch; »aber hier handelt es sich um die Freiheit, das ist ein anderes Paar Ärmel.«
Der Apotheker war hinter dem Barbier Nonoggi her, der unter blutigen Grimassen wie ein Wiesel um den Platz lief. Beim Café des Freundes Giovaccone kreischte er, das Kreuz schlagend:
»Don Taddeo ist ein Heiliger.«
Und wenn er sich den Tischen des Gevatters Achille näherte:
»Es lebe der Advokat!«
Da der Apotheker ihn nicht fangen konnte, brachte er den Wirt Malandrini und den Lehrer Zampieri mit, die nur gekommen waren, um etwas zu sehen. Der Kapellmeister Dorlenghi stellte sich von selbst ein; er warf die Arme.
»Und meine Messe? Nicht ein einziger ist zur Probe in den Dom gekommen!«
Der Lehrer sagte:
»Es gibt Tage, mein Herr, an denen auch wir Männer des Geistes unsere Studien verlassen müssen, um, den größten Ideen zuliebe, auf den Platz hinabzusteigen.«
»Aber jene dort vermehren sich«, rief drüben der Mechaniker Blandini. »Es wird Zeit, daß auch wir uns sammeln.«
Sogleich liefen die Barbiere Macola und Druso nach dem Corso, der Schlosser Fantapie zur Treppengasse, und sie schrien die Häuser hinan:
»Alle auf den Platz!«
Von den Herbergen »Zum Mond« und »Zu den Verlobten« kam ein Trupp Bauern.
»Hierher!« keifte Galileo Belotti, in der Mitte beim Brunnen. »Es geht gegen die Buffonen!«
Aber als der schöne Alfò, man wußte nicht warum, zähnefletschend gegen ihn losbrach, rollte Galileo auf seinen kurzen Beinen ganz schnell in das befreundete Lager zurück. Der schöne Alfò trug, eitel lächelnd, den blauen Klemmer des Pächters als Beute heim.
Dennoch schlugen sich die Bauern auf die Seite des heiligen Agapitus.
Wie der Schlosser Scarpetta vom Tor her zu der Partei des Mittelstandes stoßen wollte, trat der Advokat Belotti ihm in den Weg und versprach ihm den Teil der Arbeiten im Rathaus, der sonst Fantapiè zugefallen wäre; und darauf blieb Scarpetta. Auch den Schneider Chiaralunzi, der aus der Gasse der Hühnerlucia kam, wollte der Advokat durch Aufträge verlocken. Der Schneider antwortete:
»Der Herr Advokat möge mich entschuldigen, denn ich habe die größte Achtung vor dem Herrn Advokaten, aber der ist kein guter Mann, der es nicht mit seiner Klasse hält.«
Und er ging hinüber.
Polli kehrte zurück. Er brachte niemand als nur seinen Sohn, den er vor sich herstieß. Beide waren gerötet und schienen erschöpft. Der Tabakhändler keuchte:
»Da ist mein Sohn Olindo, er soll für die Freiheit kämpfen. Glaubt ihr vielleicht, er wäre von selbst gekommen? Ah! mein Sohn ist ein Typus, dem an der Freiheit wenig gelegen ist. Statt dessen hat er, indes sein Vater um die öffentliche Sache bemüht ist, in meinem Hause, ja, in meinem eigenen Hause jenes Weibsbild, die große gelbe Choristin bei sich und tut mit ihr, was ihr euch denken könnt.«
Olindo bekam einen Rippenstoß.
»Als seine Mutter dazukam, ist sie in Ohnmacht gefallen. Was mich betrifft: eine solche Verderbnis unserer Kinder macht mir geradezu Lust, jenem Priester recht zu geben.«
Auch der Herr Salvatori äußerte Besorgnisse um seinen Neffen. Um nicht weitere Verwirrung in den Geistern aufkommen zu lassen, nahm der Advokat den Tabakhändler ernst beiseite.
»Wir sind Freunde, wie, Polli?«
»Freundschaft, soviel man will, aber –«
»Es gibt kein Aber. Denn, sagen wir nur die Wahrheit: den menschlichen Schwächen sind wir alle unterworfen. Dein Gewissen, Polli, wird dir sagen, ob du gegen deinen Sohn nur als Vater eingeschritten bist oder auch als Rivale. In jedem Fall, Polli, besinne dich auf deine Bürgerpflicht!«
Polli murrte nur noch leise, und der Advokat musterte stolz und zuversichtlich seine verstärkte Truppe. Der Gevatter Achille ging mit der Vermouthflasche umher, weil man Mut nötig habe.
»Hohoho!« schrien alle gleichzeitig. Vom Café des »Heiligen Agapitus« antwortete es:
»Huhuhu!«
Das Volk vor dem Dom und am Rathaus schrie mit, klatschte in die Hände und pfiff. In allen Fenstern schrien die Frauen. Da donnerte der alte Acquistapace:
»Ist es möglich! Die da drüben haben bei sich den Savezzo!«
»Er wird sich geirrt haben«, meinte der Herr Giocondi. Der Gevatter Achille stieß in seine hohlen Hände:
»Schmeckt das Weihwasser, Herr Savezzo?«
Als der junge Savezzo sich entdeckt sah, trat er, die Arme verschränkt, auf den Platz hinaus. Eine Zeitlang sah er unter gewulsteten Brauen mit düsterer Genußsucht ringsum.
»Was willst du?« rief das Volk. Darauf redete er mit unvermitteltem Augenrollen und großen, gezierten Gesten:
»Es ist aus, es soll aus sein in unserer Stadt mit der Protektionswirtschaft, mit der Diktatur einer Klasse!«
»Es ist aus!« rief das Volk.
»Ah! Volk –«, und Savezzo breitete die Arme aus wie an einem Kreuz, »du wirst künftig das Opfer des Talentes empfangen können, auch wenn es nicht aus gewissen Familien kommt. Von den nächsten Listen für die Gemeindewahlen werden die Namen verschwunden sein, die Korruption und Volksausbeutung bedeuten. Denn ihre Träger –«
»Der Bäcker!« schrien Bonometti und der Fuhrmann. Das Volk wiederholte:
»Den Bäcker meint er!«
»Den Konditor!« kreischte Coletto. »Den Wanzenkonditor!«
»– werden erschrocken sein vor der Größe eurer Rache«, – und der Savezzo arbeitete sich ab.
»Willst du ein Glas Wasser?« rief eine Frau.
»Er braucht es. Er hält seinen Vortrag über die Freundschaft«, sagte der Advokat Belotti, verächtlich lächelnd.
»– eurer Rache«, fuhr Savezzo fort und zeigte dem Volk sein Profil, »die fürchterlich zerstört haben wird den Sitz der Gottlosigkeit, des Lasters und der Tyrannei: das Theater!«
»Huhuhu!« machte es beim Café »Zum Fortschritt«.
»Was für eine Sprache spricht er?« fragte die Magd Felicetta ihre Nachbarn, die die Achseln zuckten.
»Genug! Wir wollen die ›Arme Tonietta‹«, rief der Fuhrmann, und er stimmte an:
»Sieh, Geliebte –«
Man lachte. Der Savezzo griff sich noch einmal ins Haar, schnellte noch einmal die gespreizte Hand über das Volk hin, stieß sie geballt gegen das Café »Zum Fortschritt« aus und zog sich zurück. Der Baron spie hinter ihm aus.
»Welch feiger Heuchler! Er hat sich also zu erkennen gegeben.«
»Mich hat er nie getäuscht«, behauptete der Advokat. »Ich habe aus seiner Demut wie aus seiner Düsterkeit immer den Neid dessen herausgefühlt, der nicht zu den Göttern gehört.«
»Die Komödiantin! Laßt sie nicht entwischen!« heulte vor der Domtreppe die Frau des Kirchendieners Pipistrelli; – und verfolgt von den Weibern, rannte Italia mit kleinen behinderten Schritten und kreischend wie ein Pfau über den Platz. Der Apotheker Acquistapace stapfte ihr entgegen; obwohl es von droben mit entsetzlicher Stimme »Romolo« rief, fing er sie auf. Die Weiber wichen nicht, sie blockierten das Café »Zum Fortschritt«. Der junge Severino Salvatori trat ihnen elegant gegenüber und lispelte Anzüglichkeiten.
»Da ist er!« rief die Frau des Schuhmachers Malagodi. »Der da hat etwas Schlechtes von unserer Elena verlangt, und sie hat ihn vor die Tür gesetzt.«
»Ah! was für ein schöner junger Mann«, – und eine entriß ihm sein Monokel. Darauf machten alle sich davon, unter schreiendem Gelächter und Gesten, die nicht alle anständig waren.
»Habe ich denn verdient, daß man mich totschlägt?« jammerte Italia auf der ledernen Bank im Innern des Cafés, wo der Herr Giocondi unter schelmischen Seitenblicken auf die Zuschauer ihr die Büste frei machte. Auch der Kaufmann Mancafede hatte sich in den Saal gerettet; er rang die dürren Hände.
»Der Bürgerkrieg ist etwas Häßliches; er schadet den Geschäften, und wenn Gott will, bekommt man sogar Schläge.«
»Glauben Sie?« stammelte im dunkelsten Winkel der Cavaliere Giordano.
Der Herr Giocondi behauptete, auf Italias Nacken eine Quetschung gefunden zu haben, und rief nach Essig. Der Gevatter Achille brachte ihn und sagte:
»Wenn man bedenkt, daß ein einziger Priester so viel Unheil stiftet.«
»Es gibt gute Priester«, – und der Cavaliere Giordano streckte beschwörend die Hand aus. »Es gibt gute Priester, und es gibt schlechte Priester.«
Italia schluchzte.
»Don Taddeo ist kein schlechter Priester. Er mag nicht, daß man sündigt: darin hat er recht. Ach, über mich!«
»Nicht weinen«, murmelte der Apotheker. Er stand, die Hände am Leib, neben ihr und weinte selbst.
»Als ich ihm das erstemal beichtete«, sagte Italia feucht, »war er sehr streng; er wollte alles wissen, alles, alles.«
»Versteht sich«, bemerkte der Gevatter Achille. »Das ist ihre Unterhaltung.«
»Und er stellte so schreckliche Fragen, daß es fast schien, er wisse schon alles. Ist er denn ein Heiliger?«
»Nein; aber er wird unter dem Bett gesteckt haben«, schrie der Baron Torroni und lachte dröhnend.
»Und dann befahl er mir, zur Madonna von Loreto zu gehen. Ich werde gehen, sonst bringt es mir Unglück … Aber als ich heute wiederkam –«
»Armes Mädchen, auch sie ist in den Händen der Priester!« seufzte der Apotheker.
»– da wollte er mich nicht anhören.«
Der Herr Giocondi vermutete:
»Er fürchtet, daß Sie ihn zum besten halten.«
»Er betete in der Sakristei, und seine Augen waren rot wie Kohlen.«
»Der Schlaukopf!« rief der Wirt Malandrini. »Uns schickt er den Mittelstand auf den Hals, er aber stellt sich, als habe er es nur mit den Heiligen des Paradieses zu tun.«
»Man würde ihn umsonst auf dem Platz suchen, den Heuchler!« sagte der Advokat, der herzukam.
»Ich störte ihn noch einmal; da –« und Italia schüttelte sich, »sprang er vom Betstuhl auf wie eine Katze. Welche Furcht. Ich lief, und er mir nach. Er rief, ich solle kommen und beichten. Beim ersten Wort sagte er: ›Genug‹ und erließ mir alles. Ich glaubte, er irrte sich, und fing wieder an. Er aber stöhnte auf eine gewisse Art, daß mir nichts Gutes ahnte, und rasch machte ich mich davon.«
Sie sah alle erschüttert an. Der Advokat erklärte:
»Er wird noch immer in seinem Beichtstuhl hocken, und wahrscheinlich unter der Bank. Ah! keine Gefahr, daß er das Kommando ergreift über das Café ›Zum heiligen Agapitus‹.«
Der Gemeindesekretär war dem Advokaten gefolgt.
»Man mag von Don Taddeo denken, was man will«, sagte er und wiegte den Kopf, »so ist er doch ein mutiger Mann. Wie wollen Sie das leugnen? Er hat uns nicht gefürchtet, sogar Sie nicht, Herr Advokat, und er war allein: sein Kaplan sammelt Pflanzen.«
»Wollte Gott, er täte dasselbe, mein Herr.«
»Er baut keine Waschhäuser, sondern vertritt das Interesse der Religion.«
»Und er hängt sie als Mantel um den Klassenhaß.«
»Hängen nicht wir ihm den der Freiheit um?«
»Ah!« – und der Advokat warf sich umher; »ich habe in diesem Augenblick nicht Zeit, mit Ihnen zu philosophieren, Herr Camuzzi: die Stadt erwartet, daß ich handle!«
Er trieb alle aus dem Café.
»Halt! Wohin?« – und er packte Nello Gennari, der durch eine Lücke in der Menge entwischen wollte; am Rande des Gäßchens gegenüber dem Rathaus hatte er Alba erblickt.
»Eine wichtige Angelegenheit«, sagte er fieberhaft und wand sich in den Armen des Advokaten.
Alba konnte nicht weiter; vom Balkon am zweiten Stock des Rathauses fiel ein Blick auf sie, der ihr den Mut, den Fuß zu heben, nahm, den Mut, zu atmen. »Nie habe ich in solche Augen gesehen! Nello!« Sie rief den Geliebten an, sie nahm ihre ganze Liebe zusammen: umsonst; der Haß dort oben war ungeheurer als ihre Liebe; die Angst überwältigte sie, in seinem Dunstkreis zu erlahmen und unterzugehn; sie floh zurück in die Gasse.
»Es gibt keine wichtigen Angelegenheiten«, sagte der Advokat, »außer dem Kampf um die Freiheit; – und wer, mein junger Freund«, er lächelte verständnisvoll, »wäre mehr als wir beide interessiert an der Freiheit unter dem Schutze der Venus.«
Der Bariton Gaddi trat mit Wucht heran.
»Du mußt bleiben, Nello! Auch wir haben unsere Ehre, und man ruft mir nicht ungestraft ins Gesicht, daß die Komödianten die Wäsche stehlen.«
Er ging, die Hand in der Hosentasche, das Cäsarenprofil erhoben, rüstig auf den Platz hinaus. Der Bäcker Crepalini hatte sich vorgewagt und schalt, weinrot, mit Nußknackergebiß und Kugelaugen, in den Lärm der Menge. Unversehens hing er in der Luft und zappelte mit den Ärmchen. Gaddi warf ihn den Seinen zu und zog sich ohne Eile zurück. Der Schlosser Fantapiè wollte, den andern vorauf, über ihn herfallen; von drüben aber holten Acquistapace und der Baron Torroni ihren Kameraden ein. Der Gevatter Achille rückte nach mit einem geschwungenen Stuhl. Als er vor dem Feind ankam, war er außer Atem und setzte den Stuhl hin, um seinen Bauch auf die Lehne zu stützen. Er rief:
»Ah! Freund Giovaccone, Schwein, das du bist, die Geschäfte gehen wohl gut, denn das Weihwasser kostet dich wenig!«
Der Lehrling Coletto hüpfte kauernd hinter ihm umher, und plötzlich warf er seinem Herrn, dem Konditor Serafini, sein Gebetbuch an den Kopf. Der Kaufmann Mancafede, den die Herren Giocondi und Polli vor sich herschoben, brach mit einem Aufschrei in die Knie, von einem Flaschenstöpsel getroffen.
»Hohoho!«
»Huhuhu!«
»Nieder die ›Arme Tonietta‹!«
»Nieder die Priester!«
»Was will denn euer Don Taddeo?« rief der Wirt Malandrini. »Als er heute früh meinen Jungen durchprügelte, hat er selbst die ›Arme Tonietta‹ gepfiffen.«
»Schweig!« brüllte der Tapezierer Allebardi. »Und möge dein Bauch verfaulen wie deine Beefsteaks!«
Der Schlosser Fantapiè faßte den Schlosser Scarpetta ins Auge und schrie durch die Hände:
»Schlüsselfresser!« – und Scarpetta spie weithin. »Er hat den Schlüssel des Eimers gefressen und betet nun zum heiligen Agapitus, damit er keine Leibschmerzen bekommt.«
Der Herr Giocondi hörte:
»Schwindler! Bankrotteur!«
Und er sprang auf.
»Ah! die Volksausbeuter, die Diebe. Da bin ich, Chiaralunzi, du hast mir von meinem Stoff zum Mantel die Hälfte gestohlen!«
»Huhuhu!«
»Hohoho!«
Ganz hinten, im breitesten Gedränge der Verteidiger des Cafés »Zum Fortschritt«, schwang der Kaufmann Mancafede sein Metermaß. Seine grauen Falten hatten sich gerötet.
»Wer es wagen will!« heulte er. »Wer es wagen will!«
In den schmaleren Reihen sah der Kapellmeister Dorlenghi zerstreut umher; da rief es drüben:
»Die ›Arme Tonietta‹ ist keine Musik! Der Maestro weiß nicht, was Musik ist!«
»War das der Blandini?« fragte der Kapellmeister und stürzte vor an die Spitze, wo der Apotheker zwischen Gaddi und Torroni den Feinden seinen Stößel zeigte.
»Sakristeiflöhe«, donnerte Acquistapace, »die ihr das Werk Garibaldis nicht respektiert!«
»Garibaldi war ein häßlicher Typus! Er hat den Heiligen Vater umgebracht«, keifte vom Dom her Frau Nonoggi, aber die Mägde Fania und Nanà verboten es ihr mit geschwungenen Fäusten.
»Fest, Cimabue!« heulte die Pipistrelli, obwohl sie ihr die Kehle zuhielten. Denn der Schlächter drehte sich mit dem Lehrer Zampieri im Gemenge. »Drauf los, Allebardi! Drauf los, unsere Männer!«
Coletto wälzte sich unter dem ältesten Chiaralunzi, den der junge Gaddi von hinten zwickte. Ein kleiner Nonoggi rief: »Es lebe Don Taddeo!« und rannte davon. Sogleich brach ein ganzer Haufe Buben über ihm zusammen, und die dicke Wirtin »Zu den Verlobten« ward mit hineingerissen.
Der schöne Alfò schwenkte den blauen Klemmer des Galileo Belotti und der Schuster Malagodi das Monokel des jungen Salvatori, das er seiner Frau abgenommen hatte. Der Lehrer Zampieri rief noch:
»Wer an die großen Ideen rührt, ist tot!«
Da mußte er unter der Umarmung des Schlächters Cimabue das Pflaster küssen. Die beiden Kneipbrüder Zecchini und Corvi holten mit mächtigen Fäusten gegeneinander aus, im Augenblick aber, als sie sich berührten, ward ein kleiner freundschaftlicher Schlag auf den Bauch daraus.
»Laß es dir gut gehen«, sagten sie.
Die Bauern schlugen, weil sie niemand kannten, auf alle ein. Hin und her gestoßen von den Ringenden, polterte Galileo Belotti unaufhörlich:
»Wo ist der Advokat? Wo ist der Buffone?«
Der Advokat eilte mit anfeuernden Armstößen vor dem Rathaus auf und nieder.
»He, Dotti! He, Cigogna! Es ist Zeit, die gute Sache braucht euch … Ich kenne dich«, – und er zog dem Fuhrmann die Bluse über der Brust zusammen, »du hast mir Holz gebracht und in meiner Küche ein Glas getrunken. Wir sind Freunde.«
»Freunde!« brüllte der Fuhrmann und streckte mit einem Faustschlag den alten Seiler Fierabelli nieder, der eines Bedürfnisses wegen unter die Rathausbogen getreten war. Der Barbier Bonometti schlug sich auf die Brust.
»Sie sind ein großer Mann, Herr Advokat. Wenn der Schlächter Cimabue auch noch zehnmal stärker wäre, als er ist, der Advokat wäre dennoch ein großer Mann! … Das Leben für den Advokaten Belotti!« rief er und durchbrach, mit der Mütze wehend, die Reihen, tödlich angezogen von dem Schlächter, der ihn mit einer Hand vom Boden hob. Schon verlor Bonometti Mütze und Krawatte … Der Advokat wandte sich ab, grau im Gesicht. Er sagte heiser zu Polli:
»Der Ruhm will, daß man nicht rechts noch links sieht. Aber glaube mir, Polli, zuweilen stände man lieber mit den andern allen in Reih und Glied.«
Polli kratzte sich den Kopf.
»Inzwischen scheint es, daß wir Prügel bekommen. Meinem Olindo werden sie guttun, aber was mich betrifft –«
Und er zog sich in das Café zurück.
Den alten Acquistapace dort vorn belästigten zehn Feinde und griffen nach seinem Stößel. Er wich ihnen schrittweise. Die vorderen Glieder traten, zurückdrängend, auf die Füße der hinteren; man beschimpfte einander in den eigenen Reihen; – und unter Jubel- und Wutgeschrei der Frauen ward die Pyramide der Freiheitskämpfer von den Scharen des heiligen Agapitus eingedrückt. Mühsam deckte der Gevatter Achille mit wildem Schwingen seines Stuhles den Rückzug.
»Nun, Advokat«, sagte der Herr Giocondi erbost, »mir haben sie alle Knöpfe abgerissen bis auf diesen: scheint es dir jetzt Zeit, unsere Suppe zu essen?«
Der Advokat sah fliegend umher. In der Treppengasse entdeckte er seine Schwester Artemisia, die Damen Salvatori, Giocondi, – und hinter ihnen hielt Jole Capitani die gerungenen Hände vor sich hin. Der Advokat stöhnte auf; er legte aus, um allein sich dem siegreichen Feinde entgegenzuwerfen, – da traf in allem Lärm eine leise Musik sein Ohr: eine kleine rasche Musik, die ganz fern zuerst nur zirpte und nun schon nahe war und klirrte, wohllautend und unternehmend.
»Wir sind gerettet«, rief der Advokat leise; und aus voller Lunge:
»Der Sieg ist unser! Mut, Freunde!«
Der Apotheker schwang seinen Stößel schon wieder zum Angriff; die nächsten rückten vor; unter der Drohung einer noch unbekannten Gefahr ging der Feind zögernd zurück: – und aus der Rathausgasse kam im Eilmarsch mit Mandolinen und Gitarren eine Kolonne junger Leute, zehn Arbeiter vom Elektrizitätswerk. Das Volk beim Rathaus machte ihnen Platz. Vor dem Café »Zum Fortschritt« trat der Advokat Belotti ihnen entgegen. Er nahm den Hut ab.
»Meine Herren!«
Sie hörten zu spielen auf und blieben stehen. Ringsum war es plötzlich still.
»Meine Herren, wir schlagen uns hier für Ihre Interessen; denn welches höhere Interesse hätten Sie, hätte das Volk, das wahre Volk, als die Freiheit.«
»Buffone!« keifte drüben sein Bruder. »Seht ihr nicht, daß er euch zum besten hält?«
Die Weiber heulten auf; der Wirt »Zu den Verlobten« schrie: »Aber im Munizipium will er keinen Sozialisten.«
»Hören Sie nicht auf die Verleumder!« rief der Advokat in der Fistel, und seine aufgereckten Arme bebten. »Ich bin der Freund des Volkes, der Advokat Belotti, der die Anlage des Elektrizitätswerkes bewirkt hat und die Aufführung der ›Armen Tonietta‹, die euch so sehr gefallen hat; denn ich kenne euch, wie ihr mich, wir sind Freunde. Ihr beiden –«
Er streckte seine Hände hin.
»– euch habe ich bei einer edlen Tat beobachtet, bei einer hochherzigen Tat. Jener arme Bucklige, ihr wißt, den Schändliche mißhandelt hatten –: ah! Freunde, wir verstehen uns im Namen der Menschlichkeit.«
Der Advokat hatte die Augen voll Tränen. Die beiden jungen Leute mit großen Hüten und bunten Halstüchern schlugen in seine Hände. Er schüttelte die ihren.
»Sagt euren Genossen, daß ich sie überall verteidigen werde und daß eure Feinde die meinen sind. Seht jene dort: sie wollen das Theater schließen, wo ihr eure edelsten Genüsse sucht. Seht jene dort: sie werden euch, sobald sie zur Macht kommen, die Arbeit nehmen und die Stadt an die Priester ausliefern. Hat darum das Volk für die Freiheit geblutet? Nieder die Priester!«
Die Herren hinter ihm wiederholten:
»Nieder die Priester!«
Die Arbeiter zuckten auf, sie sahen sich an.
»Es lebe die Freiheit!« riefen mehrere auf einmal.
Durch das Café »Zum heiligen Agapitus« ging ein langes Gemurmel. Die Weiber drehten, nach vorn geworfen und durcheinanderschreiend, die Arme in der Luft. Das Volk und die Herren klatschten stürmisch. Zwei kleine Choristinnen wagten sich vor, in roten Blusen, zerzaust und zappelnd; sie riefen hell:
»Seht uns an, Jungen! Mut! Geht mit dem Advokaten!«
Frau Nonoggi und die Pipistrelli fielen über sie her und zerrten sie zurück. Der Advokat glänzte breit; er hatte weite, siegreiche Gesten um alle zehn Arbeiter her. Sie zauderten noch.
»Legt eure Instrumente nieder! Formiert euch! Ich bin an eurer Spitze. Was wir heute tun, tun wir für die Geschichte.«
»Legen Sie uns nicht hinein?« fragte einer. »Bei den Wahlen nachher haben die Dinge sich wieder geändert.«
Der Advokat drückte die verschränkten Hände gegen die Brust, er hob sich auf die Fußspitzen.
»Sehe ich aus wie ein Bürger? Bin ich ein Mensch, der die Soldi aufeinanderhäuft? Ich kenne Höheres als den höchsten Geldhaufen: das ist das Glück des Volkes; und auch ich will stürzen, was ihm entgegensteht!«
Er schüttelte Hände. Die Arbeiter lehnten ihre Mandolinen an die Mauer des Cafés »Zum Fortschritt«. Zu den Herren, die Meinungen austauschten, sagte der Gemeindesekretär:
»Also ein Feind der Bemittelten ist der Advokat. Er verbündet sich zur Befriedigung des Ehrgeizes mit dem Umsturz. Aus dem Herrschsüchtigen bricht der Anarchist.«
Der Advokat fuhr herum:
»Und Sie, Herr Camuzzi, haben sich zur Genüge verraten. Ihre Zweifelsucht, Ihre Kritik an der Tätigkeit des Menschen, Ihr Quietismus: alle diese schönen Dinge führen schließlich in den Schoß der Kirche. Begeben Sie sich doch dort hinüber! Tragen Sie doch gemeinsam mit Savezzo, dem Neidischen, das Banner des heiligen Agapitus! Bei uns aber –«
Mit der Rechten gen Himmel langend, setzte er sich an der Spitze der Arbeiterkolonne in Bewegung.
»– kämpfen wie einst, als wir denen von Adorna den Eimer abgewannen über unseren Köpfen schwebend Mars, Venus und Athene.«
Der Apotheker, Gaddi und der Baron Torroni schlössen sich an. Die Herren Giocondi und Polli sahen sich wild um; ein kriegerischer Wind strich schwindelnd um die Stirnen; auf einmal brachen mit mächtigem »Hohoho!« alle los.
»Seht ihr, daß jene Furcht haben?« sagte der Advokat zu den Arbeitern hinter ihm. »Sie rühren sich nicht. Und sie glauben, sie werden heute abend in den Logen sitzen? Ihr werdet darin sitzen, ihr. Dem Volk die Logen!« rief er und warf im Zusammenprall den Schuster Malagodi um. Die zehn Arbeiter fanden vor ihrem Wege, wie eiserne Schranken, die nackten Arme des Schlächters Cimabue. Der Gevatter Achille wälzte seinen Bauch über den Freund Giovaccone; er brüllte:
»Seit zwanzig Jahren erwarte ich diesen Tag. Ich will sehen, ob du auch in den Adern Weihwasser hast!«
Der Fuhrmann war daran, über Galileo Belotti herzufallen, aber Galileo machte, und schnappte dabei mit den Zähnen, so furchtbar »Pappappapp« und »Buffone«, daß der Fuhrmann bestürzt zurückschwankte.
Der Advokat sah sich dem Savezzo gegenüber. Inmitten des Kampfgewühles verschränkten beide die Arme.
»Jetzt würden Sie vielleicht wünschen«, sagte Savezzo, »meine Fähigkeiten früher erkannt zu haben. Dies ist mein Werk.«
Der Advokat musterte ihn langsam. Savezzo fragte:
»Bin ich noch ein Winkeladvokat?«
»Mehr als je«, sagte der Advokat und wandte sich ab. Savezzo erhob von hinten die Faust; Nello Gennari fiel ihm in den Arm.
»Ah, Sie!« keuchte Savezzo. »Wagen Sie sich noch einmal nach Villascura, und ich werde Sorge tragen, daß Sie nie mehr dorther zurückkehren!«
»Ich warte nicht so lange!« rief Nello und packte rascher zu als der andere.
»Fest, Cimabue, du, der du ein Löwe bist!« kreischten die Nonoggi und Frau Malagodi. Der Schlächter schüttelte von seinen zehn Angreifern einen nach dem andern ab, nur die beiden jungen Leute in großen Hüten und bunten Halstüchern hielten, so sehr er sie umherschwenkte, mit Armen und Beinen seine Gliedmaßen umklammert. Die Pipistrelli schwang ihren Krückstock über dem Kapellmeister, der am Boden lag, aber die kleine Rina entriß ihr, bleich vor Zorn und Liebe, die Waffe und verscheuchte die Alte. Durch riesige Übermacht überwältigte der Mittelstand den Verräter Scarpetta. Drunten, in dem Gewirr von Beinen, kroch Coletto mit den Buben und entzog Freunden und Feinden der Freiheit den Fuß, auf den sie sich stützten.
Der Schlächter hatte sich losgerissen. Er hatte blutunterlaufene Augen und Schaum vor dem Munde. Alles, was sich schreiend umherdrehte, wich auseinander, der Schlächter überrannte Nello Gennari und den Savezzo, die weiterrangen, und er stürzte, dumpf brüllend, mit ungeheuren blutigen Fäusten auf den Advokaten Belotti los. Der Schneider Chiaralunzi war es, der sich dazwischen warf. Gleich darauf hatten die beiden jungen Leute den Schlächter eingeholt und rissen ihn im Ansturm nieder.
»Wer befreit mich von diesem Schwein?« – und der Gevatter Achille hieb mit seinem Bauch von neuem auf seinen Konkurrenten los. Alles drehte sich wieder: da heulte der Kaufmann Mancafede auf, und nie hatte man von ihm solche Stimme gehört.
»Ich bin ermordet!«
Er hatte im Nacken ein Huhn! Die Barbiere Macola und Druso schlugen mit ihren Streichriemen blind um sich, aber die Hühner flatterten nur noch wilder im Gedränge. Coletto und die Buben scheuchten sie immer wieder hinein. Man schrie, bedeckte sich die Gesichter, stob auseinander. Galileo Belotti drehte einem Hahn den Hals um; aber da fiel mit ihrem Gegacker, lauter als das der Hennen, mit ihrem Schnabel und ihren langen Armen, die wie Flügel schlugen, die Hühnerlucia über ihn her. Er rettete sich mit den andern ins Café »Zum heiligen Agapitus«. Statt seiner erwischte sie den Advokaten und fuhr ihm mit den Krallen ins Gesicht. Er rief, die Augen geschlossen:
»Zu mir! Zu mir!«
Niemand kam; nach allen Seiten floh man; und von Panik ergriffen, warf der Advokat sich zu Boden.
Die Hühnerlucia ließ endlich ab von ihm; er hörte sie das Federvieh in ihre Gasse zurückscheuchen: – da berührte ein feuchtes Tuch, wie eine Liebkosung, sein Ohr, das blutete, und er fand das zärtlich gepolsterte Gesicht der Frau Jole Capitani über sich geneigt.
»Sie sind doch nicht schwer verwundet, Advokat?« sagte sie.
»Ihr Anblick, schöne Dame, heilt alles«, erwiderte er und stand auf. Rasch überzeugte er sich, daß der Platz in der Mitte leer und an den Rändern voll Verwirrung war. Sie waren unbeobachtet.
Er streifte an ihren Arm und sagte:
»Haben Sie mir in diesem schlimmen Augenblick das Zeichen geben wollen, um das ich Sie so sehnsüchtig bitte?«
Sie schlug nur die Augen nieder.
»Man wird uns sehen«, äußerte sie dann und zog sich zurück.
Der Advokat sah ihr nach, er vergaß sich abzustauben.
»Ah! die Frauen. Würde man große Dinge tun wollen, wenn nicht sie wären?«
Und er wandte sich nach dem Café »Zum Fortschritt«. Dort umarmte alles einander und rief nach Getränken. Der Gevatter Achille war überall zugleich mit seinen gelben, roten und grünen Gläsern.
»Wir haben sie in die Flucht geschlagen!« verkündete er. »Der ›Heilige Agapitus‹ wird künftig wieder leerstehen, und der Freund Giovaccone wird sein Weihwasser nicht sobald mehr los.«
Aus dem Garten des Palazzo Torroni wurden Blumen gebracht: der Apotheker raffte mit zitternden Händen einen Strauß zusammen und übergab ihn Italia, die sich auf der Schwelle zeigte.
»Ihnen zu Ehren, Fräulein«, stammelte er, »haben wir den Priester besiegt.«
Dann warf er sich, mit überfließenden Augen, dem Advokaten an die Brust.
»O Freund! Welch ein Tag!«
»Wäre nicht Mancafede gewesen«, – und der Herr Giocondi klopfte dem Kaufmann den Bauch, »wer weiß, wie es gekommen wäre. Er aber war der erste, der sie mit seinem Huhn in Schrecken setzte.«
»Alle haben ihre Pflicht getan«, hieß es. »Wo aber hat der Cavaliere gesteckt?«
Der Cavaliere Giordano kam entrüstet aus dem Café hervor. Er zeigte Schultern und Ärmel seines weißen Anzuges umher.
»Die Hühner … Ich werde ihn waschen lassen müssen.«
»Auch der Cavaliere ist ein Held«, entschied Polli, und Italia drückte ihm und dem Advokaten einen Kranz auf.
Der Barbier Nonoggi stellte sich ein:
»Wir sind also siegreich! … Wie? Die Herren haben mich nicht gesehen? Aber ich war es doch, der den Schlächter abgehalten hat, den Advokaten zu ermorden.«
Mehrere erinnerten sich daran. Der Advokat selbst konnte nicht sagen, was in jener Minute geschehen war. Nonoggi ward bewirtet.
Der Gemeindesekretär rückte den Klemmer zurecht.
»Aber woraus schließen die Herren, daß wir die Sieger sind? Mir scheint, daß ich Sie am Boden gesehen habe, Herr Advokat?«
Da der Advokat ihn keiner Antwort würdigte –
»In jedem Fall halten unsere Gegner sich nicht für geschlagen. Daß sie sich ins Innere des Cafés ›Zum heiligen Agapitus‹ zurückgezogen haben, sollte uns nicht zuversichtlich stimmen. Vielleicht schon im nächsten Augenblick verlassen sie es, um, durch die Feier vermeintlicher Siege weniger erschlafft als wir, das Café ›Zum Fortschritt‹ im Sturm zu nehmen.«
Der Kaufmann Mancafede, Polli, der Cavaliere Giordano setzten, verstummt, ihre Gläser hin. Da bog aus dem Corso ein Zug auf den Platz. Der Konditorjunge Coletto war der erste; er blies quäkend durch die Hände. Die Jungen hinter ihm pfiffen den Marsch der Mandolinen und Gitarren mit; und in der Mitte der Arbeiter, geführt von den beiden jungen Leuten mit großen Hüten und bunten Halstüchern, stampfte der Schlächter Cimabue.
»Man sollte es nicht für möglich halten«, bemerkte der Stadtzolleinnehmer. »Warum schlägt er sie nicht nieder?«
Sie kamen vorüber, in ihrem unternehmenden Schritt, mit ihrer flinken Musik. Die beiden jungen Leute hatten die Hände fest im Gürtel des Schlächters.
»Und der Gürtel ist offen! Sobald er sich rührt, reißen sie ihm die Hose herunter!«
Der Advokat erhob sich und entblößte den Kopf. Die Herren klatschten.
Ein kleiner Haufe, der hinter dem Brunnen noch immer sich hin und her schob und Zurufe ausstieß, ging plötzlich auseinander; man sah in seinem Innern den Savezzo am Boden liegen; und das Haar zurückstreichend, richtete Nello Gennari sich auf. Wie er, die Schultern ein wenig emporgezogen, zögernd über den Platz ging, riefen mehrere Frauen, die zurückgekehrt waren:
»Es lebe der schöne Komödiant! Auch tapfer ist er!«
Die Herren beim Café kamen ihm schon mit Gläsern entgegen. Der Advokat sah sich über die Schulter nach dem Gemeindesekretär um; aber er war hinter den andern verschwunden. Der Kaufmann Mancafede beantragte:
»Dieser Savezzo muß aus dem Klub ausgestoßen werden. Wir sind es der Sache der Freiheit schuldig, unseren Sieg rücksichtslos auszunützen.«
Auch der Baron Torroni war der Meinung. Der Advokat widersprach.
»Wir müssen unsere Gegner durch Milde in Erstaunen setzen und versöhnen. Das verlangt die Klugheit des wahren Staatsmannes, der über den Parteien steht.«
Der Gevatter Achille unterstützte ihn.
»Wer wird von dem Streit der Bürger den Vorteil haben? Niemand als dieses Schwein von Freund Giovaccone. Der Schlächter Cimabue hat immer zu meinen besten Kunden gehört; diese Arbeiter, die niemals etwas verzehren, hatten nicht das Recht, ihn so zu behandeln.«
»Was denken die Herren darüber«, sagte der Lehrer Zampieri; er rückte blaß auf seinem Sitz umher, »– wenn man eine Abordnung zu Don Taddeo schickte?«
Der Tabakhändler klopfte ihm auf die Schulter.
»Keine Furcht, mein Lieber. Solange wir an der Macht sind, wird der Priester uns nicht hindern, Sie fest anzustellen.«
»Gleichviel«, sagte der Advokat. »Es wäre ein Akt hoher Diplomatie. Wir würden den Priester beschämen und entwaffnen, denn wir würden ihm beweisen, daß wir, die wir Gott in der Natur anbeten, bessere Christen sind als er.«
Die Meinungen teilten sich. Italia bat für Don Taddeo.
»Er ist kein schlechter Priester. Ihr solltet ihn nicht zu sehr kränken.«
Der Herr Giocondi kniff ein Auge zu und raunte Italia ins Ohr:
»Du selbst wirst ihn gewiß noch heute mit dem Apotheker kränken.«
»Ah!« rief Polli. »Wenigstens wissen wir jetzt, wen er mit der großen Babel gemeint hat. Es ist die Hühnerlucia, – denn sie hat die Frommen in die Flucht geschlagen.«
»Ich hoffte, ein Schlachtfeld voll Leichen zu finden«, sagte sie. »In der ›Bionda‹, die ich studiere, werden so viele erschlagen, man müßte das einmal sehen. Statt dessen sind alle unversehrt«, – und sie lächelte verächtlich. »Der Priester riet, sie nicht zu schonen.«
»Er gefällt mir. Er ist ein böser Fanatiker und stärker als ihr alle. Wir beide könnten uns verständigen, – wenn er wollte. Die Prüfungen werden ihm guttun. Ah! seht doch, wie er sich quält.«
Man erkannte ihn erst jetzt: in den dunkelsten Winkel, zwischen dem Turm und dem Hause Mancafede, krümmte er sich mit dem Rücken schwarz über die Mauer hin, schnellte auf, um zwei flatternde Schritte zu tun, und fiel zurück. Der Advokat nickte über die Köpfe der anderen nach ihm hin; er murmelte starr:
»Da sieht man, was es heißt, geschlagen zu sein.«
Acquistapace und der Gevatter Achille erboten sich, hinzugehen.
»Wir werden ihm vorstellen, daß der Bürgerkrieg nur dem Freund Giovaccone nützt«, sagte der Wirt.
»Und daß wir, alles in allem, keine Feinde der Religion sind«, sagte der Apotheker. Der Advokat drückte ihnen die Hände.
»Ohne den Halt der Kirche wird der Mittelstand nur noch ein Haufe auseinanderstrebender Interessen sein. Geht, meine Freunde, geht!«
Sie machten sich auf.
Der Kapellmeister war schmerzlich in sich versunken. Plötzlich wandte er sich mit bebender Lippe an Flora Garlinda.
»Er gefällt Ihnen sehr?« fragte er.
»Wer?«
»Don Taddeo.«
Sie hob die Schultern.
»Ich bin ein Narr«, sagte er fast laut.
Die Stimme des Priesters brach unvermutet los: hoch, gewaltsam und angegriffen, als habe er schon stundenlang geschrien:
»Ihr haltet euch für Sieger? Wißt ihr nicht, daß Gott manchmal die siegen läßt, die er verderben will? Um so sicherer verharren sie bei ihrem Abfall. Ah! ihr Sieger. Du, der du deiner heiligen Gattin durch deine Verfolgungen ins Paradies hilfst, um selbst zur Hölle zu fahren! Du, der du jeden Tag durch deinen Bauch, der dein Gott ist, dahingerafft werden kannst! …«
»Wie er sich abarbeitet!« raunte man einander beim Café zu.
»Er gleicht einem Dämon. Man kann sagen, daß Achille und Romolo sich opfern für das öffentliche Wohl.«
»Friede?« – und die Stimme des Priesters überschlug sich. »Ich kenne keinen Frieden mit den Feinden Gottes und seiner heiligen Kirche. Wie? Ich soll den Eimer an einen Amerikaner verkauft haben! Mit den Nonnen habe ich Unzucht getrieben und den Bauern Blendwerk vorgemacht mit einer Madonna, die die Augen bewege! Das schreibt ihr, redet es umher, meldet es Monsignore, um mich in seinem Geist zu vernichten, – und ihr kommt und sprecht von Frieden? Nähme ich ihn an, Gott schlüge mich selbst. Nun aber wird er euch schlagen, euch. Gott; wenn denn ein Wunder nötig ist –«
Don Taddeo stieß beide Arme weit von sich und breitete die Brust hin. Die Abgesandten wichen zurück.
»– tue es!« schrillte der Priester gen Himmel.
Da entstand in der Rathausgasse Stampfen und Geschrei. Der Schlächter Cimabue raste, und raffte dabei seine Hose zusammen, den zehn Arbeitern voraus über den Platz. Die Herren beim Café »Zum Fortschritt« wichen seitwärts von ihren Stühlen. Der Schlächter war vorbei; er sprang ins Café »Zum heiligen Agapitus«, daß die Scheiben der Glastür zu Boden klirrten. Gleich darauf quoll alles daraus hervor, fuchtelte, schlug auf die eisernen Tische, schrie Drohungen herüber. Hinter all dem Toben, worin die Stimme des Priesters zerging, sah man seine bleichen Hände, zum Dank heftig verschlungen, durch den Schatten stürzen.
Die Abgesandten kehrten eilig zurück.
»Nicht für eine Million würde ich noch einmal mit ihm sprechen«, äußerte der Gevatter Achille und wischte sich die Stirn.
»Seid ihr feige!« sagte Flora Garlinda, das Kinn auf der Faust, mit funkelnden Augen. »Warum seid ihr nicht über den Priester hergefallen? Jene dort würden euch erschlagen haben. Es wäre schön gewesen.«
Auch die Arbeiter hatten sich zurückgezogen.
»Hierher, Freunde!« rief der Advokat, und er ließ ihnen Wein geben.
»Wir werden nach Haus gehn, Genossen. Mögen jene allein weiterschreien! Das wird nicht ungeschehen machen, daß wir sie vom Platz vertrieben haben. Inzwischen rufen uns andere Aufgaben«, – und ein Gedanke der Wonne dehnte sein Gesicht in die Breite.
»Tatsächlich fängt man an, genug hiervon zu haben«, sagte der Baron Torroni.
»Und die Suppe wird kalt«, ergänzte Polli. »Malandrini und Sie, Maestro, wir haben denselben Weg.«
Der Advokat hielt den Kapellmeister zurück; er flüsterte ihm dicht ins Gesicht:
»Mut, junger Mann! Ihre Sache steht besser, als Sie glauben. Wer mehr Erfahrung als Sie in solchen Dingen hat, sieht ohne weiteres, daß das Mädchen Sie mit dem Priester eifersüchtig machen wollte.«
»Sie glauben?«
»Er wird rot wie eine Jungfrau! So greifen Sie doch zu, was Deixel: man wartet darauf. Es gilt jetzt, zu genießen!«
Jole Capitani wartete! Der Advokat wünschte allen sein eigenes rosiges Geschick und traute es ihnen zu.
Dem Kapellmeister schlug das Herz in den Hals. Stumm wehrte er Polli ab, der ihn mitziehen wollte. Der Tabakhändler samt Malandrini und dem Baron Torroni entfernten sich mit Italia, die vergebens nach Nello rief, in der Richtung des Corso. Camuzzi, der Lehrer Zampieri und die beiden Herren Salvatori gingen nach der anderen Seite, gegen die Rathausgasse. Der Cavaliere Giordano wollte hinterher. Flora Garlinda folgte ihm zwei Schritte weit.
»Cavaliere, ich kenne eine Frau, die Sie liebt«, sagte sie gedämpft; und da er sie aufflackernd ansah: »Oh, ich bin es nicht selbst; es ist die Frau des Schneiders Chiaralunzi. Sie schläft nicht mehr, sie ist krank durch Sie. Sie spricht nur noch davon, daß sie von Ihnen den Gesang lernen will … Aber jene laufen Ihnen weg. Eilen Sie!«
Der alte Sänger machte sich davon. Da traf ihn etwas Hartes ans Bein, und von drüben rannte jemand mit eingezogenen Armen gegen ihn los.
»Wartet auf mich, um Gottes Liebe!« kreischte der Alte und hastete steif, ohne vom Fleck zu kommen. Der Tapezierer Allebardi warf noch einen Gardinenring nach ihm, dann stemmte er die Arme in die Hüften und bog sich. Drüben brüllten sie, und auch der Advokat und der Herr Giocondi lachten. Flora Garlinda sagte ernst, und ihre Augen funkelten wieder:
»Auch diese Leiche sollte ich nicht sehen.«
»Es wird Zeit, daß ich dich nach Haus bringe«, bemerkte Gaddi und nahm sie beim Arm. Der Kapellmeister wartete nicht, bis der Gevatter Achille ihm herausgegeben hatte; er stürzte ihnen nach in die Gasse der Hühnerlucia.
»Wann kann ich Sie sprechen, Flora? Ich habe Ihnen etwas so Wichtiges zu sagen.«
»Brave junge Leute«, bemerkte der Advokat. »Sie werden glücklich werden. Gehen auch wir, Giocondi!« – und er vertauschte seinen Siegerkranz mit dem Strohhut.
Die zehn Arbeiter griffen nach ihren Musikinstrumenten. Sie nahmen den Advokaten und seinen Begleiter in ihre Mitte und geleiteten ihn unter den Klängen der Arbeiterhymne zur Treppengasse. Vor dem Café »Zum heiligen Agapitus« war alles auf den Beinen und schüttelte die Fäuste; aber niemand wagte sich heran. Der Advokat sagte:
»Wir gehen unter dem Schutze des Volkes, Giocondi. Welche große Sache!«
»Besonders für dich, Advokat, der du gewiß unter dem Schutze des Volkes in die Arme einer Choristin gehst.«
Der Advokat schmunzelte.
»Ich gehe zum Doktor Capitani, – da er ja behauptet, daß ich Zucker habe.«
»Verflucht, das ist kein Vergnügen.«
»Und dennoch gehe ich zu meinem Vergnügen hin.«
Den Finger hin und her bewegend, mit tief bedeutsamem Blick:
»Was er mir gibt, nehme ich nicht; die Ärzte wollen immer nur die Macht an sich reißen.«
Der Herr Giocondi rieb sich die Hände.
»Und statt dessen nimmst du dir etwas, das er freiwillig nicht hergeben würde. Wir haben verstanden. Ah! der Advokat …«
Das Klirren, Zirpen und angeregte Lachen verschwand in der Treppengasse. Der Kaufmann Mancafede sagte zu Acquistapace und dem Gevatter Achille:
»Nun sind sie fort, alle zehn. Mag man vom Advokaten denken, was man will, er ist ein häßlicher Egoist, daß er sie alle zehn mitgenommen hat. Er hätte fünf dalassen sollen, damit auch ich einen Schutz habe, wenn ich nach Hause gehe.«
Der Kaufmann verzerrte knirschend das Gesicht und schlug schwach auf den Tisch.
»Wie soll ich nun hinüberkommen? Gleich vor meiner Tür warten jene Mörder auf mich.«
Er kroch ganz in seine braune, wollige Jacke zusammen.
»Mich werden sie noch schlechter behandeln als den Cavaliere, denn sie hassen mich.«
»Du solltest nicht mit dem Wein spekulieren«, rief der Gevatter Achille. »Lieber mit allem andern, aber nicht mit dem Wein.«
Sie beschrieben ihm, ohne Schwung, die Art, wie er sich vielleicht ungesehen am Dom entlang drücken könne. Er murmelte nur:
»Ihr habt gut reden, ihr seid hier zu Hause.«
Da stand drüben der Savezzo auf und kam herbei. Wie die Herren ihn stumm empfingen, lächelte er düster.
»Man hat sich hier wohl geärgert, weil das Volk seine Rechte zu fordern wagte und weil es Führer gefunden hat, die seinen Forderungen Worte gaben?« fragte er. Der Gevatter Achille erwiderte:
»Das Weihwasser des Freundes Giovaccone schmeckt Ihnen wohl nicht mehr, Herr Savezzo?«
»Da Sie gerade die Flasche in der Hand haben, geben Sie mir einen Vermouth!« – und Savezzo machte es sich bequem.
»Alle diese Scherze, meine Herren, galten nicht euch: ich habe sie veranlaßt, um dem Advokaten zu zeigen, daß es noch andere Leute gibt als ihn.«
»Der Advokat ist eine Persönlichkeit«, sagte der Apotheker; »Sie aber, Herr Savezzo, sind ein Schurke und ein Verräter.«
Savezzo neigte mitleidig den Kopf.
»Sie, mein Herr, als alter Soldat, brauchen nicht zu wissen, wie man politische Erfolge erreicht. Wer ich bin, sagt Ihnen die Macht, die ich hinter mir habe.«
Und er wies hinüber. Der Kaufmann zuckte; die beiden andern verschluckten ihren Widerspruch.
»Trotzdem bin ich nicht der Meinung«, fuhr der Savezzo fort, »daß wir Feinde sein müssen. Um es Ihnen zu beweisen, werde ich auf den nächsten Abend des Klubs gehen.«
»Man wird Sie hinauswerfen«, rief der Apotheker. Der Kaufmann tastete zitternd nach seinem Arm.
»Um Gottes Liebe: Vorsicht!« – und zum Savezzo, mit der Hand auf dem Herzen:
»Mein Herr, ich bin der friedlichste der Menschen, ich hasse den Zwist der Bürger, habe immer die Versöhnung gewollt, und nie wäre ich, angesichts so bedauerlicher Ereignisse, auf den Platz hinabgestiegen, wenn man mich nicht gezwungen hätte. Sie sind ein Mitglied des Klubs, ich werde für Ihre Rechte eintreten, sogar gegen den Advokaten.«
Der Kaufmann machte Fäuste.
»Er ist ein Egoist, mein Herr, der alles für sich nimmt. Keinen der zehn Arbeiter hat er mir gelassen, damit ich nach Hause gelange.«
»Warum soll der Herr Savezzo seinen Vermouth drüben trinken, wo er schlecht ist«, sagte der Gevatter Achille. »Könnten Sie nicht auch dem Schlächter Cimabue raten –?«
»Wir sind also Freunde.«
Savezzo stand auf.
»Herr Mancafede, ich begleite Sie hinüber, verlassen Sie sich auf mich.«
Der Kaufmann umklammerte, mit Tränen in den Augen, seine beiden Hände.
»Man hat Sie aus dem Klub ausstoßen wollen, Herr Savezzo; aber nicht ich war es. Wer Ihnen sagt, daß ich es war, der lügt.«
»Ah, meine Herren, eine wichtige Sache, die wir nicht vergessen dürfen«, – und der Savezzo begann auf seine Nase zu schielen. »Am nächsten Abend des Klubs sollen die Komödianten Musik machen: da muß ich aufgefordert werden, auf dem Bleistift zu blasen. Wie? Ein Künstler, den die ganze Stadt kennt, sollte zurückstehen hinter jenen schlechten Schreiern? Meine Ehre will, daß ich an jenem Abend meine Spezialität vorführe und auf dem Bleistift blase.«
»Sie blasen göttlich auf dem Bleistift!« rief der Kaufmann.
Der Gevatter Achille sagte:
»Man muß zugeben –«
Der Savezzo schielte immer stärker.
Als er mit Mancafede fort war, schritt der Apotheker, gesenkten Kopfes, seiner Tür zu. Auf der Stufe wandte er sich um.
»Alles geht dahin«, sagte er traurig, »auch die Liebe zur Freiheit. Jetzt schließt man Pakte mit ihren Feinden. Alle werden schwach: du sogar bist es, Achille. Und ich selbst: – wer mir gesagt hätte, ich würde mit dem Priester verhandeln! Aber so ist es, und die Zeiten Garibaldis kommen nicht wieder.«
Er trat über die Schwelle und zog beschwerlich sein hölzernes Bein nach.
Das Café »Zum Fortschritt« stand leer; die Gäste des Cafés »Zum heiligen Agapitus« wurden einer nach dem andern von ihren Frauen zum Essen geholt. Als die letzten fort waren, erschien der Leutnant Cantinelli mit zwei seiner Untergebenen. Sie machten mit ihren gefiederten Dreimastern, ihren Säbeln und rotgesäumten Fräcken die Runde um den Platz, wobei sie die Spuren des Kampfes vom Boden auflasen. Vom Gevatter Achille, der ihnen etwas zu trinken anbot, ließ der Leutnant sich über den Verlauf berichten.
»Wir haben nicht eingreifen wollen«, erklärte er. »Ein Zwist der Bürger ist ohnedies nichts Schönes; durch die Dazwischenkunft der bewaffneten Macht wäre er vielleicht grausam geworden, und wir sind nicht grausam … Fontana, Capaci, beim Brunnen sehe ich einen Halskragen und eine Krawatte.«
Der Gevatter Achille war der Meinung, sie gehörten dem Barbier Bonometti.
»Er hat sich schlimme Püffe geholt. Der Apotheker hat ihn einreiben müssen.«
»Was für eine häßliche Sache!« sagte der Leutnant. »Fontana, du wirst ihm sein Zeug zurückbringen.«
Darauf stellte man Vermutungen an, ob die zweite Vorstellung der »Armen Tonietta« heute abend stattfinden werde. Der Gevatter Achille äußerte Zweifel, aber Cantinelli beruhigte ihn. Der Mittelstand sei noch mehr interessiert an den Aufführungen als die Herren. Die Handwerker spielten im Orchester, und keiner von ihnen werde seine zwei Lire verlieren wollen, noch die halbe Lira für seinen Jungen oder sein Mädchen, die im Chor mitsängen.
»Bevor es acht schlägt, werden wir sie kommen sehen.«
Als es acht schlug, hallten schon Schritte aus allen Gassen. Von den Herbergen beim Tor und von den Gasthäusern »Zum Mond« und »Zu den Verlobten«, am Corso, strömten Scharen von Fremden über den Platz. Die Bürger mischten sich unter die Bauern; sie verständigten sich mit Achselzucken.
»Eh! man muß doch Musik machen.«
Die Arbeiter erstiegen im Eilschritt die Treppengasse; die Mägde hinterließen den Nachklang ihres gellenden Lachens und einen Geruch von Grünzeug und von Rauch; die Buben überrannten alles; – und um halb neun kamen die Herren. Der Apotheker Acquistapace brauchte keine Vorsicht mehr; erhobenen Hauptes stapfte er in seinem besten Rock an seiner Frau vorbei.
Alle waren davon, da lief in ihrem schmutzfarbenen Regenmantel Flora Garlinda über den Platz. Der Kaufmann Mancafede zog rasch den Kopf wieder in seine Haustür, und erst nach langem Horchen wagte er sich, husch, husch, hinterdrein.
Schon um elf war er zurück, vor allen andern.
Als das Durcheinander all der Singenden und Pfeifenden vorbei war, lief Flora Garlinda dem Gäßchen der Hühnerlucia zu. Der Kapellmeister folgte ihr hinein, einen halben Schritt hinter ihr.
»Sind Sie denn auch diesmal nicht zufrieden mit mir? Ich habe Sie alles wiederholen lassen, was Sie wollten.«
»Was das Publikum wollte. Und davon bin ich nun müde. Gute Nacht, Maestro!«
»Sie müssen mich anhören, Flora«, – und er legte seine Hand, die zuckte, auf ihren Arm. Sie lief weiter.
»Sie halten mich für Ihren Feind: wie wären Sie sonst so böse gegen mich. Aber ich bin nicht Ihr Feind, Flora: ich liebe Sie. Seit ich zum erstenmal Ihre Stimme gehört habe, o Gott! wie liebe ich Sie seitdem.«
»Ich glaube es nicht«, sagte sie. »Und dann habe ich Ihre Liebe nicht nötig.«
»Jeder hat Liebe nötig. Sind Sie kein menschliches Wesen? Ach, daß ich groß würde! Sie würden sehen, wozu ich es geworden bin: nur um Sie groß zu machen, Flora.«
Sie hielt plötzlich an, sie sah ihm erbittert in die Augen.
»Sind Sie nun fertig mit Ihren Unverschämtheiten? Ich groß durch Sie: es ist zu lächerlich, ich will mich nicht ärgern.«
Sie lief schon wieder, die Schultern hinaufgezogen. Er stammelte in ihren Nacken:
»Die Liebe macht mich unvernünftig, ich weiß es. Verzeihen Sie mir! Möchte man nicht wohltun, wenn man liebt? Darum weiß ich dennoch: Sie sind größer als ich; vielleicht, daß meine Musik berühmt wird, wenn Sie geruhen, sie zu singen.«
Er keuchte. Sie schüttelte sich.
»Ein gutes Wort, Flora, sagen Sie ein gutes Wort!«
Da waren sie vor ihrer Tür. Flora Garlinda drehte sich um.
»Sie wollen mich also benutzen, um berühmt zu werden. Ich soll im Schatten Ihres Ruhmes leben. Das mag Liebe sein: ich erwarte nichts anderes von der Liebe. Aber ich sage Ihnen, daß Ihre Liebe mich beleidigt.«
Und sie betrat das Haus. Er stürzte hinterher.
»Ah! ich erkenne Sie endlich. Nie will ich's wieder vergessen, wie Sie böse sind!«
Mit einer Stimme, die flog und sich überschlug:
»Ich wußte es, ich wußte es. Immer haben Sie mich nur demütigen wollen, nur zur Verzweiflung treiben, für alle meine Liebe, die Sie doch fühlten, für alle meine Liebe. Das ist aus, Sie sollen nicht triumphieren. Sie sind böse, ich hasse Sie!«
Auf dem ersten Flur blieb sie atemlos stehen. Seine Fäuste mit heftig geröteten Knöcheln hieben nach jedem Wort in die Luft, im verhärteten Gesicht hatte er Augen wie Stahl. Sie sah sich hastig um, sie wich gegen die Mauer zurück. Plötzlich lag er auf den Knien.
»Ich habe Ihnen Furcht gemacht! Nie, solange ich lebe, werde ich mir das verzeihen.«
Er stöhnte wild auf:
»Nun muß ich freilich gehen.«
Sie sah ihn noch aufstehen und, beide Hände vor den Augen, die Stirn auf die Wand senken. Schon war sie oben, riß die Tür ihres Zimmers zu, verriegelte sie und brach in Lachen aus. Wie sie im Spiegel ihr verzerrtes Gesicht sah, drückte sie das Tuch vor den Mund. Da hörte sie eine heftige Flüsterstimme. »Das darf Sie nicht wundern, Maestro, denn sie liebt einen anderen.«
Flora Garlinda spähte durch den Fensterladen. Drunten zog der Barbier Nonoggi den Kapellmeister auf die andere Seite und stellte die Hand an den Mund.
»Den Schneider liebt sie, bei dem sie wohnt, und er betrügt seine Frau mit ihr, die arme Unglückliche. Wißt Ihr nicht mehr, wie Euch der Schneider verleumdet hat? Er hält sich für einen größeren Künstler, als Ihr seid, und am Sonntag macht er draußen in den Schenken seine elende Musik, die die Bauern nicht hören wollen, weil sie die meine kennen …«
Der Kapellmeister riß sich los.
»Ah! Verräterin«, – und er warf sich ins Haustor. Flora Garlinda sprang vom Fenster zurück, sie drehte in allen Türen die Schlüssel um, stand und hielt den Atem an.
»Uff! Nein, er wagt nichts.«
Und sie sah, die Mundwinkel herabgezogen, hinterdrein, wie der Barbier ihn, der schluchzte, durch die mondweiße Hälfte der Gasse von dannen schaffte.
Sie fühlte sich nicht schläfrig; sie löste das Haar auf, um es zu waschen; und sie sah über die Schultern zu, wie es im Spiegel ihren mageren Nacken in Gold hüllte, durch seinen Fluß ihr Profil weich machte. Dann brachte sie das Gesicht dem Glas ganz nahe und musterte ihre Zähne, die klein, weiß und wohlgeordnet in ihrem geräumigen Munde standen. »Meine Schönheiten!« – und sie lächelte sich spöttisch zu. »Es sind die dauerhaftesten und darum für mich die besten; denn sie sollen noch in dreißig, vierzig Jahren einer Menge Glück vorzaubern … Wo sind dann die, die jetzt zu mir sprechen? Ihre Stimme erreicht mich nicht mehr lange. Käme ich dann aus der großen Welt einmal wieder hierher: er – er zöge vielleicht noch immer mit seiner Kapelle von Schneidern und Barbieren zum Fest eines Heiligen.«
Es klopfte; Frau Chiaralunzi stand draußen.
»Wir wollen nicht stören«, sagte sie und zeigte ihre Zahnlücken.
»Sie sind noch auf, dann komme ich zu Ihnen«; – und die Primadonna ging im Unterrock in die Küche des Schneiders. Er saß über einer Zeitung, die den Tisch bedeckte: plötzlich stand er lang da, mit den Händen an den Nähten. Flora Garlinda setzte sich, bevor noch der Schneider herbeigestürzt war, um den Stuhl abzuwischen, neben den niedrigen Steinherd, woraus eine Flamme züngelte. Die Frau zog den Kessel tiefer herab an seiner Kette; sie bot dem Fräulein eine Tasse Kaffee an.
»Aber das Haar! Sieh das Haar, Umberto! Solches wirst du nie wieder sehen.«
Die Frau schob die Finger in das Haar der Primadonna.
»Und man fühlt es nicht, so weich ist es. Fühle auch du!«
»Das Fräulein wird vielleicht nicht wollen.«
Er rührte sich nicht. Flora Garlinda legte selbst eine seidene Welle über seine Hand; und wie das Schwanken der großen, starkknochigen Hand das leichte, wehende Haar auf und nieder warf, lächelte sie glücklich. Der da vermaß sich nicht, an sie zu rühren. ›Er liebt mich so, wie wenn ich fort wäre und in allen Hauptstädten berühmt wäre.‹
Der Schneider sagte:
»Es ist gut, daß nicht jede Frau solches Haar hat.«
»Wenn die Rina, die Magd des Tabakhändlers, solches Haar hätte, würde er sie nicht verlassen.«
Da der Schneider nicht antwortete, fragte Flora Garlinda:
»Wer?«
»Der Maestro«, – und die Frau setzte sich sogleich zu ihren Füßen auf den Herd.
»Wie sie unglücklich ist, die arme Kleine! Man weiß nicht, was er hat; er sagt, er liebe keine andere, und dennoch will er sie nicht mehr. Sie aber: er könnte sie schlagen, und sie würde ihm die Hand küssen. Man sieht es wohl, denn den Cavaliere Giordano, der doch ein Herr ist, hat sie fortgeschickt.«
»Den Cavaliere?«
»Ja, ihn, – obwohl er verspricht, der arme Alte, alles für ihren Maestro zu tun, was sie fordern will. Aber das ist es: was soll sie fordern?«
Der Schneider wendete sich hin und her.
»Das Fräulein will diese Dinge nicht hören«, sagte er.
»Im Gegenteil, sie interessieren mich –«
Flora Garlinda lachte auf.
»– und ich will Euch sagen, was sie für ihren Maestro fordern soll.«
Die Frau legte die Hände aneinander.
»Sie wollten die Güte haben? Die Rina wagte nicht, Sie selbst zu bitten.«
»Sie soll von dem Cavaliere verlangen, daß er dem Maestro ein Engagement verschafft bei der Gesellschaft Mondi-Berlendi, die im Herbst nach Venedig geht und zum Winter nach Bologna. Das ist ein schöner Posten –«
Ihre Augen begannen zu funkeln.
»– vielleicht ein wenig zu schön für den Maestro Dorlenghi. Aber wenn er hört, daß er ihn bekommen soll, wird er der Rina danken wollen: so wird sie befriedigt sein, die arme Kleine; – und ob er ihn dann wirklich bekommt, was kümmerte das uns, wie, meine Freunde?«
»Tatsächlich«, machte die Frau betroffen.
»Denn er verdient nicht, daß man ihm hilft: Euer Mann weiß es.«
»Er ist ein böser Mann«, sagte der Schneider. »Ich weiß es jetzt, – obwohl er, wenn man ihn ansieht, gut scheint. Aber er gönnt keinem andern etwas.«
»Und er hat von Eurem Mann gesagt, daß er schlechter spiele als alle.«
»Welche häßliche Lüge! Wenn mein Mann loslegt mit seinem Tenorhorn, ist er stärker als das ganze Orchester.«
»Seht Ihr, daß der Maestro böse ist? Ich gebe Euch meinen Rat nur, um dem Cavaliere Vergnügen zu machen, der so sehr die Frauen liebt. Hört: wollt Ihr Euch nicht den Gesang von ihm lehren lassen, – da Ihr doch so gern die ›Arme Tonietta‹ singen würdet? Er wird Euch den Hof machen, aber Euer Mann braucht nicht eifersüchtig zu sein.«
Der Schneider lachte bieder.
»Und unter der Leitung des Cavaliere werdet Ihr die ›Arme Tonietta‹ bald besser singen als ich.«
Die Frau spreizte erschreckt die Hand; und dann lächelte sie albern. Flora Garlinda stand auf, um ihren Hohn nicht sehen zu lassen.
»Also, ich schicke Euch den Cavaliere.«
Wie sie an ihrer Tür sich umdrehte, stand drüben noch der Schneider und blinzelte, als seien ihm die Augen müde vom langen Starren auf ihr goldenes Vlies.
Von neuem hielt sie es sich im Spiegel entgegen.
»Dieses Haar! Immer andere Menschen werden es also sehen, immer andere diese Stimme bewundern. Ich werde Geschlechter entzücken, Geschlechtern groß scheinen, die noch nicht geboren sind. Was aber werde ich selbst fühlen? Werde ich glücklich sein?«
Die endlose Flucht unbekannter, einsamer Jahre gähnte plötzlich im Dunkel hinter ihrem Spiegelbild. Ihr schauderte.
»Warum muß ich allein sein. Warum ertrage ich niemand neben mir. Sind denn wirklich alle meine Feinde? Ach, daß ich böse bin!«
Mit grübelndem Ekel sah sie sich in die Augen.
Sie besann sich. »Das alles ist erledigt, ich habe gewählt.« Über den kleinen eisernen Dreifuß gebeugt, goß sie sich das Flakon ins Haar. Aber sie fühlte sich linkisch dabei.
»Ich bin armselig, sobald ich nicht singe. Dies Haar ist zu schön für mich, es ist nur entliehen von der, die singt. Ich hasse es, da es mir nicht gehört, da ich es pflegen muß für die fernsten, spätesten Blicke und nie die Küsse des nächsten darauf empfangen darf.«
Sie ließ die Arme hängen und das Haar triefen.
»Wie seine Augen sich ängstigten! Wie er bleich war von der Begierde, mich glücklich zu machen! … Liebe ich ihn? … Erlaube es mir!«
Welchen Geist flehte sie an? Sich selbst?
»Erlaube mir, ihn zu lieben! Welch gutes, leichtes Geschick es wäre!«
Da warf sie sich mit fliegenden Armen über das Bett. Unter ihrem weiten, nassen Haar zuckte sie; ihre Brust arbeitete wie zum Sterben; – und in dem ungeheuren Schluchzen, das ihr die Kehle sprengte, fühlte sie das größte Glück ihres Lebens hervorbrechen. Sie wußte: ›Es wäre das leichte Geschick der andern, nicht meins. Meins ist hart, und ich bin stolz auf seine Härte.‹ Dennoch weinte sie köstlich.
Unter ihrem Fenster sagte sich der Cavaliere Giordano:
»Die Frau des Schneiders liebt mich also wirklich. Sie allein hat noch Licht bei sich, und sie weint.«
Er neigte den Kopf auf die Seite, und solange das Schluchzen währte, blieb er genußsüchtig lächelnd stehen. Das Licht erlosch; der Alte schlich zurück auf den Platz. Er setzte sich vor dem Café »Zum Fortschritt« an einen der mondbeschienenen Tische. Es schlug hallend ein Uhr.
»Alle schlafen. Da ich nicht schlafe: hätte ich nicht die Frau des Schneiders trösten sollen? Der Schneider freilich ist stark, und ich zweifle, ob ich noch jetzt aus dem Fenster springen könnte, wie damals in Rom. Die Contessa Riotti! Sie verliebte sich in mich, als ich den Herzog im ›Rigoletto‹ kreierte. Sie war die schönste Frau von Rom, und sie nannte mich den schönsten Mann, den sie je gesehen habe. Viele Jahre später sagte mir die Bouboukoff dasselbe. Es war zur Zeit des Caino, der letzten Rolle, die ich kreierte. War nicht die Bouboukoff die letzte Frau, die mich wirklich liebte? Die letzte Rolle, die letzte Frau …«
Er saß, die Schläfe in der Hand, ganz reglos.
»Still: da ist jemand«, flüsterte Nello an Albas Ohr. Sie flüsterte:
»Setze mich auf den Boden, dann sind wir leichter.«
Einander stützend, ließen sie langsam, langsam, den Fuß von der letzten Stufe der Treppengasse in das Dunkel unter dem Rathaus.
»Wer ist es?«
»Der Cavaliere Giordano. Aber er schläft.«
»Sollen wir's wagen?« – und sie schlüpften durch den Mondstreif in den nächsten Bogen.
»O Himmel! Er hat sich gerührt.«
›Warum die letzten?‹ dachte der Alte. ›Noch manche Frau hat mir gehört. Viele Volksmengen haben mir zugejauchzt … Oder gehörten und jauchzten sie meinem Ruhm? Denn ich bin berühmt …‹
Er sah ringsum an den Schatten hin, als erstaunte er. Alba und Nello hielten den Atem an.
›Alle schlafen dort hinten, unbekannt. Mich kannten Tausende, die schon starben. Frauen, die noch jung sind, haben von mir geträumt und Knaben sich an mir begeistert.‹
»Warum geht dieser Alte nicht zu Bett? Wie sollen wir vorüberkommen? Das Kloster droben ist geschlossen, und nicht Amica ist morgen früh die Pförtnerin.«
»Auch hier, o Alba, lieben wir uns.«
Der Alte wendete das Ohr dem dünnen Plätschern des Brunnens zu.
›Ja, das war das Beste: im Garten meines Meisters; ich hatte schwarze Hände von der Arbeit, und ich sang. Niemand achtete auf mich, – Giulietta aber ließ ihre Wäsche liegen und hörte mir zu. Vom Waschbrunnen rann es: ja, so rann es; und dies war meine Stimme …‹
»Wir wollen es wagen. Ganz sacht, mein Geliebter, durch den Mondschein. Um die Ecke ist's dunkel, und wir sind in Sicherheit.«
»Oh, daß mehr Gefahren kämen, damit ich dich mir aus ihnen rette, meine Geliebte!«
›Giulietta war fünfzehn Jahre alt, ich siebzehn. Hatte sie wirklich an ihren bloßen Füßen diese rosigen Nägel? Wie sie auf meinen Händen welk sind! Weder die Frau des Schneiders noch Rina, die Magd, werden mich wollen, wenn sie meine Nägel sehen.‹
»Jener Alte mag nun weiterschlafen. Was weiß er, wie du küßt. Küsse mich, Alba!«