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Um fünf, bevor es heiß ward, machte der Advokat Belotti, schon im schwarzen Rock, der hinten spitz abstand, seinen Morgenspaziergang. Wie gewöhnlich wollte er, um auf die Straße zu gelangen, durch den Garten des Palazzo Torroni hinabsteigen; hinter einer Säule im Flur kam aber Saverio hervor, der Hausmeister, Kammerdiener und Gärtner, und stellte die Hand an den Mund.
»Herr Advokat!«
»Was gibt es, Saverio?«
Da der Diener flüsternd sprach, tat auch der Advokat es.
»Der Herr Baron ist die Nacht draußen gewesen. Noch immer ist er draußen.«
»Ah! diese Jäger. Die Jagd, mein Freund, ist eine Leidenschaft, die einen Mann ganz hinnimmt. Wenn ich Ihnen von mir selbst sprechen soll …«
»Aber es handelt sich nicht um Jagd, Herr Advokat. Er ist ins Gasthaus ›Zum Mond‹ gegangen und noch nicht wieder herausgekommen.«
Der Advokat öffnete den Mund und erhob den Zeigefinger.
»Schau, schau«, sagte er, – und er begann zu lachen, zuerst ein lautloses Lachen und dann wie ein heiser rasselndes, woraus Husten und Speien ward. Als er zur Ruhe kam, mit aufgerissenen Augen:
»Werden wir einen Skandal haben, Saverio?«
Und er bot dem Diener die Zigarettenbüchse.
»Die Frau Baronin schläft. Ich habe im Schlafzimmer des Herrn alles umhergeworfen, als sei er früh aufgebrochen, und ich habe die Nacht bei der Haustür verbracht.«
»Wenn Sie nicht wären, Saverio! Möchte er's nicht zu weit treiben und heimkehren, bevor alle auf der Straße sind. Ich gehe, damit uns niemand beisammen sieht. Jetzt ist tiefes Schweigen geboten, Saverio.«
Rückwärts machte der Advokat sich aus dem Hause. Den Morgenspaziergang hatte er vergessen; der Schauplatz des Außerordentlichen verlangte seine Gegenwart. Hinter ihm, im Corso, war ein eiliger Schritt: Don Taddeo. Der Advokat grüßte herzhaft.
»Ein schöner Morgen, wie, Reverendo?«
Der Priester sah ihn an mit ganz roten Augen, zog die Soutane enger um seinen mageren Körper, als fürchtete er eine Berührung, und – klapp, klapp – war er um die Ecke. Der Advokat starrte hinterher.
›Kaum, daß er an die Kappe gegriffen hat. Weiß er –? Und er steckt mit der Baronin zusammen. Wir werden einen Skandal haben.‹
Ungewöhnlich belebt, schwänzelte er den noch stillen Corso hin und drückte sich, dem letzten Domfenster gegenüber, plötzlich um die Ecke, wo es abwärts zum Gasthaus ging. Nun lag es da, noch halb schlafend, beim Rinnen des Brunnens, an seinem kleinen strohbesäten Platz, mit den Ställen links, der Weinlaube drüben, – und im zweiten Stock stand ein Fenster offen. ›Sieh da‹, sagte sich der Advokat, ›sie lieben die frische Luft. Aber jetzt wäre es Zeit, zu erwachen.‹ Er bückte sich nach einem Steinchen und warf es, heftig keuchend, ins Fenster. ›Sie scheinen recht sehr ermüdet und werden auch wissen, wovon.‹ Wie er das zweite Steinchen auflas, erschien unter dem Haustor neben dem Wirt Malandrini der Baron Torroni selbst. Er war wie immer im braunkarierten Jagdanzug, mit der Flinte über der Schulter, und stürzte sich schon ein großes Glas Wein in den Schlund.
»Ah!« rief der Advokat sogleich. »Herr Baron, was für eine schöne und gesunde Beschäftigung ist die Ihre! Wäre ich nicht an meine Studierstube gefesselt –. Und wohin geht es an diesem glänzenden Morgen? Aufs Feld, nach Lerchen? Wohl gar ins Gebirge gegen den Eber?«
»Ich bin gekommen«, erklärte der andere, »um den jungen Mann abzuholen, der hier wohnt: diesen Sänger –«
»– den Herrn Gennari«, ergänzte der Wirt. »Ich werde Sorge tragen, daß er den Herrn Baron nicht warten läßt. Bemühen Sie sich nicht!«
»Er hat mir versprochen, sogleich fertig zu sein. Inzwischen gehe ich voran.«
Er drückte dem Advokaten die weiche Hand und verschwand rasch.
Der Wirt räusperte sich vorsichtig.
»Sehen Sie das offene Fenster?«
Der Advokat zwinkerte.
»Er ist gar nicht zu Hause gewesen«, sagte der Wirt. »Er ist überhaupt nicht heimgekommen.«
»Ah! dann ist es also nicht dieses Zimmer?«
Malandrini zwinkerte.
»Das ist das andere, daneben. Das Fräulein schläft jetzt weiter.«
»Es scheint, sie hat es nötig. Ah! dieser Baron.«
»Ein richtiger Edelmann«, bemerkte der Wirt.
Sie sahen sich an, leise funkelnd.
»Und der andere?« begann der Advokat wieder. »Der Komödiant? Auch er ist draußen? Da gibt es vielleicht etwas noch Stärkeres? Mein Freund, mir beginnt zu ahnen, daß wir Dinge erleben werden in der Stadt …«
Der Wirt seufzte. Dann aber, mit Händereiben:
»Das Gute ist dabei, daß wir ein wenig Bewegung herbekommen … Entschuldigen Sie mich, ich decke lieber gleich selbst in der Laube die Tische. Meine Frau wird erst spät herunterkommen. Sie schläft noch, denn ihr ist etwas Außerordentliches zugestoßen. Wie ich die Augen öffne und sie vergeblich an meiner Seite suche, tritt sie ins Zimmer, sieht verwacht aus und erklärt mir, daß die Seele ihres Vaters sie hinausgerufen habe. Die Seele habe verlangt, daß ich nicht geweckt werde. So viel Rücksicht!«
»Das ist der Aberglaube der Frauen«, sagte zornig der Advokat. »Wie lange noch werden wir ihre Erziehung den Nonnen überlassen! Sie glauben doch nicht an diese alberne Geschichte, Malandrini?«
»Wie werde ich. In den Frauen geht manches vor, was wir nicht kennen. Man muß Geduld haben.«
»Aber sagen Sie doch, dieses Mädchen! Gleich die erste Nacht! Hätten Sie das etwa geglaubt, Malandrini?«
»Warum nicht?« – und der Wirt fuhr auf. »Ist das Gasthaus ›Zum Mond‹ denn ein Kloster? Und übrigens, was weiß man. Nur was Sie erzählen, Advokat.«
»Oh!«
Der Advokat legte die Hand aufs Herz.
»Dieser Priester scheint gewußt zu haben«, sagte er noch und drehte nachdenklich von dannen, »warum er die Komödianten nicht zu seinen Schäfchen hineinlassen wollte. Man muß zugeben, daß seinesgleichen sich auf Menschen versteht.«
»Wollen Sie auf die Straße?« rief Malandrini ihm nach. »Dann benutzen Sie doch die Gartenpforte!«
»Sie haben recht«, – und der Advokat kehrte um. »Man muß bei seinen ruhigen Gewohnheiten bleiben. Seit siebenundzwanzig Jahren habe ich meinen Morgengang nicht sechsmal versäumt, und ich hoffe ihn noch weitere siebenundzwanzig Jahre zu machen.«
Hinter dem Hause ging er den Weinhügel hinab, erreichte drunten die Straße – noch übergitterten die Schatten der Platanen sie dicht – und nahm den Hut ab, um sich zu trocknen. ›Ah, hier atmet man. Solche Luft haben sie nicht in den großen Städten, unsere braven Künstler … Der Baron weiß diese Weiber zu nehmen, wie es scheint. Man sagt, daß er als Offizier –. In Rondone soll er ein Kind haben … Aber schließlich, was ist dabei? Alles wohlbedacht, könnte es sein, daß auch ich –. Der Junge der Andreina, mag sie es mit der Treue auch niemals genau genommen haben, der Junge wird mir jedes Jahr ähnlicher … soweit ein Bauer mir ähneln kann. Damals warf ich die Andreina einfach in das Korn. Mit der Komödiantin muß man es ebenso machen.‹
Er hielt an, sah angstvoll umher, wie nach einem passenden Platz, und trocknete sich nochmals. Unter der Straße stiegen die Ölbäume, schwachsilbern, die Erdstufen hinab und setzten über den Fluß, der um ihre dunkeln Wurzeln glänzende Schleifen wand. Die letzten dahinten und die weißen Gehöfte zwischen ihnen schienen vom Meer bespült: so tief blaute schon die heiße Ebene. Über ihm blickte dem Advokaten die Stadt nach, aus blinkenden Scheiben, Mauern, die zwischen zwei Zypressen ein wenig klafften, und ganz schwarze Torbogen. ›Wo dieser Tenor steckt! Denn sagen wir nur die Wahrheit: in einem Winkel der Stadt wird er wohl die Nacht verbracht haben. Zu denken, daß er bei der Frau eines meiner Freunde ist, – der einen sehr guten Schlaf haben muß. Sollte es nicht der Polli sein, mit seinem Schnarchen? Vergangenen Herbst hat er sogar beim Erdbeben weitergeschnarcht! Vielleicht läßt sich's ihm ansehen. Das müßte man einem Manne doch ansehen! Eh, eh, es hat sein Gutes, als Junggeselle zu leben. In jedem der Häuser dort oben kann jetzt der Komödiant seine Dinge treiben: nur in meinem treibt er sie sicher nicht … Und beim Camuzzi? Wie steht es beim Camuzzi?‹ Das aufgeblühte Gesicht des Advokaten fiel ein, da er an seinen Feind, den Gemeindesekretär, dachte.
›Er verdient es wie kein zweiter, dieser Ignorant, dieser Unverschämte! Ah! setze noch einmal dein höhnisches Lächeln auf, Freund, – und aus deiner Stirne sieht man es indessen keimen!‹
Der Advokat tat einen tiefen, glücklichen Atemzug.
›Das ist wirklich ein sehr schöner Morgen.‹
›Aber leider‹, bemerkte er dann, ›scheint diese kleine Frau Camuzzi zufrieden. Dem Severino Salvatori, der sie in seinem Korbwagen umherfahren wollte, hat sie geantwortet: nicht einmal über den Platz bis vor die Domtür! Und doch sollte ihre Mutter dabeisein. Aber die Camuzzi ist bescheiden und stolz, sieht niemand an, geht immer nur zur Kirche. Nicht viel, und sie gehört zu der Garde des Don Taddeo … Nein‹, mußte der Advokat erkennen, ›von ihr läßt sich nur wenig hoffen.‹
Er richtete sich sogleich wieder auf.
›Aber auch andere wären nicht zu verachten, und ich meinesteils hätte nichts dagegen, wenn die Frau des Doktors –. Ah! die da ist eine Lasterhafte: das fühlt man. Denn erstens ist sie zu dick, um tugendhaft zu sein. Und hat sich's erst gezeigt, daß sie dem Komödianten Gefälligkeiten erweist: – denn was ist der Komödiant, und sind andere etwa weniger gut? Wenn ich's recht bedenke, hatte ich in betreff ihrer schon längst meine Vorsätze gefaßt. Ihr Gatte soll sehen, daß der Zucker, den er bei mir feststellen wollte, so etwas nicht verhindert. Zucker, wenn noch so wenig, bei einem Mann wie mir! Und ich soll etwas dagegen tun! Der Doktor wird sehen, was ich tue! Ah! Ah!‹
Er rieb die Hände, schwenkte sich herum und lachte keuchend nach der Stadt hinauf. Dann fiel er in Nachdenken: sie sah ganz anders aus. Noch gestern hätte man manches nicht für möglich gehalten. Natürlich gab es in ihr die Dinge, die es überall gibt. Abgesehen von dem Hause in der Via Tripoli: auch die Wäscherinnen auf dem Bäckerberg kannte jeder; und der Advokat war persönlich besonders gut unterrichtet über die Witwe eines städtischen Zollbeamten, die vorgeblich Hüte aufputzte. Ferner bestanden die Gerüchte bezüglich der Mama Paradisi und des alten Mancafede; neuerdings und halblaut auch die über Frau Malandrini und den Baron Torroni, – die der Advokat seit heute früh für unwahrscheinlich hielt. Jetzt aber handelte es sich nicht mehr um die oder jene. Kaum eine blieb, nun der Komödiant umging, noch unerreichbar; und das Prickelndste wäre vielleicht dennoch gewesen, wenn im selben Augenblick, wo der Baron Torroni seine Frau mit jenem Mädchen hinterging, die Baronin es ihm mit dem Tenor vergolten hätte! Der Advokat ward erfinderisch, sein Geist schweifte aus und verwandelte die Stadt in ein freies Jagdgebiet. Dem Komödianten folgte er selbst auf dem Fuße, in jedes Schlafzimmer. Vor dem der Baronin hatte er eine alte Scheu zu überwinden; aber dann hüpfte er, mit einem Schnippchen, auch über diese Schwelle.
Von seiner Phantasie verjüngt, war er dahingeeilt, ohne zu merken, wie seine Arme ruderten und wie es unter seiner Perücke hervortroff. Auf einmal, schon hinter dem öffentlichen Waschhause und auf halbem Weg nach Villascura, sah er sich dem Komödianten gegenüber: ihm selbst. Jener grüßte und wollte langsam vorbei; aber der Advokat fuhr auf, nach Luft schnappend.
»Das ist doch … da sind Sie: also, da sind Sie.«
»Da bin ich, zu Ihrer Verfügung«, bestätigte der Tenor.
»Das heißt«, – und das lederfarbene Gesicht des Advokaten ging in ein zynisches Lächeln auseinander, »wer weiß, zu wessen Verfügung Sie hier sind.«
»Was wollen Sie sagen?« fragte der junge Mann. Unvermittelt ward er drohend aussehend.
»Nichts, o nichts. Sie gehen spazieren, wie ich bemerke, Herr Gennari. Sie sind früh auf. Ich habe, müssen Sie wissen, die kleine Eitelkeit, jeden Morgen der erste draußen zu sein: aber was tut es einem Manne Ihres Alters, auch einmal um fünf das Bett zu verlassen, wo er eine glänzende Nacht verbracht hat.«
»Meine Nacht«, sagte der Tenor mit feindseliger Zurückhaltung, »war sehr wenig glänzend. Gestern abend empfand ich ein Bedürfnis spazierenzugehen und wich dabei von der Straße ab. Dann bedeckte sich, wie Sie wissen, der Himmel, ich fand nicht mehr zurück und habe irgendwo dort unten in den Weinfeldern mich schlafen gelegt. Sie sehen die Erde an meinen Kleidern.«
Der Advokat wandte ihn um und musterte alles.
»Das ist erstaunlich.«
Darauf machte er eine gleichgültige Miene.
»Sie haben also ausgeruht. Dann schlage ich Ihnen vor, mich zu begleiten. Ich zeige Ihnen unsere Gegend, mein Herr. An Villascura werden Sie vorbeigekommen sein, wie?«
»Ich weiß nicht, mein Herr, was Sie meinen. Ich sagte Ihnen schon, ich war dort unten.«
Der Advokat sah ihn vorwurfsvoll an, zog schweigend einen Taschenspiegel heraus und hob ihn vor das Gesicht des andern.
»Was soll das?« fragte der Tenor, aber er sah hinein, – und er fand seine Augen darin noch finsterer, als er sie gewollt hätte, denn sie waren umrändert und das Gesicht sehr blaß. Aus seiner körnigen Marmorblässe war die Wärme gewichen, und die schwarze Haarwelle über der Stirn, die Barren der Brauen, der dickrote Mund sprangen gewaltsam hervor aus dem grellen Weiß.
»Ich sage nicht«, erklärte der Advokat, »daß es Ihnen schlecht stehe, übernächtig auszusehen. Der Schönheit von euch Jungen schlagen die Strapazen eurer Nächte gut an. Wehe uns reifen Männern! Aber was ich andeuten wollte: ein ruhiger Schlaf auf der weichen Erde des Weinackers, in lauer Nachtluft, hätte Sie schwerlich so zugerichtet.«
Er streckte, bevor der andere aufbrausen konnte, beide Handflächen hin.
»Mein Herr, Sie halten mich offenbar für Ihren Feind. Ich bin nicht Ihr Feind, mein Herr. Im Gegenteil, ich billige durchaus, daß die jungen Leute, noch dazu wenn sie Künstler sind, sich unterhalten. Was tut es übrigens mir, der ich Junggeselle bin. Meine verheirateten Freunde freilich werden in ihrer Anerkennung nicht so weit gehen« – und der Advokat wagte wieder ein Lächeln.
»Also ich bin Ihr Freund, mein Herr, und wenn Sie mir – als Gentleman werden Sie es natürlich nicht tun – verraten würden, in welchem Hause unserer Stadt Sie diese Nacht verbracht haben: Sie könnten sich verlassen auf den Advokaten Belotti.«
Die Miene des Tenors rüstete plötzlich ab, er sah friedlich, sogar unbeteiligt aus.
»Ach so«, machte er. »In der Stadt, glauben Sie –. Warum auch nicht?«
Und er begann zu lachen, mit leichter, heller Glockenstimme. Der Advokat rieb sich die Hände.
»Sehen Sie wohl? Wir fangen an, uns zu verstehen. Wie sollten übrigens zwei Männer wie wir sich nicht verstehen, wenn es sich um die Frauen handelt.«
»Sie haben recht!« und der Tenor lachte stärker. Der Advokat stieß ihm seinen Zeigefinger vor den Magen.
»Ah! Spaßvogel! Unsere Stadt gefällt Ihnen wohl? Sie ist klein, aber das hindert uns keineswegs an eleganten und heiteren Sitten. Unsere Frauen: nun, wir sind unter uns jungen Leuten, nicht wahr?«
»Freilich! Sprechen Sie!«
»Wenn ich dürfte! Nur das eine: die, bei der Sie diese Nacht waren, bin ich sicher, auch meinerseits zu kennen.«
»Ich bin davon überzeugt!« rief der Tenor und lachte beinahe verzweifelt.
Der Advokat war ganz in Feuer, er schlug die Luft mit beiden Handrücken.
»Sie würden staunen, wollte ich Ihnen die volle Wahrheit sagen über mich und über die jüngeren Kinder unserer besten Familien.«
Er war stehengeblieben und zeigte dem jungen Manne seine aufgerissenen Augen, die nicht zuckten.
»Sie sind bewundernswert«, versetzte der Tenor mit Nachdruck, und sie gingen weiter. Als der Advokat verschnauft hatte: »Daß ich nicht vergesse, in Villascura Eier zu kaufen.«
»Was haben Sie mit Ihrer Villascura?«
»Oh! Sie werden schon wieder so düster, wie der Name der Villa. Er gefällt Ihnen nicht? Ich bringe von dort, um den Stadtzoll zu sparen, meiner Schwester zwei Dutzend Eier mit. Es ist eine Gewohnheit.«
»Aber diese Villascura ist nirgends zu sehen. Wie lange sollen wir denn gehen?«
»Warten Sie, bis die Straße sich um den Berg wendet! – und betrachten Sie inzwischen diese schönen Maispflanzungen, die Ölhaine bis weit ins Tal hinein: sie gehören zu der Villa, die Sie nicht leiden mögen, mein Herr. Der Herr Nardini ist unser größter Ölproduzent: dreihundert Hektoliter jährlich. Obwohl er mein politischer Gegner ist, werde ich niemals leugnen, daß er seine Geschäfte versteht und dadurch der Gegend nützt. Was seine Gesinnungen betrifft, so sind sie beklagenswert. Dieser verstockte Alte gibt sich als Stütze der hiesigen Priesterpartei her. Dabei hätte er, fünf Jahre sind's, Minister werden können! Die Bedingung war einzig, daß er seine Enkelin mit dem Neffen des ehrenwerten Macelli verheiratete, eines großen Tieres aus der Deputiertenkammer, – und daran scheiterte der Plan, denn der alte Nardini ist darauf versessen, die Alba ins Kloster zu sperren. Warum erschrecken Sie denn?«
»Ich erschrecke nicht. Ein Stein hat mir weh getan; diese Schuhe taugen nicht für das Land.«
»Aber unsere Straßen sind gut! Es sind Distriktstraßen, – und nicht länger als sieben Jahre ist es her, daß die Regierung zu ihrer Erneuerung fast hunderttausend Lire ausgegeben hat.«
Der Advokat ließ mit der großen Zahl seinen Mund losgehen wie eine Kanone.
»Dazu kommt, daß die Vizinalwege, auf meinen Antrag und gegen den Rat des Gemeindesekretärs, zu gleichen Teilen von der Stadtgemeinde und der Frau Fürstin Cipolla –«
»Gibt es denn ein Frauenkloster hier?« fragte der Tenor.
»Warum? Die Frau Fürstin, deren Besitzungen in dieser Gegend ich zu verwalten die Ehre habe, lebt in der großen Welt, in Rom, mein Herr, in Paris … Aber natürlich, auch ein Frauenkloster haben wir, obwohl wir besser etwas anderes dafür hätten; und ich werde es Ihnen zeigen. Sie denken wohl Ihre Künste an jenen heiligen Unterröcken zu erproben? Ah! er schreckt vor nichts zurück. Aber das eine dürfen Sie immerhin verraten: die Dame der vergangenen Nacht wird dick gewesen sein, wie?«
»Wer weiß.«
»Denn ich verstehe mich darauf: Sie sind ganz der Typus der Dicken, – die übrigens am wenigsten Widerstand leisten, wie allgemein bekannt. Aber hier stehen wir vor der Villa, die Ihnen unauffindbar schien. Und da Sie sich in der Gesellschaft des Advokaten Belotti aufhalten, ist es Ihnen erlaubt, mein Herr, die Pforte zurückzustoßen und zwischen diesen langen Hecken den Duft der Rosen zu atmen.«
Der Advokat faßte Fuß und atmete geräuschvoll.
»Scheint es nicht ein Traum? Am Ende dieses Ganges von Rosen und Zypressen das stille Haus, mit seinen zwei weit vorgreifenden Flügeln und dem verschwiegenen Trakt in ihrer Mitte, tief dahinten in grünlicher Dämmerung, unter der Bergwand! Wenden Sie nicht ein, solche Lage nach Norden sei ungesund: ich weiß es zu gut; – aber wie poetisch ist dieser Schatten, feucht duftend, durchrauscht vom Wasserfall, über dem Sie dort oben unser neues Elektrizitätswerk erblicken, und erfüllt mit Blumen. Ah! mein Herr: Blumen, Musik und Frauen!«
Plötzlich begann er durch die Hände zu keuchen:
»He, Niccolo! Die Eier!«
Indes der Bursche näher kam, wickelte der Advokat hinter sich ein langes Netz hervor.
»Daß du mir frische gibst, Niccolo! Daß du richtig zählst: zwei Dutzend!«
Er rief hinterher:
»Die Frau Artemisia denkt noch immer an jenes fertige Kücken, das in einem deiner Eier auf den Tisch kam.«
Dann faßte er den Tenor unter den Arm.
»Kommen Sie doch, mein Freund! Warum so schüchtern? In meiner Begleitung sind Sie hier zu Hause.«
Nello Gennari strengte sich an, sein Zittern zu unterdrücken. Er erschrak vor den Farben der Rosen, die in der Nacht, als er hier gekniet hatte, erloschen gewesen waren. Das Haus war, dort innen zwischen seinen beiden Flügeln, so schwarz gewesen wie die Luft, und in jenem Winkel hatte, starr und weich, das fast erstickte Licht gezögert, zu dem er gebetet hatte.
Der Advokat führte ihn, seitwärts vom Hause, gegen die weiße Balustrade hinauf. Die Büsche an der Treppe spritzten Tropfen, da Nello sie streifte, und droben ließ der Geruch uralter, nie besonnter Zypressen ihn erschauern, wie vor dem Grabe. Die schweren Bäume erstiegen, eine Schar düsterer Pilger, in Paaren den Berg, und aufgehalten durch Klüfte, zerstreuten sie sich, um, seltener und schwächer, die Kuppe zu erreichen. Ein fast fensterloses Gemäuer starrte vom Rande des Felsens, dessen graue Ausbuchtung es verlängerte, senkrecht auf die Villa herab: wachend und drohend.
»Das Kloster«, erklärte der Advokat. »Die hier können es aus ihren Fenstern sehen und sich mit den heiligen Unterröcken guten Tag sagen. Sie tun es auch, sie gehören zur Familie, – und jede Frau dieses Hauses zieht schließlich in jenes hinauf.«
Er führte den jungen Mann eine Strecke fort und raunte:
»Schon die Frau des Alten ist dort oben gestorben. Oh, das sind Geschichten, die niemand mehr verbürgen kann. Sie soll ihm entflohen sein, mit einem Offizier; und als sie, krank und reuig, zurückkam, hat er sie da oben einquartiert. Auch seine Tochter ist, als ihr Mann tot war, hinaufgestiegen und hat droben schnell geendet. Warum sterben hier alle, sind traurig und halten es mit den Priestern? Es wird am Schatten liegen; denn kaum, daß den Rand des Gartens zur Mittagsstunde ein wenig Sonne berührt; – und man mag sagen, was man will, das Leben im ewigen Schatten verdirbt das Blut und verschlechtert den Charakter. Wollen Sie ein Beispiel? Gehen Sie nach Spello hinunter: es liegt in der Sonne. Alle Männer haben dort Tenorstimmen, alle Frauen sind dick und schön. Gegenüber, am Nordabhang, ist Lacise. Nun wohl, mein Herr: die Frauen von Lacise sind gelb und schmutzig und die Männer allesamt Räuber.«
»Jawohl, jawohl. Aber Sie sagten, daß aus diesem Hause jede Frau dort oben …«
»Jede kommt ins Kloster«, – und der Advokat schob mit gespreizter Hand alle Hoffnung fort.
»Aber, heutzutage –«
Nello mußte hinunterschlucken.
»– ist man aufgeklärt, nicht wahr?«
Da der Advokat nur die Luft ausstieß –
»Auch wird ein alter, alleingebliebener Mann sich nicht früher als nötig von seiner Tochter trennen.«
»Nötig? Sie wissen also nicht, was solch ein Fanatiker nötiger hat: die Liebe einer Tochter oder den Segen der Pfaffen? Oh! mein Herr, es ist nur allzu gewiß, daß unserer Gegend ein großer Schade bevorsteht und eine unserer reichsten Erbinnen in sträflicher Weise der Welt, der bürgerlichen Gesellschaft, dem Familienleben und dem gemeinen Nutzen entzogen werden wird!«
Die Miene des Fremden hatte auf einmal etwas Dunkles und Höhnisches.
»Gewiß wartete schon mancher auf sie? Und in der Stadt werden Sie einen Zirkel haben, wo Alba als junge Frau getanzt und Gedichte hergesagt hätte? Und den Armen hätte sie Suppe gekocht? Hätte auch Liebhaber gehabt? Vielleicht Sie selbst, Herr Advokat?«
»Eh! weiß man das jemals?« keuchte Belotti und riß Schultern und Arme zurück. Der junge Mann wendete sich umher. Aber auflachend:
»Auch die Klöster wollen leben; und dort oben wird sie wenigstens allein und frei sein!«
Ah! tausendmal lieber wollte er sie dort oben verschwunden, begraben wissen, als lebend unter Gemeinen, auf gemeinen Plätzen, in gemeinen Armen!
›Sie wird rein sein‹, dachte er, indes der Advokat ihn enttäuscht betrachtete, und wunder und bebender: ›Nie werde ich sie wiedersehen. Aber auch kein anderer wird sie sehen.‹
Da sprang er zurück und griff nach dem Geländer.
»Was ist geschehen?« fragte der Advokat erschreckt. Der Tenor hielt die Hand aufs Herz gedrückt und antwortete nicht. Der Advokat folgte seinem verstörten Blick, der in die offene Terrassentür ging.
»He! Niccolo! Da sind wir«, rief er, und der Bursche kam hervor mit dem gefüllten Netz.
»Ah, Sie sind schreckhaft, junger Mann«, – und Belotti klopfte Nello auf die Schulter. »Sie haben Nerven: wie alle Künstler. Man weiß auch, wovon.«
Er zwinkerte und klopfte. Nello entriß ihm die Schulter. Er beugte sich über die Balustrade und schloß die Augen. Sie hätte es sein können! Was sollte geschehen, wenn er sie wiedersah! Schon diese Nacht, verlebt in ihrem Bereich, unter Dingen, die ihre waren, hatte ihn entzückt und erschöpft.
Er stieg, unbeachtet von den beiden, die über den Preis der Eier stritten, in den Garten hinab. War nicht dies die Bank, auf der er geruht hatte und wo gewiß auch sie sich niedersetzte? Im Dunkeln hatte er auf dem Wege nach einer Spur ihres Fußes getastet, hatte seine Hand darin gekühlt und seine Lippen darauf gedrückt. Wo war nun die Spur?
›Habe ich sie mir denn vorgetäuscht? Ach, ich schmeichelte mir auch, der Nachtwind bringe mir den Duft ihres Zimmers: ihren Duft; und bloß das Beet hier war es, das ich roch. Ich bin ein Narr, bin lächerlich. Habe ich nicht auf diesen Brunnenstufen zu sterben gedacht – und von ihr gefunden zu werden, wenn sie am Morgen die Frische des Quells aufsuchte? Jetzt ist es schon heiß, mich dürstet, und ich fühle mich, noch unter ihren Fenstern, so fern von ihr und allein.‹
Er sah in der Schale, woraus er trank, seine schmerzerfüllten Augen, hörte auf den begrünten Quadern, die Zypressenreihe entlang, seinen dumpfen Schritten zu und fand die kleine Pforte wieder, die er schon hei tiefer Nacht in den Angeln gehoben hatte, damit sie nicht knarrte. Auf der Landstraße ging er rasch davon; und im Gehen breitete er die Arme aus, und nun wieder, und schüttelte dazu den Kopf.
Als der Advokat Belotti ihn einholte, sah Nello verwirrt umher: wo war er doch?
»Mein armer junger Freund, Sie müssen taub geworden sein; ich schreie und schreie: Sie laufen immer rascher …«
Da der Tenor sich nicht entschuldigte, tat Belotti es. Er habe warten lassen; aber wenn man wüßte, wie genau seine Schwester es mit den Eiern nehme; – und er wog das Netz in der Hand.
»Die schlechten muß ich bezahlen. Ah, die Frauen! Aber beachten Sie das städtische Waschhaus! Ich bin es, der seine Errichtung beantragte und, wieder einmal dem Ignoranten Camuzzi zum Trotz, durchgesetzt hat. Es hat mir Genugtuung bereitet, zum Wohl der Frauen arbeiten zu können, und sie sind mir erkenntlich dafür, sie verbreiten meinen Ruf als Volksfreund. Guten Tag, Fania, guten Tag, Nanà!«
Der Barbier Nonoggi kam ihnen entgegen. Er ging wippend und ganz auf die linke Seite gelegt. Rechts trug er seine abgeschabte Ledertasche und schwenkte sie bei jedem Schritt, indes der linke Arm steif blieb. Bis auf den Boden zog er schon von weitem den Hut, grimassierte und krähte dazu: »Guten Morgen den Herren! Welch glänzender Tag. An solchem Tage stirbt man nicht!«
»Wir denken nicht daran, Nonoggi«, erwiderte der Advokat. »Ihr geht wohl zum Nardini? Grüßt ihn von mir: ich sei heute bereits in Geschäften bei ihm gewesen.«
»Sie sehen schlecht rasiert aus«, sagte der Barbier zu Nello Gennari. »Das mißfällt den Frauen, mein Herr. Wenn Sie sich mit dem Sitz auf jenem Stein begnügen wollen – er ist im Schatten –, bediene ich Sie sogleich … Sie wollen nicht? Sie haben unrecht. Wir sehen uns also ein andermal. Euer Diener, ihr Herren!«
Der Advokat rief ihn zurück. Er wartete, bis der Barbier nahe herangekommen war, sah sich um und sagte halblaut:
»Nonoggi, habt Ihr den Baron gesehen? … Ich auch schon. Nonoggi, es ist etwas vorgefallen zwischen ihm und jener Fremden im ›Mond‹, der Komödiantin …«
»Ah! Ah!«
Der kleine Mann riß seine unsauberen Augen auf und zu. Er zuckte; die roten Rinnsale in seiner Gesichtshaut führten blutige Tänze auf.
»Nonoggi«, fuhr der Advokat fort, »wir müssen in dieser Sache sehr vorsichtig sein: es ist eine so alte Familie. Ihr erfährt es doch, daher erbitte ich Euer Schweigen.«
Der Barbier hatte schon längst die Hand auf dem Herzen; er hüpfte, dienerte, machte den Mund rund und streckte den Arm mit der Tasche von sich.
»Wie es bedauerlich ist«, sagte er, »wenn selbst die Herren sich vergessen. Andererseits sieht man es gern. Genug, wir werden schweigen. Oh! der Herr Advokat kennt mich, wie ich ihn kenne.«
»Wir haben sonst nicht mehr und nicht weniger als einen Skandal, Nonoggi, – obwohl es eine verzeihliche Verirrung ist. Aber wir müssen mit Leuten wie jener Priester rechnen.«
»Ob wir damit rechnen, Herr Advokat! Was würde sonst aus uns selbst? Würde unsereiner der Schwäche seines Fleisches immer widerstehen? Denn was insbesondere die Perückenmacher angeht, so haben sie alle häßliche Frauen. Es ist sonderbar, es ist rätselhaft, aber es ist eine Tatsache.«
Er spreizte die Hand aus.
»Lachen Sie nicht, Herr Künstler! Denn ich sage die reine Wahrheit. Wenn wir unsere Frauen heiraten, scheinen sie uns schön, und nachher sind sie häßlich. Sehen Sie sich die Familien aller Barbiere der Stadt an: die Frau des Bonometti, des Druso, des Macola, oder meine eigene. Nein! die sehen Sie lieber nicht an. Ich selbst sehe sie gar nicht mehr an, aus Furcht, sie abzunutzen.«
Er riß den Mund bis ans linke Ohr hinauf, schwenkte Hut und Tasche und lief weiter.
Mitten im Gelächter gewahrte der Advokat das Stadttor, faßte sich und schlug einen seiner Rockflügel über das Netz mit Eiern. Er beeilte sich nicht sehr.
»Es ist immerhin besser, die Form zu wahren. Aber man kennt mich, und niemand würde wagen …«
Der Beamte des Stadtzolls legte zwei Finger an seinen Federhut; der Advokat sagte gnädig:
»Guten Tag, Cigogna.«
Und zu seinem Begleiter ein wenig von oben:
»Sehen Sie?«
Leise pfeifend zog er die Eier wieder hervor.
Aber in der Gasse wandten sich die Leute nach ihnen um, und zwischen den zusammengelehnten Fensterläden sah der Advokat mehrmals aus weißen Gesichtern begierige Augen auf seinen Gefährten herablugen, der nicht den Kopf hob. Da nahm der Advokat den Arm des schönen jungen Menschen, sprach und lachte über ihn gebeugt und ganz mit ihm verbrüdert. Wie sie, am Ausgang nach dem Platz, die halbrunden Rathausarkaden abschritten, trat auf den Balkon des zweiten Stockwerkes sanft singend die junge Frau Camuzzi, hinter einem großen Fell, das sie ausgebreitet hielt und schüttelte. Sie ließ es sogleich sinken.
»Oh! entschuldigen Sie, Herr Advokat. Ich hatte Sie nicht gesehen.«
»Machen Sie nur! Es ist mir eine Ehre«, rief der Advokat zurück und sprang umher, um dem fliegenden Schmutz zu entgehen. Frau Camuzzi blieb über das Fell gebeugt, das nun auf dem Gitter lag, war errötet und sah unverwandt dem Begleiter des Advokaten in die Augen. Der Tenor zog den Hut. Sie dankte langsam und sehr ernst. Der Advokat schnaubte nach dem Staube, durch den er gekommen war. Bevor sie das Café erreichten, blieb er nochmals stehen und flüsterte, Takt schlagend:
»Überlegen wir ein wenig: wäre es nicht eine wahre Schande, wenn ein Ignorant wie Camuzzi eine solche Frau hätte, ohne auf die Dauer von ihr betrogen zu werden? Aber so sind nun die Frauen: grade diese ist die treueste von allen.«
In diesem Augenblick erschien hager, in Weiß wie gestern und mit noch dickeren Säcken unter den Augen als gestern, der alte Tenor Giordano im Tor des Rathauses und hob langsam, damit der Brillant Zeit zu funkeln habe, die Hand an den Hut.
»Ah! Cavaliere.«
Der Advokat stürzte sich auf ihn. Er keuchte am Ohr des Alten:
»Sie haben das Glück, Cavaliere, bei einer unserer hübschesten Frauen zu wohnen. Von einem Manne wie Sie erwartet man, daß er solch Glück nicht ungenützt vorbeiläßt! Alle Augen sind auf Sie gerichtet!«
Der Alte winkte leichthin, als seien so viele Worte nicht nötig, – aber der Advokat legte, zurückweichend, den Kopf in den Nacken.
»Ist es möglich! Was ist das, was bedeutet das!«
»Wissen Sie das nicht?« fragte der Cavaliere Giordano. »Eine Bogenlampe.«
»Ich sehe es zu gut«, sagte der Advokat dumpf, »eine Bogenlampe. Aber eine Bogenlampe, mein Herr, die ohne mein Wissen hier aufgestellt ist. Es muß über Nacht geschehen sein, und ich erkenne in diesem Streich die Hand des Camuzzi. Er hat den Augenblick benutzt, wo ich mich der Kunst widmete. Ein öffentlicher Mann, mein Herr, ein Staatsmann kann nicht wachsam genug sein.«
Aus der Gasse der Hühnerlucia kam, festen Schrittes und eine Hand in der Hosentasche, der Bariton Gaddi. Untersetzt pflanzte er sich bei den andern auf und sagte mit seiner ehernen Stimme:
»Wir sind doch wohl die ersten? Nello natürlich infolge eines Abenteuers, ich, weil mir meine Familie keine Ruhe läßt, – und im Alter des Cavaliere schläft man nicht mehr lange.«
Der alte Giordano zog eine Grimasse. Gaddi erhob sein massiges Cäsarenprofil zu den Gebäuden ringsum und erklärte die Stadt für interessant. Der Advokat Belotti beschwor die Herren, sich von ihm umherführen zu lassen: sie würden es nicht bereuen, er sei Spezialist für die Geschichte der Stadt, und das Material zu einem ungeheuren Werke liege seit zwanzig Jahren in seinem Schreibtisch.
Zuerst las er den drei Komödianten die lateinischen Inschriften vor, die auf alten Marmorbecken in der Fassade des Rathauses staken. Um eine hoch angebrachte lesen zu können, mußten sie einem Burschen, den der Advokat herbeirief, auf die Schultern klettern. Auch von dem alten Giordano verlangte Belotti es und machte eine erstaunte Pause, als der Greis sich weigerte. Die Stadt hatte ältere Ursprünge als Rom! Jahrhundertelang hatte ein Venustempel ihren Platz eingenommen.
»Ihren ganzen Platz! Denn das unsere war eins der größten Heiligtümer der Göttin, aus ganz Italien strömten ihre Verehrer herbei.«
Die drei horchten auf. Der Bariton bemerkte:
»Das muß ein glänzendes Geschäft gewesen sein.«
»Ah!« machte der Advokat entzückt und klagend, als habe er den Verfall der Zeiten miterlebt. »Das war etwas anderes als jetzt, wo die Stadt eine kleine Einnahme –«
Mit der Hand am Munde:
»– nur aus dem Hause in der Via Tripoli bezieht.«
Die drei nickten stumm.
»Oh, eine elende Kleinigkeit! Damals aber: stellen Sie sich, meine Herren, in den Gärten, die diese ganzen Hänge bedeckten, das Heer der Priesterinnen vor!«
Allen drei war anzusehen, daß sie sich die Priesterinnen vorstellten. Nello Gennari hatte erweiterte Augen und einen bitteren Mund.
»Bis nach Villascura dehnten ihre Wohnungen sich aus. Ja, wir haben Beweise dafür, daß gerade in Villascura die Häuser der vornehmsten von jenen Damen standen.«
Er kicherte heiser, der Cavaliere Giordano meckerte ein wenig, Gaddi lachte ehern. Der junge Tenor biß sich auf die Lippe und sah zu Boden.
»Nun sind Sie also darüber unterrichtet«, setzte der Advokat noch hinzu, »von welchen talentvollen Müttern unsere Frauen abstammen.«
Darauf führte er seine angeregten Zuhörer in den Hof des Rathauses, zu der Madonna des Valvassore.
»Unser großer Cinquecentist hat sie seiner Heimatstadt geschenkt. Beachten Sie die Freiheit des Kolorits!«
Aber so viele Wachskerzchen der Advokat entzündete, die Fremden sahen hinter dem Drahtgitter nur etwas Schwarzes, Brüchiges. Bevor ihre Stimmung sinken konnte, drang er darauf, ihnen den hölzernen Eimer zu zeigen, den die Bürger der Stadt vor dreihundert Jahren denen von Adorna geraubt hatten. Ein mächtiger Krieg war deswegen zwischen den beiden Städten entbrannt. Beide hatten Blut und Wohlstand an diesen Eimer gesetzt. Die Götter, hieß es, hatten, unter die Heere der beiden Städte verteilt, um ihn mitgekämpft.
»Und wir, denen Pallas Athene half, haben ihn behalten, und er hängt in unserem Glockenturm«, schloß der Advokat. »Sie werden sehen, Sie werden sehen!«
Er hastete ihnen voran über den Platz. Am Pfahl der Bogenlampe stieß er sich heftig und sah voll Zorn hinauf.
»Sie steht an einer falschen Stelle. Ich würde sie nicht dorthin gestellt haben!«
Als sie drüben waren, zögerte er, wandte sich halb um und wisperte:
»Im Winkel neben dem Turm das schwarze Haus: sehen Sie nicht hin, ich beschwöre Sie, wir werden beobachtet.«
Er zog sie um die Ecke des Turms und sagte jedem einzeln ins Ohr:
»Dort hinten ist eine unserer größten Merkwürdigkeiten, das Geheimnis der Stadt, etwas Unerklärliches: ein Wunder, würden die Fanatiker sagen.«
Und er berichtete von Evangelina Mancafede, die seit neun Jahren nicht ausgegangen war, aber alles in der Stadt sah und wußte.
»Erstaunlich«, sagte der Bariton.
»Schlimm genug«, sagte Nello hinter geschlossenen Zähnen.
»Noch mehr als das«, setzte der Advokat hinzu, »sie hat vorhergewußt, Cavaliere, daß Sie kommen würden!«
Der alte Sänger machte ein bedenkliches Gesicht. Solche Dinge konnten Unglück bringen.
»Mir ist prophezeit worden, ich werde in einer Stadt von weniger als hunderttausend Einwohnern sterben, umgeben von Geheimnis. Also muß ich vorsichtig sein.«
»Sie sehen aus, als könnten Sie gar nicht sterben«, sagte Gaddi, mit einem Blick auf die geschminkten Wangen des Alten.
»Der Ruhm macht unsterblich«, rief der Advokat und stieß die Turmtür zurück. Sie erstiegen, einer hinter dem anderen, eine schlüpfrige Treppe. Vor einer Tür mit eisernem Beschlag hielt der Advokat inne, streckte einen Arm über die Nachkommenden aus und prägte ihnen die Feierlichkeit der Stunde ein.
»In der Geschichte des Eimers finden Sie, meine Herren, die Sie dem Ruhm dienen, ein großes Vorbild. Um diesen Eimer starben viele Brave. Was ist ein Leben? Der Eimer dauert! Der Ruhm stirbt nicht!«
»Gut! gut!« sagten alle drei. Der alte Giordane hatte feuchte Augen.
»Aber der Schlüssel fehlt uns noch«, bemerkte der Advokat, und rief in den Turm hinauf:
»He! Ermenegilda!«
Es hallte leer. Der Advokat erstieg noch drei Stufen, und auf jeder schrie er. Endlich beugte droben sich ein altes, finsteres Gesicht herüber.
»Was wollt ihr? Der Schlüssel ist nicht da. Für den Eimer gibt es keine Erlaubnis mehr.«
»Was denn? Bist du verrückt geworden, Ermenegilda? Kennst du mich nicht mehr? Ich bin der Advokat Belotti.«
»Das weiß ich. Aber den Schlüssel hat Don Taddeo.«
»Was sagst du? Don Taddeo hat –. Aber das ist ein offenbarer Übergriff! Das ist erklärter Raub! Meine Herren, Sie sind Zeugen einer Gewalttat. Sie werden dabeisein, wenn ich dem Munizipium das Vorgefallene berichte. Ah! kaum, daß ich es fasse.«
Der Advokat hatte die Hände über dem Kopf. Er stürzte – und fast warf er die drei Komödianten die Treppe hinab – mit fliegenden Schößen zum Turm hinaus, zwischen den unbewegten Löwen über die Stufen zum Dom und hinein. Die andern liefen ihm nach.
»Herr Advokat«, rief der Bariton, »bemühen Sie sich doch nicht! Wir erheben keinen …«
Der Advokat war schon in der Sakristei verschwunden, er kam schon wieder heraus.
»Glauben Sie, daß dieser Priester sich blicken läßt? Er fürchtet sich und tut wohl daran. Wir wollen sehen, wer der Stärkere ist! So werden die Dinge nicht verlaufen. Dort innen –«
Er wies auf die Sakristei.
»– ist also nicht nur ein Herd von Lügen und Ränken, sondern auch eine wahre Räuberhöhle.«
»Schließlich haben auch Sie den Eimer einmal geraubt«, wendete der Bariton ein. Der alte Tenor vermutete:
»Es wird ein Irrtum sein.«
»Liegt denn überhaupt so viel daran?« fragte Nello Gennari.
Und da der Advokat die Arme hob –
»Vielleicht hat übrigens der Priester recht. Der Eimer befindet sich in seinem Turm …«
»Oh! hat man je solchen Sophismus gehört. Der Eimer, das Wahrzeichen der Stadt! Von uns erobert! – und ein Priester sollte wagen dürfen –. Aber ich werde ihn zu finden wissen: in der Schule ist er. Freunde, auf, zur Schule! Er soll eine Niederlage erleben, die er nie vergessen wird.«
Sie hielten ihn mit Mühe. Jungen sammelten sich um sie. Am Platz und in den Eingängen der Gassen hörte Hämmern und Singen auf, und Leute traten auf die Schwellen. Der Apotheker Acquistapace zeigte sich. Er meinte, Don Taddeo wolle sich rächen, weil – und er wies auf die drei Sänger – in der Stadt jetzt die Kunst blühe.
»Mir gilt es, der ich sie hergerufen habe«, behauptete der Advokat. Dennoch ließ er sich bewegen, vor Beginn des Kampfes beim Gevatter Achille den Vermouth zu nehmen. Auch Polli und Camuzzi erschienen. Der Barbier Nonoggi, der sie aus seinem Laden hinausbegleitete, zog sich zurück, sobald er den Advokaten gewahrte, und gleichzeitig kam der Leutnant der Carabinieri vorüber. Der Advokat forderte den Soldaten auf, sofort auf dem Gewaltwege die Stadt in den Besitz des Schlüssels zu bringen. Der Gemeindesekretär hielt dies Verfahren für ungesetzlich.
»Also gehen Sie zu den Priestern über! Ich wußte wohl, Camuzzi, daß Sie den Fortschritt nicht lieben. Auch die Bogenlampe, an der sich jeder stößt, haben Sie, um mich zu verhöhnen, über Nacht an einen falschen Fleck setzen lassen. Aber nie hätte ich gedacht, Sie würden so tief sinken.«
Der Sekretär erklärte sich für ganz unbefangen. Hier liege eine Kompetenzfrage vor, denn wenn der Eimer der Stadt gehöre, sei der Turm, in dem er hänge, doch Eigentum der Kirche.
»Sagte ich es nicht?«, bemerkte Nello Gennari. Der Streit dieser Leute, die Wichtigkeit, die sie ihren Angelegenheiten beilegten, erbitterten ihn eigentümlich. Es schien ihm, um sich und sein Gefühl dürfe er eine weite, ehrfurchtsvolle Stille verlangen. Mochten sie sich gegenseitig totschlagen!
»Der Priester hat recht!« rief er mit böser, heller Stimme. »Überhaupt müssen wir Religion haben.«
Der Advokat beachtete ihn nicht. Er sah auf einmal siegesgewiß aus.
»Wollt ihr Logik? Ihr sollt sie haben. Ah! ihr sollt sie haben.«
Mit dem Finger an der Nase:
»Der Eimer hängt im Turm: gut, aber er hängt. Den Boden berührt er nicht, und das Seil, das ihn mit der Decke verbindet, ist städtisch: ich weiß es, denn ich selbst habe es beim Seiler Fierabelli gekauft, weil mir das alte nicht mehr sicher genug schien. Nun wohl! Weder oben, noch unten, noch ringsherum stößt der Eimer auf kirchliches Gebiet, und wer wollte behaupten, die Luft, in der er hängt, gehöre der Kirche?«
»Das bleibt unentschieden«, sagte Camuzzi, und Nello unterstützte ihn.
»Sie werden mich nicht beirren. Die Luft ist frei. Aus der Luft über Ihrem Weingarten darf ich so viele Vögel schießen wie ich will, vorausgesetzt, daß ich Ihren Acker nicht zerstampfe.«
Der Advokat führte seinen Vermouth an den Mund und betrachtete dabei, genußsüchtig blinzelnd, die geschlagene Miene seines Gegners. Sein Sieg hatte ihn beruhigt.
»Setzt die Füße auf die Leisten eurer Stühle, ihr Herren!« sagte er jovial. »So entgeht ihr unseren Flöhen. Ah! an solch einem schönen Morgen hat man einen guten Kopf, und es ist eine wahre Lust, sich unter Männern über dies und das zu unterhalten. Die Weiber taugen dafür nicht.«
Indessen verbeugten sich alle vor Mama Paradisi, die eins ihrer Fenster ganz ausfüllte mit ihrem Wogen. Am nächsten stießen sich ihre beiden schönen Töchter.
»Sie sind schon angezogen«, sagte der Apotheker, »ob das nicht Ihnen gilt, Herr Gennari? Ohne die andern Herren beleidigen zu wollen: aber auf mich selbst beziehe ich es nicht.«
Der Tenor sah weg.
»Sie sind verwöhnt, junger Mann«, und der alte Krieger legte ihm seine breite Hand auf. Nello brach aus:
»Sollte man den Weibern nicht verbieten, über Tag die Läden zu öffnen? Da liegen sie rings um den Platz und würden am liebsten gleich die Arme öffnen. Eine Frau ohne Zurückhaltung stößt mich ab: ich bin so.«
»Aber, Nello!« sagte der Bariton. »Bisher konnte es dir nicht rasch genug gehen. Noch gestern, gleich in der ersten halben Stunde, warst du auf eine aus, die in den Dom ging.«
»Wer ging in den Dom? Schweige doch! Vielleicht bist du dafür bezahlt, mir eine anzubieten?«
»Ich kenne dich nicht wieder, Nello! Dieser Rasende, ihr Herren, war sonst ein Cherubim, die Freude der Frauen, aller Frauen in den Städten, wo wir sangen. Noch keiner hat er etwas abgeschlagen. Und jetzt, was ist ihm begegnet?«
Der alte Giordano verging sich in Handküssen nach allen Seiten.
»Man behält keine Zeit zu sprechen«, sagte er. »Es sind zu viele.«
»Warum bleiben an jenen Häusern die Fensterläden geschlossen?« fragte er zwischendurch. Da man ihn ansah, gestand der Apotheker:
»Das hier ist meins. Aber auch die Frau des Perückenmachers Nonoggi handelt, wie Sie sehen, Cavaliere, indem sie ihre Läden schließt, im Sinne des Don Taddeo, der die Kunst verbieten möchte! Oh! nicht meine Frau allein: eine ganze Partei hält zu ihm. Sie werden sehen.«
»Wir nehmen den Kampf auf!« verhieß der Advokat. »Den Schlüssel wird er herausgeben: und sollte ich für die Stadt Prozesse führen, die mich mein Leben lang auf den Beinen halten, er wird den Schlüssel herausgeben. Ich selbst, der Advokat Belotti, werde eure sämtlichen Choristinnen in den Turm führen, werde ihnen den Eimer zeigen, und nicht einmal der heilige Agapitus selbst soll mich hindern!«
»Sprechen Sie darüber mit Ihrem Bruder!« riet Camuzzi »Er hat einen gesunden Kopf, und dort kommt er; es ist zehn Uhr.«
Der Pächter ritt auf seinem trippelnden Eselchen zwischen zwei großen Körben die Rathausgasse herauf. Beim Rathaus nahm er zuerst den blauen Klemmer, dann den glockenförmigen Strohhut ab und schwenkte beide. Vor dem Café stieg er ab.
»Guten Tag, die Gesellschaft«, sagte er.
»Der Advokat behauptet …«, begann Camuzzi.
»Ich behaupte nichts«, sagte der Advokat rasch.
Der Pächter betrachtete ihn mitleidig.
»Ah! der Advokat. Was will er schon wieder? Pappappapp.«
Er ahmte in seiner gehässigen Tonart die Sprechweise seines bedeutenden Bruders nach. Der Advokat lehnte sich vornehm zurück.
»Das sind Dinge, die ein Mann wie du nicht beurteilen kann.«
»Nun gut, man schweigt«, erwiderte Galileo. »Aber wer sind denn die da?« – und er rückte den Finger von einem der drei Fremden auf den andern. Bei der Vorstellung scharrte er umständlich mit den Füßen, stöhnte zwischen den Komplimenten und erleichterte sich, als er wieder auf dem Stuhl saß, durch gewaltiges Ausspeien. Er hielt die kurzen fetten Schenkel weit auseinander und ließ die kleinen goldbraunen Fäuste dazwischen herabhängen. Unter seinen weißen Brauen blinzelte er alle verächtlich prüfend an, verzog stumm den Mund zu dem, was sie sagten, und verlangte schließlich, herauspolternd, als sei seine Geduld erschöpft, sein Nachbar solle, da er schon ein Künstler sei, Zauberkünste zum besten geben oder einen Witz. Der alte Tenor stand auf und verwahrte sich. Er sei seit fünfzig Jahren Künstler, aber eine solche Zumutung –. Sein ganzes Gesicht, jede Runzel darin, zitterte, als sollte er in Tränen ausbrechen, und er hatte beim Bewegen seiner faltigen Hände den Brillanten sichtlich ganz vergessen.
»Was will denn der?« fragte Galileo. »Was für ein Dummkopf! Pappappapp!«
Er machte dieselbe alberne Stimme, mit der er den Advokaten nachgeahmt hatte. Der Cavaliere Giordano traf Anstalten, sich zu entfernen. Der Advokat wendete ihn, mit zärtlichem Respekt, immer wieder zurück.
»Tun Sie uns das nicht an, Cavaliere! In keiner Stadt ist Ihr Ruhm größer als in unserer. Mißverstehen Sie meinen Bruder nicht, auch er verehrt Sie. Galileo, unsere Schwester hat nach dir gefragt, eine Ziege ist krank.«
»Warum hast du's nicht gleich gesagt? Aber die Advokaten verstehen nichts.«
Er wischte sich den Mund mit der Hand, nahm das Eselchen, das mit der Schnauze an seinem Nacken stand, und führte es in die Treppengasse. Der Advokat fuhr mit Beschwörungen fort.
»Cavaliere, ein Mann wie Sie ist über solche Miseren erhaben. Ein Bauer hat Sie nicht mit der schuldigen Achtung behandelt: was weiter? Denn mein Bruder ist nur ein Bauer. Um sieben legt er sich schlafen, um ein Uhr nachts reitet er aufs Feld, und um zehn, wenn die Hitze beginnt, kehrt er heim. In der Zwischenzeit spielt er Mora mit seinesgleichen. Unter dem Papst ging er zur Messe, jetzt freilich nicht mehr. Sein Geist ist trotzdem wenig kultiviert, und er läßt sich den Ausfall der Ernte von der Hühnerlucia, einer verrückten Alten, vorhersagen. Aber –«
Er ließ den Sänger los.
»– schweigen wir von diesen Kleinigkeiten. Der Augenblick, Cavaliere, ist ernst. Ihr Herren, ich sehe auf dem Corso den Priester erscheinen.«
Er setzte sich, schwach, wie es schien, vor Erregung. Auch der alte Giordano nahm seinen Stuhl wieder ein. Das Erlittene überwältigte ihn nachträglich auf einmal ganz. Er sank zusammen und murmelte:
»Seit fünfzig Jahren Künstler …«
»Er hat bei sich die Baronin Torroni«, sagte Polli.
»Zu seiner Bedeckung«, setzte der Apotheker hinzu.
»Was tut das«, – und der Advokat sprang auf. »Ich werde der Baronin einfach erklären, daß ich mit diesem Priester …«
»Er verabschiedet sich, sie betritt ihr Haus.«
Der alte Tenor fuhr jäh auf:
»Ich, den Seine Exzellenz Cavour zum Ritter der Krone von Italien gemacht hat!«
Sie hörten ihn nicht. Der Advokat stand sprungbereit. Wie er ihn erblickte, verließ der Priester, zusammenzuckend, seine Linie. Der Advokat schoß los und schnitt ihm den Weg ab.
»Gefangen«, bemerkte der Apotheker.
»Und ich habe ein Haus in Florenz!«
Dabei setzte der Cavaliere Giordano wütend sein Glas hin.
»Was kümmern mich alle diese Armseligkeiten? Mein Haus ist voll der Erinnerungen an eine ruhmreiche Laufbahn, der Geschenke von Fürsten und Damen …«
»Don Taddeo, Ihr Diener«, hörte man den Advokaten sagen. Er hob den Hut und schlug sogar mit dem Fuß aus. Der Priester grüßte ebenso höflich und sah ihn aus seinen roten Augen brennend an.
»Ein Wort, Don Taddeo, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist! Ein unliebsamer Irrtum Ihrerseits …«
»Es ist kein Irrtum, mein Herr …«, und es war zu merken, daß der Priester kaum sprechen konnte. »Der Schlüssel: denn von ihm wollen Sie gewiß reden …«
»Freilich. Um Sie im Vertrauen auf Ihre Loyalität …«
»Zweifellos. Aber es handelt sich einfach darum, mein Herr, daß der Schlüssel von Rost zerfressen und kaum noch brauchbar war. Ich habe ihn dem Schlosser Fantapiè gegeben und einen neuen bei ihm bestellt.«
»Ah!«
Der Advokat brachte einen Laut hervor, der nicht heiser klang. Wie leicht mußte es ihm sein! Polli, Acquistapace und der Leutnant wiederholten: »Ah!« – und auch der Bariton Gaddi machte: »Ah!« Nello Gennari achtete nur auf den Cavaliere Giordano. Der berühmte Sänger war nach seinem verpufften Ausbruch ganz in sich zusammengefallen und sah alt aus: endlich unverhohlen alt, mit herabhängendem Kiefer, Augen, die greisenhaft stierten, und hilflosen Händen. Sein junger Gefährte dachte, und senkte finstere Blicke in die arme Gestalt:
›Ja, was tut er hier? Ein reicher, geehrter alter Mann – und läßt sich herbei, in einem schmutzigen Nest die Rüpel lustig zu machen! Aber er hat keine Stimme mehr; in den großen Städten wollen sie ihn nicht mehr; und da man, scheint es, in unserem Leben das Händeklatschen nie entbehren lernt, müssen es nun die Fäuste der Bauern besorgen, – wie man vielleicht die Mägde noch blenden kann, wenn einen die Herrinnen nicht mehr ansehen … So geht es zu bei uns. Wir treiben es weiter, wie auch ich es so lange trieb: immer kindisch weiter, armselig berauscht, ohne Anker, ohne den Mut, zu landen; – und eines Tages vor dem Café einer Landstadt, wo einem die Flöhe über die Füße springen, bemerkt man, wie weit man kam … Ich aber: oh! niemals wird es mit mir dorthin kommen. Ich bin jung, und mein ganzes Leben soll Alba gehören. Ich werde sie von meiner Anbetung überzeugen, werde etwas tun, eine Handlung, ein Wagnis, das sie mir gewinnt … Gefunden: aus dem Kloster; ich befreie sie aus dem Kloster! Wie sollte sie mich nicht lieben! Wir fliehen. Dann werfen wir uns dem Großvater zu Füßen … Ich bin vielleicht töricht und romantisch? Aber nichts, wenn ich sie denn nie besitzen soll, nichts doch hindert mich, zu ihren Füßen zu leben: als Bauer, ihr unbekannt, unter den Mauern ihrer Zelle. Oder ob es hier ein Männerkloster gibt? An den Festtagen in der Kirche könnten wir uns sehen: in weißen Tüchern ihr schöner Kopf und ich unter der Kutte – könnten einander in die Augen sehen und singen …‹
»Junger Mann, Sie träumen«, sagte jemand, und der Cavaliere Giordano, der sich erholt hatte, betrachtete Nello mit hoch überlegenem Lächeln.
Der Advokat und Don Taddeo waren jetzt dabei, sich voneinander zu verabschieden. Ein Halbkreis von Zuschauern folgte ihren Bewegungen.
»Ich kann also auf Ihr Wort rechnen«, – und der Advokat trat dienernd einen Schritt zurück.
»Aber wie denn. Zu Ihren Diensten«, erwiderte der Priester, vorgeneigt und mit der Kappe in der Hand.
»Es ist immer gut, sich zu verständigen«, sagte der Advokat beim nächsten Schritt. Und Don Taddeo:
»Wir sollen niemand hassen.«
»So denke auch ich, Reverendo. Ihr Diener.«
Dabei schlug der Advokat ein letztes Mal aus.
Mit feuchter Stirn und Augen, die noch gar nichts sahen, kehrte er zurück. Unter den Zuschauern sagte der Barbier Bonometti:
»Er hat es ihm gegeben, der Advokat.«
Die Frau des Kirchendieners Pipistrelli stieß den Krückstock aufs Pflaster.
»Ihm hat es Don Taddeo gegeben, ihm!«
Die Jungen pfiffen auf den Fingern hinter dem Priester her. Als er sich umdrehte, spielten sie unschuldig am Boden.
»Dort drückt er sich, der Feigling«, sagte der Apotheker nicht sehr leise. »Auf den Schlosser redet er sich hinaus.«
»Wenn man sie anpacken will –«, sagte Polli. »Das kennt man.«
»Indessen, Advokat«, sagte Camuzzi, »Sie waren höflich mit jenem Herrn, er kann sich nicht beklagen.«
»Höflich, ich? Ich habe ihm vollauf Bescheid gesagt. Freilich verhandelt man in gesitteter Form …«
»Du hättest ihn nicht Reverendo betiteln sollen«, sagte der Tabakhändler, »wenn er dich nicht wenigstens Exzellenz nannte.«
»Aber was habt ihr? Er seinerseits hat meine Ironie sehr wohl gefühlt, dessen bin ich sicher. Er weiß zu dieser Stunde, daß ich ihn für einen Schurken halte. Meint ihr, er würde so vor mir gekrochen sein, hätte er kein böses Gewissen gehabt? Er hat Angst geschwitzt! Am liebsten wäre er, sobald er mich sah, davongelaufen!«
»Das ist wahr«, sagte der Bariton, und die andern gaben es zu.
»Der Sieg ist beim Advokaten«, stellte der Leutnant fest.
Der Apotheker Acquistapace schlug auf den Tisch.
»Bravo, Advokat! An dem Tage, wo er den Schlüssel herausgibt, zahle ich zwei Flaschen A–
– Asti«, sagte er zu Ende und hatte schon ganz leise die Hand vom Tisch gezogen. Aus der Apotheke war, ihr schwarzes Tuch über Scheitel und Schultern, seine Frau getreten; ihr Blick ließ sich so schwer auf den alten Krieger nieder, daß er darunter kleiner ward; und sie ging auf Don Taddeo zu. Der Priester stand noch beim Brunnen mit der Frau des Perückenmachers Nonoggi, die klagend die Arme erhob. Und während Frau Acquistapace ihm beide Hände drückte, erschien auf dem Platz Frau Camuzzi. Drei Schritte vom Tisch der Herren kam sie vorüber, ohne die Lider zu heben, und gesellte sich zu den anderen.
»Ah, die Frauen«, seufzte der Advokat, schmerzlich getroffen durch die Mißbilligung der hübschen Frau Camuzzi. Ihr Mann sagte:
»Auch die Baronin Torroni wird sogleich zu der Partei des Priesters stoßen.«
Der Advokat und seine Freunde sahen sich mit niedergeschlagenen Mienen nach dem Palazzo Torroni um. Statt der Baronin zeigte sich dort hinten an der Ecke zum Gasthaus Italia Molesin, die Komödiantin.
»Wie sie um ihn her schnattern und Flügel schlagen, die Gänse!« sagte der Tabakhändler Polli, voll Mut durch die Abwesenheit seiner Frau. »Warum sie ihm nicht die Fettflecken von der Soutane schlecken!«
Der Gemeindesekretär grub weiter in der Wunde.
»Sie müssen nicht glauben, Advokat, daß Sie mit Don Taddeo und den Seinen leicht fertig werden. Er weicht Ihnen aus: um so schlimmer. Er versteckt sich hinter dem Schlosser Fantapiè, der alle Arbeiten für die Kirche und das Kloster macht und den Schlüssel keinen Augenblick früher beendet haben wird, als es dem Priester recht ist …«
Ein Schwarm Schulkinder brach aus dem Corso hervor, wickelte Italia ein, schnellte über sie hinaus und lärmte so sehr, daß nichts mehr zu verstehen war. Die Tauben flüchteten vom Pflaster in die Luft, zu den Vorsprüngen am Dom. Einige kehrten zurück und ließen sich auf den Rand der Brunnenschale nieder. Italia kam näher; das Tuch war ihr von den Schultern geglitten, Hüften und Augen drehte sie hin und her und kaute dabei. Wie sie die Tauben sah, machte sie sich heran und hielt ihnen, zärtlich kreischend, die Handfläche mit Brot hin. Zugleich hob sie den Kopf nach Beifall. Statt dessen sagte Frau Acquistapace:
»Ist es erlaubt, Reverendo, daß eine verlorene Frau die Kirchentauben füttert?«
Indes Don Taddeo seufzte, fügte die Nonoggi hinzu:
»Ich werde meinen Besen holen. In der ersten Nacht, wenn man denkt! Und mit einem Edelmann!«
Frau Camuzzi hielt immerfort die Lider gesenkt. Unversehens drückte sie ihren Spitzenschal gegen den Hals und spie aus, – was ihr gut stand. An ihrem schwarzen Kleid vorbei sah man es silbern niederfallen. Italia richtete sich fragend auf. Vor dem Café sagte niemand ein Wort. Endlich versuchte der Advokat:
»Diese Damen scheinen etwas zu wissen. Sollte denn Nonoggi …«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte der Apotheker:
»Auch ohne Nonoggi kommt schließlich alles heraus.«
»Das ist abscheulich«, rief der Advokat. »Ich wasche meine Hände in Unschuld, – obwohl ich, wie ich hinzusetzen muß, der erste gewesen bin, der die Sache erfahren hat.«
Aber da Jole Capitani, die Frau des Doktors, denn inzwischen war sie angelangt, sich mit ihrer trägen Stimme bei dem Priester erkundigte, ob man die Komödiantin nicht einsperren könnte, damit sie niemanden mehr verführe, empörte sich der Advokat.
»Die nun nicht! Ah! die nicht. Eine Frau, die so dick ist, sollte nicht von andern Böses reden!«
Italia war da, hatte Tränen in den Augen und fragte:
»Was haben diese Damen?«
Das Schweigen der andern machte den Advokaten noch betretener.
»Nichts«, brachte er hervor. »Wir sind in einer kleinen Stadt, was wollen Sie; man sieht hier nicht gern, daß eine Frau lange schläft.«
»Aber das Fräulein hat sich den Schlaf verdient«, meinte Polli bieder.
»Das glaube ich! Die Reise mit der Post, und in Sogliaco jeden Abend gespielt …«
»Und vielleicht auch die Liebe?« schlug der Leutnant vor und rückte sich zurecht.
»Die Leidenschaft!« rief der Advokat eifersüchtig. »Denn die Künstlerinnen lieben mit Leidenschaft, und das reibt sie auf. Ich kenne es.«
»Wie wahr!« – und Italia dankte ihm, indem sie ihn mit den Augen kitzelte. Der Advokat schnaufte.
»Diese hier«, erklärte der Bariton Gaddi, »ist nicht leicht aufzureiben, sie ißt zu viele Makkaroni.«
»Man sollte sich über die Frauen niemals lustig machen«, erwiderte der alte Giordano süß. »Sie sind eine zu ernste Angelegenheit.«
»Danke, Cavaliere«, – und sie kitzelte auch ihn. »Ich liebe den galanten Mann.«
»Man weiß, man weiß!« – mit einem Schlage zwischen die Gläser; und der Tabakhändler sah sich, krebsrot, nach dem Apotheker um. »Der Baron!« wisperten sie erstickt und platzten gleichzeitig aus.
»Was haben diese Herren?« fragte Italia. Um sie für sich zu gewinnen, kitzelte sie beide mit den Augen und zur Sicherheit auch noch den Leutnant.
Der Advokat drohte ihr mit dem Finger; sie lachte; und inzwischen kam Frau Camuzzi, vom Dom her, mit tief gesenkten Lidern vorüber. Italia sah ihr voll Spannung und Unterordnung nach.
»Ist das die Dame, die ausspie?« flüsterte sie. »Und warum spie sie vor mir aus?«
»Auch ich bin beleidigt«, sagte der alte Giordano dumpf und grübelte, wieder ganz in Falten, vor sich hin.
Nello Gennari fuhr zusammen, als erwachte er, und starrte irgendeinen an.
»Hier ist jemand, der alles weiß. Alles, versteht ihr? Ist das nicht schrecklich?«
»Ich hatte es vergessen«, sagte der alte Giordano schaurig. »Mein Gedächtnis! Aber jetzt erkenne ich, woher hier das Unglück kommt. Dort im Winkel hinter dem Turm –«
Er zwang Italia, in seine aufgerissenen Augen zu sehen, und wies mit dem Daumen rückwärts. Der Advokat machte leise »Sst«. Polli raunte:
»Man sieht nicht hin.«
»Das ist doch schrecklich, immer solche Augen einer Unsichtbaren auf sich zu haben«, wiederholte Nello Gennari, den Blick gesenkt. Der Bariton nahm seine Uhrkette in die Hand.
»Ich sage nicht, daß es eine große Annehmlichkeit ist.«
»Was gibt's? Oh, was habt ihr?« – und Italia hatte den Handrücken am Munde.
»Du hast Hornbreloques, Gaddi?« fragte der alte Tenor. »Man sollte sie nie ablegen.«
Rasch und ohne sich umzuwenden, spreizte er zwei Finger gegen das Haus Mancafede.
»Was gibt's, mein Gott?« flehte Italia. »Ich will fort.«
»Was denn«, machte der Advokat. »Wir leben doch alle hier, und es tut uns nichts. Es ist ein Mädchen, das seit neun Jahren, ohne krank zu sein, das Haus nicht verläßt und dennoch alles weiß, was geschehen ist, und zuweilen auch, was noch nicht geschehen ist …«
»Man muß zugeben«, – und der Gemeindesekretär lächelte spöttisch, »daß es ein wenig unheimlich sein mag, wenn man es noch nicht gewohnt ist.«
»Ich will fort.«
Italia stieß ihren Stuhl zurück. Der Advokat packte sie an und drückte sie auf den Sitz.
»Sie, eine Künstlerin, wollten fliehen vor einer einfachen Erscheinung der menschlichen Natur?«
»Nun, einfach –«, meinte der Sekretär. Italia sah, umklammert vom Advokaten, nach Hilfe umher.
»Darum bin ich beleidigt worden«, begann wieder der alte Giordano. »Ich, der seit fünfzig Jahren –«
»Hat darum jene Dame vor mir ausgespien?« fragte Italia erleuchtet.
»Aber die Wissenschaft –«, hob der Advokat an.
»Wer ist also noch sicher!« rief Nello Gennari, sprang auf und machte, die Arme verschränkt, eine stürmische Runde um den Tisch. ›Sie weiß‹, dachte er in plötzlichem Erkennen, ›wo ich die Nacht war und daß ich Alba liebe! Ich wollte eher tot sein, als ein menschliches Wesen im Besitz meines Geheimnisses sehen. Sie aber hat es: schon gestern wußte sie den Namen! – und kann mich verraten. Ich lebe von ihrer Gnade, wie ist das zu ertragen!‹ Er setzte sich wieder und nahm die Stirn in die Hände.
»Die Wissenschaft wird –«, sagte der Advokat. Der alte Giordano hob plötzlich die Arme und riß die Luft in seinen offenen Mund hinein.
»Und meine Prophezeiung! Diese Stadt hat weniger als hunderttausend Einwohner, und ich bin umgeben von Geheimnis. Ich werde hier sterben.«
»Ja, man muß vorsichtig sein«, – und der Bariton drehte unerschüttert an seinen kleinen Hörnern. Der Alte schrumpfte zusammen. Der Advokat bekam unversehens eine Art Anfall. Er zuckte wild mit den Schultern, seine Handrücken taten kleine krampfige Schläge in die Luft, die Adern schwollen ihm, und seine Augen waren die eines Erstickenden.
Plötzlich stand der Kapellmeister Dorlenghi am Tisch und sagte, rasch atmend:
»Wenn es den Herren gefällt, zur Probe!«
Niemand antwortete ihm. Italia zerrte ihr Taschentuch durch die Zähne, der alte Giordano sah entrüstet weg. Dann nahm der Advokat das Wort.
»Guten Tag, Dorlenghi, setzen Sie sich!«
»Verlieren wir keine Zeit, ihr Herren! Diese elende Schule hat mich lange genug aufgehalten. Denn ich bin ein kleiner Dorfmusiker und muß die Kinder singen lehren. Kommen Sie!«
Da nichts sich regte, fragte er, stockend und erblaßt:
»Aber was ist geschehen? Ich verstehe nicht …«
Der Advokat fuchtelte verzweifelt. Auf einmal klappte er die Arme herunter und sagte leichthin:
»Sie wollen nicht, Dorlenghi. Diese Herren haben den Plan gefaßt, abzureisen.«
»Ach ja, abreisen!« – und Italia nickte fliegend und verzerrt, als sei sie von Schlangen umwickelt.
»Auch ich reise«, sagte der alte Giordano. »Ich will hier nicht sterben.«
Der Kapellmeister griff nach einem Stuhl und griff daneben. Der Advokat fing ihn auf und setzte ihn hin.
»Mut, Dorlenghi! Auch mir ist dieser Zwischenfall peinlich; aber was wollen Sie? Künstler sind Launen unterworfen, das wußten wir. Wer das Genie will, muß auch die Launen wollen.«
»Immerhin«, meinte der Bariton, der seine Anhängsel sorgfältig geprüft hatte, »es wird vielleicht besser sein, wir reisen.«
Nello Gennari nahm die Stirn aus den Händen; er hatte einen wirren, ringenden Blick; – schüttelte, die Lider eindrückend, langsam und stark den Kopf und ließ die Stirn zurückfallen.
»Sie scherzen«, brachte der Kapellmeister hervor und lächelte wie eine Puppe. »Ein gelungener Scherz. Aber sollten wir nicht gehen? Es wird spät, und zum Theater ist's weit.«
»Es ist Ernst, mein armer Dorlenghi«, – und der Advokat klopfte ihn. »Unsere Künstler fürchten sich vor der Unsichtbaren dort hinten. Sehen Sie nicht hin! Und schließlich, wer weiß; Gründe gibt es für alles; und selbst ich, Maestro, frage mich –. Denn, sagen wir die Wahrheit! die merkwürdigen Dinge häufen sich ein wenig. Warum mußte mir Don Taddeo just heute die Ungelegenheit mit dem Schlüssel bereiten? Überdies hatte ich vergessen, daß der Frau des Wirtes Malandrini, ja, der Ersilia Malandrini, letzte Nacht der Geist ihres Vaters erschienen ist.«
Italia begann wild zu lachen. Alle sahen sie entsetzt an.
»Ein Geist?« fragte sie.
»Gewiß, ein Geist, Fräulein«, bestätigte der Advokat ernst. »Denn ich gehöre nicht zu denen, die die Seele leugnen. Ich bin kein Feind der Religion, nur ein Gegner der Priester.«
»Aber solch ein Geist, oh, solch ein Geist –« und Italia schüttelte sich.
»Eine Frau ohne Religion liebe ich nicht«, bemerkte der Apotheker Acquistapace mit seiner biederen Stimme. Sie war unvermittelt still und sah ihm gesetzt und treu in die Augen.
»Das Fräulein lacht! Sehen Sie, daß sie lacht?« wiederholte der Kapellmeister noch immer. Er war auf den Beinen, in seiner zarten Haut sah man die Röte bis unter die blonden Kinnhaare fließen, und er sagte mit einer Stimme, die aus dem Tiefsten bebte:
»Ich habe es gewußt, Sie würden mich nicht im Stich lassen. Wo bleibt das Fräulein Flora Garlinda?«
»Oh«, machte Gaddi, »auf die können Sie zählen, Maestro, die singt: auch allein, ohne uns, und kein Unglück, böser Blick oder Geist hält sie ab, denn sie glaubt an nichts.«
»Also gehen wir voran! Das Klavier ist oben«, – und er wies nach der Treppengasse; »ich habe große Mühe damit gehabt, bis es oben war … Wie? Meine Herren, ich bitte Sie, ich bitte Sie.«
»Es wäre vielleicht besser, an nichts zu glauben?« vermutete der Advokat.
»Wenn Sie nicht kommen: ja, was tue ich«, sagte der Kapellmeister und griff sich fliegend an die Stirn.
»An gewisse Dinge nicht zu glauben, ist schwer«, bemerkte der Cavaliere Giordano. »Beim Theater besonders.«
»Meine Zukunft! Sie werden nicht wollen, daß alles umsonst war?«
»Ich habe sie erlebt«, – und der Bariton schlug sich auf die starke Brust. »In Pesaro verschwanden die Schminktöpfe, die man soeben noch in der Hand gehalten hatte, und in einer anderen Garderobe fand man sie wieder. Ich mußte die meinen mehrmals von der Primadonna zurückholen.«
»Das soll deine Frau erfahren«, sagte Italia.
»Werde ich denn niemals hier herauskommen?« – und der Kapellmeister schlug hart auf seinen Stuhl auf und sah gebeugt seine Hände an, die in dürftigen, zu langen Ärmeln staken, geschwollene Adern hatten und schwitzten.
Man erwiderte ihm mit Entrüstung:
»Sie waren froh genug, herzukommen. Uns scheint, daß hundertfünfzig …«
Der Cavaliere Giordano bewog die Bürger mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»In Parma hat das Theater, wie viele selbst unter denen, die dort aufgetreten sind, nicht wissen, – aber es ist Tatsache, daß das Theater einen Geist hat. Ich habe ihn erblickt.«
Er nickte allen nacheinander in die Augen.
»Jener Geist war vor hundert Jahren eine Dame des Hofes und soll, obwohl ein religiöses Gelübde es ihr verbot, einen Tenor geliebt haben. Nun kommt sie, sooft ein junger, noch unbekannter Tenor singt, durch den Gang aus dem Schloß ins Theater. Immer in derselben Loge sitzt der Geist, die er bei Lebzeiten hatte, und wartet, ob der Fremde jenen Ton aushalten wird …«
»Jenen Ton?« wiederholte man.
Der Kapellmeister war schon wieder aufgesprungen. Er tat einige Schritte, schob wütend einen schreienden Haufen Jungen auseinander, ging dem Brunnen zu.
»Und meine Ouvertüre!« sagte er immer wieder, nun dumpf, nun ausbrechend, nun knirschend. Er stützte die Hände auf die Brunnenschale und stöhnte laut.
»Sie soll im Theater aufgeführt werden! Die Garlinda soll meine Arie ›Trauriges Geschick‹ singen! Wozu ist sie da, wozu sind sie alle da! Ah! Sie wollen mir nicht ans Licht helfen, das ich verdiene? Sie wollen mich aufhalten?«
Er griff sich ins Haar, er ballte die Faust.
»Sie mögen sich hüten! Ich habe ihre Kontrakte, ich werde sie damit vernichten, ohne Gnade vernichten!«
Und er spie in den Brunnen. Dann kehrte er zurück, etwas einwärts auf seinen gekrümmten Beinen; und da er fühlte, daß beim Näherkommen sein Gesicht, er mochte wollen oder nicht, einen bescheidenen Ausdruck bekam, zwang er es zu drohen.
»Bei der Unmöglichkeit, dies genau zu wissen«, sagte der Cavaliere Giordano, »werden Sie verstehen, meine Herren, wie schwierig meine Lage war.«
»Teufel!«
»Denken Sie sich: ahnungslos trifft man in Parma ein, singt fröhlich drauflos, – um in der letzten Pause von irgendeinem guten Herzen zufällig zu erfahren, daß in der dritten Loge rechts eine geisterhafte Dame sitzt, die darauf wartet, ob man jenen Ton aushält, bei dem vor hundert Jahren ihr Liebhaber gestorben ist. Hält man ihn aus, stirbt man auch, das steht fest. Man erstickt an ihm.«
»Schönes Vergnügen!«
»Und man weiß nicht, welcher es ist! Die Überlieferungen stimmen nicht überein. Es konnte auch das hohe D sein, meine Herren: das hohe D meiner großen Arie ›O bleiche Sterne‹ im letzten Akt der ›Galathea‹. Aber soll ich auf mein hohes D verzichten? Mit ihm besiege ich jedes Publikum. Jetzt werde ich dafür vielleicht sterben, elend ersticken? Es handelt sich um die Wahl zwischen Leben und Ruhm … Meine Herren, ich war jung, ich nahm den Ruhm.«
Der Advokat lachte keuchend dazwischen, ohne sich seiner Ungebühr bewußt zu sein, nur aus Aufregung, weil er unter dem Tisch auf einen Fuß gestoßen war, der, wenn nicht alles täuschte, Italia Molesin gehörte. Der Cavaliere Giordano sah ihn strafend an, und er riß, ertappt, die Brauen in die Höhe.
»Freilich sagte ich mir auch: es wird nicht das D gewesen sein, an dem jener Scharlatan erstickt ist; denn das hält niemand zwei Minuten lang aus, als nur ich. Gleichviel: wie ich nun vor dem Souffleurkasten stehe, das ganze Haus den Atem zurückdrängt und nur ich ihn hinausschmettere, lange, lange, lange: – oh, ich sage die Wahrheit, mir war nicht wohl. Vielleicht war ich ein wenig feucht, vielleicht verschwamm es mir ein wenig vor den Augen. Es kann sogar sein, daß meine Kräfte nachließen. Da aber lenkt Gott meinen Blick, und ich sehe in der dritten Loge rechts eine Gestalt sich erheben und lautlos Beifall klatschen. Das Blut schießt mir zum Herzen, mit Macht breche ich ab, höre das Haus tausend Hände bewegen und fühle, daß ich gerettet bin. Ich verbeuge mich vor der dritten Loge rechts in dem Augenblick, da die Gestalt zurücktritt und verschwindet. Noch jetzt, scheint mir, habe ich sie vor Augen: sehr bleich ist sie und gekleidet wie eine Äbtissin.«
»Wie eine –!«
Nello Gennari stand auf einmal lang aufgereckt da, die Hand am Herzen und verstört und blutlos. Allmählich erlangte er Atem.
»– wie eine Äbtissin: ja, das ist sie gewesen. Eine Nonne! – und jener Tenor starb für sie. Ihre Geschichte ist wahr, Cavaliere! Ich glaube an sie!«
Er setzte sich. Noch waren alle erschüttert.
»Cavaliere, ich muß Sie auffordern«, begann der Kapellmeister, schwach und atemlos. Der Advokat gab seinem Stuhl einen Stoß und machte sich, die Hände ausgestreckt, eilig drehend über den Platz.
»Was hat er?« fragte Italia enttäuscht. Denn unter dem Tisch war inzwischen auch ihr Knie dem des Advokaten begegnet. »Mit wem ist er?«
»Das ist der Kaufmann Mancafede, der Vater jener Frau dort hinter dem Turm: nicht hinsehen, sie sieht uns.«
»Er scheint nicht gefährlich.«
»Meine Herren«, begann wieder der Kapellmeister, »Sie haben wohl nicht bedacht, welche Folgen es haben würde …«
Die beiden näherten sich. Der Advokat redete keuchend und die Luft schlagend am Ohr des andern. Plötzlich schob er ihn vor und ließ ihn los. Der Kaufmann dienerte und reichte seine trockene kühle Hand umher. Sein altes Hasenprofil mit dem gewölbten Auge wendete sich ruckweise.
»Wenn die Herren es erlauben …«
Jeder einzelne mußte genickt haben, bevor Mancafede sich setzte. Man betrachtete ihn milde, wie er sich in seiner dicken braunen Jacke, die aussah wie sein Fell, rund und klein machte.
»Sie haben eine Tochter?« fragte der Cavaliere herablassend. Mancafede schmunzelte bescheiden.
»Meine Tochter hat von Ihnen gesprochen, Cavaliere.«
»Es wäre nicht nötig gewesen.«
»Nach Ihrem Belieben. Indessen, da sie viel allein ist, beschäftigt sie gern ihren Geist, und so scheint es, daß sie, mehr als wir andern, von der Welt weiß und von gewissen Dingen, die« – mit der Hand auf dem Herzen – »uns andern zu groß sind. Ihr Ruhm, Cavaliere, hat meine Evangelina nicht schlafen lassen. Sie schläft sonst nach dem Mittagessen; gestern aber stand sie, nach einigem Seufzen, wieder auf und sagte: ›Papa, jetzt ist er unterwegs hierher!‹ ›Wer, Töchterchen?‹ ›Er, der Cavaliere Giordano.‹ Und tatsächlich, bedenkt man es wohl, o meine Herren, soll man ihr dann nicht recht geben, und ist es nicht ein wahres Wunder, daß ein Mann, den sie in Paris und in London mit Angst erwarten, alles ausschlägt, um gerade uns zu erwählen? Kaum glaubt man es, daß er hier sitzt, mitten unter uns, wie einer von uns!«
»Tatsächlich«, sagten die Bürger nachdenklich. Der Advokat meinte:
»Dies wäre wirklich eine Gelegenheit, am Rathaus eine Gedenktafel anzubringen.«
Der Sekretär Camuzzi verzog zweiflerisch das Gesicht, aber er hatte die Mehrheit der Bürger gegen sich. Sie erklärten:
»Ein guter Gedanke! Eine patriotische Tat! Die Stadt schuldet es sich!«
Der Cavaliere Giordano verbeugte sich, groß und glücklich, nach allen Seiten. Dann wandte er sich vertraulich an den Kaufmann:
»Und, nicht wahr, mein Herr, irgendein Zufall wird es sein, der Ihrer Tochter meine bevorstehende Ankunft enthüllt hat? Sie hat diese Kenntnis nicht aus sich selbst und nicht auf geheimnisvolle Art? Das alles hat nichts zu bedeuten?«
Mancafede hörte die Bitten des Cavaliere schweigend an. Wenn er sich den alten Tenor zum Feind machte, drohte ein Ballen roten Flanells, den die Bauern nicht gekauft hatten und den er jetzt an die Komödianten hätte loswerden wollen, noch länger liegenzubleiben. Aber sein väterlicher Ehrgeiz siegte, und er hob die Schultern.
»Welch Zufall denn wohl, – da nur der Maestro darum wußte. Sagen Sie selbst, Maestro, ob Sie einer lebenden Seele einen Wink erteilt haben!«
»Um nicht beschämt zu sein, wenn der Cavaliere nicht kam. Aber was hat es mir genützt« – und die blauen Augen des Kapellmeisters waren feucht und zornig –, »da er nun fort will, ohne gesungen zu haben!«
Der Kaufmann schlug entsetzt die Hände zusammen; ein Murmeln der Trauer ging durch den Kreis der Bürger. Der Cavaliere beschwichtigte sie mit einer Geste von leichter Erhabenheit.
»Fürchten Sie nichts!« sagte er, machte eine Pause und stellte sich die Gedenktafel vor, »ich werde bleiben.«
»Ah!«
»Ich habe bedacht, daß ich auch in Parma blieb, trotz der Gefahr, die Sie kennen. Möglich, daß dies die Stadt mit nicht hunderttausend Einwohnern ist, die mir verhängnisvoll werden soll: aber, nicht weniger entschlossen als in Parma, wähle ich statt des Lebens den Ruhm«; – und er senkte die Hand im Bogen auf den Tisch. Der Kapellmeister ergriff sie mit seinen beiden und schüttelte sie wild.
»Cavaliere, nie werde ich Ihnen danken können, was Sie für mich tun!«
Er stammelte mit feuchter Stimme:
»Dann darf ich also hoffen, daß auch die anderen Herren …«
»Sie werden bleiben«, ergänzte der Kaufmann. »Das wissen wir, ohne meine Tochter zu fragen.«
Und er erinnerte den Familienvater Gaddi an die Erhöhung der Gagen, sobald das Theater ausverkauft wäre. Der Bariton lächelte schwelgerisch. Dem Fräulein Italia Molesin verhieß Mancafede einen reichen und mächtigen Freund. Sie und der Advokat sahen errötet aneinander vorbei.
»Was aber den Herrn Nello Gennari betrifft«, sagte der Kaufmann, »sind wir sicher, daß alle seine Träume sich erfüllen werden.«
Gaddi streckte schon die Hand aus, um seinen Freund zu halten, aber Nello brach nicht los; er schluckte hinunter und senkte zu aller Überraschung vor dem spöttisch blinzelnden Kaufmann die Lider.
»Halten wir uns doch mit diesen Nebensachen nicht länger auf!« verlangte der Kapellmeister und trat von einem Fuß auf den andern. »Meine Herren, ich mache Sie dafür verantwortlich, wenn wir …«
»Schließlich hat der Maestro recht«, sagte Italia, denn der Advokat trat sie zu stark, und sie stand auf. Auch die übrigen machten sich fertig. Nello Gennari allein blieb sitzen.
»Ich kann noch nicht singen«, behauptete er hartnäckig. »Ich muß vorher allein sein. Geht nur zu, erwartet mich in zehn Minuten! Ich muß allein sein.«
Er nahm den Kopf zwischen die Hände und war nicht mehr zu sprechen. Die Bürger fühlten sich zu angeregt, um heimzugehen. Da der Kapellmeister sie durchaus nicht mitnehmen wollte, beschlossen sie, ihr Zusammensein im Laden des Tabakhändlers Polli zu verlängern.
Der Kapellmeister stolperte in seiner Hast über Jungen, die am Boden mit Steinchen warfen. Er riß sie auseinander und verlangte, daß sie den Platz räumten. Er hielt sich nicht mehr; alles war ihm im Wege: die Hunde, die gaffenden Handwerker an den Mauern. Da schlug es zwölf, und sie verzogen sich im bunten Getöse des Mittagläutens.
Der Advokat begleitete Italia Molesin. Der Kapellmeister, der zwischen Gaddi und dem Cavaliere Giordano ging, wandte sich auf den ersten Stufen der Treppengasse um und rief: »Sie wissen wohl, Herr Advokat, wir können keinen Fremden bei der Probe gebrauchen.«
»Versteht sich«, rief der Advokat zurück. »Sie werden nicht kommen, ich bürge dafür, sie sind bei Polli.«
Und er bückte sich, um eine Ziege zu entfernen, die seiner Dame im Wege lag. Aber Italia hüpfte kreischend über sie hinweg.
»Mir gefällt die Unerschrockenheit schöner Frauen«, sagte der Advokat. Durch den Kot der Hühner, die gackernd flüchteten, stiegen sie zwischen den schwarzen Häusern fort, aus deren Türen Rauch schwankte.
»Gut, daß wir dableiben«, sagte Italia, und lachte; »ich hätte nicht gewußt, wie ich meine Reise bezahlen sollte, oder auch nur den Wirt.«
»Wie? Aber hat denn der Baron nicht …?«
Er schlug sich auf den Mund.
»Wer?« fragte sie.
»Oh, niemand!«
Italia wandte einen raschen Seitenblick nach ihm um, schüttelte lachend die Schultern und sprang höher. Er keuchte, rechts und links winkend, hinterdrein.
»Bemerken Sie, wie alle auf die Schwellen treten? Jeder hat schon Rat und Beistand von mir verlangt. Mit Recht oder Unrecht hält man mich für einen mächtigen Mann … Und auch für einen reichen, darf ich sagen. Denn sehen Sie den Palazzo? Das Eckhaus mit den beiden Säulen: es ist das größte und schönste; und da meine Schwester, die Witwe Pastecaldi, bei ihrer Heirat abgefunden wurde, gehört es meinem Bruder Galileo und mir, jedem zur Hälfte. Ich habe darin eine Wohnung von vier schönen Zimmern –«
Der Advokat blieb stehen und schmatzte.
»– und eine Sammlung von gewissen Bildern: ah! gewissen Bildern … Man zeigt so etwas den Leuten nicht; Ihnen aber, Fräulein: wenn Sie mich besuchen wollen –, oh! keine Furcht, Sie betreten das Haus eines Ehrenmannes«; – und er stellte die Hand steil zwischen sie und sich. Italia lachte, aber voll Achtung. Einem Manne von solcher Ritterlichkeit begegnete man selten; und einem, der sogleich seine ganzen Verhältnisse darlegte, wie bei einem ernsthaften Antrag!
»Nach der Probe will ich Sie besuchen«, sagte sie, »und mir Ihre schönen Bilder ansehen … Auch Ihre schönen Zimmer«, setzte sie hinzu und zögerte, ob sie ihm noch weiter entgegenkommen sollte. Statt dessen machte sie sich einen bescheiden lockenden Senkblick. Er lächelte galant und führte seine welke Hand ans Herz.
»Oh! Fräulein Italia, wir könnten uns verstehen.«
Sie versuchte ein paar Stufen höher zu gelangen, aber er hielt immer wieder an.
»Ich war stets ein Verehrer der Schönheit; und bei Ihrem Anblick …«
»Da ist er! Und die Eier?« rief es aus dem Hause herab; und eine große Frau mit einem rot verschnürten Sammetmieder und kurzen Hemdärmeln stand im Fenster und drohte mit dem Finger.
»Ah! der Advokat, so ist er. Seine Familie würde er Hungers sterben lassen: er aber, immer mit den Frauen.«
»Meine Liebe«, sagte der Advokat hinauf, »es gibt gewisse Dinge, die du nicht beurteilen kannst.«
»Immer derselbe, der Advokat!« – und die Schwester breitete verzweifelt die Arme aus; aber ihr Kindergesicht, in das zwei graue Strähnen fielen, lächelte bewundernd.
»Welch schöner junger Mann, nicht wahr, Fräulein? Ah! geh, Taugenichts, unterhalte dich! Laß deine Familie ohne die Eier!«
»Ich habe sie mitgebracht, im Café kannst du sie abholen. Aber merke dir, meine Liebe, daß ich jetzt nicht immer Zeit haben werde für deine Angelegenheiten, da ich mit Wichtigerem sehr beschäftigt bin.«
»Man sieht es«, rief die Witwe Pastecaldi noch, indes sie sich zurückzog. Der Advokat bemerkte:
»Man muß Geduld haben. So ist das Leben in einer kleinen Stadt.«
Er hatte schon wieder die Hand auf der Brust, und Italia, die gekichert hatte, bekam sogleich ihre fromme Miene zurück.
»Bei Ihrem Anblick«, fuhr er fort, »fühle ich deutlicher als je, daß große Dinge in mir schlummern. Vielleicht war auch ich zum Künstler bestimmt? Ah! haben Sie je über das Schicksal nachgedacht?«
Aber sie zeigte bestürzt auf die Gestalt, die hinter dem Palazzo Belotti ganz allein auf dem breiten Treppenabsatz stand. Es war ein kleiner Uralter in abgetragener Herrenkleidung. Mit seinen trockenen Falten, seinen Greisenaugen schien er über die Menge hinzulächeln, die nicht da war, bewegte dabei die Lippen, schlug mit dem Fuß aus und schwenkte, die Linke am Herzen, im Bogen seinen randlosen Hut.
»Es ist nichts«, erklärte der Advokat. »Es ist der Brabrà: so nennen sie ihn nach dem Geräusch, das er verursacht, wenn er sprechen will. Ein armer Alter, etwas verrückt, aber wenig interessant. Sehen Sie mich an! Ein Mann von meinen Gaben! Ich hätte wohl Grund, dem Schicksal –. Aber nein: da ich Ihnen begegnet bin!«
Er bot ihr für die letzten, sehr steilen Stufen den Arm.
»Da haben wir auf dem Plateau den Palast Ihrer Exzellenz der Frau Fürstin Cipolla; ich hin in der Lage, ihn Ihnen zu zeigen wie mein eigenes Haus; – und dort rechts das Nonnenkloster mit der Kirche. Ein Langobardenkönig namens – Dingsda hat es gegründet, für seine Tochter, die einen Liebhaber hatte.«
»So streng war er!« – und Italia sah ehrfürchtig an der wilden schwarzen Mauer hinauf.
»Nachdem wir gesiegt hatten, hat der Staat alles versteigert, aber die Nonnen haben es zurückgekauft. Man wird sie nicht los, die heiligen Unterröcke … Versäumen Sie nicht, einen Blick auf die Landschaft zu werfen! Sie sehen von hier zweiunddreißig Ortschaften. Welch wollüstiges Blau: würde man nicht glauben, es sei das Meer, dem die Venus entsteigt? Wer die Einkünfte besäße aus allem, was Sie hier mit zwei Augen fassen, der hätte jährlich nicht weniger als drei Millionen zu verzehren.«
»Himmel! Es wäre Sünde, soviel auszugeben!«
»Für eine Frau würde ich es ausgeben!« rief der Advokat, in Feuer, und kroch ihr voran durch einen halb eingestürzten Bogen neben dem fürstlichen Palast. »Meine Schwester hat vielleicht recht? Vielleicht wäre ich für eine Frau zu allem fähig.«
Er richtete sich auf und streifte die Sohlen an den Stufen ab.
»Man hätte den Zugang zum Theater reinigen sollen. Gerade diesen Ort haben sich die Leute aus den nächsten Gassen seit langen Jahren ausersehen. Sie besitzen nämlich noch keinerlei Bequemlichkeit im Hause …«
Da sprühten Kalk und Kies die Treppe herab, und oben stampfte und winkte der Kapellmeister.
»Wo bleiben Sie, Molesin? Geht das so weiter, werden wir die ›Arme Tonietta‹ niemals herausbringen! Ein Jahr meines Lebens kostet ihr mich!«
»Sie haben recht, Dorlenghi«, sagte der Advokat und beschwichtigte mit der Hand. »Wir kommen, gleich sind wir da.«
»Ich sagte Ihnen schon, daß ich Sie nicht brauchen kann. Aber die Primadonna, nach der ich geschickt habe? Und der Gennari? Er sprach von zehn Minuten, und das ist eine halbe Stunde her!«
Der Kapellmeister überrannte den Advokaten, der sich auf den Schutt setzen mußte, und erwischte hinter dem Torbogen einen Buben.
»Lauf zum Gevatter Achille! Ein Herr sitzt dort. Wenn er nicht sogleich komme, koste es Strafe. Und lauf zum Schneider Chiaralunzi! Er soll mir seine Mieterin schicken. Bist du in zwei Minuten drunten, wirst du sehen, was ich dir schenke.«
Der Junge rannte schon. Oberhalb des Hauses Belotti stieß er mit dem alten Brabrà zusammen, schlug hin und lief zerschunden weiter. Beim Gevatter Achille saß der Herr, aber er schüttelte nur die Schultern und schickte ihn fort. Sogar den Gevatter Achille, der mit ihm sprechen wollte, schickte er fort …
Als es halb eins schlug, schrak Nello Gennari auf, reckte sich, tat ein paar widerwillige Schritte nach der Treppengasse und bog wieder ab. Diese Wege, die nicht zu ihr führten, diese Menschen, die sie nicht kannten oder noch bei ihrem Namen gemeine Gedanken hatten: sie beleidigten Nello. Alles, was nicht Alba war, beleidigte ihn. Voll Verachtung blinzelte er über den leeren Platz hin, mit seiner gewöhnlichen Sonne und seinem alltäglichen Schatten. Jetzt hatten sie alle Fensterläden geschlossen. Am Abend öffneten sie sie wieder. Was das für ein Leben war! Und in ein solches war Nello gebannt. Das edlere, nach dem ihn verlangte, ließ ihn nicht ein. Würde Alba je von ihm erfahren? Sie war erschreckend hoch und fern. Die Nacht unter ihren Fenstern lag schon weit dahinten, und kaum konnte man sich denken, daß sie wiederkehre … Aber oben im Rathaus hatte etwas sich geregt. Eine Jalousietür im zweiten Stock hatte einen Spalt bekommen, darin betrachteten ihn ein Paar Augen, und das weiße Gesicht – hatte es nicht genickt? Er trat hinan: es senkte sich langsam.
Ein Zeichen! Frau Camuzzi, die Keuscheste von allen, gab ihm ein Zeichen! Nello verschränkte die Arme. Da hatte er, was ihm gehört: Vergnügen machen und lügen! Warum nicht? War es nicht eine Rache an Albas zu fremder Reinheit, wenn er sich beschmutzte? Und huldigte er nicht ihr, da er die betrügerische Scham und den falschen Stolz der anderen Frauen zu Boden warf, daß nur die eine aufrecht blieb? Das Gesicht droben neigte sich nochmals und verschwand. Nello betrat die Arkaden, er setzte den Fuß auf die Stufe. Ein Geräusch – er wandte sich hastig; und Flora Garlinda sah ihn an. Sie kam aus der Gasse beim Café und überquerte den Platz mit ihrem Eilschritt. Ohne ihn zu verzögern, hatte sie das Haus, den Spalt in der Balkontür und den jungen Mann auf der Treppe gemustert, hatte verächtlich gelächelt und war fort. Nello Gennari errötete tief. Dann warf er zornig die Schulter zurück und ging hinein. Die Absätze der Primadonna klappten schon in der Treppengasse.
So rasch, daß der Junge, der sie führen sollte, zurückblieb, lief sie in ihrem langen, entfärbten Regenmantel, der schlenkerte, weil sie aus Sparsamkeit nur den Unterrock darunter anhatte, und in ihrem schmutzigweißen Filzhut, den sie um des Haares willen trug: lief hinauf und davon, um die Ecken, über die engen Plätze zwischen zwei Stiegen, – und sooft durch eine Lücke der Häuser ihr Blick in Gärten hinabfiel, wo Kinder spielten und eine Familie unter der Laube beim Essen saß, richtete sie den Kopf noch höher. Droben sah sie nicht links noch rechts: unter dem Bogen beim Schloß war ein kleiner Volksauflauf, und irgendwo aus einer unentdeckbaren Öffnung kam die Kreischstimme der Italia Molesin. »Laßt mich durch!« – und auch über den Kot unter dem Bogen sah sie hin.
Sie riß eine Tür auf; dahinter fand sie, vom Mittagslicht noch blind, alles schwarz. An einer Wand entlang geriet ihre Hand auf etwas Menschliches.
»Entschuldigen Sie!« sagte jemand.
»Öffnen Sie mir doch die Tür zur Bühne! Ich sehe nichts. Wer sind Sie?«
»Ich bin der Advokat Belotti. Als Vorsitzender unseres Komitees wohne ich der Probe bei.«
»Hier im Dunkeln? Kommen Sie doch fort! Kennen Sie den Weg nicht?«
»Ob ich den Weg kenne! Ich bin ja zu Hause im Palast!«
Da fiel er hin.
»Ja, hier waren Stufen. Ich wußte es, nur dachte ich nicht daran.«
Es ward immer finsterer, und Klavier und Gesang hörten sich weiter entfernt an.
»Wir sind falsch gegangen«, entschied Flora Garlinda. »Wir wollen umkehren, und ich will führen. Da es ein Theater ist, werde ich schon hinfinden … Diesen Korridor hatten wir versäumt … Und warum sind Sie nicht mit drinnen?«
»Konnte ich denn? Ließ man mich denn?« – und der Stimme des Advokaten hörte man an, daß er im Dunkeln die Arme schwenkte. »Dorlenghi ist verrückt geworden; er behauptet, daß Fremde nichts dabei zu tun haben. Ich ein Fremder! Der Vorsitzende des Komitees ein Fremder! Er vergißt, daß er selbst hier fremd ist und daß wir ihn fortschicken können.«
»Das ist unnötig. Woher wollen Sie so rasch einen andern nehmen? Aber ich werde Ihnen helfen.«
»Ah! Sie werden –. Fräulein Flora Garlinda, ich habe sofort erkannt, daß Sie eine große Künstlerin sein müssen. Ich sagte noch zu Polli, dem Tabakhändler –«
»Nur gut, Advokat, daß Sie nicht fortgegangen sind.«
»Ich wagte es nicht. Draußen, nicht wahr, steht das Volk. Vielleicht würde es erraten haben, daß ich nicht –, daß dieser Maestro mich –«
»Wir sind da«, sagte Flora Garlinda.
Die Bühne lag vor ihnen. Im Halbdunkel schien sie endlos; der Schein der Blechlampe auf dem Klavier verlor sich, die vier menschlichen Schattenrisse sahen weithin verstreut aus. Der Kapellmeister stand in der Mitte des Lichtkreises und stieß die Faust in die Luft.
»Ich kann keinen Widerstand dulden, auch von Ihnen nicht, Cavaliere. Sie sind, der Sie sind. Aber ich bin hier der Maestro.«
»Das ist immerhin etwas«, bemerkte der Bariton Gaddi, rittlings auf einem Stuhl. Italia Molesin kam zur Tür.
»Was für ein schlecht erzogener Mann!« sagte sie. »Mich hat er bereits Idiotin genannt.«
Flora Garlinda trat ins Helle. Ihre Augen funkelten, ihr höhnischer Triumph kniff ihr die Winkel der schmalen Lippen.
»Maestro« – ganz sanft –, »ich bitte Sie für meinen Freund, den Advokaten Belotti. Er möchte uns zuhören.«
Der Kapellmeister fuhr auf.
»Noch immer er? Wenn ich ihn doch hinausgeworfen habe!«
»Man wirft einen Mann wie mich nicht hinaus«, – und der Advokat trat mit Würde vor.
»Also, nochmals«, schrie der junge Musiker zitternd, »der Herr bin hier ich. Wer nicht gehorchen will –«
»Nun?« – und Flora Garlinda sah ihm grausam lächelnd in die Augen.
»– kann gehen«, ergänzte er viel leiser. Sie nickte.
»Sie haben zweifellos eine andere Primadonna.«
»Erst gestern«, stieß er hervor, »hat mir die Fusinati geschrieben.«
»Weil sie nämlich in anderen Umständen ist. Da kommt man schwer unter. Sie aber, Maestro, der Sie kein Kind erwarten, Sie fänden natürlich sofort ein andres Engagement, wenn die Herren vom Komitee sich entschließen würden –«
»O bitte, Fräulein Garlinda, davon ist nicht die Rede«, – und der Advokat trat von einem Fuß auf den andern. »Sind wir nicht alle Freunde?«
»Das kommt darauf an. Ich bin die Primadonna, mir muß es erlaubt sein, zu singen, vor wem ich will.«
»Es liegt mir fern –. Wir haben uns mißverstanden –.«
Ihr grausames Lächeln war noch immer da: er schwieg, eingezogen und auf Schreckliches gefaßt.
»Überdies«, begann sie wieder, »bin ich gewohnt, nur mit dem Regisseur zu verhandeln.«
»Sehr richtig«, sagte der Cavaliere Giordano und schleuderte ein Heft auf das Klavier. »Von wem lasse ich mir hier sagen, daß meine Stimme nicht genüge? Dieser junge Mann hat an meinem Geronimo auszusetzen, und dabei singe ich ihn aus Gefälligkeit, denn jedermann in Italien und draußen weiß, daß meine Partie der Piero wäre!«
»Kurz: was will man von mir?«
Der Kapellmeister breitete die Arme aus und hatte rote Lider.
»Man will einen Regisseur, beim Bacchus«, sagte der Bariton.
»Der bin ich! Der bin ich!«
»Meine Herren«, stammelte der Advokat und beschwor sie mit den Händen, »ich möchte um nichts in der Welt, daß meinetwegen –«
»Maestro!«
Flora Garlinda legte den Kopf auf die Schulter.
»Sie waren noch bei keiner Bühne. Oh! Sie haben nicht nötig, es zu gestehen: diese ganze Szene beweist es. Tun Sie uns und sich einen Dienst und bescheiden sich! Wir machen unsern Gaddi zum Regisseur. Ohnedies ist er es, der die Ausstattung beschafft hat.«
Italia Molesin und der Cavaliere Giordano beglückwünschten schon den Bariton.
»Und ich«, klagte der Kapellmeister, »ich habe den Chor zusammengebracht und Sie selbst. Ich habe den Gedanken der Aufführung gehabt und die Bürger für ihn gewonnen, habe alles möglich gemacht, alles ins Werk gesetzt. Das ist nichts, das ist augenscheinlich nichts.«
Er ging, eine Hand vor der Stirn, wankend um das Klavier herum.
»Wer sagt das?« – und Flora Garlinda folgte ihm. »Aber weil Sie ein Mann von Verdienst sind, sollten Sie das Nebensächliche fahrenlassen.«
»Aber ich verlange fünfzig Lire Zuschuß«, hörte man den Bariton sagen.
»Er verlangt fünfzig Lire«, wiederholte Flora Garlinda mit gesenkten Mundwinkeln. Und in einem plötzlichen Blick des Einverständnisses:
»Wer kommt denn hier in Betracht, Maestro? … Sie haben eine Oper geschrieben, nicht? Wenn ich Ihre Heldin sänge?«
Da er den Atem einzog und anhielt –
»Mit mir oder ohne mich: vielleicht sieht schon das nächste Jahr Sie in Mailand. Wir –«
Sie knickste tief.
»– sind für Sie nur Staffeln.«
»Oh!« machte er, aufgeblüht und gütig. »Sie nicht, Flora Garlinda: Sie nicht. Sie werden größer werden als ich.«
»Glauben Sie?« fragte sie mit herabgelassenen Lidern und zog sich zurück.
»Aber solange ich Dirigent bin«, rief er den anderen zu, »darf ich vielleicht verlangen, daß wir wiederholen, bis ich mich für befriedigt erkläre?«
Man beeilte sich, es ihm zuzugeben. Der Advokat verwahrte sich.
»Nie, Maestro, habe ich an Ihrem großen Talent gezweifelt.«
»Dann also, Cavaliere«, rief der Kapellmeister, »noch einmal von vorn, bitte: ›Seid fruchtbar, meine Kinder …‹«
Der alte Tenor stellte sich wütend auf und begann hohle, zitternde Töne von sich zu geben.
»Seid fruchtbar, meine Kinder! Das Feld, das meine Väter bebaut haben, auch meine Enkel sollen es bebauen.«
»Hören Sie ihn etwa?« – und der Kapellmeister warf sich, die Stirn trocknend, auf seinem Sitz umher. »Und dies ist nur ein Klavier! Was wird das Orchester von seiner Stimme übriglassen?«
Das Gesicht des Alten war von Entrüstung so sehr verzerrt, als sollte es weinen. Sein Kiefer arbeitete an Worten, die nicht kamen.
»Ich habe doch alles verstanden«, versicherte Italia Molesin mitleidig und sah Flora Garlinda an, die schwieg und beobachtete. Der Bariton stellte fest:
»Ich als Regisseur finde den Cavaliere ganz auf seiner alten Höhe.«
»Wie sollte nicht ein so berühmter Künstler –«, sagte der Advokat mit Nachdruck. Der Kapellmeister hielt sich plötzlich mit beiden Händen den Kopf.
»Wenn man den Advokaten nicht zum Schweigen bringt, stehe ich für nichts! Ich stehe für nichts!«
Der Advokat wich zurück. Der Kapellmeister legte die Hände wieder auf die Tasten.
»Fräulein Flora Garlinda!«
»Hier bin ich.«
»Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus … Aber der Piero! O Gott! ich dachte nicht mehr an diesen Menschen, der nicht kommt. Begreift man eine solche Gewissenlosigkeit?«
»Nun ja«, meinte Gaddi. »Nello wird jedem einen Vermouth zahlen müssen, und das wird ihm zu denken geben.«
»Einen Vermouth!« – und der Kapellmeister stieß die Luft aus.
»Aber wir können ihn doch zwingen! Wir werden die Gendarmerie hinschicken! Wo ist er? Weiß niemand, wo er steckt? Fräulein Flora Garlinda, Sie, die Sie zuletzt gekommen sind!«
»Was habe mit diesen Dingen ich zu schaffen?« – und sie wandte sich ab.
»Steckt er bei einer Frau?« raunte Gaddi. Sie regte sich nicht. Der Kapellmeister präludierte wütend und überschrie seinen Lärm.
»Lassen wir uns nicht aufhalten! Fräulein Flora Garlinda!«
Sie fiel ein:
»Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus heißt uns blühen …«
Nach ihren ersten Noten wurden die Hände des Kapellmeisters behutsam und weich, und er neigte das Ohr. Seine Miene versuchte, streng zu bleiben, aber ein kindliches Entzücken drang aus ihr hervor. Und plötzlich überzog Schmerz sie. Die Sängerin hatte abgebrochen.
»Es ist unnütz«, sagte sie. »Ich höre mich nicht, wenn mir der Partner fehlt.«
»Ich gebe seine Partie mit an. Dieser Elende! Ich singe sie mit! Alles, was Sie wollen!«
»Oh, lassen Sie, Maestro! Ich muß spielen können. Wenn ich ihn nicht neben mir fühle, ist es unnütz. Zu Hause nehme ich mir den Buben meines Wirtes. Geben Sie mir den Advokaten!«
»Herr Advokat!« – und der Kapellmeister streckte die Hand hin. »Wir bitten Sie. Ich hoffe, daß Sie mir nichts nachtragen?«
»Aber, wie denn, Maestro!«
Der Advokat schüttelte die Hand. Dann stellte Gaddi ihn zurecht, legte seinen Arm unter den ausgestreckten der Primadonna, seine Fingerspitzen auf ihre Schulter, und richtete ihm den Kopf.
»Der alte Geronimo hierher! Italia geht umher mit dem Fächer. Advokat, Sie starren in das Abendrot!«
Der Advokat riß die Augen auf. Er konnte nicht zur Ruhe kommen und scharrte mit den Füßen.
»Sind wir soweit?« fragte der Kapellmeister scharf; – und er nickte der Sängerin zu … Wie die Melodie von ihr auf das Klavier überging und sie schwieg, glaubte der Advokat seine Partnerin unterhalten zu sollen.
»Ah! da ist nun endlich diese berühmte Arie, und ich bin der erste hier, der sie zu hören bekommt. Jahrelang hatten wir sie nur auf Pollis Phonographen.«
»Schweigen Sie!« schrie der Kapellmeister, weiß im Gesicht.
»Aber er ist kaputt«, sagte der Advokat noch und erschrak dabei.
Flora Garlinda sang schon wieder. Sie hatte jetzt die gefalteten Hände unter dem Kinn und das Gesicht nach oben gelegt.
»Verzeih mir, o Himmel, so viel Glück!«
»Knien Sie!« befahl der Regisseur mit lauter Flüsterstimme dem Advokaten, aber der Advokat war nur darauf bedacht, mit den Fingerspitzen nicht die Schulter der Primadonna zu verlieren und den Sonnenuntergang im Auge zu behalten.
»Knien Sie doch hin!« – und Gaddi drückte ihn zu Boden, daß es krachte.
»Au, au!« machte der Advokat. Die Sängerin beendete gerade ihren himmlischen Schlußschrei und sank mit der Stirn auf seine.
»Und würde sterben für dich!«
»Sie sind zu gütig«, murmelte der Advokat, aus aller Fassung. Gaddi wandte sich um und drückte die Hände in die Seiten. Der Cavaliere Giordano ließ sich auf einen Stuhl fallen. Hinter Italias Fächer rang sich ein Kreischen los. Der Kapellmeister stand da, mit hängenden Armen, und was er endlich hervorbrachte, war ein Stöhnen. Als er nun stammeln konnte:
»Was ist denn das? Sind wir Buffonen? Ich finde die Worte nicht. Und das in diesem Augenblick, in diesem!«
Er kam hervor und verbeugte sich vor der Primadonna.
»Fräulein Flora Garlinda, ich bitte Sie um Verzeihung für diese Herren.«
»Warum denn«, sagte sie sehr kalt. Er errötete; er griff sich an die Stirn.
»Was ich sagen wollte: wir sind fertig für heute. Nachmittags habe ich den Chor und am Abend das Orchester. Auf morgen!«
Und er war fort. Man sah sich an.
»Nun also, gehen wir essen!« meinte der Bariton. »Wollen Sie nicht aufstehen, Advokat?«
Als Gaddi und der Cavaliere Giordano drunten auf dem Platz sich von Flora Garlinda verabschiedeten, bemerkten sie, daß Italia und der Advokat verschwunden waren.
»Schon«, sagte der Bariton; und der alte Tenor:
»Italia hat recht. Das bringt der Beruf mit sich. In unserem Beruf ist es empfehlenswert, jung zu sein.«
»Spricht nicht aus Ihnen, Cavaliere, der leere Magen?« fragte Flora Garlinda.
Die beiden Männer riefen einander noch nach:
»Um fünf im Café!«
Und um fünf saßen sie dort: noch allein auf dem Platz. Der schöne Alfò bediente sie, mit seinem von sich entzückten Lächeln. Drinnen ließ der Gevatter Achille die Arme über das Büfett hängen und schnarchte. Lange Zeit taten sie nichts, als hoffnungsvoll zusehen, wie der Schatten ihres Zeltdaches sich langsam vergrößerte. Der Gasse der Hühnerlucia entströmte eine übelriechende Frische. Der Cavaliere Giordano zog aus dem Handgelenk einen kleinen Papierfächer.
In der Rathausgasse ward Nello Gennari sichtbar; er ging gesenkten Kopfes, Schritt für Schritt, hatte nach seiner Gewohnheit die Schultern ein wenig in die Höhe gezogen und hielt die Arme steif.
»Du siehst aus wie ein trübsinniger Pierrot«, rief Gaddi ihm entgegen. Der junge Mensch hob langsam einen wehrlos klagenden Blick. Der andere stand rasch auf, faßte seinen Arm, zog ihn um die Hausecke.
»Nello, sage mir, was dir seit gestern geschehen ist!«
Und er drückte sich den Arm des Jungen an die Brust.
»Nichts«, brachte Nello hervor.
»Aber du hast eine Miene, als hättest du deine Mutter verloren, und gereizt bist du den ganzen Tag wie ein unglücklicher Spieler. Warum hast du die Probe versäumt?«
Nello begann plötzlich die Schultern zu heben und zu senken, sein Blick verlor den Halt, und er atmete ungeregelt. Mit einem Griff nach der Hand des andern:
»Virginio, du bist mein Freund: frage mich nicht!«
Er preßte, fiebrig bittend, die Hand.
»Ich bin ein verlorener Mensch! Du weißt nicht: mich ekelt's, wenn ich an deiner Hand die Wärme meiner eigenen fühle.«
»Du bist krank.«
»Nein, ich bin gesund: das ist schlimmer für einen, wie ich bin. Ich habe die Glückseligkeit verscherzt; nun heißt es weiterleben.«
Er beugte sich über sich selbst, und der andre sah von seinem Gesicht die Tropfen fallen. Er streichelte ihm das Haar.
Sie richteten sich auf und taten gleichmütig, denn ein Schritt ward laut: der Kaufmann Mancafede kam über den Platz und sah sie. Nun galt es, sich hervorzuwagen und in sein schmunzelndes Gesicht zu sehen. Er wußte schon alles! Seine schreckliche Tochter wußte schon alles! Jetzt machte es die Runde in der Stadt, drang vors Tor und nach Villascura. Nello gab die Hand, halb gewendet, als sollte sie ihm abgehauen werden, und mit einem Blick von unten, der nicht standhielt. Aber der Kaufmann dienerte eifrig, als beteuerte er seine Harmlosigkeit. Er habe heute sein Lager revidiert, sagte er, und seine Tochter habe Tomaten eingekocht; man wisse gar nicht mehr, was vorgehe. Und Nello senkte die Stirn, errötet, weil er begnadigt war.
Da zeigte sich der Apotheker Acquistapace auf seiner Schwelle und hob den Daumen, als wisse er etwas. Durch Nello fuhr ein neuer Schreck. Aber nun er seinen Kaffee mit Rum bestellt, umständlich sein Holzbein unter dem Tisch zurechtgelegt und jeden bedeutsam aufs Knie geklopft hatte, stieß der Apotheker aus:
»Und der Advokat?«
Da die drei Sänger nur die Achseln zuckten, rieb er sich stürmisch die Hände.
»Sie werden es nicht glauben! Dieser Advokat! Aber ich habe Beweise. Er hat sich aus der Apotheke Kirschen in Aquavita holen lassen. Er feiert Orgien, der Advokat: Orgien, meine Herren, mit einer Frau, und Sie kennen sie.«
»Wir?« fragte Gaddi.
»Ich weiß«, erklärte Mancafede; »meine Tochter hat es mir gesagt.«
Nello machte sich steif.
»So wiederholen Sie es doch!«
Aber der Kaufmann schmunzelte nur, und Nello sank zusammen.
»Wir haben keine Ahnung«, sagte der Cavaliere Giordano.
»Raten Sie nur!« – und der Apotheker legte den Finger an die Nase.
»Sie haben eine schöne Kollegin: das Fräulein Italia!«
»Die« behauptete der Bariton, »kann es nicht sein. Sie ist äußerst anständig.«
»Und doch, und doch –«
Die Hundeaugen des alten Kriegers leuchteten; er setzte sich den Finger auf die Brust.
»Ich habe es aus erster Quelle.«
Denn die Schwester des Advokaten, die Signora Artemisia selbst, hatte bei ihm die Kirschen geholt und ihm alles erzählt. Zwischen Tür und Angel hatte sie im Zimmer ihres Bruders einen Weiberhut entdeckt, der am Sofa hing; und auf dem Sofa saß die Frau.
»Ah! Ihr Herren, der Advokat!«
Der Tabakhändler und der Gemeindesekretär trafen ein.
»Ich kann es nicht glauben«, versicherte Gaddi und zwinkerte dem Cavaliere Giordano zu; »eine so anständige Person wie unsere Italia.«
»Eure Italia!« rief Polli und schlug sich auf die Schenkel.
»Ah! reden wir ein wenig von ihr. Der Schlächter Cimabue weiß manches von ihr.«
»Hat er sie geschlachtet?«
»Er hat ihr so viel Filet geschickt, daß sie eine dreitägige Indigestion davon haben wird, – und wer hat es geholt? Niemand anders als die Schwester des Advokaten Belotti.«
Der Sekretär spreizte die Hände.
»Ich glaube nicht daran. Der Advokat ist ein Prahlhans, ein Kapitän Spavento. Nie ist's ihm gelungen, eine Frau zu verführen: alles bloß Erfindungen.«
Polli und der Apotheker hoben die Arme.
»Wenn doch die Andreina in Pozzo ein Kind von ihm hat!«
»Ein Kind vom Advokaten, das wird die Welt nie sehen«, – und Camuzzi strich mit einem Finger alle Hoffnung fort. »Ah, man stelle sich vor: ein Kind vom Advokaten.«
»Schon?« fragte der Leutnant Cantinelli, der grüßte. »Bisher steht nur fest, daß der Junge vom Konditor Serafini ihnen Gefrorenes hingetragen hat. Der Advokat hat ihm selbst die Schüssel abgenommen, und der Junge konnte erkennen, daß er unter seinem Schlafrock nichts anhatte. Im Hintergrunde aber schlüpfte die Komödiantin vorbei, und sie hatte noch weniger an.«
»Ah! der Advokat.«
»Orgien: wie ich euch sagte!« – und der Apotheker schlug zwischen die Tassen. Der Kaufmann Mancafede ward auf seinem Stuhl immer unruhiger. Er erhob die Stimme.
»Ich weiß mehr als ihr alle. Meine Tochter hat mir gesagt, wie oft die beiden –; wie oft der Advokat sie –: ihr versteht mich.«
Der Sekretär lehnte es mit der Hand ab, zu verstehen; Polli aber, der Leutnant und der Apotheker sahen sich an, röter und röter, – und auf einmal entließen sie mit Geknatter die Luft aus ihren aufgeblasenen Backen. Polli war auf den Beinen, er trampelte und erteilte sich Faustschläge ins Gesäß. Der Leutnant stieß ächzend seinen Säbel aufs Pflaster. Der Apotheker brach von Minute zu Minute in ein Gebrüll aus, das die Leute um den Tisch sammelte. Plötzlich rief eine schrille Stimme:
»Da sind sie!«
Und der Schwarm Buben, mit dem weißen Konditorjungen voran, stürzte sich nach der Treppengasse. Die am Brunnen schwatzten, kamen nach; schon traten der Perückenmacher Nonoggi und der Konditor Serafini über ihre Schwellen; zwei Reihen entstanden: und da sah man den Advokaten Belotti mit der Komödiantin auf den Stufen erscheinen. Bevor er die letzte verließ, entsandte er, in die Brust geworfen, ein Lächeln des Triumphes über die Menge, die ihm huldigte, nach dem Café, wo alle verstummt waren; – und dann bot er seiner Dame den galant zusammengerollten Arm, um sie durch das Spalier zu führen. Der junge Savezzo war da und applaudierte.
Die Herren, außer Camuzzi, der lächelnd den Kopf schüttelte, empfingen das Paar stehend und alle Hände hingestreckt. Italia, mit frischem Puder auf einer Wange, gab die ihre hin, indem sie sich in den Schultern ein wenig wand. Auch blinzelte sie dazwischen zum Advokaten auf, der strahlte und bei jedem Händedruck den andern eine kleine Ermutigung spendete:
»Ah, mein braver Acquistapace … Immer munter, Polli!«
Er bestellte einen besonders starken Kaffee für seine Freundin, und sie mußte zugeben, daß sie ermüdet sei.
»Es gibt so vieles zu sehen beim Advokaten«, erklärte sie. »Die Bilder, die er hat! Sie würden nicht glauben –«
»Sst!« machte er.
»Und das viele Essen! Man muß gestehen, daß im Hause des Advokaten gut gekocht wird. Er hatte nur Fleisch erster Qualität.«
»Darauf hat er sich immer verstanden!« schrie Polli. »Er hat immer das zarte und volle Fleisch zu finden gewußt.«
Der Advokat fand die schmeichelhafteste Seite seiner Leistung nicht genügend beleuchtet.
»Und der Baron«, flüsterte er dem Tabakhändler zu. Auch der Apotheker hatte es gehört und flüsterte zurück:
»Du hast sie ihm aufgesetzt, Advokat Ah! wenn jemals einer sie ihm aufgesetzt hat, bist du es.«
»Du bist groß, Advokat!« sagte Polli voll ehrlicher Bewunderung.
Die schneidende Stimme des Gemeindesekretärs störte den Advokaten im Genuß der Huldigungen.
»Da haben wir's!« – und Camuzzi wies nach dem Dom. Auf der Treppe drängten die Jungen sich und folgten gierig den Vorführungen des Konditorlehrlings. Seine Hände sah man hier und dort aus dem Kreis steigen und hörte den Chor lachen.
»Es ist keine Kunst, zu erraten, wovon die Bande sich unterhält.«
»Was meinen Sie denn, Camuzzi?« fragte der Advokat, immerhin betroffen. »Ich habe keine Ahnung.«
Ein Blick auf die tief errötete Italia machte, daß er die Hand ans Herz legte.
»Ich versichere auf meine Ehre, daß der Junge nichts gesehen hat.«
Der Sekretär nickte ingrimmig.
»Jetzt schlägt ihm das Gewissen, dem alternden Lüstling, da er sein Werk sieht. Denn er verdirbt uns die Kinder. Die Jugend, ihr Herren, ist in Gefahr!«
»Das ist doch wohl übertrieben«, meinte der Advokat; und da er in den Gesichtern Zustimmung erkannte, richtete er sich kühner auf.
»Diese Rangen sind ja schlimmer als wir. Der Coletto vom Konditor Serafini ist mit der Kleinen abgefaßt worden, die beim Malandrini die Teller abspült. Ich rufe den Leutnant als Zeugen auf … Und im übrigen, ihr Herren, seht hier, seht den Priester!«
Don Taddeo hatte die Ledermatratze von der Domtür gehoben und belauschte, sprungbereit, die Buben. Unversehens war er über ihnen und zersprengte sie unter einem Hagel von Püffen. Die ersten, die sich gefaßt hatten, waren schon davon, im Corso verschwand schon die weiße Mütze des kleinen Konditors, aber Don Taddeo hieb noch immer, und seine Soutane flog, besinnungslos auf die Ungewandtesten und Schwächsten ein, die sich duckten und schrien. Die Bürger waren empört.
Der Gevatter Achille schob seinen Bauch ins Freie und murrte:
»Sieh doch, ei, sieh doch, welch häßliches Tier!«
»Wenn man ihn selbst einmal –« schlug Polli vor, und sogar der Kaufmann Mancafede gestand, daß der Priester es stark treibe.
»Solche Verbündete«, stellte der Advokat fest, »hat der Herr Camuzzi. Solchen Leuten besorgt er das Geschäft.«
»Die moralischen Gesetze«, versuchte der Sekretär einzuwenden, »verlieren dadurch nicht an Wert, daß –«
»Ach was!« – und der Advokat schob seine Tasse weit fort. »Lassen Sie doch die moralischen Gesetze in Ruhe! Die freie Menschlichkeit, der wir anderen huldigen –«
Er sah auf Italia.
»– ist sittlicher und sicher auch gottgefälliger, als eure düstere Verneinung!«
»Bravo, Advokat!« sagte der Cavaliere Giordano.
»Er hat gut gesprochen«, bestätigte Gaddi. Der junge Savezzo setzte hinzu und schielte auf seine Nase:
»Aufklärung, Fortschritt und Blüte: wer würde sie uns herbeiführen, wenn nicht der Advokat es täte!«
Und der Advokat konnte, mit strenger Miene, die Glückwünsche der Bürger entgegennehmen. Auch Italia hatte ein Gesicht voll Würde bekommen und ließ den Blick, Anerkennung fordernd, um den Tisch gehen. Wie der letzte der Jungen, heulend und die Hand am wehen Körperteil, herbeihinkte, holte der Advokat ihn zum Tisch und tröstete ihn entrüstet, Italia steckte ihm Zucker in den Mund. Der Gemeindesekretär betastete seine elegante Krawatte, begann seinen Klemmer zu wischen und sah mit Fischaugen darein. Um nicht ganz vernichtet zu erscheinen, knüpfte er mit den Komödianten an.
»Nicht, daß ich ein Duckmäuser oder Obskurant wäre: aber ich liebe das Prahlen nicht. Denn dem Anschein zum Trotz, glaube ich nicht, daß der Advokat eine Frau erobert hat, weil ich an keinen seiner Erfolge glaube; weil ich nicht glaube, daß bei uns irgend etwas geschieht oder geschehen kann.«
Der junge Savezzo murmelte und schielte gelb:
»Es könnte immerhin manches geschehen, aber man dürfte nicht auf den Advokaten warten. Man dürfte nicht erwarten, daß gewisse Familien, unter Ausschluß aller übrigen, das Genie hervorbringen.«
Unter dem spöttischen Blick des Sekretärs vergaß er sich:
»Man schmeichelt hier Unfähigkeiten; auch ich muß ihnen schmeicheln; und Talente, die für das öffentliche Leben unschätzbar wären, gehen verloren in kleinen Geschäftskabinetten, in irgendeinem Hinterhaus.«
»Zum Beispiel in dem Ihres Vaters?« fragte der Sekretär.
»Warum nicht in dem meines Vaters. Weiß man von den politischen Plänen, die ich im Kopfe wälze? Andere, bei Gott, als die Anlage von Waschhäusern und Vizinalwegen. Nichts fehlt mir, als größere Verhältnisse, Bewegung und freier Wettbewerb. Aber weil sie mir fehlen, muß ich mich ducken vor Mittelmäßigkeiten.«
Er hatte dick gewulstete Brauen, und an seinen verschränkten Armen stiegen die Muskeln auf und nieder. Der Gemeindesekretär hob die Schultern.
»Sie werden vielleicht noch davon abkommen, in irgend jemand einen großen Mann zu sehen: sei es auch nur in sich selbst.«
Nello Gennari bemerkte hinten in der Gasse der Hühnerlucia die kleine, einsame Gestalt der Primadonna. Er stürzte sich in die Gasse.
»Hier ist's kühl«, sagte er aufatmend; und über sie geneigt:
»Du bist ein sehr anständiges Mädchen, daß du mich nicht verraten hast.«
»Was hätte ich davon? Ich lasse dir deine Schmutzereien.«
Er biß sich auf die Lippe.
»Du bist hart, Flora. Aber du hast wohl ein Recht dazu: der Schein ist gegen mich.«
Da sie Luft durch die Nase stieß –
»Dich beneide ich! Wer, wie du, nur in der Kunst lebte! Einen einzigen Zweck, einen einzigen Ehrgeiz haben!«
Sie betrachtete ihn mit ihren kalten, raschen Augen.
»Das ist nicht deine Sache, mein Kleiner. Bleibe, wie du bist!«
»Aber auch ich –« und er schluchzte trocken auf, »– habe nun etwas Einziges, etwas Großes –«
Leise, und in den Worten weitete sich ein Herz:
»– für das ich leben will, – für das ich sterben will.«
Ihre Miene ward unruhig.
»Willst du singen lernen? Sage, ob du singen lernen willst!«
»Ich werde wohl niemals viel mehr können als das, was ich von Natur kann.«
»Und so paßt es für dich«, sagte sie befriedigt.
Beim Café stand alles auf, um ihr Platz zu machen. Der Advokat legte die Rechte aufs Herz und begann zu singen.
»Sieh, Geliebter, unser um –«
Die versagenden Töne ersetzte er durch Augenaufschlag.
»Ah! Fräulein Flora Garlinda, wer das von Ihnen gehört hat, vergißt es nicht.«
»Da Sie es singen, Fräulein«, sagte Polli galant, »brauche ich meinen Phonographen nicht reparieren zu lassen; das ist immerhin eine Ersparnis.«
»Könnten Sie es nicht meiner Frau beibringen?« fragte Camuzzi; und gerade wollte auch der Leutnant für die seine bitten, da führte der Apotheker die Hand ans Ohr. Man hörte es knarren, dann knallen; die Jungen rannten die Rathausgasse hinab; und endlich zeigte sich Masetti auf seinem Kutschbock.
»Es wird niemand darin sein«, sagte der Kaufmann.
»Ich habe beobachtet«, sagte Polli, »wenn der vorige Tag zu gut war, dann kommt gar nichts.«
»Da wir das Fräulein schon unter uns haben«, und der Advokat verbeugte sich vor der Primadonna. Italia stieß ihn vorwurfsvoll in die Seite, und er trat sie, um seinen Fehler gutzumachen, auf den Fuß.
Dem Postwagen entstiegen zwei Nonnen und verschwanden sofort in der Treppengasse. Der Apotheker fluchte.
»Es ist unbegreiflich«, bemerkte der Advokat, »wo diese Mädchen sich umhertreiben. Was mögen sie –«
Er brach ab; aus der Post schwang sich, in seinen Ledergamaschen, der Baron Torroni.
»Oh«, machte der Leutnant, »man weiß von sehr sonderbaren Fällen …«
Der Sekretär lächelte unbekümmert.
»Ah! der Advokat sieht den Feind und zittert.«
»Tatsache ist«, sagte Polli, »daß der Advokat gewisse Rechte des Barons nicht ganz –«
Und er warf einen Blick voll Bedenken auf Italia. Sie fuhr auf:
»Aber, was haben Sie alle? Mir scheint gar, Sie glauben –. Oh! seid ihr schlecht! Wenig fehlt, und ich sage alles!«
Sie schluchzte. Der Advokat erhob sich.
»Das Fräulein ist unter meinem Schutz, und Herr Camuzzi hofft vergebens, daß ich zittere. Habe ich etwa vor Don Taddeo gezittert? Und niemand wird leugnen wollen, daß die Kirche ein gefährlicherer Feind ist als der Adel.«
»Immerhin muß man wissen«, sagte der Apotheker, »daß heute früh ein Bauer aus Borgo bei mir war, dem der Baron ein Loch in den Kopf geschlagen hat. Denn er läßt sich auf Prügeleien ein wie ein Bauer.«
»Aber der Baron wird von der Baronin erwartet!« rief Polli; »und da du mit dem Fräulein Italia bist: was willst du noch von ihm?«
Auch der Advokat sah die Baronin bei den Löwen stehen, und das machte seinen Schritt noch tapferer. Italia holte ihn ein, sie legte die Hand auf seinen Arm.
»Keine Dummheiten, Advokat!«
Und etwas weiterhin:
»Du glaubst also noch immer, daß ich mit dem Baron –? Trotz allem glaubst du's, was ich dir gesagt und was ich für dich getan habe? Oh, ich Unglückliche!«
Die Zeit der galanten Beschönigungen schien dem Advokaten in dieser kritischen Lage vorbei.
»Versteht sich! Da ich es selbst gesehen habe!« sagte er.
Aber sein stärkster Beweis war, daß Italia sich ihm ergeben hatte. Er war überzeugt, daß er sie nicht bekommen haben würde, hätte sie nicht mit dem Baron den Anfang gemacht.
»Du lügst!« – und sie ward bleich, mit einer Art zorniger Begeisterung, weil man ihr, der schon so vieles vorzuwerfen war, endlich einmal etwas Falsches zuschob. »Was hast du gesehen?«
»Was Teufel! Er kam in aller Frühe aus dem Gasthaus, und der Wirt wußte, warum.«
»Nein, er wußte es nicht; aber ich, ich will es dir sagen. Von der Frau des Wirtes kam der Baron! Denn der Geist ihres Vaters, der ihr erschienen ist, war der Baron Torroni: ich bin zu gütig, daß ich es nicht allen erzählt habe.«
Der Advokat murmelte:
»Sprich wenigstens leiser! Wir sind nicht allein auf diesem Platz« – und nachdem er überlegt hatte:
»O Weiber! Und das soll ich dir glauben?«
Er hob die Schultern, hielt die Handflächen hin und sah umher, als sollten alle ihm bestätigen, daß dies zweifelhaft bleibe. Freilich, wenn sie die Wahrheit sprach, war der Konflikt mit dem Baron aus der Welt geschafft! Aber wo blieb der Stolz, ihn betrogen zu haben? Andererseits war es schmeichelhaft, der erste zu sein, – und sofort nahm er sich, kühn gemacht, vor, sie dafür zu verlassen.
»Ich liebe nur dich«, sagte Italia versöhnlich.
»Eh!« machte er und kehrte um.
»Liebst du mich nicht mehr?« fragte sie. Er sagte herablassend:
»Du bist ein gutes Mädchen.«
Als sie wieder am Tische saßen, raunte der Apotheker dem Advokaten zu:
»Glücklicher Mann, der du bist! Sie liebt dich mehr als den Baron. Man sah wohl, daß sie Furcht um dich hatte.«
»Du glaubst?« – und der Advokat strich sich den Schnurrbart.
»Man weiß in betreff dieser reisenden Nonnen«, begann der Leutnant wieder, »von sehr sonderbaren Fällen …«
Nello Gennari sah sich plötzlich um. Wie? Die Post war da? ›Mit ihr kam ich gestern: ist's möglich, erst gestern? Und dann stand ich dort drüben und sah Alba in den Dom gehen … kann das geschehen sein? Habe ich nicht geträumt? Oh! nie wieder wird es geschehen. Ich sehe sie nie wieder!‹ Und er errötete bei der Erinnerung, daß er gegen Flora Garlinda sich großer Dinge gerühmt habe. ›Ich bin klein, klein und komme nur vorüber und verwehe wie ein wenig Staub, den ihr Fuß aufhebt.‹ Aber hundertmal hatte schon in seinem Herzen die Gewißheit geschlagen, er werde sie lieben und keine Zukunft mehr haben als diese! Und hundertmal schon war er verzweifelt! ›Ich begreife mich nicht. Mein Geist hat das Fieber, und was ich denke, ist abwechselnd wie Feuer und wie der Tod.‹
»Wo bleibt der Maestro?« fragte der Cavaliere Giordano, der die ganze Zeit starre Augen gehabt hatte. »Die Chorprobe müßte aus sein.«
»Wohl«, sagte Gaddi. »Aber diese Anfänger haben einen solchen Eifer. Welche ungesunde Aufregung heute morgen! Ich möchte wissen: wenn einer seine Pflicht tut und seine Familie erhält, ist das nicht genug?«
Der alte Tenor prägte seiner Miene einen erhabenen Spott auf. Der Bariton bemerkte es nicht, weil er einen seiner Söhne von anderen Jungen bedroht sah und hineilte, um ihm beizustehen. Als er sich allein fand, zog über den Blick des Alten sogleich wieder, dicht wie ein Tuch, die Sorge, und er murmelte:
»Vielleicht kommt es wirklich auf dasselbe hinaus?«
Flora Garlinda betrachtete ihn, ohne daß er es merkte. Sie saß in schlechter Haltung an der Hausmauer, einen Arm auf dem Tisch und die Faust unter dem alten weißen Filzhut, so daß er hinüberrutschte, – trank nicht, rauchte nicht und riß manchmal, indes sie alles umher im Auge behielt, anzusehen wie ein böses Äffchen, mit den Zähnen ein Stück von ihrer Semmel ab.
Der Advokat streckte die Hand aus.
»Was Sie da von jenem Priester in Nodi erzählen, Herr Leutnant, das könnte auch unserem Don Taddeo zustoßen. Schon oft, wenn ich ihn zu den Nonnen hinaufsteigen sah –«
Der Apotheker Acquistapace schüttelte ehrlich den Kopf.
»Ich glaube nicht. Er ist ein hassenswerter Fanatiker, aber in betreff der guten Sitten läßt sich ihm nichts vorwerfen. Wir hatten sogar eine Magd, die mannstoll war, eine schöne Person –«
Italia unterbrach die Erzählung.
»Advokat«, sagte sie zitternden Tones, »der Blick des Priesters, als er uns begegnete!«
»Versteht sich, er war neidisch! Ich hatte es vergessen, ihr Herren: er kam die Gasse herab, wie wir aus meinem Hause traten. Vielleicht hatte er Unglück bei den Nonnen gehabt, denn ich, der Advokat Belotti, glaube nicht an seine Sittenstrenge; und genug, er sah das Fräulein Italia mit gewissen Augen an …«
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich will bei ihm beichten. Vielleicht stimmt es ihn milder, und er sieht mich nicht wieder so an. Ohnedies ist es gut, am Anfang einer Saison zu beichten.«
Der Advokat entsetzte sich über den Aberglauben, Camuzzi lobte Italia für ihre Religion, die den Frauen so gut stehe, und die anderen schwankten zwischen den beiden Auffassungen.
Flora Garlinda sagte unvermutet:
»Auch ich werde beichten.«
Man stutzte.
»Sie sind fromm?«
»Warum nicht«, erwiderte Gaddi. »Auch beim Theater sind wir anständige Leute.«
»Ich komme gern mit mir ins reine«, erklärte sie und bewegte die Augen hell vom einen zum andern. »Habe ich dort im Schatten gekniet und alles ausgesprochen, dann weiß ich ein wenig besser, wer ich bin und was mir bestimmt ist.«
Der Advokat hielt sich nicht mehr.
»Und eine so gebildete Frau sollte glauben, daß ein Priester ihr die Sünden vergeben kann?«
»Wenn er stark genug wäre?« sagte sie und sah über die Köpfe hinweg »Aber fast immer muß ich selbst sie mir vergeben können: er versteht mich nicht.«
»Sie sind eine sonderbare Person«, bemerkte der Tabakhändler.
»Denn meine Sünden lassen sich nicht greifen wie ein Stück Fleisch« – und sie erfaßte Italias weißen Arm. »Sie sind schwierig, – und die Priester sind grob. Da war in Sogliaco ein Pfarrer, ich ging an seinen Beichtstuhl und sagte: ›Mein Vater, ich habe eine Frau unglücklich gemacht. Es ist die Zucchini, die, obwohl groß und fett, es sich einfallen läßt, ehrgeizig zu sein. Da sie die Geliebte des Direktors Cremonesi ist, wäre sie, die nichts kann, dennoch fast als Primadonna nach Parma gekommen. Ich habe es verhindert, mein Vater, indem ich sie die Lucia singen ließ, der sie noch längst nicht gewachsen ist. Ganz leise und aus dem Hinterhalt machte ich ihr Lust darauf, und dann stellte ich mich krank: da ließ sie sich die Rolle geben und sang sie. Welch Fiasko, mein Vater! Auf lange ist's aus mit ihr. Und die Arme: am Abend ihrer Niederlage kommt sie weinend zu mir und bittet mich um Verzeihung; sie habe verdiente Strafe erhalten für das Unrecht, das sie mir getan habe, als sie mir die Partie wegnahm!‹«
»Welch guter Witz!« rief der Apotheker, und alle schüttelten sich. Flora Garlinda lächelte in die Runde.
»Seht ihr? So lachte auch jener Pfarrer, der nichts begriff. Die Gardine des Beichtstuhls flog auf von seinem Schnauben.«
»Die Chorprobe ist aus: jetzt muß der Maestro kommen«, sagte der Cavaliere Giordano.
Aus der Treppengasse quoll eine bunte Masse, stob auseinander, – und alle die Farben der leichten Blusen, der gefärbten Haare und bemalten Gesichter flatterten über den Platz, setzten sich auf die graue Menge wie ein hergewehter Schwarm fremder Insekten.
Der Advokat flüsterte Nello Gennari ins Ohr:
»Diese Mädchen! Sind Sie glücklich, daß Sie immer so viele zur Verfügung haben!«
»Aber auch unsere Damen«, fügte er hinzu, »sind nicht zu verachten, und nicht oft haben wir sie so zahlreich auf dem Platz beisammen wie heute. Kommen Sie doch, ich werde sie Ihnen zeigen!«
Sie gingen. Der Advokat blühte; er nahm mit einer Hand den Arm des schönen Tenors und steckte den Daumen der andern in das Ärmelloch seiner Weste. Lauter bewundernde Blicke fielen auf den Liebhaber der Komödiantin: er fühlte, wie sie seinen glücklichen Bauch und sein glänzendes Gesicht trafen.
»Die kleine Paradisi«, raunte er, »hat es auf Sie abgesehen, mein Lieber. Nur Mut! Ah! wir beide: wir können sagen, daß wir begehrt sind.«
»Ich glaube sie schon zu kennen«, erwiderte Nello, und nachdem er gezögert hatte: »Gehen in einer Stadt wie dieser nicht täglich zur selben Stunde dieselben Personen über den Platz? Werde ich nicht alle die wiedersehen, die ich gestern gesehen habe?«
»Gewiß«, sagte der Advokat, »und sogleich wird auch die Hühnerlucia da sein. Sie kennen sie noch nicht, denn gestern kam die Post mit Verspätung, und die Hühnerlucia verspätet sich nie. Ah! sie ist das Unterhaltendste, was wir haben. Das heißt, nun ihr Künstler da seid, hat sich alles geändert. Da steht die Post: gestern brachte sie euch. Mein Herr, ich teile Ihnen eine von mir gemachte Beobachtung mit: Man weiß nie, was alles aus einem Postwagen steigt mit den Personen, die daraus hervorkommen.«
Er sah sich nach Beifall um.
»Dort steht Frau Jole Capitani, die Frau unseres gesuchtesten Arztes. Er ist fast immer abwesend, oft sogar nachts, Sie verstehen? Ich glaube, daß diese Frau sich in einer Krise befindet. Ich werde Sie mit ihr bekannt machen, unter der Bedingung, daß Sie mich jener großen Choristin vorstellen, der mit den gelben Haaren, die mit dem jungen Polli spricht. Was will der Dummkopf von ihr? Ah! und der Severino Salvatori mit zwei anderen Komödiantinnen auf seinem Korbwagen. Er will auch die große Gelbe hineinheben: umsonst, mein Lieber, sie bleibt bei ihrem Olindo. Welch Glück der kleine Polli hat! Sie müssen wissen, mein Herr, daß der Severino Salvatori unser elegantester junger Mann ist. Er bringt die Erbschaft seines Vaters durch. Immer hat er die schönsten Pferde. Ich liebe zu sagen, daß er das väterliche Geschäft vergrößert hat, denn sein Monokel ist größer als die Goldstücke des Alten.«
Der Advokat verbeugte sich, vor denen, die lachten. Nello dachte: ›Dies ist die Stelle, von der ich sie gestern sah. Die Menge drängte sich wie jetzt; und beim ersten Schlag des Aveläutens teilte sie sich. Oh! wird sie sich auch heute mit solcher Kunst zerteilen? Wird auch heute am Ende einer Gasse von Menschen Alba vor mir vorübergehen: unter den einsamen Klängen der Höhe und dem Staunen der Stille, allein und rasch, dort hinten in dem Sonnenstreif, der ihren Schleier durchleuchtet? Ich sehe sie! Ihr weißes Profil! Ihr Haarknoten, kupferrot und besonnt!‹
»Die Hühnerlucia!« rief der Advokat und schüttelte ihn. »Da ist sie!«
Man sah sie stehn und Flügel schlagen mit ihren langen Armen. Von allen Seiten bedrängte sie Volk, das gackerte, und die Alte verrenkte umsonst ihr krummschnäbeliges, rotes kleines Gesicht, um lauter zu gackern als alle. Da durchdrang ein Schrei von ihr den Lärm; sie stürzte sich, die Arme voran, über den Brunnen nach einem Huhn, das aufgeflattert und hineingefallen war.
Die Jungen stießen sie mit dem Gesicht ins Wasser, sie spritzte es mit den Händen um sich, man kreischte, man floh …
Als die Hühnerlucia schon wieder in ihrer Gasse verschwunden war, wand sich der Advokat noch immer erstickt vor Lachen.
»Heute war sie gut. Haben Sie gesehen? Ich sehe das nun seit dreißig Jahren, und es bleibt immer komisch.«
»Da kommt der Maestro die Treppe herab. He! Maestro«, rief er.
»Der andere ist der erste Chorist: oh! ich kenne alle vom Theater«, erklärte der Advokat seiner Umgebung. »Alles in Ordnung, Maestro?« rief er durch die Hände.
Der Kapellmeister hörte nicht. Er winkte den Männern zu, die ihn begleitet hatten, und ging rasch durch die Menge nach dem Café »Zum Fortschritt«.
»Es ist gut gegangen«, sagte er und nahm die Hände, »ich bin zufrieden.«
»Werden diese Chormädchen uns nicht blamieren?« fragte Italia.
»Sie werden besser sein als Sie, meine Teure. Das Volk ist immer das Beste in diesem Lande; ich halte es mit dem Volk.«
Er setzte sich neben Flora Garlinda, ohne sie anzusehen, – lehnte den Kopf an die Mauer, verschränkte die Arme und ließ sich, rosig durch die heimlichen Wallungen seines besonnten Ehrgeizes, von den Leuten bestaunen. Sie kannten ihn nur als den, der ihre Kinder das Singen lehrte und an patriotischen Festtagen mit den Musik machenden Handwerkern durch den Corso zog. Jetzt aber gehörte er zu diesen fremden und berühmten Künstlern, hatte eine Unzahl Menschen zu befehligen, eilte umher als die beschäftigteste Person der Stadt, und auf seinen Schultern lag die große, unerhörte und feenhafte Sache, derer sie harrte: die Oper! Er griff sich ans Herz: es sprang zu hoch.
»Noch das Orchester, und der Tag wird nicht umsonst gewesen sein«, sagte er und seufzte.
»Sie sind in der schönsten Zeit Ihres Lebens, junger Mann«, erwiderte der Cavaliere Giordano. Der Bariton Gaddi gab dagegen dem reiferen Alter den Vorzug, wenn man vom Mittagsschlaf erwachte und die Kinder zogen einen an den Beinen. Die Bürger traten auf Seiten des Cavaliere. Jung sein und lieben! Die Poesie, was Teufel! Darüber erhob sich ein bewegter Austausch von Idealen. Inzwischen wandte der Kapellmeister sich mit einem kleinen Ruck an Flora Garlinda.
»Niemand sang doch ›Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus‹ so gut wie Livia Damanti«, sagte er und schöpfte Atem.
Flora Garlinda lächelte.
»Sie finden?«
»Sie hatte so viel Gefühl.«
Flora Garlinda krümmte die Lippe.
»So drücken die Dilettanten sich aus, Maestro … Und wann haben Sie die Livia gehört?«
»Letzten Winter«, sagte er rasch und errötete. »In Parma.«
»Sie ist seit einem Jahr in Amerika.«
Und immer mit ihrem reglosen Lächeln:
»Übrigens ist das ›Sieh, Geliebter‹ nicht ihr Fach, denn sie singt Contralto.«
Er hielt die Lider gesenkt und schwieg, plötzlich ganz blaß. Sie zuckte unmerklich die Achseln. Natürlich hatte es ihn gereut, daß er sich heute bei der Probe eine Blöße gegeben hatte, als er sie so fassungslos lobte. Daher diese Erfindung. Er war ertappt, und sein Schweigen genügte: sie sah weg.
»Ich werde mich geirrt haben«, sagte er und schluckte hinunter. »Auch zählt, seit ich Sie gehört habe, das Früher nicht mehr. Das ist die Wahrheit.«
»Wahrheit oder nicht« – und sie lachte kameradschaftlich, »wir kennen uns schon ein wenig, nicht, Maestro? und wissen wohl, wem jeder von uns die größte Zukunft voraussagt. Denn was denken Sie über sich, Maestro?«
»Über mich? Über mich?« – mit der Hand auf dem Herzen:
»Was kann ich denken? Ich bin ein Dorfkapellmeister, der –«
Der junge Savezzo reichte ihm elegant die Fingerspitzen.
»Maestro, Ihr Ruhm durchläuft die Stadt; bis in mein Studierzimmer ist er gedrungen.«
»Sie sind aber selbst ein berühmter Mann, Advokat«, sagte der Kaufmann Mancafede.
Der junge Savezzo schielte vor Freude auf seine pockennarbige Nase. Plötzlich schrak er auf und sah sich nach Belotti, dem wirklichen Advokaten, um. Da er ihn nicht fand, bewegte er, den Kopf im Nacken, anmutig die Hand.
»Was wollen Sie, o meine Herren und Damen? Man bemüht sich, soviel die Geschäfte es nur erlauben, um das geistige Leben der Stadt, in der man nun einmal wohnt. Ist das ein Verdienst? Ich weiß es nicht. Für mich ist es ein inneres Bedürfnis. Von Zeit zu Zeit kommt es über mich. Ich verschließe dann den Landleuten, die meinen Rat suchen, die Tür meines Geschäftskabinetts; und dort ganz hinten im Hause, wohin der Lärm der Welt nicht dringt, blicke ich empor nach den Eingebungen, die mich suchen.«
Er legte, eine Hand am Ohr, das Gesicht nach oben. Seine lauschende Haltung benutzte der Kapellmeister, um weiterzusprechen.
»Ich bin ein Dorfkapellmeister, der eine Oper schreibt. Wie viele mögen gleichzeitig mit mir an einer Oper schreiben! – und doch, ich fühle eine Musik in mir, nach der es ein ganzes Volk verlangt, und manchmal, inmitten des Fiebers der Arbeit, meine ich in der Ferne das dumpfe Geräusch dieses Volkes zu hören, das wartet.«
»Und Sie, Herr Savezzo?« fragte Flora Garlinda.
»Ganz so!« sagte er, fuhr sich durchs Haar und dachte, daß er wohl daran getan habe, in der Nacht das weiche Kopfkissen fortzulegen, denn nun waren die gestern gebrannten Locken noch unzerstört. »Ganz so! Als ich über die Freundschaft meine Abhandlung, nein, mein Gedicht in Prosa schrieb, sah ich fortwährend die Mitglieder unseres Klubs vor mir sitzen und vernahm das beifällige Gemurmel. Vorne saßen die Damen und gerade unter meinem Podium die schöne Alba Nardini: alles, wie es dann wirklich kam, nur daß Alba bloß ihr Dienstmädchen schickte. Aber sogar die Limonade hatte ich schon im Geist erblickt.«
»Der Ehrgeiz!« sagte der Kapellmeister. »Der Ehrgeiz ist eins mit dem Drang zu beglücken, und Ruhm und Liebe sind das gleiche. Sie verstehen mich, Flora Garlinda! In die Welt hinausfahren, in die großen Städte, über das Meer; mein Werk dirigieren und, indes sie jubeln, fühlen, daß ich spende! Nirgends fremd, überall schon bekannt sein durch die Taten meiner Seele und, nun ich erscheine, tausend Geliebte vorfinden, die mir danken!«
»Tausend Geliebte!« – und der Savezzo stieß ein Freudengelächter aus. »Ich sage nicht nein, da ich mir in dieser Beziehung manches zutraue. Aber auch das ist schon etwas, wenn nach meinem Vortrage über die Freundschaft eine gewisse Dame, die Ehre verbietet mir, zu reden, aber eine unserer ersten Damen sich mir –«
Er schielte auf seine Nase und massierte seine klotzigen Finger, um sie weiß zu machen.
»Die Herren verstehen sich«, sagte Flora Garlinda und sah, reglos lächelnd, geradeaus. Der Kapellmeister fuhr, die Hand gespreizt, vom Sitz; aber seine empörten Worte schienen ihm, noch bevor er sie aussprach, widerlegt durch dies Lächeln; schwer sank er zurück. Der Savezzo sagte:
»Sie wollten die Flasche, mein Herr? Ich bin der hiesige Vertreter für diesen Vermouth.«
Er redete weiter; der Kapellmeister dachte: ›Ist's möglich, daß sie mich mit diesem verwechselt? Aber sie hat recht; denn wem will ich beweisen, daß ich ihm nicht gleiche? Die sichtbare Tatsache ist, daß wir beide in einer kleinen Stadt sitzen und uns besser glauben als die übrigen. Ich bin's wohl gar nicht. Ich werde nichts können. Meine Trunkenheiten, die von schlechter Musik kommen, werden mir immer nur Übelkeit hinterlassen, wie der Rausch nach gefälschtem Wein. Ich will nicht mehr schreiben.‹
Er betrachtete ihr Lächeln.
›Das wollte sie! Sie wollte mich demütigen und zur Verzweiflung treiben! Sie ist böse, ich hasse sie! – und würde doch keinen Menschen so gern an mich glauben machen wie sie!‹
Aus ratloser Pein sagte er:
»Aber Sie selbst, Fräulein Flora Garlinda?«
Sie hob die Schultern.
»Ich? Oh! ich bin bescheidener als die Herren, weniger überzeugt von meinem Genie und seinem siegreichen Fluge. Ich werde sehr viel arbeiten: das ist alles, was ich weiß. Vielleicht werde ich wieder nach Sogliaco zurückkehren, vielleicht verbringe ich noch Jahre an solchen Orten. Fünf, mag sein sieben muß ich darangeben, bis ich Mailand erreiche. Dann aber –«
Man sah ihre kleine Faust zittern, so fest ballte sie sie.
»– haben sie mich einmal gehört, werden sie mich nicht wieder vergessen. Ich werde nicht vom Glück abhängen und werde nicht sinken. Ich bin jung – und meine Stimme, mein Reichtum, mein Ruhm, alles, was ich mir erobere, wird dauern, bis ich alt bin, bis ich sterbe.«
Sie stand auf.
»Ich will meinen Spaziergang machen.«
»Es ist noch zu warm, Sie werden sich schaden«, sagten die Bürger.
Sie lachte und ging.
Der Kapellmeister sah vor sich nieder. »Ihr gehört die Zukunft; darum braucht sie die Träume nicht, die vorauseilen.«
Der Cavaliere Giordano wandte sich plötzlich um und sagte wie vorhin:
»Aber Sie sind in der schönsten Zeit Ihres Lebens, junger Mann.«
Der Kapellmeister erblaßte … Nein, diese selbstgefällige Berühmtheit hatte wohl nicht Geist genug, um ihn zu verhöhnen.
Die Sonne war fort, der Himmel beschattete sich violett. Die Menge floß rascher in den Corso hinein und zurück auf den Platz. Um den Brunnen schwenkten sich lange Reihen von jungen Mädchen, wie Strahlen eines Feuerrades. Plötzlich stand es still, alles Geschrei brach ab, und durch die Schleier der Dämmerung schwang sich vom Turm das Ave.
Der Advokat Belotti suchte es zu überschreien; er stellte sich, am Arm des Tenors Nello Gennari, beim Café ein.
»Der Camuzzi ist früher fortgegangen als sonst!« schrie er erzürnt. »Was fällt ihm ein!« – denn der Advokat vermißte seinen Feind ungern und hielt auf die Gewohnheiten des andern wie auf seine eigenen.
»Im übrigen«, sagte er, »die Hühnerlucia, Don Taddeo mit seinem heiligen Lärm: Sie sehen, mein Lieber, wir führen ein regelmäßiges Leben.«
»Aber die Personen«, sagte Nello, »die zum Dom gingen, waren nicht dieselben. Ich weiß es gewiß, ich habe sie beobachtet.«
Der junge Savezzo lehnte an der Mauer und spähte unter seiner wulstig gesenkten Stirne hervor.
»Ach ja«, sagte er, »dieser Herr wünschte schon gestern eine der Personen kennenzulernen, die in den Dom gingen. Er möge sich merken, daß ihre Bekanntschaft nicht leicht zu machen ist und daß andere davorstehen.«
»Was meint dieser Herr?« – und Nello tat einen raschen Schritt.
»Dieser Herr hat mich sehr gut verstanden.«
Darauf schlug der Savezzo einen leichten Ton an.
»Man hat das Fräulein Flora Garlinda allein gehen lassen. Sind wir denn keine Ritter? Ich werde ihr nacheilen und sie unterhalten, indem ich ihr meinen Vortrag über die Freundschaft hersage.«
»Was hat er?« ward gefragt, als er fort war.
»Ich verstehe nicht –«, stammelte Nello. Der Advokat bewegte den Zeigefinger.
»Das gilt nicht Ihnen, mein Lieber; es gilt mir, dessen Freund Sie sind. Vor mir aber hat dieser Elende Furcht, weil er sich in gewissen, an die Bauern gerichteten Zirkularen, die mir zu Gesicht gekommen sind, schon wieder des Advokatentitels bedient hat. Sie müssen wissen, daß dieser Sohn eines Käseverkäufers, dem man seine Herkunft anriecht, auf der Tür seines sogenannten Geschäftskabinetts sich den Namen Advokat gegeben hatte, und daß ich ihm mit einer Anzeige drohen mußte, bevor er das Schild entfernte. Drum können mich seine Kriechereien nicht darüber täuschen, daß er mich beneidet und haßt.«
»Er ist ein junger Mann von großem Genie«, wandte Polli ein. Der Advokat versuchte es zu leugnen, aber man hielt ihm die Erfolge Savezzos im Klub vor. Darauf erwiderte er:
»Das schönste Genie kann durch gewisse Charakterfehler befleckt werden.«
»Meine Hochachtung der ganzen Gesellschaft«, sagte der Perückenmacher Nonoggi und schleifte, bei seinem Kratzfuß, den Hut über den Boden.
»Mein Kompliment insbesondere dem Herrn Advokaten!«
Er dienerte immerfort vor Italia und grimassierte dabei, daß die blutigen Rinnsel in seinem Gesicht umherflogen.
»Eh! eh!« machte der Advokat, und alles an ihm dehnte sich.
»Wenn ich gewußt hätte«, versicherte der Barbier und drückte die Pickelflöte fester unter seinen Arm, »ich wäre gekommen und hätte den Herrschaften ein Ständchen gebracht.«
»Auch Sie sind ein Künstler, Nonoggi?« fragte der Bariton Gaddi.
»Dem Herrn zu dienen. Hier üben alle die Kunst. Wären nur nicht Unwürdige darunter! Ich weiß wohl, wen ich meine.«
»Ihr meint den Chiaralunzi«, sagte der Apotheker. »Aber wir alle wissen, daß er ein sehr braver Mann ist.«
Der Barbier hüpfte auf.
»Der Schneider – ein braver Mann? Ach ja! Wenn es sich darum handelt, Rechnungen zu machen, ist er brav. Wenn es gilt, einen verschnittenen Rock dem Besteller anzuprobieren, ist er brav. Aber Tenorhorn blasen, das lernt sich nicht beim Wein.«
»Der Chiaralunzi ist der Nüchternste von allen.«
»Er? In Spaldine wollen sie ihn nicht mehr zum Aufspielen, weil er mit seiner Bande zu viel trinkt.«
»Da haben wir's«, bemerkte der Advokat. »Ihr neidet euch gegenseitig die Dörfer, in denen ihr aufspielt. Darum seid ihr Feinde. Das ist nicht schön, Nonoggi.«
Der Barbier breitete die Arme aus und krümmte sich zu Boden.
»Es wird nicht schön sein; aber der Schneider und ich, wir stehen so miteinander, wie der Herr Advokat mit dem Herrn Gemeindesekretär.«
Der Advokat legte den Kopf zurück.
»Das ist etwas anderes, mein Freund. Bei uns ist es die Verschiedenheit der Ideen! … Da kommt er, Euer Feind. Um euch zu versöhnen, werden wir euch beiden einen Vermouth anbieten.«
»Ohne die Herren beleidigen zu wollen, aber dieser Vermouth wäre mir zu bitter. Meine Hochachtung der Gesellschaft! An der Ecke erwarten mich der Tapezierer und mein Schwager Coccola. Wir gehen schon hinauf, Maestro!«
»Wie?« fragte der Kapellmeister aufschreckend.
Der Schneider Chiaralunzi kam mit seinem Horn und einer Federboa. Auf seiner großen Hand, die er offen hielt, um das zarte Ding nicht zu drücken, und weit von sich streckte, damit es ihn nicht einmal streife, balancierte er sie Schritt für Schritt. Von der Anstrengung war er außer Atem.
»Das Fräulein Flora Garlinda ist fortgegangen?« fragte er und setzte das Horn auf das Pflaster, um den Hut zu ziehen. Die Boa ließ er nicht aus dem Auge.
»Die Herren mögen entschuldigen, aber wohin ist das Fräulein gegangen? Gewiß bleibt sie wieder lange aus; auch gestern tat sie es, und in der Nachtluft wird sie sich erkälten. Ich will ihr etwas bringen, um wenigstens den Hals zu schützen.«
»Und die Probe?« fragten sie ihn. Er bedachte und sah die Boa an.
»Ja, die Probe.«
»Sie muß schon ein gutes Stück Weg gemacht haben, Ihre Flora,« sagte der Tabakhändler. Plötzlich stand der Kapellmeister auf. Er war rosig bewölkt und streckte die Hand hin.
»Geben Sie sie mir, Chiaralunzi! Ich bringe sie ihr. Es macht nichts. Ohnedies gehe ich ein wenig Luft schöpfen.«
»Aber – die Probe? Sie sind der Maestro!«
Der Kapellmeister griff sich an die Stirn und setzte sich wieder.
»Ich vergaß … Ich dachte an etwas anderes … Es war nur ein Einfall.«
Der Gevatter Achille erbot sich, die Boa in seinem Lokal aufzubewahren. Der Schneider sprang entsetzt zurück.
»Im Café! Was denkt Ihr denn?«
Alle mußten ihm zureden. Endlich ging er selbst hinein, hängte seinen Schatz an das Kleidergestell, trat davor von einem Fuß auf den anderen, zerrte abwechselnd am linken und am rechten Ende seines rostroten, baumelnden Schnurrbartes.
»Man wird sie anfassen. Hier kommen zu viele Leute«, entschied er endlich und nahm sie herab. »Das beste wird sein, ich trage sie wieder nach Haus. Entschuldigen die Herren!«
Sein Horn ließ er stehen, legte sich die Boa über beide Hände und trug sie Schritt für Schritt die Gasse zurück, die er gekommen war. Hinter ihm zuckten sie die Achseln.
»Verliebt, der Arme!«
»Die Orchesterpartitur«, sagte der Kapellmeister, »liegt noch in meiner Wohnung, ich muß eilen.«
Der Cavaliere Giordano stand rasch auf.
»Wir haben denselben Weg, Maestro. Denn Sie kommen wohl am Gasthaus vorbei?«
Aber schon, als sie den Corso erreichten, sagte er:
»Ich gehe noch nicht zum Essen. Ob jetzt oder später, ich werde dabei allein sein. Die Italia bleibt sicher mit ihrem Advokaten zusammen, Gaddi hat seine Familie, Flora Garlinda begnügt sich mit dem Diner der Schneidersfrau, und Nello, ich weiß nicht, wo der Junge immer steckt. Ich könnte zu meiner Hausfrau, der kleinen Camuzzi, gehen; aber, Maestro, es kommen Zeiten, die Sie noch nicht begreifen, wo die Nähe junger Frauen voll Bitternis ist. Wenn Sie wollen, werfe ich einen Blick in das Manuskript Ihrer Oper.«
»Cavaliere … ich weiß nicht –«
Der Kapellmeister griff sich an den Hals.
»– Sie wären der erste, der es zu sehen bekäme …«
Der alte Tenor lächelte mild.
»Ich habe schon andere zu sehen bekommen und, es ist lange her, sogar die von ihm selbst geschriebenen Noten des großen Maestro Rossini, – die er mir geschenkt hat.«
Nach einem Schweigen murmelte der Kapellmeister:
»Sie sind ein berühmter Mann … Ich fühle mich geehrt.«
Vor der Unterpräfektur stand Rina, die kleine Magd des Tabakhändlers, und sah erschreckt und glücklich dem Kapellmeister entgegen. Da er vorbeikam, hob ihre kleine rote Hand sich wie von selbst ein wenig von der Schürze und blieb, von ihm unbemerkt, in der Luft stehen. Der Cavaliere Giordano wandte lange den Kopf nach ihr. Sie hatte die Zähne in die Lippe gedrückt und starre, feuchte Augen.
Am Ende des Corso bogen sie nach dem steilen Platz ein, mit dem Wirtshaus »Zu den Verlobten« und der Schmiede. Über dem Bruchstück der alten Stadtmauer, die zwischen den letzten Häusern stand wie ein großer Efeustock, sah rauh der braune Berg herein. Der Kapellmeister zeigte auf das Dach der Schmiede.
»Dort oben.«
Der Gipfel des Daches trug einen kurzen, breiten Aufsatz mit einer geschwungenen Haube, Fenstern, beinahe so groß wie die Wände, und den heitersten Arabesken aus Gips. Als sie das dunkle Haus erklommen hatten:
»Hier werden Sie sogleich wieder Atem erlangen, Cavaliere. An Luft fehlt es hier nicht.«
Der Alte bat im Gegenteil, vor der Zugluft zu schließen.
»Sie haben recht, es bläst zu allen Seiten herein. Im Winter werde ich es in meinem Bett ein wenig kalt haben. Aber das macht nichts. Tagsüber ist mir oft fast zu warm von meinen Gedanken. Ich laufe durchs Zimmer, wieviel tausendmal wohl; überall scheint der Himmel herein; mir ist, als laufe ich durch den Himmel; – und aus den Glockentönen, die mir darin entgegenschweben, aus dem Gehämmer der Schmiede, aus allem wird Musik. Aber vielleicht ist es schlechte?«
Er zog das Manuskript hervor, wog es in den Händen und, rosig bis unter die Barthaare, lieferte er es aus. Der andere blätterte und bewegte die Lippen. Der Kapellmeister hielt nicht stand.
»Ich spiele es Ihnen vor. Ich spiele Ihnen den zweiten Akt vor, wenigstens den Schluß, wenigstens das Duett. Sie müssen es anhören!«
Er setzte sich vor das Klavier und sprang wieder auf.
»Nur ein einziger Stuhl! Was tun? Oh! Cavaliere, Sie wollen wirklich –? Aufs Bett? …«
Nach dem letzten Akkord sah er noch auf die Tasten und regte sich nicht.
Der berühmte Sänger klatschte leicht in die Hände und sagte:
»Bravo, Maestro!«
Darauf atmete der Kapellmeister wieder.
»Es gefällt mir, ich möchte versuchen, die Partie des Tenors zu improvisieren«, – und der Cavaliere stand schon da und schlug mit dem Zeigefinger den ersten Ton an.
»Machen Sie den Bariton, Maestro! Oh! Ohne Komplimente. Es wird dunkel, aber hier oben sieht man noch genug. Beginnen wir!«
Noch als es aus war, hatte der Kapellmeister die Miene des Lauschens. Endlich sah er, rosig lächelnd, auf.
»Cavaliere, ich danke Ihnen, Sie haben mich heute glücklich gemacht.«
Die Stimme des Alten war nicht mehr hohl gewesen. Sie war stark: ›Wo habe ich heute morgen meine Ohren gehabt?‹ Nie hatte sie tremoliert. Der Kapellmeister schüttelte noch immer die Hand seines Sängers.
»Niemand hat diese meine Musik gesungen wie Sie!«
Er hatte vergessen, daß überhaupt noch niemand sie gesungen hatte. Mit immer neuem Entzücken:
»Das Crescendo, das Sie eingeführt haben, tut die beste Wirkung!«
Der alte Tenor lächelte klug.
»Ganz dasselbe sagte mir auch der Maestro Verdi, als ich mir im ›Don Carlos‹ das Crescendo erlaubte, das seither alle singen.«
»Ihm selbst haben Sie vorgesungen?«
»Ich war bei ihm in Busseto, ich stand neben ihm, der sein Werk für mich spielte, wie nun Sie das Ihre, Maestro.«
»Ein Verdi!«
Der Kapellmeister sprang auf und lief durch das Zimmer. Der Cavaliere Giordano trat an das Fenster.
»Hier hat man einen weiten Horizont«, bemerkte er. »Die vielen Dächer bergab, und in der Dämmerung drunten, weithin verstreut, die Lichter. Sie haben es gut, Maestro, Sie sind jung.«
»Wenn es nicht dunkel wäre, würden Sie sogar zwischen jenen blauen Nebelwänden, die Berge sind, das Meer erkennen. Ich habe es bei meiner Arbeit immer vor mir, als das Zeichen und das Versprechen meiner Zukunft, eines weitreichenden Schicksals, der Unendlichkeit des Ruhmes!«
»Gewiß ist es Ihnen bestimmt, Maestro, über das Meer zu fahren und mit Säcken voll Dollars zurückzukehren.«
»Sie waren drüben, Cavaliere?«
Der berühmte Tenor bewegte die Hand, als schöbe er dieses Erlebnis zu den geringeren.
»Meine besten Jahre hatte ich in Rußland. Um mich in Petersburg singen zu hören, bestellten die Leute telegrafisch Plätze von Moskau aus und von der Krim. Während der ›Gioconda‹ kam der Kaiser zu mir auf die Bühne; und am Abend meiner letzten Vorstellung schickte er eine Militärkapelle vor mein Haus und eine an den Eingang des Theaters. Das alles aber ist nichts, wenn ich mich erinnere, wie es war, als ich Zwanzig war. Zusammen mit dem Mustafà und dem Rosati sang ich zu Rom in der Kirche Santa Maria in Vallicella den Sant' Eustachio, ein Oratorium des Maestro Salvatore Capocci: und wie ich fertig war, begannen die Gläubigen wütend zu klatschen und ›bis‹ zu schreien. Die bewaffnete Macht mußte eingreifen und sie beruhigen.«
»Als Sie Zwanzig waren«, wiederholte der Kapellmeister.
»Ja«, sagte der Alte; und als sei er allein:
»Es ist nun bald fünfzig Jahre her.«
Der Blick des jungen Mannes streifte hinüber, wo er so lange das Meer und die große Ferne gewußt hatte. War es noch dort? Ihm schien auf einmal unnütz, es zu suchen. Dieser Alte hatte es befahren; er war zurückgekehrt, und was blieb ihm? Er sang hohl und zitternd, vorhin nicht anders als sonst. ›Nur das Glück, meine eigene Musik gesungen zu hören, bestach mein Gehör – und vielleicht wollte er's bestechen?‹ Dem Kapellmeister kam der Verdacht, der Cavaliere Giordano habe dieses Zusammensein in der Absicht herbeigeführt, ihn sich milder zu stimmen. ›Es ist wahr, ich habe ihn auf der Probe bloßgestellt vor den andern. Welches Elend! Ich durfte das: ich, ein Anfänger – und seinen Namen kannte eine Welt.‹ Er war froh der Dunkelheit, die diesen alten Mann nicht sehen ließ, wie tief er errötet war: über sich, über ihn, über den menschlichen Stolz.
»Ich muß eilen«, murmelte er. »Das Orchester wartet auf mich.«
Der Cavaliere Giordano stolperte auf der Treppe.
»Lassen Sie sich Zeit, Cavaliere, und entschuldigen Sie mich.«
Der Alte sputete sich, um mitzukommen, um noch einige Minuten lang nicht allein zu sein. Aber er blieb zurück.
An der Ecke beim Wirtshaus »Zu den Verlobten« trat, als der Kapellmeister heranstürmte, die kleine Rina aus dem Schatten und rief etwas. Er war schon vorüber und rief zurück:
»Ein andermal. Ich bin aufs höchste beschäftigt.«
Er erreichte den Corso und zog im Laufen den Hut, denn in die Gasse drüben bogen der Advokat Belotti, der Tabakhändler Polli und der Apotheker Acquistapace ein. Sie drohten ihm mit dem Finger und stießen sich an.
»Ah! der Maestro. Wer weiß, von welchem Abenteuer er kommt.«
Sie selbst waren auf der Suche. Von Zeit zu Zeit blieben sie unter einem Hause stehen, und einer von ihnen flüsterte:
»Dort oben wohnt eine.«
»Auch hier habe ich eine einquartiert«, bemerkte der Advokat ein Stück weiter; und alle drei gaben ein angeregtes Glucksen von sich. Die Reihen der alten, schwarzen, von seltenen Lichtern geröteten Häuser mit ihren schweren und verzierten Portalen, aus denen es nach Gewürzen oder Handwerk roch, mit ihren Balkonen, eng wie Kanzeln, ihren vergitterten Fenstern und den weit vorstehenden Dächern, worunter in offenen Speichern Maiskolben und Reisig trockneten: diese schmalen Steinläufe und ihre winklig umschatteten Erweiterungen, die schon der Fuß der Bürger an den Schäden des Pflasters wiedererkannt hätte, sie schienen ihnen verwandelt. Das alles machte sie wieder neugierig, wie als Kinder. Sie haben sich auf die Fußspitzen, um über die rote Gardine hinweg in ein Schenkenzimmer zu spähen, wo Choristinnen mit ihren Kameraden saßen, und sie berieten darüber, ob die Paare, die zusammenwohnten, wirklich verheiratet seien. Als der Tischler Vittorino Baccalà, im Arm ein ganz kleines, buntes Geschöpf, das Haus bei der nächsten Laterne betrat, seufzte der Tabakhändler und sagte dann:
»Er hat recht.«
»Auch für andere ist noch etwas da«, erklärte der Advokat und klopfte ihm auf die Schulter.
»Aber woher kommen sie alle?« setzte er hinzu, denn dort hinten schlüpfen schon wieder zwei durch einen Lichtstreif. »Man weiß doch, daß es nur dreizehn sind, und die ganze Stadt scheint voll von ihnen.«
»Überall riecht es nach Puder«, sagte der Apotheker mit seiner biederen Stimme. Die anderen beiden schnupperten.
»Sie verlieren ihn in der Luft«, sagte der Advokat, »wie Insekten ihren Flügelstaub« – und er sah sich um, denn ihm war, als schlüge über ihm ein Flügel. Ja, wirklich, auf dem niederen Balkon des Hauses Filiberti fächelte sich eine: eine große – und jetzt roch man sie auch. Hinter ihr aber verschwand ins Dunkel ein Mann; wer war es? Der Tabakhändler hatte ihn erkannt.
»He! Olindo! Willst du hervorkommen!« – und er stieß mit dem Zeigefinger nach dem Pflaster.
»Soll ich dich holen, du frecher Bengel?«
Der junge Polli zeigte sich am Gitter.
»Papa«, stotterte er, »das Fräulein wünschte Räucherkerzen gegen die Mücken, und weil der Laden zu war, habe ich sie ihr gebracht.«
»Augenblicklich kommst du herunter!«
Der junge Mensch wand sich umher. Man sah seine roten Haare und das verstörte Liderklappen in seinem kalkigen Gesicht. Die Choristin stieß ihn, laut lachend, an.
»So gehen Sie doch zu Ihrem Papa!«
Darauf verließ er den Balkon. Der Tabakhändler erklärte:
»Das denn doch nicht! Wenn diese Damen anfangen wollen, uns die Söhne zu verführen, dann mag die Kunst zum Teufel gehen.«
Der Advokat warnte vor Übertreibungen; man reize die Instinkte der Zwanzigjährigen, wenn man sie in die Kinderstube sperre. Da erschien Olindo, vorsichtig abgewendet, unter der Tür und schlich dicht an der bauchigen Rundung des Hauses hin.
»Ah! er will entwischen.«
Der Vater mußte aufhüpfen, um den Sohn an den Schultern zu packen. Aus Ehrfurcht machte Olindo es ihm leichter, indem er sich bückte – und nun schleppte Polli den Besiegten am Rockschoß herbei.
»Ein Hosenmatz, der den Frauen nachstellt! Ein neuer Typus! Jetzt kommen mir auch Vermutungen darüber, weshalb heute die zehn Trabukos verschwunden waren. Sie sind also doch verkauft, und das Geld war wohl für diese Dame bestimmt. Da hast du, da hast du! – und sage zu Hause deiner Mutter, ich ließe sie bitten, dir von derselben Sorte zu geben.«
Mit einem Fußtritt, für den er ihn vorher zurechtstellte, schickte Polli den Sohn von dannen. Erst beim Trocknen des vergossenen Schweißes bemerkte er das Gelächter, das ihn umgab. In das Gebrüll des Apothekers und das Keuchen des Advokaten stießen Kreischtöne vom Balkon. Dem Tabakhändler ward angst.
»Seid vernünftig«, bat er, »und weckt nicht alle Weiber auf. Sie liegen schon halbnackt in den Fenstern. Schickt solche Szene sich für Leute, wie wir sind? Kommt fort!«
»Aber es ist geradezu die Schönste«, sagte der Advokat und war nicht vom Fleck zu bringen. »Dein Sohn hat sich geradezu die Schönste ausgesucht: die mit den gelben Haaren. Schon heute nachmittag sah ich ihn mit ihr auf dem Platz. Du hast recht, Polli, daß das nichts für Hosenmätze ist. Aber mit uns«, flüsterte er durchdringend hinauf, »wird das Fräulein vielleicht im Gasthaus ›Zum Mond‹ ein kleines gutes Souper einnehmen wollen. Ich bin der Vorsitzende des Theaterkomitees und kann Ihnen nützlich sein.«
»Dann bin ich sofort bei Ihnen, meine Herren«, erwiderte sie. Man sah sie drinnen im Schein einer Kerze den Puderquast schwingen. Die Röcke raffend, die raschelten, erschien sie auf der Schwelle und streckte die Hand sogleich dem Tabakhändler hin.
»Ihr Sohn ist ein Kind«, sagte sie; »Sie aber, mein Herr, sind ein wirklicher Mann.«
»Wir wollen es hoffen«, erwiderte er mit grober Stimme und einem Lächeln, das sich unwiderstehlich entfaltete. Dann besann er sich darauf, ihr den Arm zu bieten. Der Advokat mußte mit dem Apotheker hinterhergehen. Er schnaufte.
»Dieser Polli hat mehr Glück, als ihm zukommt« – und lauter:
»Fräulein, ich hatte schon von Ihnen gehört, denn Sie sind die Schönste, und ich habe Ihr Engagement durchgesetzt.«
Sie wandte sich über die Schulter ihres Begleiters nach ihm um.
»Ah! der Herr ist der berühmte Advokat Belotti. Ich bin glücklich, mein Herr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Plötzlich streckte sie ihm die Zunge heraus – und rasch machte sie sich wieder an Polli, zu dem sie sich achtungsvoll bückte, wie Olindo getan hatte.
»Welch ein Weib!«
Der Advokat ward zu einer Geste hingerissen, für die kein Raum war; er schlug heftig gegen die Mauer. ›Au, au! … Ich fühle, daß ich Tollheiten für sie begehen könnte.‹
Der Apotheker sagte vorwurfsvoll:
»Und dabei wirst du von einer Frau wie die Italia geliebt! Denn die Italia, ich scheue mich nicht, es zu sagen, hat etwas Göttliches, das dieser hier trotz ihren gelben Haaren fehlt.«
»Soll ich dir etwas sagen?«
Der Advokat drückte den Arm des alten Kriegers.
»Nimm dir die Italia! Ich lasse sie dir. Ich fühle, daß ich nicht werde treu sein können, weder ihr noch einer andern. Mich verlocken sie alle, ich schrecke vor dem Wort nicht zurück: alle. Die Beständigkeit des Bürgers hat mich im Grunde immer gelangweilt; ich war zur Lebensweise des Künstlers geboren, ich, und jetzt entdecke ich mein Temperament.«
Damit ließ er den Freund auf seinem Holzbein weiterstelzen, wie es ging, und eilte dem gelben Schopf nach und den breiten schaukelnden Hüften, die im Corso verschwinden wollten.
Als Polli und der Advokat, die Choristin zwischen sich, auf dem strohbesäten Platz vor dem Gasthause anlangten, begannen beide zu schreien. Polli schlug auf einen Tisch.
»Jemand soll kommen! Da sind Leute, die etwas trinken wollen.«
Der Advokat stellte die Hände um den Mund.
»Ah! Malandrini, es wird Zeit, daß du dich zeigst, denn wir brauchen ein kleines feines Souper. Zuerst Salami und Schinken, dann eine gehörige Schüssel voll Makkaroni, eine von den Schüsseln, worin du die ganzen Ferkel aufträgst; dann Escaloppes in Madeira …«
»Sie werden zufriedengestellt werden«, sagte der Wirt und dienerte speckig. »Meine Frau wird für eine solche Gesellschaft sogar Hühner à la Villeroy machen, was eine schwierige, aber glänzende Sache ist.«
»Und Leber in Öl will ich«, erklärte das Mädchen.
»Leber in Öl, deine größte Pfanne, Malandrini!« empfahl der Advokat, als der Wirt schon ins Haus lief, und Polli schrie hinterher:
»Sorge für den Zabajone!«
Der Apotheker hörte es von draußen und rief über den Hof:
»Ich werde die Eier schlagen und den Marsala hineinmischen. Niemand gibt dem Zabajone die richtige Dicke als nur ich!«
»Was schreit er?« sagte hinten im Corso Italia Molesin zu Nello Gennari. Er zuckte die Achseln.
»Sie werden sich betrinken wollen.«
»Und der Advokat schwänzelt um die gelbe Gina herum! Ist dieser Mann denn unermüdlich?«
»Unsere Ankunft«, sagte Nello, »hat belebend gewirkt auf die Einwohner dieser Stadt. Auf einmal ist ihnen der Mut gekommen, ihre Laster in Freiheit zu setzen.«
»Ob das nicht abscheulich ist! Da glaubt man für sechs Wochen Ruhe gefunden zu haben. Ich war entschlossen, ihm treu zu bleiben; und nun, am selben Tage noch –«
Italia hatte eine feuchte Stimme.
»Diese Leute zwingen uns, ein unmoralisches Leben zu führen.«
»Wem sagst du es«, erwiderte der junge Mann mit geschlossenen Zähnen.
»Aber dich hat doch niemand betrogen?« fragte sie. Er murmelte:
»Nur ich selbst mich. Ich nahm mir ein zu hohes Ziel. Zu Großes mutete ich mir zu. Ich hätte reiner sein müssen, als ich bin.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Ach, auch ich habe der Forderung einer dieser Bürgerfrauen nachkommen müssen.«
»Als ob wir dafür engagiert wären!«
»Ja, wir sind da, sie lustig zu machen. Es ist ein Handwerk für Hunde.«