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»Ob mein Mann läuten kann! Wie? Sagt doch!« verlangte die Frau des Kirchendieners Pipistrelli, zog die schiefe Schulter noch höher und lugte unter ihrem grünen Augenschirm ringsum. »Und er wird droben bleiben und ihnen vor der Nase die Glocken der Klosterkirche schwingen, solange ihr verdammtes Theater währt. Wir werden sehen, ob es ihnen gelingt, dem Teufel eine Messe zu feiern.«
»Don Taddeo ist ein wahrer Diener Gottes«, sagte der Schlosser Fantapiè und bekreuzigte sich. Der Schlosser Scarpetta, der wie Fantapiè an die Arbeiten in der Sakristei dachte, bekreuzigte sich eilig mit. Frau Nonoggi verdrehte die Augen.
»Und dennoch wird bald die ganze Stadt droben sein. Nicht rasch genug können sie laufen. Da! falle nur über die Treppe und brich dir das Bein, bevor der Böse dir den Hals bricht!«
»Wie wir Guten wenige sind!« bemerkte Frau Acquistapace.
»Sollte man die Unglücklichen nicht zurückhalten?«
Die Pipistrelli schwenkte schon ihren Krückstock.
»He, ihr Männer! Bleibt unten! Droben ist nichts Gutes zu holen, außer der ewigen Verdammnis.«
Galileo Belotti, der mit einem Haufen Bauern aus dem Café kam, brüllte durch den Lärm der Glocken zurück:
»Was willst du denn? Die Zeiten des Aberglaubens sind vorbei. Wenn übrigens eine Vogelscheuche wie du davor steht, wird niemand in den Himmel wollen.«
Dabei stampften sie die Treppengasse hinan. Die kleine fromme Schar sah trostlos um den Platz, der leer lag.
»Zu denken, daß zur Zeit des Papstes der Galileo zur Messe ging!« sagte der Schlosser. »Aber wie Monsignore bei seiner letzten Anwesenheit äußerte: die Hoffnung der Kirche wird täglich kleiner!«
»Ach was, man muß handeln!« behauptete Frau Acquistapace.
»Beachtet Don Taddeo, er gibt ein Beispiel von Tapferkeit.«
Man sah ihn von Zeit zu Zeit hinter der Ledermatratze der Domtür hervorschlüpfen und auf ein paar Jungen losschießen, die um die Ecke des Corso kamen. Wild riß er sie fort und klappte hinter ihnen und sich die Matratze zu. Kaum aber verließ er sein Versteck, um auf die nächsten zu jagen, da drückten die vorigen sich unter der Matratze weg; und wie er den Lehrjungen des Konditors Serafini gefangen mitschleppte, kamen ein kleiner Chiaralunzi und der Michelino vom Barbier Druso wie Hasen daher und rannten über die Pipistrelli hin, daß sie sich aufs Pflaster setzte.
»Welche Schande für unseren Beruf!« rief Frau Nonoggi dem jungen Druso nach, und der Schlosser Scarpetta holte aus. Aber wo waren sie hin?
Die Frau des Perückenmachers ließ die Arme sinken; denn sah es nicht aus, als wollte dort hinten ihr eigener Mann entwischen? Soeben noch hatte er sich einen Stuhl vor den Laden gestellt, wie um die Zeitung zu lesen; und nun strich er, die Klarinette fest unter dem Arm, ganz nahe an der Mauer hin, schlenkerte die Faust, als eile er einfach zu einem Kunden, und kniff doch in seinem zurückgewandten Gesicht ein Auge zu, wie immer, wenn er kein reines Gewissen hatte.
»He! Nonoggi«, – und als die Frau ihre Stimme wiederhatte, war sie ihm auch schon nach. Er murmelte und versuchte das Gesicht zu verrenken, aber das geschlossene Auge verhinderte es.
»Kein Aufheben, meine Freundin, wir müssen mitmachen, was wird sonst aus dem Geschäft? Die Kunden werden sagen: ah, Nonoggi, der Abend ist mißglückt, denn das Orchester war schlecht, und das kommt, weil deine Klarinette fehlte.«
Dabei klopfte er ihr mit dem Instrument die Wange.
»Man sagt anfangs wohl, was die Frau und der Priester wollen«, erklärte er den beiden Schlossern, die nachkamen, »aber ein Barbier hat noch andere Rücksichten zu nehmen.«
»Au!« rief seine Frau, denn sein freundschaftliches Klopfen ward immer schärfer. Plötzlich riß er zum Zeichen, daß er sich wieder wohl fühle, auch das zweite Auge auf, tat einen Satz und war in der Treppengasse.
»Wir sind verraten, man muß das Schlimmste verhüten« – und Frau Nonoggi machte sich, die Hände gerungen, hinterher. Die Zurückgebliebenen zählten einander stumm.
»Nun sind wir noch vier«, stellte Scarpetta fest; Frau Acquistapace wies, aus ihrem schwarzen Tuch hervor, unheilvoll nach der Apotheke.
»Mir soll es nicht so gehen. Er ist drinnen und macht Pillen, und ich bürge dafür, daß er weiter Pillen macht.«
Man nickte einander verbissen zu.
»Aber seht doch den tapfern, heiligen Don Taddeo!« sagte die Pipistrelli. »Soll man ihm nicht zu trinken bringen?«
Denn er hing, vom Jagen erschöpft und in der Dämmerung dort hinten ganz allein, am Rücken eines der Löwen des Doms, und mit der Hand hielt er sich die Stirn. Da näherten sich Schritte in der Treppengasse; der Advokat Belotti erschien im Frack; und schon von weitem keuchte er:
»Don Taddeo, dies Läuten muß aufhören, ich erkläre Ihnen im Namen des Komitees und der Stadtgemeinde, daß der Lärm aufhören muß.«
Auf dem ganzen Wege über den Platz schrie er immer dasselbe, als übte er sich ein, bevor es ernst ward. Endlich bemerkte Don Taddeo ihn und richtete sich auf.
›Was wollen Sie von mir?‹ schien er zu fragen: – und im Getöse des Himmels, das ihre Stimmen verschlang, sah man die beiden mit den Armen ausstoßen, die Fäuste schütteln und die Gesichter wie nach Zeugen blind umherrücken. Als die Frommen herangekommen waren, sagte Don Taddeo eben:
»Und ich erkläre Ihnen, daß es der Vorabend des Festes des heiligen Theophrastus ist, dem in der Klosterkirche eine Kapelle gehört.«
»Eine Kapelle!« schrie der Advokat. »Das ist etwas Rechtes! Und wenn Sie nun jeden Ziegel auf dem Dach einem andern Heiligen weihen würden, wie, mein Herr, dann hätten wir den Lärm alle Tage?«
Der Priester erhob verzweifelt die hohle Stimme:
»Ich verbiete Ihnen, mein Herr, sich über die Religion lustig zu machen!«
Dabei hatte er rotglimmende Augen, und seine Arme zuckten in der Luft so wild, daß der Advokat sich aus ihrem Bereich zurückzog. Dennoch schlug er die Rechte auf das steife Hemd:
»Im Namen des Komitees, vielmehr im Namen des Volkes –«
»Wer ist das Volk?« fragte der alte Fantapiè und trat breit an den Advokaten hin, der noch um zwei Schritte wich. Gleichzeitig aber holte er tief Atem.
»Das Volk bin ich!« sagte er mit Überzeugung. »Und hütet euch, daß ich nicht die ›Glocke des Volkes‹ läute!«
»Auch wir haben Zeitungen«, sagte Don Taddeo.
»Auch wir sind das Volk«, behauptete drohend Frau Acquistapace.
»Und mein Mann«, kreischte die Pipistrelli, »wird wohl mit den heiligen Glocken Gott anrufen dürfen, wenn Ihre Komödianten dem Teufel Lieder singen.«
Der Schlosser Scarpetta verhielt sich hinter der Säule ganz still; nicht umsonst hatte er von gewissen Arbeiten erfahren, die im Rathaus zu vergeben waren. Don Taddeo und der Advokat Belotti konnten beide recht haben, denn Kirche wie Rathaus brauchten einen Schlosser.
Der Advokat griff, nun ein gemessener Abstand zwischen ihm und dem Priester lag, an seinen braunen Strohhut und zog ihn im Bogen.
»So erfahren Sie denn, mein Herr, unser letztes Wort! Falls Ihr Beauftragter mit der Störung einer öffentlichen Veranstaltung, wie eine Theatervorstellung es ist, nicht aufhört, sind wir entschlossen, die bewaffnete Macht gegen ihn zu Hilfe zu nehmen.«
Dabei entfernte er sich weiter rückwärts und eilig.
Die Frommen umdrängten den Priester. Sie hatten nur eine Stimme.
»Soll man's geschehen lassen, Reverendo?«
Er überblickte ihre Zahl und strich mit der Hand flach vor sich hin.
»Das Maß wird nun bald voll sein, meine Freunde; wir brauchen nur zu warten.«
Frau Acquistapace begriff ihn.
»Wir sind leider wenige, Reverendo. Die ganze Stadt haben wir hinaufpilgern sehen. Welche Schande! Viele waren dabei, die versprochen hatten, zurückzubleiben. Was soll man von der Nonoggi sagen, die ihrem Manne nachgelaufen ist. Ob das nicht zwischen ihnen eine abgekartete Sache war?«
»Schien es doch auch mir«, machten die andern.
»Und die Jole Capitani hat es trotz allen Ihren Ermahnungen, Reverendo, kaum erwarten können. Der Advokat Belotti hat sie abgeholt, was man bei der Frau eines Arztes eigentümlich gefunden hat …«
Don Taddeo erklärte durch eine schmerzliche Geste, daß er's wisse.
»Von allen guten Familien«, schrie die Frau des Kirchendieners, »haben nur die Nardini dem Übel widerstanden … außer dem Hause Acquistapace«, setzte sie hinzu, da die Frau des Apothekers sie furchtbar ansah.
»Auch die gute, heilige Frau Camuzzi«, sagte der Schlosser Fantapiè, »bleibt der Sünde fern. Niemand wird sagen wollen, daß sie das Haus verlassen habe.«
Alle bestätigten es; nur Don Taddeo schwieg und senkte den Kopf. Denn er hatte sein Beichtkind aus dem Häuschen der Wäscherin Grattalupi in die Treppengasse schlüpfen, mit gerafften Röcken hineingleiten und hurtig verschwinden sehen. Vom Hofe des Rathauses mußte sie zu dem Häuschen hinaufgeklettert sein, obwohl die alten Stufen nur Geröll waren, und heimlich war sie der Wollust nachgelaufen. Vielleicht enthielt dann auch Wahrheit, was die Evangelina Mancafede über Frau Camuzzi und den jüngsten der Komödianten wissen wollte?
Don Taddeo fuhr auf; ein Bild, das ihm wieder vor Augen kam, machte ihn heiß und wirr.
»Wir werden alle verderben«, stammelte er, »und jene, die sie Italia nennen, ist von allem Unheil das ärgste!«
Die Pipistrelli und Frau Acquistapace nickten erbittert. Der alte Fantapiè rief aus:
»Sie ist das Weib von Babel.«
»Beim Bacchus«, bemerkte der Schlosser Scarpetta; »nachdem schon der Advokat, der Baron, der Herr Polli und, wie man sagt, auch der Knecht des Wirtes Malandrini bei der Italia daranwaren, weiß niemand, ob nicht an ihn selbst die Reihe kommt.«
Da die beiden Frauen sich wütend von ihm abkehrten, schielte er vor sich hin. Alle schwiegen, – und Don Taddeo erblickte sie, das Weib, wie er sie durch jenes Domfenster erblickt hatte, zu dem er hinaufgestiegen war, weil Pipistrelli mit der Stange eine Scheibe zerbrochen hatte. Er hatte nicht gewußt, daß sich von dort oben geradewegs in ein Fenster des Gasthauses »Zum Mond« sehen ließ; und dies Fenster war ihres, und was er antraf, war eine Umarmung. Vor Zittern hatte Don Taddeo kaum die Leiter hinabgekonnt. Noch hier im Dunkeln zitterte er, da jenes Bild wiederkehrte …
»Don Taddeo«, rief der Baron Torroni und kam rasch von seinem Hause her. »Wenn Sie Zeit haben, läßt die Baronin um Ihren Besuch bitten.«
Don Taddeo hob scheu die Stirn, grüßte, ohne den Baron anzusehen, und machte nach dem Palazzo Torroni hin Schritte, bei denen ihm die Soutane hörbar um die Beine schlug.
»Die Baronin hatten wir vergessen. Noch ein frommes Schaf zum Trost des Hirten«, sagte die Pipistrelli.
»Aber der Baron« – und man spähte ihm nach – »geht ins Theater, das sieht man, denn er hat seine Ledergamaschen ausgezogen. Die arme Baronin! Welch einen Kampf sie hinter sich hat!«
»Und jetzt ist alles aus, da jenes verdammte Komitee Gewalt anwendet!«
»Läutet Pipistrelli nicht etwa schon schwächer?« fragte seine Frau. »Ich bin sicher, daß sie ihn bedrohen!«
»Wir sind Männer«, sagten Fantapiè und Scarpetta; und Frau Acquistapace setzte hinzu:
»Bei dieser Gelegenheit sind auch wir es. Die droben sollen es erfahren!«
Sie setzte sich in Marsch. Hintereinander überquerten die vier den Platz.
»Don Taddeo hat noch Streiter«, erklärte die Pipistrelli, humpelnd; und Scarpetta rief, um sich Mut zu machen, laut in den Schatten der Treppengasse hinauf:
»Wir werden sehen!«
Als sie fort waren, entstieg den dunkeln Bogen des Rathauses der Advokat Belotti und schwänzelte zur Apotheke hinüber. Er hob den Vorhang auf und flüsterte durchdringend:
»Komm! Wir sind befreit.«
Ein rauher Freudenschrei – und der alte Acquistapace drang hervor, stelzend, daß der Platz davon hallte.
»Sst!« machte der Advokat. »Die Feinde der Kunst nicht aufwecken! Bin ich geschickt gewesen? Wie? Alles hat geklappt.«
»Und ich«, jubelte der Apotheker, »der ich unter meinem Arbeitskittel schon den schwarzen Rock anhatte!«
Sie hakten einander ein, schwenkten sich umher und tauschten Püffe aus.
»Ah! alter Esel, der du bist!«
Auf jeder zweiten Stufe blieben sie stehen und horchten nach den Schritten der andern. Der Advokat sah zurück.
»Ob auch die Hühnerlucia droben ist? Die Stadt scheint ausgestorben. Kein Mensch auf dem Platz! Doch: der gewohnte Brabrà.«
Ein Lichtschein, der sich im Schatten des Glockenturmes verlor, streifte einmal den kleinen Uralten, wie er rings um den Platz, als umgebe ihn eine unsichtbare Gesellschaft, einen weiten Gruß beschrieb.
»Heute könntest du mir bei der Italia ein wenig helfen.«
Acquistapace flehte wie ein Knabe.
»Ohnehin werde ich bald der letzte sein. Und wer so viele Frauen hat wie du –; denn man sagt, daß auch die große Gelbe dir nicht länger widerstanden hat.«
»Eh! man sagt vieles« – und der Advokat kicherte fett. »Und von Jole Capitani sagt man noch nichts?«
»Wie? du hättest –?«
»Ihr Gatte hat Zucker bei mir finden wollen: Zucker bei einem Mann wie mir! Er sieht nun, daß mich das nicht hindert –.«
»Du bist noch größer, als ich gedacht habe, Advokat.«
»Eh! … Aber sprechen wir von etwas Ernstem. Wieviel Zeit gibst du dem Priester noch?«
»Nicht lange. Deine Artikel in der ›Glocke des Volkes‹ werden gewirkt haben.«
»Also du glaubst. Ich sage dir, ich –«
Der Advokat setzte sich den Finger auf die Hemdbrust.
»– daß Don Taddeo keine acht Tage mehr hat. Die Loge, mein Lieber, ist durch mich auf die Sache mit dem Schlüssel aufmerksam gemacht worden. Auch habe ich an den Bischof geschrieben über die Revolte in Borgo und habe ihn von der Beteiligung des Don Taddeo an jenem Aufstand des Aberglaubens unterrichtet.«
»Aber er –«
Der alte Garibaldiner spreizte entsetzt die Hand.
»– er war's gerade, der den Bauern widersprach: nein, sie hat nicht die Augen bewegt, eure Madonna – und fast hätten sie ihn gesteinigt.«
Der Advokat zuckte mit den Schultern und zog die Lippen von den Zähnen.
»Ist er der Feind, ja oder nein? … Und wollen wir die ›Arme Tonietta‹ sehen?«
»Das wollen wir: ah! das wollen wir.«
Der Apotheker schwang sein Holzbein über die letzten Stufen.
»Sst!« machte der Advokat. »Die Beleuchtung ist nicht glänzend; was will man, unsere ganze Kraft mußten wir auf das Innere des Theaters verwenden; aber ich übersehe dennoch die Lage. Deine Frau befindet sich nicht unter dem Volk, das den Palast der Frau Fürstin belagert und auf die Ouvertüre wartet; sie ist in dem Haufen abergläubischer Aufrührer, dort hinten unter den Mauern des Klosters. Haben sie nicht alle die Köpfe im Nacken, als kämen statt des Lärmes vom Glockenstuhl Makkaroni geflogen? Eh! sie haben keine Zeit, uns zu erwischen, und sogleich werden wir dich in meine Loge gerettet haben, armer Freund … He! ihr Leute, man muß die durchlassen, die bezahlt haben.«
»Wir wollen auch hören«, antwortete das Volk.
Unter dem Bogen neben dem Palast brannte eine elektrische Lampe.
»Um so besser«, – und der Advokat kletterte in seinem Frack, der von der Anstrengung in den Nähten krachte, das Geröll hinan; »da die Lampe gerade hier angebracht ist, sieht man doch, wohin man tritt. Es ist fast unbegreiflich, daß diese Leute auch jetzt noch fortfahren, den Eingang des Theaters für ihre Bequemlichkeit zu benutzen. Man muß wirklich wenig Erziehung haben …«
»Die Gänge wenigstens habt ihr gut beleuchtet, Advokat, man müßte sonst fürchten, sich das letzte Bein zu brechen; – und welch stolzer rote Vorhang das Parterre verdeckt! Die goldenen Quasten!«
»Mancafede hat ihn uns geliehen. Er wollte ihn anfangs nur verkaufen; wir mußten drohen, seine Konzession für die Diligenza nach Cremosine zu hintertreiben. Welch alter Spitzbube!«
Sie betraten den engen Gang um die Logen.
»Guten Abend, Vater Corvi!« – und da der Schließer die Hand hinhielt: »wir haben keine Eintrittskarten, aber Ihr wißt, daß die Loge mir gehört.«
»Unmöglich, Herr Advokat. Die Loge gehört Ihnen; aber damit ich Sie hineinlassen kann, müssen Sie den Eintritt bezahlen, und auch der Herr Acquistapace muß ihn bezahlen.«
Der Alte blinzelte aus seinem ungeheuren roten Gesicht die Herren zynisch an, und sein Bauch versperrte ihnen den Durchgang.
»Keine Dummheiten, Corvi«, sagte der Advokat. »Ihr wißt wohl, daß Ihr Euch um die Stelle bei der öffentlichen Waage bewerbt.«
»Mag sein, Herr Advokat, und ich rechne dabei auf Ihre Protektion; aber ich kann die zwei Lire für Ihren Eintritt nicht aus meiner Tasche bezahlen, denn ich habe sie nicht.«
»Wenn Ihr nicht dreimal Bankrott gemacht hättet« – und der Advokat begann zu tanzen und die Luft zu klopfen, »dann brauchtet Ihr heute abend die Leute nicht um Karten zu belästigen.«
»Gott hat es so gewollt«, sagte der Alte, indes der Advokat enteilte.
»Treten Sie inzwischen nur ein, Herr Acquistapace, ich rechne auf Ihre Empfehlung für die öffentliche Waage.«
In der Loge traf der Apotheker die Witwe Pastecaldi mit der kleinen Amelia; aber er drückte die Hände nur stumm, denn vor Glanz und Menschenmenge fand er sich im Saal nicht zurecht. Einen solchen Saal hatte es doch in der Stadt gar nicht gegeben! Ein Feuerreif lief um die Ränge, und die Bogenlampe unter der Decke warf ein so wildes Licht umher, daß man nicht sah, wer dahinter saß.
»Ah! was für ein alter Narr jetzt dort unten hereingekommen ist!« rief es ganz oben, und der Apotheker errötete, denn er hatte die Stimme der Magd Felicetta erkannt, auf die er, bevor seine Frau sie nach Don Taddeos Wunsch entließ, verstohlen ein Auge geworfen hatte. Es war ihr also doch nicht entgangen! Er mußte hinauf schielen: Felicetta lachte ihn fortwährend an, indes sie sich über das Ohr ihrer Nachbarin beugte. Und die Nachbarin war Pomponia, vom Kaufmann Mancafede, die ärgste Klatschbase!
Die beiden enthüllten der linken Galerie die Skandale der Stadt. Felicetta durfte nicht mehr wissen, als die Vertraute der Unsichtbaren, die alles wußte; und wenn Felicetta mit einer Geschichte kam, erwiderte Pomponia mit zwei. Die Frau des Schneiders Chiaralunzi saß ohne Scham auf einem Sessel, und doch hatte sie ihn nur bekommen, weil ihr Mann der Liebhaber der Komödiantin war, die bei ihnen wohnte. Der Baron Torroni tat wohl daran, seine Frau nicht mitzubringen, da seine Loge gleich neben der Bühne lag und er es sich gewiß nicht würde entgehen lassen, mit seiner Geliebten, jener anderen Komödiantin, Zeichen auszutauschen. Schräg über dem Baron wartete die Frau des Doktors Capitani (und der hatte bei dem Tischler in Via del Torchio, der dreimal Witwer war, eine schwarze Leber gefunden!) auf ihren Nello: den schönen Nello; und solange jener hinter dem Vorhang blieb, konnte sie mit den jungen Herren kokettieren, denn natürlich hatte sie es so eingerichtet, daß sie neben der Loge des Klubs saß. War es zu glauben, daß Mama Paradisi die ihre neben dem Mancafede hatte? Und immerfort steckte er den Kopf unter ihren Hut, der auf allen Seiten an die Logenwände anstieß, so groß war er. Wenn noch diese Alten Ärgernis erregten, waren armen jungen Leuten ihre Sünden zu verzeihen. Die Rina vom Tabakhändler hing in einem Drunter und Drüber von Schulkindern vom höchsten Geländer und starrte immer auf den leeren Platz des Maestro. Welche Dummheit, gerade diesen Künstler zu lieben, der sie mit all den Weibern vom Theater betrog!
»Rina! Nicht hinunterfallen!« riefen alle.
»Sie hört nicht; hier ist ein Lärm –!« Der Gevatter Achille schreit aus einer Loge wie ein Stier hinter seinem Kellner her: »He! Nonò, bist du es? Ich will zu trinken. Ist das eine Art, daß nur die Herrschaften bedient werden?« Keine Möglichkeit. Sie stimmen ihre Instrumente. »Dieser Nonoggi trillert wie eine Ziege; aber der Tapezierer Allebardi brüllt mit seinem Bombardon, daß die Toten sich rühren … Ah! das Fräulein Zampieri: sie wird also wirklich die Harfe spielen. Man hätte nicht geglaubt, daß ein Mädchen es wagen würde. Soll man pfeifen?«
»Die Arme, wie sie hübsch ist!« sagte der Michele vom Schlosser Fantapiè. Der Bäckergeselle Carlino setzte hinzu:
»Es scheint, daß sie und die Mutter kein Geld haben, denn sie konnten meinen Herrn nicht bezahlen; und vom Harfenspiel sollen die Finger der Nina blutig sein.«
»Ah, Nina, du Liebe!« riefen die Mädchen. »In ihrem weißen Kleid, wie sanft sie lächelt! Wer ist es, der mit ihr spricht? Der mit der Geige und den langen schwarzen Haaren? … Der Mandolini von der Volksbank: er ist verliebt in sie, möge sie glücklich werden! … Aber er ist tatsächlich verrückt geworden, der schöne Alfò, er haut auf Pauke und Becken ein, als wären alle nur gekommen, um ihn zu hören.«
»Er versteht nichts, der Arm; er ist dort hingestellt statt des Vittorino Baccalà, des Tischlers, der nicht kommen durfte wegen des Don Taddeo.«
»Meinem Onkel Coccola hat Don Taddeo gedroht, seine Gicht werde ihm ans Herz greifen, wenn er ins Theater gehe.«
»Und damit wir andern nicht vom Teufel geholt werden, läßt er läuten. Sie werden nicht anfangen können, solange es läutet. Niccolo, schließe doch das Fenster hinter dir!«
»Die Fenster sind alle geschlossen; es ist übernatürlich, wie laut man die Glocken hört. Vielleicht hat er recht, Don Taddeo.«
»Es ist Ostwind, das ist alles; und man muß eine Demonstration gegen den Priester machen. Nieder mit den Priestern!«
»Ruhig dort oben!« rief man aus dem Parterre zur Galerie hinauf. Die Buben um den weißen Konditorjungen antworteten mit Pfeifen. In der Loge des Klubs wurde geklatscht, und darauf lachten in anderen Logen die Frauen auf. Der kleine alte Giocondi beugte sich rückwärts aus seiner und rief, an der des Salvatori vorbei, zur Galerie hinauf:
»Hast du mitgeschrien, Klothilde?«
Seine Magd rief zurück:
»Wir haben geschrien: Es leben Don Taddeo und die Komödianten!«
»Brav, Klothilde! Und schreie auch: ›Es lebe die Familie Salvatori!‹«
Die Logen waren belustigt.
»Ah, der Spaßvogel von Giocondi! Der Salvatori hat ihm seine Zementfabrik abgenommen, und so rächt er sich nun.«
Der Salvatori mußte sich wohl verbeugen, denn manche klatschten ihm lachend zu. Auch der Steuerpächter Vallesi, in seiner Loge ganz vorn über der des Advokaten Belotti, verneigte sich fortwährend vor allen guten Zahlern: zuerst geradeaus vor dem Baron Torroni, weiterhin vor Mancafede, dann um die Ecke, an der dritten leeren Loge vorbei, nach dem Wirt Malandrini hin – und plötzlich quer hinüber zum Doktor Ranucci, der sich rasch vor seine Frau stellte. Das Stehparterre lachte, und Galileo Belotti, der Bruder des Advokaten, sagte laut zu den Bauern um ihn her:
»Er ist glänzend, der Doktor, sich einzubilden, man hätte Lust, ihm sein häßliches Weib wegzunehmen. Mir fehlte nichts weiter! Kommt man mit einem Furunkel zum Ranucci: die Frau sitzt immer im Wartezimmer, denn sie scheint ihm am sichersten, wenn mehrere dabei sind. Jeden Augenblick streckt er den Kopf herein – und gibt ihr nur die Hand, da drängt er sie zurück und tanzt vor ihr herum: Pappappapp …«
Galileo nahm die Stimme an, mit der nach seiner Meinung alle außer ihm sprachen.
»Sieht man sie noch ein wenig an, ist's sicher, daß er einem zwei Beine abschneidet statt eines. Man sollte etwas unternehmen, um ihm seine alberne Eifersucht abzugewöhnen.«
Derselben Meinung war der dicke Zecchini, der den Basar gehabt hatte und jetzt alle seine Habe in seinem Bauch umhertrug. Er versprach, sein Freund Corvi werde etwas ausfindig machen für den Chirurgen, und die Zechgenossen, die mit ihm waren, freuten sich schon: da wich das ganze Stehparterre auseinander.
»Ja, was denn … Mir scheint, ich träume … Das muß ein Scherz sein.«
Aber sie hielten ihren Einzug so zuversichtlich, als wäre es der Salon der Via Tripoli gewesen: Raffaella, Theo und Lauretta, gedeckt von Mama Farinaggi. In den Logen fuhr alles auf, einen Augenblick war es still, und man hörte nur Galileo Belotti, der sagte:
»Guten Abend, die Gesellschaft!«
Da brach oben und unten das Gelächter los. Die Musiker im Orchester standen auf und wollten die Damen kommen sehen. Sie kamen durch alle Leute bis zur ersten Sesselreihe, wo noch die drei Plätze frei waren. Der Serafini nahm aus Bestürzung nicht sofort seinen Hut von dem Stuhl der Raffaella; sie mußte ihm erst einen gemalten Blick zuwerfen, den er kannte und der ihn schon manchmal zu Handlungen bewogen hatte. Er verbeugte sich.
»Bravo, Serafini!« rief es von oben, und Coletto, sein Lehrling, pfiff auf den Finger.
Die Mama Farinaggi machte Versuche von mehreren Seiten, um ihre Formen auf ihren Sessel in der zweiten Reihe zu schaffen. Zuletzt traten der Stadtzolleinnehmer Loretani und die beiden Fräulein Pernici samt dem Leutnant Cantinelli in den Gang hinaus, um sie durchzulassen. Der Leutnant legte sogar die Hand an den Helm. Der Kellner des Gevatters Achille drängte hinzu, um seine Fruchtsäfte anzubieten, und alle diese Personen verstopften den Gang, so daß der Schuhmacher Malagodi mit seiner Frau ihre Plätze in der ersten numerierten Bank nicht erreichen konnten. Sie tauschten mit dem Bäcker Crepalini abfällige Bemerkungen aus – indes Mama Farinaggi kleine Kreischtöne von sich gab, weil ein Pächter von jenseits des Ganges sie kniff. Dazu schrie es von der Galerie:
»Lauretta hat den schönsten Hut!«
Und:
»Raffaella, du hast mich mit einem andern betrogen!«
Die dicke Lauretta sah nicht einmal auf, sie steckte sich etwas in den Mund; Theo zeigte den Herren vom Klub, die mit zwei Fingern applaudierten, die Zungenspitze; Raffaella aber musterte ringsum die Frauen, wie eine fremde Dame. Jede, die sie angesehen hatte, neigte sich zur nächsten, und ohne Raffaella aus dem Auge zu lassen, sagten sie sich ein Wort: »Skandal!« Es klapperte von Loge zu Loge: »Skandal!«, sprang über den Rang: »Skandal! Skandal!« – und die Männer im Stehparterre riefen: »Skandal! Skandal!«, und mit ihren Stöcken stießen sie den Takt. Mama Farinaggi drückte sich wieder, ganz einknickend auf ihrem Sessel, die Hand in den Busen und sandte beteuernde Blicke nach allen Richtungen. Trotzdem saßen die beiden Fräulein Pernici, aus Angst, sie zu berühren, aufeinander und drehten die Hälse umher, wie Hennen in Not, und Frau Camuzzi in ihrer Loge gleich neben den drei Mädchen bog sich langsam zur Seite, um auszuspeien. Darauf rückte sie ihren Stuhl ganz nach rechts und sah unverwandt ins Orchester. Der Severino Salvatori, der sein Monokel im Parkett umherführte, kam und stellte sich zwischen sie und die drei.
»Danke, mein Herr«, sagte Frau Camuzzi mit ihrer sanften Stimme, »danke für Ihre Aufmerksamkeit. Mein Mann verspätet sich, aber wer konnte denken, daß in diesem Theater eine anständige Frau nicht sicher vor Beleidigungen sein würde. Don Taddeo hat also recht, uns diese Vergnügung zu verbieten und die Glocken läuten zu lassen, wie zum Jüngsten Gericht.«
»Es ist ein wirklicher Skandal, gnädige Frau, und die ganze Schuld trägt der alte Säufer Corvi, der diesen Damen die Billetts verkauft hat.«
»Ah! – und mein Mann wollte ihn bei der öffentlichen Waage anstellen. Er wird nicht mehr angestellt werden.«
»Sie sind streng, aber gerecht, gnädige Frau.«
Auch sonst mußte man sich über die Zusammensetzung des Publikums beklagen. Die Familie eines der Komödianten saß auf den vordersten der numerierten Plätze. Dann freilich konnte man dem Bäcker Crepalini nicht verdenken, daß er für sich und die Seinen eine Loge beansprucht hatte.
»Wir haben Mühe genug gehabt«, erklärte der junge Salvatori, »den Streich abzuwenden, den der Mittelstand uns zudachte. Zuerst haben wir die Leute glauben gemacht, jene berühmte dritte Loge rechts gehöre dem Hause Nardini; und als die Abneigung des alten Nardini gegen das Theater bekannt geworden war, hielten wir sie mit dem Präfekten hin, der vielleicht kommen würde. Auf diese Weise ist die Loge nun leer geblieben, und mehr war nicht zu erreichen. Die Filiberti und mehrere andere gute Familien haben auf eine Loge verzichten müssen, aber wenigstens hat auch dieser Bäcker keine.« Von rechts und links beugten die Herren Torroni und Mancafede sich herzu.
»Aber dieses Läuten! Man versteht einander nicht mehr. Sollte man nicht etwas tun, um ein Ende zu machen?«
»Für nichts in der Welt«, sagte Frau Camuzzi. »Ich würde sofort nach Hause gehen.«
»Aber Sie sind doch gekommen, die Komödianten zu hören und nicht diese Glocken.«
»Ich bin bereit, beide gleichzeitig anzuhören. Man muß die weltlichen Pflichten mit den religiösen in Einklang bringen.«
Sie fächelte sich stärker: sie ward beleidigt durch das Benehmen dieser kleinen Zampieri, die sich hinter den goldenen Saiten ihrer Harfe weiß Gott welche Wichtigkeit gab und über den armen Mandolini hinweg, dessen sie ganz sicher schien, mit allen Männern kokettierte.
»Zu denken, daß der alte Mandolini in dem Augenblick starb, als er Präfekt werden sollte – und sein eigener Sohn opfert seine Zukunft einer kleinen Intrigantin!«
Die Herren gaben Frau Camuzzi recht; – aber man bemerkte, daß eine halbe Stille im Saal entstand und daß die Ursache der Advokat Belotti war, der in der Loge des Unterpräfekten heftig flüsterte. Auch der so maßvolle Herr Fiorio schien erregt. Schließlich breitete er die Arme aus, als könne er irgend etwas nicht länger verhindern, und da stürzte der Advokat aus der Tür … Plötzlich wallte der Saal auf. Was ging vor? Das Theater sollte wieder geschlossen werden, weil Don Taddeo die Regierung für sich hatte? Welch ein Übergriff! »Wir sind recht sehr zurück in Italien!« Bekam man wenigstens sein Geld heraus? … Alle die Stimmen sanken sogleich wieder in sich zusammen, denn nun sah man den Advokaten ins Parterre hasten. Der Leutnant Cantinelli war schon aufgestanden und ging sogleich, rasch und gemessen, hinter dem Advokaten her. »Fontana! Capaci!« rief er halblaut, und seine beiden Untergebenen verließen ihre Posten zu beiden Seiten des Einganges, um ihm zu folgen. An der Spitze der bewaffneten Macht, die ihre großen Federn trug, die Rockschöße breit in Rot gefaßt hatte und verhalten klirrte, zog durch die sich teilende Menge, in die Brust geworfen, daß das steife Hemd knackte, der Advokat Belotti: Er sah voll Entschlossenheit geradeaus, und niemand wagte ihn etwas zu fragen.
»Welch eine Persönlichkeit, der Advokat!« bemerkte der Kutscher Masetti, der von der Macht an die Wand des Ausganges gedrückt worden war; und der Barbier Bonometti setzte hinzu:
»Ich wußte wohl, er sei ein großer Mann.«
Dabei drängte er mit den andern hinterdrein.
»Was denn«, rief Galileo Belotti und stemmte sich gegen die Flut. »Was wollt ihr denn? Wißt ihr nicht, daß der Advokat ein Buffone ist? Pappappapp! Das fehlte noch, den Advokaten ernst zu nehmen!«
Aber seine eigenen Freunde, die Bauern, stießen ihn in den Rücken; er mußte Platz machen; und schon stürmte draußen über die Treppen hundertfaches Getrappel. Mama Paradisi hatte sich in ihrer Loge erhoben, rechts und links eine Tochter unter das weitläufige Dach ihres Hutes gezogen, und wartete, ob man sich flüchte. Der Kaufmann Mancafede versprach ihr – und in der allgemeinen Aufregung legte er die trockene Hand aufs Herz – im Falle der Gefahr seine Person als Deckung. Die Witwe Pastecaldi bat flehentlich ihren Nachbar, den Apotheker, er möge ins Orchester rufen und ihren Sohn warnen, der den Baß strich.
Acquistapace antwortete:
»Es ist nichts, Signora, der Advokat bringt nur den Don Taddeo zum Schweigen.«
»Der Advokat bringt den Don Taddeo zum Schweigen«, wiederholte die junge Amelia Pastecaldi, albern träumerisch und himmelte aus ihrem steifen Mullkleid hervor.
In der Loge der Frau Mandolini beugte sich der blinde Kopf des alten Literaten Ortensi.
»Beatrice«, sagte er und kicherte, »man bringt den Priester zum Schweigen. Das erinnert an die guten Zeiten.«
»Wir sind noch am Leben, Orlando«, sagte die Alte, steif aufgerichtet, mit tiefer Stimme, und zwischen ihren weißen Haarrollen lachten in ihrem langen weißen Gesicht nur die schwarzen Augen.
»Nicht möglich!« rief nebenan der Tabakhändler Polli und lief hinaus. Die Haushälterin des alten Ortensi hängte sogleich ihre üppige Hand über die Logenwand, und als der junge Olindo Polli zitternd daran streifte, wendete sie ihm ein gebieterisch laszives Gesicht zu, vor dem ihm der Schweiß ausbrach. Die beiden Fräulein Giocondi sahen trotz der Wirrsal des Hauses alles, was vorging, und feindselig stießen sie einander an.
»Alle wie Papa«, sagte Cesira und wendete sich um. Hinter ihnen hielt ihre Mutter das schmutziggraue Haupt gesenkt und schlief wohl schon wieder. »Mit solchen Weibern machen sie die Familien unglücklich, die Frau wird aussehen wie Mama, und wir verheiraten uns nicht.«
»Ich habe es satt, mich zu verheiraten«, sagte die entlobte Rosina. Da ging die Logentüre, und der alte Giocondi schwenkte seinen lustigen kleinen Bauch herein. Die Augen funkelten ihm.
»Alles geht gut«, rief er und machte mit der Hand einen freigebigen Bogen. »Sie holen Pipistrelli vom Glockenturm herunter. Ihr sollt Gefrorenes haben, und wollt ihr einen Marsala? Ah, Mädels, küßt mich, erst seit gestern habt ihr euren Papa zurück.«
»Ich wußte, du würdest kommen: Blut ist dicker als Wasser«, jubelte Cesira und wiegte sich in seinem Arm. Die entlobte Rosina, die er in ihrer Schande unbeachtet ließ, sah weg und dachte: ›Da läßt die Gans sich streicheln und schreit! Als ob man davon eine Mitgift bekäme! Was die Versicherungsgesellschaft dem Papa gibt, dient ihm auf den Geschäftsreisen zu seinem Vergnügen; Mama und wir müssen uns mit Pensionären durchbringen; und hat man endlich einen kleinen Beamten zum Heiraten, dann reißt er nach dreijährigem Warten wieder aus, weil Papa nie etwas für die Einrichtung zurücklegt …‹
»He, Zecchini, wie steht es?« rief ihr Vater ins Parterre. »Er läutet also immer noch?«
»Der Advokat fordert ihn gerade zum letztenmal auf: dann dringt die Macht in den Turm!« – und der alte Schenkenheld stieß mit seinem Bauch alle beiseite, um wieder hinauszugelangen. Andere kehrten mit Botschaften zurück, die sie in die Logen riefen. Die Frommen hielten den Glockenturm umringt, aber der Advokat hatte sie in die Flucht getrieben! Die Nonnen, deren weiße Flügelhauben aus den Fenstern des Klosters sahen, hatte er gezwungen, sich zurückzuziehen, weil ihr Anblick zum Aufruhr reize! Von draußen kam Siegesgeschrei, dann das stille hastige Geraschel einer Menge, die zurückweicht, und wieder Lärm triumphierenden Volkes. Da stieg vom Parterre zur Galerie rauschend ein »Ah!«
»Es hat aufgehört! Bravo! Nieder mit den Priestern!«
Jemand rief:
»Es lebe der Advokat!«
»Was denn? Welcher Advokat?« – und Galileo Belotti arbeitete sich ab mit Schultern und Armen. Im selben Augenblick ging das Läuten wieder an.
»Da habt ihr's!« schrie der Bruder. »Wenn ich euch doch sage, daß er ein Buffone ist, der Advokat! Pipistrelli wird ihm vom Turm herab etwas auf den Kopf –«
Er war nicht mehr zu hören, denn plötzlich brach draußen ein Geheul, Pfeifen und Gebrüll los, daß den Damen in den Logen der Atem stillstand. Frau Camuzzi bekreuzigte sich.
»Don Taddeo hatte recht. Wenn es noch einmal gut ginge!« – und der Kaufmann Mancafede schielte, ganz weiß, hinter sich nach seinen beiden Kommis, die vor Müdigkeit an der Wand lagen.
»Das ist das Ende von allem. Man sollte das Volk nie entfesseln. Zuerst scheint es nur gegen die Priester zu gehen, und dann, gute Nacht, handelt sich's um unsere Logenplätze und unser Geld.«
»Mein Gott, wohin nun«, seufzte drüben die Witwe Pastecaldi, die vom Apotheker Acquistapace allein gelassen war; »wir Frauen sind hier geopfert.«
Die alte Mandolini sagte neben ihr, tief und ohne sich zu regen: »Keine Furcht vor dem Volk haben, meine Liebe! Das Volk ist hochherzig. Als mein Mann in Cesena erschossen werden sollte, drängte ein Stoß des Volkes die Soldaten des Papstes auseinander, und in der Verwirrung nahm ein Gerber namens Sciaccaluga die Stelle des Verurteilten ein. Aus Furcht, noch einmal gestört zu werden, erschossen sie ihn sogleich und ohne näher hinzusehen; Mario aber entkam. Jenes Volk liebte ihn, weil er es geliebt hatte.«
»Was wollen sie nur?« fragte Rosina Giocondi und führte in ihrem Gesicht, das weich und durchsichtig wie Gelatine war, die blanken Kugelaugen über die Menge. Die Leute waren aufgesprungen, sie schrien durcheinander! Sie klatschten, zischten und brüllten die Zischer nieder! Was kam auf die Priester an, denen sie Tod wünschten? Wozu war der Advokat Belotti, den sie hochleben ließen, denn nütz? »Weder der Belotti noch Don Taddeo werden mich heiraten, und Amadeo hat sich versetzen lassen.«
Man konnte sich überzeugen, daß die Glocken schwiegen: der Lärm legte sich. Denn vorn links stand der Advokat Belotti hinter der Brüstung seiner Loge; sein steifes Hemd war in Falten gebrochen, die Perücke saß ihm schief, und mit seinem braunen Strohhut gab er Zeichen, er wolle reden. Zuerst ließ das Herz, das in den Hals schlug, nur heisere Ansätze hinaus. Dann kam ein Ausspruch.
»Endlich können wir sagen, daß wir frei sind.«
»Bravo!« – und der Advokat machte Kratzfüße vor Galerie, Parterre und Logen. Darauf fiel er dem alten Acquistapace in die Arme und keuchte:
»Ich bin glücklich, o Freund, aber es ist gleich, draußen ging es heiß zu. Deine Frau war eine der Gefährlichsten. Sie wollte hier eindringen, zum Glück hat Corvi die Logen verteidigt; ich werde ihm die Stelle bei der öffentlichen Waage verschaffen.«
»Der Advokat bringt den Don Taddeo zum Schweigen«, flüsterte die junge Amelia, mit ungleich geröteten Wangen.
»Es lebe der Advokat!« schrie die Galerie.
»Aber jenes Wort hat Garibaldi gesprochen«, sagte der Gemeindesekretär Camuzzi; und über ihm, in der Klubloge, verlangte man ironisch die Hymne an Garibaldi. Darauf wollte der Apotheker Acquistapace sie im Ernst hören. In der Gewißheit, seine Frau werde nicht bis zu ihm vordringen, schrie er sich dunkelrot, und neben ihm klatschte die alte Mandolini.
Jemand im Parterre zischte: es war der Bäcker Crepalini.
»Zur Tür!« rief die Galerie.
»Wie?« antwortete er und hielt sein Bulldoggengesicht hin. »Ich habe sechs Plätze bezahlt, die kosten mehr als eine Loge, und ich sollte nicht meine Meinung sagen?«
»Er hat recht, der Bäcker«, sagte droben der Schlosser Fantapiè zum Schlosser Scarpetta, und beide sahen sich drohend um.
»Ihr möchtet eine Tracht Prügel?« fragte ein Mann im Fuhrmannskittel sie und warf alle zur Seite, um heranzugelangen. Im Orchester schlug der Schneider Chiaralunzi mit seinem Horn gegen die Rampe.
»Die Hymne!«
»Sieh mal an!« sagte der Baron Torroni zu Frau Camuzzi. »Wir werden dem da nichts mehr zu tun geben.«
»Die Galerie wird einbrechen von dem Getrampel«, jammerte der Kaufmann Mancafede, »und uns auf die Köpfe fallen. Der Advokat war ein Narr mit seiner Hymne.«
»Das alles ist nicht gut«, – und Frau Camuzzi drückte sich in den Schatten. »Was wird Don Taddeo sagen?«
Auch Raffaella, Theo und Lauretta hatten die Tücher vor den Mund gedrückt und betrachteten mit Angst und Mißbilligung die Wellen, die dort oben und dort hinten das Volk schlug.
»Was denn! Was für eine Hymne? Pappappapp!« machte Galileo Belotti immer wieder; und im Orchester ahmte der Barbier Nonoggi den Hahn nach. Plötzlich hatte ihn seine Frau am Kragen und schüttelte ihn.
»Auch du hast die Hymne verlangt, du Heide!«
Man lachte. Auf der Galerie klatschten Felicetta und Pomponia sich die Schenkel und kreischten. Frau Salvatori und Frau Malandrini streckten gleichzeitig den Fächer aus nach der Loge der Jole Capitani. Alle sahen hin, sogar die alte Mandolini nahm ihr Lorgnon.
»Der Advokat ist bei der Jole«, sagte man rundum. »Es ist also wahr … Wie entzückt sie ihn betrachtet! Sie hat den Kopf verloren, die Arme.«
»Signora«, sagte der Advokat, »ich bin gekommen, um die Huldigung, die dieses Volk mir darbringt, Ihnen zu Füßen zu legen.«
Sie rückte weich den Hals und schielte hinaus, voll Furcht und Begier, daß man sie sehe.
»Hätte ich nur ein Pflaster da«, sagte sie girrend, »für Ihren Finger, der blutet.«
Der Advokat hatte sein Stichwort, er trat vor.
»Mitbürger!« schrie er, und vor Anstrengung hob er sich auf die Fußspitzen; »der Kampf um die Freiheit hat auch bei uns wieder einmal Wunden gerissen: jetzt wird, wie ihr es verlangt, die Hymne erschallen, die den Helden der Freiheit begrüßte, sooft er –«
»Was denn! Welche Hymne?« keifte Galileo Belotti.
»Ich brauche keine Hymne!« rief der Bäcker Crepalini. »Ich brauche eine Loge, für sechs bezahlen und keine Loge!«
»Ihr habt gesprochen, ich kenne meine Pflicht«, schrie der Advokat.
»Nichts kennst du, Buffone!«
Der Advokat fuhr zusammen; auf einmal schien der ganze Saal der Meinung seines Bruders. Sie lachten, sie jubelten böse; da: ein Pfiff … Fahl, mit lautlos plappernden Lippen und eiligen kleinen Dienern, zog der Advokat sich zurück. Die Frau des Arztes sah ihm voll Grauen nach, bis er mit einem letzten Kratzfuß die Tür der Loge schloß.
»Was ist denn geschehen?« fragte er draußen und wischte sich die Stirn. »Was haben sie plötzlich? Soeben huldigten sie mir doch? Wer steckt dahinter? … Und die Jole, die ich schon zu haben meinte! O treuloses Glück!«
Er stieß, dahinschwankend, an die Wände des Ganges. Eine Tür konnte aufgehen, und man sah ihn in seiner Schwäche! Er hastete die Treppe hinab, wäre gern ins Freie geflüchtet – aber vor dem Theater wartete wieder nur übelwollende Neugier des Gefallenen! Auf den Zehen schlüpfte er in den linken Korridor, öffnete verstohlen seine Loge … Seine Schwester sagte eben zum Apotheker:
»Immer mit den Frauen, der Advokat! Wenn er Minister wäre, er würde nur immer alles tun, was sie wollen, und das wäre sein Unglück … Da ist er!«
Sie lächelte ihm mit schmollender Bewunderung entgegen.
»Da hast du's, Advokat! Natürlich haben sie sich geärgert, weil du bei einer schönen Frau warst. Ich habe dir's immer gesagt: die Frauen werden dir zum Verhängnis.«
Der Freund Acquistapace drückte ihm die Hand, aber der Advokat ließ sich ächzend auf das unbeleuchtete Ende der Bank nieder.
»Der Advokat bringt Don Taddeo zum Schweigen«, sagte es neben ihm verzückt, und seine Nichte Amelia himmelte ihn an. Er nickte ihr zu, wie man in schwerer Stunde auf ein sanftes Wasser hinabnickt, auf eine Blume, die zart duftet, auf irgendein harmloses Stück unbewußter Natur.
»Die Gunst des Volkes«, sagte er, »ist wechselnd. Noch jeder große Mann hat es erfahren.«
Über ihm gingen leise Schritte: der Unterpräfekt, Herr Fiorio, kehrte in seine Loge zurück. Die Bürger wiesen anerkennend darauf hin; er hatte als Staatsmann gehandelt, indem er dem Zwist der Parteien aus dem Wege gegangen war. Das Volk auf der Galerie fand ihn feige: mehrere zischten; aber da rief die launige Stimme des Herrn Giocondi:
»Und die ›Arme Tonietta‹?«
»Freilich, die ›Arme Tonietta‹«, antwortete die Galerie, und im Stehparterre setzte Galileo Belotti hinzu:
»Genug mit den Buffonen!«
»Maestro! Maestro!«
»Es ist halb zehn, wir warten eine Stunde«, stellte der Kaufmann Mancafede fest. Drüben sagte Frau Polli:
»Diese Komödianten machen sich über uns lustig.«
Um ihr gefällig zu sein, pfiff ihr Mann. Darauf pfiff es in allen Winkeln.
»Wir wollen die ›Arme Tonietta‹!«
›Was liegt mir an der »Armen Tonietta«‹, dachten der Advokat Belotti und die entlobte Rosina Giocondi.
»Maestro! Maestro!«
Plötzlich erschien er in der kleinen Tür unter der Bühne.
Man klatschte ironisch, man machte »Ah!«
Er hielt die Hände ungeschickt vor sich hin, hastete gebückt und war äußerst bleich.
»Der arme junge Mensch!« sagten die Damen.
›Die Kanaille!‹ dachte er. ›Sie weiß nicht, was für eine Stunde sie mir bereitet hat. Sie treiben ihren Unfug eine Stunde lang – indes ich hinter einer dunklen Kulisse stehe und leide wie ein Tier. Dann lassen sie mich kommen, indem sie pfeifen …‹
Er kletterte auf seinen Drehbock, klopfte mit dem Stock auf und sah, an den Spitzen seines Kinnbartes reißend, im Orchester von einem zum andern.
»Nonoggi, man spricht nicht mehr, wenn ich da bin! … Herr Zampieri, geben Sie Obacht auf ihre Quinten!«
›Er wird sich vergreifen, wie gewöhnlich‹, dachte der Kapellmeister. ›Alle denken an etwas anderes, diese Aufführung ist unmöglich, warum lege ich den Stab nicht hin und gehe. Wenn man dieses Publikum ansieht –‹
Er mußte sich nach ihm umwenden.
›– für wen hat dann der Maestro Viviani seine Oper geschrieben? Wir sind wenige, und wir sollten in der Einsamkeit leben. Kein Volk ist, das uns hört …‹ »Alfò!« flüsterte er wild, »wenn du deine Pauke nicht ruhig hältst, weiß ich nicht, was ich tue!«
Ganz sanft fügte er hinzu:
»Lieber Mandolini, ich empfehle mich Ihnen.«
Er ließ seine Bartspitzen los und breitete die Hand aus. Sie lag in der Schwebe; auf der anderen Seite schwebte der Stab. Der Kapellmeister hielt den Atem an; und sein Drehbock schien ihm, inmitten einer ungeheuren Stille, in die Luft gehoben.
›Es wird nicht gutgehen, es wird noch etwas dazwischenkommen!‹
»Die Hymne!« schrie von der Galerie eine betrunkene Stimme. »Wir wollen die Hymne!«
»Zur Tür! Zur Tür!«
»Allebardi, Sie werden mich kennenlernen!« – und der Kapellmeister fuhr so furchtbar verzerrt vom Sitz, daß der Tapezierer sich, die Augen niederschlagend, mit seinem Bombardon wieder zurechtsetzte.
… Und endlich konnte der Stab sich senken.
»Was denn, Präludium!« murrte Galileo Belotti. »Wir sind gekommen, um zu sehen!«
Und als werde sein Befehl ausgeführt, ging schon nach zwei Takten der Vorhang auseinander.
Die Galerie hielt den Atem an. Allmählich wisperte sie.
»Was wollen sie? … Sie wollen Wein. Jene beiden vor dem Hause haben gerade geheiratet, und die andern begleiten sie heim … Sie singen, wie die Mädchen in Pozzo singen, bei der Weinlese. Brauchen wir dazu Komödianten? Aber sie verstehen es besser. Wie sie es verstehen! Höre, Felicetta, welche Stimmen! Ich dachte nicht, daß die große Gelbe zu etwas anderem gut sei, als sich mit den Herren umherzutreiben … Was für einen Lärm die Instrumente gemacht haben! Der Allebardi war der Ärgste. Mir dröhnt der Kopf erst jetzt, da sie still sind und nur die Stimmen der Kinder übrigbleiben. Das ist, wie wenn ein großer Gewittersturm plötzlich aus ist, und du hörst ein Vögelchen zwitschern … Sieh, mein Ninetto, der Vorderste ist der Carlino Chiaralunzi. Auch du könntest dort stehen und das Paar beglückwünschen. Laßt uns klatschen!«
»Bravo!« und der dicke alte Zecchini stieß sich im Stehparterre mit seinen Zechbrüdern an. »Auch der da macht sich einen guten Tag. Fest stehen, Gevatter! … Und er sagt die Dinge, wie sie sind, dieser Alte: Seid fruchtbar, meine Kinder, zeugt mir Enkel! Bravo!«
Die Pächter vorn erklärten einander:
»Er will, daß das Gut in der Familie bleibt. Man versteht ihn schlecht, aber es scheint, daß er ein vernünftiger Mann ist … Natürlich muß eine Frau dazwischen sein! Was will sie von dem jungen Ehemann? Ach ja: er hätte lieber sie heiraten sollen. Und das Gut! Freilich ist sie ein schönes Mädchen, schöner als die andere.«
»Das sieht der Italia ähnlich«, bemerkte der Gastwirt Malandrini in seiner Loge. »Jetzt hetzt sie die Burschen gegen die Neuvermählten: die Tonietta habe ihn betrogen. Dabei hat sie selbst den Baron betrogen, mit dem Advokaten und den andern.«
»Schweig!« sagte Frau Malandrini, drückte ihr Kinn auf dem Halskragen breit und bekam ein Gesicht wie ein roter Kegel. »Schweig doch! Du weißt nicht, was du sprichst. Ein Mann wie der Baron denkt gar nicht an solche –«
Sie biß sich auf die Lippen.
›Was wollte ich denn da sagen?‹ dachte sie. ›Diese Musik macht, daß man den Kopf verliert und plaudert.‹
Auf der Galerie kicherte es.
»Sieh, die Mädchen! Sie sehen durchs Fenster in das Schlafzimmer der Neuvermählten. Aber es ist gewiß nicht wahr, daß die Tonietta getan hat, was ihr sagt. Ihr seid neidisch! Die kleine Blonde hat recht, die eine Blume auf das Bett wirft. Jetzt werfen auch die anderen Blumen. Warum ist das eine Sache, die traurig macht?«
Auch Mama Paradisi und ihre Tochter ließen Tränen fließen, und die Witwe Pastecaldi schluchzte kindlich.
»Es ist nichts. Es ist die Musik«, erklärte der Advokat.
»Aber nun muß das Bett aussehen wie ein Sarg, und sie sind so jung!«
Cesira Giocondi neigte ihre lange Nase über ihre Schwester Rosina.
»Gewiß hat auch die Tonietta so viel von ihren Möbeln gesprochen, wie du von den deinen – und du sollst sehen, auch mit ihr geht es schief.«
Lauretta und Theo aus der Via Tripoli nickten gerührt einander zu; nur die große Raffaella beunruhigte mit dem Augenwinkel den dicksten der Pächter links hinter ihr. Mama Farinaggi flüsterte ihr feucht in den Nacken:
»Hast du denn kein Herz?«
Frau Camuzzi wandte sich nach ihrem Gatten um, der eingetreten war und nach der Handlung fragte.
»Schweig! du hast kein Herz.«
Und sie kehrte zurück zu dem Tenor.
Nur dies eine Mal hatte sie ihn aus dem Auge gelassen. Er hatte vor dem von Blumen bunten Landhause neben seiner Tonietta gestanden, und wenn er den Arm um die Geliebte legte, schloß Frau Camuzzi die Lider und senkte bitter die Mundwinkel. Von seinem halblangen und glatten schwarzen Haar schwankte eine Strähne auf seiner Stirn, über dem breiten kurzen Sattel der Nase. Er war bleich in seinem weißen Anzug; und seine Blässe und sein schwarzer, niemals lachender Blick machten, daß er in der Fülle seines Glückes, er allein unter den Fröhlichen, schon beschattet schien von dem Schicksal, das bevorstand.
Und er stürzte vor, weil er die Kameraden hörte, die von seiner Frau schlecht sprachen. Er hatte einen Wortwechsel; er biß sich in die Knöchel der Finger; er richtete sich auf, trat fort von den anderen, vor die Rampe; – und die Handlung, die gekeucht hatte, holte tief Atem: er sang seine Arie. »Ich bin betrogen«, sang er, »nun soll ich lieben, die mich verriet. Ich werde glücklich sein mit meiner Feindin. Morgen spreche ich mit ihrem Liebhaber, und das Glück ist aus –«
›Aus‹, dachte Frau Camuzzi. ›Warum ist er nicht wiedergekommen? Er sagte doch, ich sei schön und er liebe mich. Ich sagte ihm, wenn er sich nach dem Mittagessen in das dunkle Gelaß unter der Treppe einschleiche, werde ich zu ihm kommen. Nie hat er es getan; – und statt meiner soll er andere lieben: die Baronin, die Malandrini, bei der er wohnt, Mama Paradisi sogar. Seine Treue brauche ich nicht; aber ich habe kein Glück. Mein Mann könnte doch sterben; ich könnte hinausgelangen aus dieser Stadt, wo niemand mich versteht. Aber ich selbst werde hier sterben, ohne genossen zu haben; – und ich hasse alle: ihn, der mir nicht helfen will, und Camuzzi, der mich hindert!‹
»– das Glück ist aus zugleich mit der Lüge. Es dauert eine Nacht. Die Nacht wollen wir genießen, sie kostet vielleicht das Leben, die kostbare Nacht!«
»Die kostbare Nacht!« wiederholte der Chor. Er begleitete heiter die drohenden und schmerzvollen Töne des Piero. Der Hochzeitszug kehrte zwischen den Feldern ins Dorf zurück, wo es Abend läutete; und ihm voran ward, wenn die Glocken schwiegen, die Flöte der Pifferari laut, die unsichtbar in der Ferne, als sei es Traum und Neckerei, eben die Weise bliesen, in der, groß im Vordergrunde, die Leidenschaft des Liebenden tobte. Nun war er auf der Bühne allein, hielt eine letzte Note aus; – und indes drunten das Tenorhorn des Schneiders Chiaralunzi seinen Schrei wiederholte, umfaßte der Piero mit beiden Händen seine Schläfen, tat zwei stürzende Schritte und schüttelte sich ganz … Er war fort. Im Saal blieb es noch still, daß das Schnarchen der Frau Giocondi hörbar ward; aber noch bevor ihr Mann sie gezwickt hatte, waren alle Hände in der Luft und klatschten. Sie klatschten, als jagten sie hinter den verklungenen Tönen her. Daß das Orchester weiterwollte, erbitterte sie.
»Noch einmal! Noch einmal!«
»Willst du still sein!« zischte Frau Camuzzi über die Schulter ihrem Gatten zu.
»Aber er hat sehr gut gesungen, meine Liebe«, sagte der Gemeindesekretär. »Alle finden es.«
»Ich nicht«, und sie zerbiß sich die Lippe. ›Er ist glücklich‹, dachte sie; ›aber ich werde mich rächen.‹
Er zeigte sich, mit seinem dunkeln Lächeln, an der Kulisse.
»Noch einmal! Noch einmal!«
Frau Camuzzi wandte sich liebenswürdig nach ihrem Gatten um.
»Du bist zu gutmütig, mein Lieber. So glücklich dein Charakter eine Frau machen kann, im öffentlichen Leben solltest du vielleicht rücksichtsloser sein. Warum hast du dich gefügt, als der Advokat Belotti diese schlechten Komödianten herholen wollte? Wenn du es aber nicht verhindern konntest, dann mußtest du dich an die Spitze des Unternehmens stellen.«
»Du findest, meine Liebe? Die Wahrheit ist, daß ich an das Gelingen nicht glaubte. Ich war sicher, der Advokat würde sich blamieren … Ist dein Fächer zersprungen? Ich hörte ihn krachen.«
»Nein. Jetzt bleibt dir eins, mein Freund. Du kannst die Sache des Don Taddeo stärken. Es ist die gute Sache; – und warum soll man den Advokaten so groß werden lassen? Sage es selbst! … Du hast gehört, daß der Bäcker Crepalini sich auflehnt, weil er keine Loge bekommen hat. Es gibt, mehr Unzufriedene in seiner Klasse. Setze dich mit dem Mittelstand in Verbindung, mein Ghino!«
»Welch schöner Gedanke«, sagte der Gemeindesekretär, schob die Hände in die Hosentaschen und brachte, aufrecht neben seiner viel bewunderten Frau, seine schlanke Büste zur Geltung. »Auf diese Weise würde man sehen, ob im Streit der Parteien das Unternehmen des Advokaten standhält. Ich glaube nicht, daß diese Theatersaison zu Ende gespielt werden wird. Schon habe ich berechnet, daß wir die elektrische Anlage aus Geldmangel werden außer Betrieb setzen müssen.«
»Was wirst du also tun?«
»Tun? … Ich kann mit dem Schlosser Fantapiè sprechen, der ein Anhänger des Don Taddeo ist und seine Freunde im Sinne des Priesters bearbeiten wird.«
»Also geh, mein Freund!« – und kaum war er hinaus, ließ Frau Camuzzi ihren zerbrochenen Fächer fallen und trat darauf. »Das ist ein Mann!« Sie grüßte lächelnd mit zusammengebissenen Zähnen die Herren, die herübergrüßten.
»Noch einmal!« rief es unablässig.
Der Kapellmeister dirigierte mit Armen und Körper, als galoppierte er, als müßte er durch eine Meute dahin. Aber sie war ihm auf den Fersen, sie brachte ihn zum Stehen. Erschöpft ließ er den Stab sinken; das Orchester brach ab; die Tonietta zog sich rasch wieder in das Haus zurück; und der Piero erschien. Er verbeugte sich und wollte verschwinden. Aber die klatschenden Hände holten ihn von neuem hervor. Der Kapellmeister erhob Gesicht und Stab. Da gab der Tenor mit der Hand ihm ein Zeichen, man wußte nicht, ob gewährend oder bittend. Er nahm seinen früheren Platz ein. Der Chor kehrte zurück und ordnete sich. Der Kapellmeister klopfte auf. Die jungen Leute im Stehparterre, mit den großen Hüten und bunten Halstüchern, sahen beruhigt und glücklich zu, wie all diese Seligkeit sich dank der Kraft ihrer Hände, die die Zeit besiegt und zurückgestellt hatten, noch einmal vollzog.
Als der Piero fertig war, überschrie die Galerie das Tenorhorn.
»Bravo! Gut!«
Viele sahen sich um, stolz, als hätten sie selbst gesungen. Der Stadtzolleinnehmer Loretani in der zweiten Parkettreihe, hinter der dicken Lauretta, fing aus unerfahrener Begeisterung von neuem an:
»Noch einmal!«
Sofort ahmten die Familiensöhne in der Klubloge ironisch nach:
»Noch einmal!«
Und da ward gezischt. Der Piero verschwand. Die jungen Leute im Parterre klatschten, um ihn zu rächen. Die Logen entrüsteten sich. Ein Kampf der Zungen und der Hände durchwogte das Haus. Frau Camuzzi hielt das Tuch vor und zischte. Bei jedem Zischlaut richtete sie sich steil auf, und ihr kleines gedrücktes Gesicht hatte funkelnde Augen.
Der Kapellmeister dirigierte immer weiter, und er lächelte dabei voll tiefen Hohnes.
»Wir wollen die Tonietta hören!« rief es von der Galerie; – und da merkten die meisten erst, daß sie sang. Sie kniete vor dem Madonnenbild am Hause, mit einer Schulter nach dem Saal.
»Das ist ja das Gebet!« rief der alte Giocondi. »Still doch.«
Nun verstand man sie, und daß sie, indes ein Mondstrahl aus Bäumen hervor auf ihrem offenen Haar zerstäubte, den Himmel um Erhaltung ihres Glücks bat. Der Lärm sank von ihrer Stimme zurück wie die fleischliche Hülle von einer Seele, und sie stieg auf. Das Volk sah, die Münder halb offen, weich glänzenden Auges ihrem Fluge nach. »O Gott!« seufzte da und dort eine Frau. Nachher hängten sie sich über die Galerie und langten mit den klatschenden Händen recht tief hinunter, damit sie näher dem kleinen Geschöpf wären, das sich dort unten verneigte. Auf den ersten Laut des Beifalls hatte sie sich von den Knien erhoben, lässig, wie ermüdet von ihrem Aufschwung und noch gleichgültig gegen das Irdische.
»Welche Stimme! Noch einmal!«
»Erst jetzt sieht man, daß sie schön ist! Ihr Haar glänzt wie ein goldenes Fell. Noch einmal!«
Mit jedem Schritt ward sie wacher und rascher. Jetzt war sie vorn und grüßte mit kalter Geschmeidigkeit, zuerst die Galerie, dann den Saal und dann die Logen. Ihr Lächeln hatte etwas Ungreifbares; es gehörte allen und keinem. Manchmal setzte es aus, und ein strenger Blick fiel auf den Kapellmeister.
»Noch einmal! Noch einmal!«
Er schlug unbeirrt Takt. Diesmal sollten sie ihn nicht zu Fall bringen! Mochten sie lärmen!
›Und wenn von dem ganzen Akt niemand mehr einen Ton hört: ich lasse ihn zu Ende spielen.‹
Er sah die Primadonna überlegen an, er merkte nicht, wie sie, inmitten ihres Umherlächelns, aufstampfte. Plötzlich lief sie – und abgewendet stieß sie die Hand nach dem Platz des Dirigenten – zum Hause zurück und kniete hin.
»Bravo! Da seht ihr's, daß sie von vorn anfängt!«
Statt dessen erschien der Piero, sie erblickten einander und gingen sich, vom Mondschein getroffen, entgegen. Droben heulte es auf:
»Noch einmal! Noch einmal!«
»Morgen noch einmal!« rief Galileo Belotti, und das brachte sie vollends auf.
Die beiden standen, die Arme schwach erhoben, voreinander. Man sah ihre geöffneten Münder und hörte nichts.
»Von vorn! Die Tonietta!«
Die Primadonna führte ihren hellen Blick über das Publikum, senkte ihn verächtlich auf den Kapellmeister und hob, immer singend, die Schultern. Auch der Tenor hob sie, und er hielt der Menge beteuernd seine flache Hand hin. Dem Kapellmeister war es kalt geworden. Er sah nicht mehr vom Pult auf. Die Einsamkeit um ihn her ward tödlich. Einen Augenblick schien ihm, als habe ihn sogar sein Orchester verlassen und schweige. Auf der Flucht vor der Meute dahinten war er an den Rand eines Abgrundes gelangt. Ermüdeten sie und blieben zurück? … Also gut! Er war im Begriff gewesen, die Hand fallen zu lassen, sich zu ergeben. Mit der Linken wischte er sich die Stirn.
»Man hört nichts! Buffonen! Auch wir haben bezahlt!«
»Ruhe! jetzt kommt ja das Schönste!« rief die joviale Stimme des Herrn Giocondi. Von droben kamen die der Mägde:
»Achtung auf die Harfe der Nina!«
Und um ihretwillen ward es still. Frau Zampieri in der ersten Parkettreihe beugte sich vor, um verklärten Gesichtes durch die Saiten der Harfe zu spähen. Dahinter saß, weiß wie eine Blüte, ihr Kind und machte, daß alle schwiegen. ›Wir konnten keinen Puder kaufen, aber dennoch sind ihre Arme sehr weiß.‹ Alle schwiegen; nur noch ganz leise Violinen umhauchten Ninas Töne, die wie Mondstrahlen dahinzogen und zergingen. Endete sie, dann war gewiß auch von der Bühne droben der Mondschein gelöscht, und Tonietta und Piero waren stumm. Frau Zampieri zog in ihrem grau gewordenen schwarzen Kleid die Schultern nach vorn, aus Furcht, diese Klänge möchten enden.
›Wenn Luciano endgültig die Hilfslehrerstelle bekommt, haben wir fast schon zu essen … Wird der junge Mandolini Ernst machen? Er blickt über seine Geige hinweg immer auf Nina. Spiele weiter, Ninetta!‹
»Siehst du«, sagte nebenan Lauretta zu Theo, »ich wußte, daß diese Tonietta ein anständiges Mädchen sei und keine –. Jetzt glaubt auch er ihr's, wie es scheint, und sie zeigen sich durch das Fenster ihr Bett mit den Blumen. Wie das rührend ist!«
»Aber sie wollen sterben.«
»Das sagt er; die Männer sagen das oft; und man glaubt es ihnen, solange man noch wenig Erfahrung hat.«
Mama Paradisi neigte sich, von ihren Töchtern ungesehen, über die Wand der Nachbarloge, und sie seufzte.
»Die Tonietta hat recht: das beste ist, sich auch im Unglück lieben.«
Der Kaufmann Mancafede nickte – in der Hoffnung, seine Kommis würden es nicht bemerken.
Rosina Giocondi wandte sich ab. ›Wie viele Lügen! Und wenn sie nicht das Haus als Mitgift hätte? Sie tut wohl, ihn daran zu erinnern: Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus!‹
Ein Flüstern ging um.
»Ah! Da ist es. Ich warte schon längst darauf … Still doch, Elenuccia, etwas Schöneres wirst du niemals hören … Eine Minute, Signora: dies Duett ist das berühmteste Stück in der ganzen Oper … Ah! Ah! Was ist denn das? Sind dies noch Menschenstimmen? Singen nicht auch die Bäume? Singt nicht der Mond? … Diese Musik ist aus Seide!«
Der alte Literat Ortensi sagte zu seiner Freundin, der alten Frau Mandolini:
»Dieses Stück ist gut, denn es macht, daß mir Ideen kommen. Ich sehe zu wenig, um die Bühne zu unterscheiden; aber in diesen Klängen erweitert sie sich mir zu einem Lande unendlicher Liebe. Ein ganzes Volk hält sich umschlungen und verbrüdert sich. Es hat gütigere, geistigere Gesichter, als sonst Menschen haben. Oh! nun öffnet es sich, und hervor tritt ein Engel … Planten wir nicht solches, Beatrice, als wir jung waren?«
»Aber wir hatten es ja!« erwiderte die Alte. »Noch immer haben wir's, Orlando!«
»Kein Vergleich mit unserem Phonographen«, sagte der Tabakhändler Polli zu seiner Frau. »Bei uns singen Tamagno und die Berlendi; was sind daneben diese armen jungen Leute?«
Ihr Sohn Olindo dachte ganz still unter seinem roten Schopf:
›So viel Liebe! Gibt es das? Wie muß man sein, was muß man tun?‹
»O Rina!« flüsterte auf der Galerie der Geselle des Schlossers Fantapiè; »wenn du mich nicht liebst, werde ich mich töten.«
»Woran hast du jetzt gedacht, Klothilde?« – und der Doktor Ranucci stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor seine Gattin. »Ich sehe dir an, du denkst an den Tenor. Oh, wären wir nie hergekommen!«
Ihre blassen Augen glitten ab; sie hob schüchtern die Schultern.
»Bravi! Noch einmal!«
Das Parkett war auf den Füßen. Über die beiden Fräulein Pernici hinweg, die weinten, sagte der Leutnant Cantinelli, außer sich, zu Mama Farinaggi, der Hausfrau aus der Via Tripoli:
»Das ist geradezu göttlich!«
»Wie? Wir haben es gehört!« – und die jungen Leute hinten, mit den großen Hüten und den bunten Halstüchern, schüttelten die Hände der Bauern um Galileo Belotti. Er schalt:
»Was denn noch einmal? Morgen noch einmal!«
Aber niemand achtete auf den andern. Der Advokat Belotti keuchte vom Freund Acquistapace zur Schwester Artemisia.
»Habe ich euch nicht gesagt, dies sei das Schönste? Und ich bin der erste gewesen, der es gehört hat: schon auf der Probe! … Signora«, und er dienerte über die Scheidewand zur Frau Mandolini, »ich hätte Ihnen den Erfolg dieses Duettes vorhersagen können, denn ohne mich rühmen zu wollen –«
Sie hörte ihm nicht zu, und der Advokat sah sich sehnsüchtig nach seinem Feinde Camuzzi um. Die Loge, worin nun die alte Mandolini saß, hatte er doch den Camuzzi vorbehalten! Was war denn geschehen? Warum fand er nicht neben sich den Camuzzi, der gewiß alles für schlecht erklärte?
›Ein schöner Schwindel, der Komödiant mit seiner Liebe! Ich kenne sie!‹ dachte Frau Camuzzi. Und Frau Zampieri: ›Das alles tut Nina, meine Ninetta!‹
»Heraus! Noch einmal!«
Und die beiden traten, noch immer die Arme umeinander, wieder aus dem Hause. Der Kapellmeister hatte schon abgeklopft. ›Wie sie wollen! Dann verbringen wir hier also die Nacht. Ich werde ganz sicher keinen Versuch mehr machen, es zu hindern.‹ Er befragte die Sänger mit dem Blick und ließ sogleich wieder anfangen. Diesmal blieb der Saal ohne Laut. Nachher vergaßen viele zu klatschen; sie schüttelten die Köpfe.
»Es war noch schöner. Man würde es nicht glauben.«
Die Primadonna und der Tenor verneigten sich, jeder nach seiner Seite, und in der Mitte gaben die Hände, an denen sie sich hielten, einander manchmal einen Ruck, als leitete einer auf den andern den ganzen Beifall ab. Dann verschwanden sie, umarmt, im Hause. In der Klubloge ward gelacht.
»Zur Tür!«
Die Bühne stand leer, und das Orchester spielte.
»Das einzige Mittel«, erklärte der Unterpräfekt hinter der vorgehaltenen Hand dem Steuerpächter, »um anzudeuten, was jetzt drinnen vor sich geht.«
In der Klubloge überlegte der junge Savezzo:
›Von der Harfe geht die Melodie auf das Cello über: da wirkt sie schon weniger platonisch, – und so weiter bis zur Pauke. Ich verstehe. Auch ich werde eine Oper schreiben.‹
»Sst!« machte der Advokat Belotti angstvoll, denn seine Schwester schluchzte so laut, daß es bald durch alle Musik zu hören sein mußte. Sie brachte hervor:
»Wenn Pastecaldi den Wein nur etwas weniger gern gehabt hätte, er lebte noch!«
Drüben sann Jole Capitani weich:
›Armer Advokat! Dennoch liebt er, scheint es, nur mich.‹
Die junge Salvatori traf in der Klubloge die Augen des jungen Serafini und ließ die ihren rasch in den Schoß fallen; Rosina Giocondi begegnete nebenan denen des Olindo Polli, und plötzlich zuckte ihr etwas zum Herzen, erschreckend, wie Hoffnung, die den schon verlernten Weg wiederfindet; – indes der Schustergeselle Dante Marinelli den Arm um sein Mädchen wand, das den ihren auf die Galerie stützte, und ihr in das staubige Haar sprach.
»Ich kenne doch diese Musik, Cölestina! Hast du sie mir nicht vorgesungen?«
Die große Raffaella wendete ihre spöttische Miene langsam durch den erhitzten Saal.
Im Stehparterre schüttelten der Barbier Bonometti und der Schneider Coccola die Köpfe.
»Wie machen sie's nur? Der Nonoggi und der Chiaralunzi können nur wenig spielen, wie jeder weiß.«
»Was denn! Gar nichts können sie«, behauptete Galileo Belotti.
»Und dennoch klingt es gut. Man sollte glauben, daß auch wir, wenn wir statt ihrer –. Es ist eine Ehre für den Stand. Gut, Chiaralunzi! Gut, Nonoggi!«
Auf den vordersten Sitzplätzen sagte Frau Nonoggi zu Frau Chiaralunzi:
»Hört Ihr Nonoggi? Euren Mann sieht man von Zeit zu Zeit die Backen aufblasen, als ob etwas Besonderes los wäre, aber dann lärmen auch die andern; den meinen dagegen hört man immer heraus, und er schneidet lustige Gesichter dabei, als ob er einen rasierte. Er ist die wichtigste Person hier, könnt Ihr mir glauben.«
Die Frau des Schneiders sagte, still lächelnd:
»Wenn mein Mann einmal tüchtig loslegen wollte …«
Die Frau des Baritons Gaddi, in der dritten Reihe, prüfte schon längst die Frau des Schuhmachers Malagodi von der Seite, sah weg, rückte umher und machte sich wieder heran. Endlich wagte sie:
»Jetzt kommt die Hauptsache: gleich tritt mein Mann auf. Er wird ein Graf sein, die höchste Person im Stück, und wenn er dazukommt, wird die Handlung tragisch. Er hat eine Stimme wie keiner.«
Frau Malagodi blinzelte sie verständnislos an, aber die Gattin des Sängers vollendete:
»Daß jetzt die Musik so böse wird, das kommt, weil er hinter der Kulisse steht. Ich weiß es.«
Mama Farinaggi wendete sich um, feuchte Rinnsel in ihrer Schminke.
»Soll er doch wieder fortgehen! Noch ist er nicht da, und schon sieht man den Mond nicht mehr, der so poetisch war. Gewiß werden seinetwegen die armen jungen Leute, die sich doch so sehr lieben, noch Unannehmlichkeiten haben. Das gefällt mir nicht.«
Sie schrak zusammen, denn es ward heftig mit der Peitsche geknallt. Eine eherne Stimme rief nach Piero, gespornte Stiefel stampften auf, und ein strammer Bauch in einer roten Weste ward sichtbar.
»Bravo, Maestro!« riefen die jungen Leute dahinten. »Noch einmal das Orchester!«
»Was denn!« antwortete es. »Wir wollen sehen, was kommt.«
»Wie der da schmutzig ist! Ist das ein Herr? Es wird ein Fuhrmann sein.«
»Aber er hat ein Stück Glas im Auge und einen gelben Bart, also ist er ein Herr.«
»Welche Fäuste! Welche Stimme! Was für ein Messer! Der arme Piero! Gerade kommt er aus den Armen seiner Tonietta, und jetzt hat er's mit jenem zu tun. Verdammt, der schlägt auf den Tisch, er will Wein.«
»Er ist betrunken. Und dann spricht er davon, daß er in der Hauptstadt seine Käse verkauft hat. Ein schöner Herr!«
»Erkennt ihr ihn denn nicht? Geradeso sieht der Conte Fossoneri in Calto aus. Wenn man recht hinsieht, hat auch der Baron Torroni –«
»Aber die Stimme des Piero ist immer über seiner, er mag schreien, wie er will. Der Piero wird ihn besiegen. Fest, Piero!«
»Er sagte, er habe ein Recht auf unsere Weiber? Er sei der Herr? Ein Hund bist du! Pfeift! Pfeift doch!«
»Glaube ihm nicht, Piero! Er ist nichts als ein Prahlhans, wir Frauen merken das gleich, und nie hat er die Tonietta gehabt.«
»Nieder mit ihm!«
»Die Sachen gehen schlecht, du verlierst den Kopf, Piero. Ach! da rennt er ins Haus und wird ihr etwas antun. Wie die Männer dumm sind!«
»Und warum klatschen sie? Weil der da gut gesungen hat? Aber solche Sachen singt man nicht, zum Teufel!«
»Sollte man nicht ein Ende mit ihm machen, bevor es zu spät ist?«
»Ach! welch Unglück. Der Piero zerrt die Tonietta aus dem Hause. Er ist von Sinnen! Ja, natürlich bist du sein Weib, er dürfte das nicht tun! Knie nur vor die Madonna hin: auch sie ist eine Frau, und sie wird dir deine Unschuld bezeugen. Wir alle werden es … Ach! es ist umsonst, schon reißt er sie den Hügel hinab, in der Dorfgasse laufen schon die Leute zusammen, und der alte Geronimo steht in seiner Tür. Lauf zu ihm, Tonietta, er ist dein Vater! … Ist es möglich, er läßt dich nicht ein? Die Männer stecken alle zusammen, das ist es!«
»Wie sie ihn anfleht, wie sie sich bäumt! So sang man in unserer Jugend, Orlando. Ich habe Herzklopfen.«
»Bist du mir wirklich immer treu gewesen, Cölestina?«
»O Dante, schon wieder willst du mich quälen!«
»Welche Wirrnis! Seht ihr! Die Männer sind alle gegen sie, und die dummen Mädchen schwatzen es ihnen nach, die Tonietta habe es mit dem Grafen. Recht! da springt sie einer an die Kehle. Der großen Gelben! Recht, sie verdient es. Ach! die ist stärker; und nun die nächste. Tonietta, es nützt nichts, laß ab.«
»Sind die im Orchester verrückt geworden? Mich selbst macht es verrückt, ich muß schreien!«
»Ruhig dort oben! Zur Tür!«
»Endlich! Eine erbarmt sich ihrer, die Kleinste. Arme Tonietta: ja, du sprichst wahr, sie ist eine arme Tonietta. Sieh, nun steht sie und weint. Seht ihr nun, daß sie nicht schlecht ist?«
»Ich habe nie etwas Böses von ihr geglaubt, Pomponia.«
»Ich auch nicht, Felicetta. Ich glaube nicht gleich jeden Klatsch. Ach! wie sie weint. Man muß mitweinen.«
»Sie geht fort, durch alle Leute dahin, die schweigen. Den Rock schlägt sie über den Kopf wie zu einer weiten Reise, und geht doch auf bloßen Füßen, die arme Kleine.«
»Komm her zu uns! Hier wollen alle dir wohl!«
»Wie? Der Vorhang fällt? Aber wohin geht sie denn? Das muß man doch wissen!«
»Wir werden es erfahren. He, Corvi, deine Bogenlampe summt wie ein Schwarm Heuschrecken und geht doch nicht an.«
»Heraus! Alle heraus! Bravi! Bravo, Maestro!«
»Aber hast du nicht gesehen, Malandrini, wie der Piero bereut hat? Er hatte das Gesicht in den Händen.«
»Wenn man einmal einen Verdacht hat, meine Liebe …«
»Es ist unrecht, einen Verdacht zu haben. Du siehst, daß man ihn bereut.«
»Eh!« machte der Tabakhändler Polli zu seinem Sohn Olindo, »solche Dinge kommen vor. Mit dem Leben ist nicht zu spaßen, merke dir das!«
Der alte Giocondi mischte sich ein.
»Ich weiß sogar, aus Rom, einen ganz ähnlichen Fall. Ein Bauer hatte –«
»Bravi! Bravo, Maestro!«
»Kaffee, Gefrorenes, Limonade! Frisches Wasser mit Anis!«
»Rauchen wir draußen eine Zigarette?«
»Bravi!«
»Als Vorsitzender des Komitees habe ich die Pflicht, die Darsteller zu beglückwünschen«, sagte der Advokat Belotti. Der Apotheker zog rasch sein Holzbein hervor.
»Auch ich gehöre zum Komitee. Gehen wir! Denn es scheint, sie klatschen nicht mehr.«
Soeben schloß sich die Gardine im Vorhang zum fünftenmal hinter dem Kapellmeister und seinen Sängern. Flora Garlinda riß sogleich ihre Hand aus seiner.
»Danke«, – und sie fauchte ihn an.
»Wofür?« fragte er, tief errötet und dennoch, aus Kopflosigkeit, noch immer mit dem Lächeln, das er den Zuschauern gezeigt hatte.
»Sie fragen?«
Die Primadonna setzte die Hände auf die Hüften und warf die Büste nach vorn. Über die entblößte Haut sah man rote Schauer laufen, das Gesicht war in die Länge gezogen von Haß und Wut. »Ich weiß freilich, daß Sie nichts gelernt haben. Von guten Freunden, die Ihre Vergangenheit kennen, erfahre ich, daß Sie überhaupt kein Konservatorium besucht haben. Nicht wahr, Maestro?«
Er wich erbleicht zurück.
»Aber das könnten Sie trotzdem wissen, daß man bei einem Beifall wie dem meinen die Arie wiederholen läßt!«
»Wir haben das Duett wiederholt«, sagte er und zog an seinen Fingern.
»Stellen Sie sich nicht kindisch! Was habe ich davon, wenn ich mit einem andern teilen muß? Dem Nello werfe ich nichts vor.«
»Wie? Was soll ich?« fragte der junge Mann, ohne mit dem Auge das Loch im Vorhang loszulassen.
»Nichts … Er muß Ihnen sehr unschädlich vorkommen, da Sie seine Arie wiederholen lassen und meine nicht.«
»Aber auch mein Intermezzo habe ich nicht zum zweitenmal gespielt.«
»Weil niemand es hören wollte. Nochmals: danke. Ich habe Sie kennengelernt, das ist viel wert. Jetzt ist es an Ihnen, mich kennenzulernen.«
Sie flog davon. Die Tür ihrer Garderobe schlug krachend zu. Gaddi und der Cavaliere Giordano gingen, die Schultern hebend, an dem Kapellmeister vorüber.
»Schließlich hat sie recht … Man ist Künstler oder nicht … Sie konnten das voraussehen, Maestro.«
»Auch ich würde es mir nicht gefallen lassen«, sagte Italia mit großen Fächerschlägen. Der Kapellmeister warf die Arme empor.
»Aber keiner der Herrschaften läuft Gefahr, etwas wiederholen zu müssen!«
»Wenn Sie solche Meinung von uns haben, was tun wir hier?«
»Dieser Ausspruch war ein Fehler, Maestro«, – und Italia lachte verächtlich. Der alte Tenor erklärte: »Ich habe mich noch geschont, das ist mein Recht, nicht wahr? Wer, wie ich, in jedem Akt eine andere Rolle zu singen hat –«
»Was ist dahinten für ein Lärm?«
Der Bariton eilte hin.
»Was sehe ich – Herr Advokat?«
»Ich habe dem Herrn gesagt«, rief der Inspizient, »man betrete die Bühne nicht.«
»Aber ich bin der Vorsitzende des Komitees«, ächzte der Advokat und hob sich vom Boden auf. Er las die Fetzen seines Blumenstraußes zusammen.
»Das Fräulein Flora Garlinda muß sich in der Person geirrt haben«, bemerkte er.
»Oder sie ist gerade bei schlechter Laune«, meinte Gaddi. Der Apotheker nahm dem Freunde die Blumen ab.
»Ich habe dir gleich gesagt, Advokat, man sollte sie dem Fräulein Italia bringen.«
»Ah, meine Herren«, – und der Unterpräfekt, Herr Fiorio, erschien mit dem Steuerpächter, »auch Sie bieten ohne Zweifel der Kunst Ihre Huldigung an. Kann man unsere Primadonna sehen?«
»Es wird ihr eine hohe Ehre sein«, erwiderte der Advokat mit einem Kratzfuß. »Nachdem sie soeben mich selbst so liebenswürdig –«
Da ging ihre Tür auf: die Sängerin streckte ein strahlendes Lächeln hervor.
»Herr Präfekt«, – und sie knickste tief, »Eure Exzellenz möge meine Frisierjacke verzeihen. Ich bin stolz, Sie bei mir zu begrüßen. Herr Advokat –«
Sie reichte auch ihm die Hand mit dem Rücken nach oben, und er drückte eifrig den verlangten Kuß darauf.
»– ein Mißverständnis hat zwischen uns gewaltet. Sie begreifen die Aufregung einer Anfängerin. Auch werden Sie mir glauben, daß ich Ihr Lob nicht vermissen möchte … und auch Ihre Blumen nicht«, setzte sie mit einem schelmischen Blick hinzu.
Herr Fiorio war dabei, der Künstlerin seine volle Bewunderung auszudrücken.
»Aber sie haben ein wenig gelitten«, stotterte der Advokat.
Sie streckte die Hand aus.
»Das macht nichts, sie kommen von einem Freunde«, – und sie entriß dem Apotheker die Blumen.
»Wenn ich je Gelegenheit habe, der größten Sängerin zu nützen, deren Anfängen ich beiwohnen durfte –«, sagte der Unterpräfekt.
»Ich bin belohnt durch Ihre Worte, mein Herr … Ich darf die Herren nicht bitten, es sich bequem zu machen: Sie sehen mich beim Umkleiden.«
Herr Fiorio verabschiedete sich. Der Advokat wollte gleich den anderen hinterdrein, aber beim Betreten der Bühne hielten zwei Arbeiter ihn auf; alles schrie, lief durcheinander und verwirrte ihn, und eine Kulisse, die hereingeschoben ward, wäre ihm fast gegen den Schädel gefahren. Flora Garlinda war plötzlich da und zog ihn rechtzeitig fort. Er hatte einen großen Schreck bekommen.
»Sie haben mir das Leben gerettet! Wie kann ich Ihnen danken!«
»Sie werden mich rächen, lieber Freund. Denn ich darf als sicher annehmen, daß Sie es sind, der den Bericht für die ›Glocke des Volkes‹ schreibt. Sie werden also den Versuch des Maestro, mich zu unterdrücken, als die feige Tat kennzeichnen, die er ist.«
»Mit Vergnügen«, erwiderte er, »das heißt, um Ihnen gefällig zu sein. Aber freilich auch die Verdienste des Maestro dürfen nicht –«
»Herr Advokat –« Sie trat einen Schritt zurück.
»– ich mute Ihnen nicht zu, gegen Ihre Überzeugung zu schreiben. Wenn Sie ihn loben, weiß ich, daß Sie seinen Haß gegen mich teilen. Wir haben uns in diesem Falle nichts mehr zu sagen.«
Da er bestürzt abwehrte –
»Oder irre ich mich? Stehe ich dennoch endlich einem Manne gegenüber, der nicht wie die anderen ist und der für die Wahrheit ein Opfer bringen kann? Sie werden vielleicht angefeindet werden; der Maestro ist ein Intrigant; wie ich erfahren habe und beweisen kann, gibt er sich für etwas anderes aus, als er ist, und hat nie ein Konservatorium besucht; – und Sie sollten wirklich Ihren ganzen Lohn in dem Bewußtsein finden, daß Sie einer Frau Gerechtigkeit verschafft haben?«
Der Advokat warf sich in die Brust und preßte die Hände darauf.
»Meine bisherigen Erfahrungen verbieten mir, es zu glauben«, sagte die Primadonna und bewegte langsam das Gesicht hin und her, dessen verschämte Weichheit ihn bezauberte. Die blauen, verschleierten Augen waren die eines Kindes.
»Ich habe nichts als meine Kunst«, sagte sie mit einer Stimme, in der ihr Stolz wankte. Der Advokat haschte erschüttert nach ihrer kleinen Hand.
»Niemand weiß besser als ich, Fräulein Flora Garlinda, wie einem Manne zumut ist, der, nur auf den eigenen Wert gestützt, für eine große Sache gekämpft hat, um endlich durch unfaßbare Intrigen und den Wankelmut eines Volkes sich verlassen und in einem Augenblick der Ohnmacht zu sehen. Aber wirkliche Größe zeigt sich erst in einer Niederlage! Unsere Geschicke machen uns zu Verbündeten. Zählen Sie auf mich, Fräulein Flora Garlinda!«
Er bückte sich tief und hatte, zurücktretend, noch immer ihre Fingerspitzen an den Lippen. Als er sie nicht weiter mitnehmen konnte, ließ er sie los, und die Sängerin verschwand, den Kopf gesenkt, in ihrer Garderobe. Noch bevor der Advokat sich aufgerichtet hatte, stieß ihn schon wieder etwas von hinten. Er eroberte sein Gleichgewicht zurück und dachte: ›Die Frauen! Sie geben uns große Handlungen ein, die ihren Lohn in sich tragen! … Aber, wer weiß –‹
Und sein Gang ward schwänzelnd.
›– diese da wollte mir vielleicht noch etwas anderes anbieten?‹
»He! Advokat!« rief Polli ihm nach, aber vor Hämmern und Poltern hörte man nicht.
»Lassen Sie«, sagte der junge Savezzo, der mit ihm kam. »Ich weiß hier Bescheid.«
Der kleine alte Giocondi stapfte fröhlich nach dem Hintergrund.
»Die Garderoben kennen auch wir. Das lernt man auf Reisen.«
Munter pfeifend klopfte er an eine Tür, blinzelte den beiden andern zu und öffnete.
»Wer ist da?« rief Flora Garlinda, und sie sprang vom Toilettentisch auf. »Noch jemand? Ah! genug. Jetzt ist's genug. Ich kenne Sie nicht und will allein sein. Verstehen Sie? Ich singe euch vor, was wollt ihr noch von mir?«
»Oh, gar nichts, entschuldigen Sie nur«, plapperte Giocondi noch immer, als die Tür schon dicht vor seiner Nase zugefallen war. Polli sagte:
»Aber das ist ja ein Dämon! Habt ihr gesehen: Sie hatte ein Gesicht wie eine alte Hexe. Nie wieder glaube ich, daß sie zweiundzwanzig Jahre alt ist. Sie hat uns getäuscht, indem sie sich anmalte.«
»Das ist eben die Kunst«, sagte der junge Savezzo. »Man sieht, daß die Herren keine Künstler sind.«
Wie die drei sich davonmachten, kam leise der Schneider Chiaralunzi hervor. Er klopfte und wartete dann in gebückter Haltung, mit baumelndem Schnurrbart und ehrfürchtiger Miene. Seinen ungeheuren Blumenstrauß streckte er sorgfältig von sich. Drinnen polterte es, die Primadonna fuhr heraus, dem Schneider an den Magen. Aber sie prallte zurück, ohne daß er wankte.
»Ach, Ihr«, sagte sie, und ihre Miene spannte sich plötzlich ab. »Sogar Blumen! Nun, gebt her! Und kommt nur herein, ich kann Euch gebrauchen; Ihr mögt mir die Kämme reichen. Die Frau habe ich fortgeschickt, sie verstand nichts, und ich hasse die, die nichts verstehen. Ihr habt Euer Solo gut geblasen. Wenn Ihr blast, hört man, daß Ihr ein ehrlicher Mann seid.«
»Wer ist denn bei ihr?« fragte Polli. »Mir ist doch –«
»Wer wird's sein«, sagte Giocondi. »Ein Liebhaber. Daher hat sie uns so empfangen. Versteht sich, wir störten.«
»Sollte man nicht herausbekommen, wer es ist?« versetzte der Savezzo mit düstrem Neid.
Sie schlichen hinter dem Prospekt um die Bühne. Drüben zwischen den Kulissen fanden sie den Advokaten umflattert von kleinen Choristinnen, die ihre mehlweiß und braun gescheckten Ärmchen vor ihm umherwendeten, süße Augen und schiefe Köpfe machten und ihm plötzlich ins Gesicht lachten.
»Sie, Advokat, der Sie der Freund der Frauen sind, sagen Sie, ob es gerecht ist, daß ich ein kaffeebraunes Kleid tragen muß!«
»Sie also sind es, der uns heute abend vom Tode errettet hat? Welch tapferer Mann!«
»Ein wohlerzogener Mann, der den Frauen keinen Vorschuß abschlägt«, – mit ihrem bunten Gesicht dicht unter seinem Munde. Aber als er zufuhr, war sie fort und streckte die Zunge heraus. Da zeigte der Inspizient seine drohende Miene. Alle kreischten auf, und nichts war mehr von ihnen da, als eine kleine Puderwolke.
Polli raunte dem Advokaten zu:
»Die Garlinda hat einen Liebhaber bei sich: wir haben sie mit einem Manne sprechen hören. Wer mag es sein?«
Der Advokat wehrte diskret ab.
»Wer weiß es.«
Er holte Atem.
»Übrigens komme auch ich von drüben. Ich bin quer über die Bühne gegangen und darum ein wenig früher angekommen als Ihr.«
Polli riß die Augen auf. Als er sich gefaßt hatte:
»Ah! Advokat!«
»Ich habe nichts gesagt«, – und der Advokat glänzte groß.
Gerade gingen der Apotheker und der Unterpräfekt vorüber, und Acquistapace trachtete auf seinem Holzbein mit Herrn Fiorio Schritt zu halten, denn von hinten kam, Fächer schlagend, Italia. Der Unterpräfekt verbeugte sich zuerst.
»Fräulein, Sie sind sicherlich die größte Sängerin, deren Anfängen ich beiwohnen durfte.«
Und er liebkoste seinen gepflegten Bart. Der Apotheker kniff den Advokaten in die Seite; er verdrehte die Augen.
»Aber –«
»Sie sind rascher umgekleidet als alle anderen«, sagte Herr Fiorio, »das ist erstaunlich. Und welch malerisches Kostüm! Sie stellen eine Romagnolin vor?«
»Ich bin die Frau des Wirtes, mein Herr: des Wirtes an Piazza Montanara, den ich inzwischen geheiratet habe, obwohl er alt ist, nur weil ich über meine Freundin Tonietta triumphieren wollte, die mir den Piero weggenommen hatte, die ich verleumdet habe und die nun auf Piazza Montanara die Dirne macht.«
»Das alles ist nicht recht von Ihnen, und ich glaube nicht, daß Sie in Wirklichkeit dazu fähig wären«, bemerkte der Unterpräfekt. Die Bürger lachten beifällig, am lautesten der Advokat.
»Nein! Wahrhaftig nicht! Sie ist ein viel zu gutes Mädchen: mir können Sie's glauben, mein Herr!«
Der Regierungsvertreter sah unzufrieden aus. Italia kitzelte ihn und den Advokaten abwechselnd mit den Augen. Auch lenkte sie das Gespräch ins Unpersönliche.
»Was wollen die Herren: in diesen neuen Opern ist nun einmal alles schlecht und traurig. Nicht einmal das schöne Kostüm dürfte ich anhaben, denn eine Wirtin in einer großen Stadt wie Rom geht natürlich angezogen wie alle andern. Aber soll man denn ganz auf die Schönheit verzichten?«
»Gewiß nicht«, sagte der Unterpräfekt ernst und warm; und nach kurzem Zögern: »Ich komme sogar ausdrücklich, um ihr zu huldigen. Denn Sie vereinigen wahrhaftig Schönheit und Kunst. Ihr Leben, Fräulein, muß voller Genugtuungen sein.«
»Ach, mein Herr, es ist nicht alles, wie es sein sollte. Man hat sich über manches zu beklagen. Würden Sie glauben, daß mir der Maestro noch soeben eine Arie gestrichen hat? Freilich habe ich im zweiten Akt zwei, dafür aber habe ich im ersten Akt keine. Er sagt, wir haben anderthalb Stunden Verspätung; bei der zweiten Aufführung solle ich meine Arie wiederhaben. Was nützt mir das? Dies ist die Premiere! Und warum bin ich's, der man die Arie streicht? Der Garlinda läßt der Maestro jede Note; und er wird sehen, wie sie es ihm dankt! Die ganze Oper besteht aus ihren Arien und ihren Duos mit dem Piero. Kaum sehen sie sich wieder, um unter dem antiken Bogen dort miteinander schlafen zu gehen, da verschwinden wir andern …«
»Wie sehen sie sich wieder?« fragte Polli.
»Versteht sich, auf der Straße«, erklärte Giocondi.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte der Unterpräfekt.
Italia verzog den Mund.
»Was ist zu machen, da die Garlinda dahintersteckt und der Maestro in sie verliebt ist.«
»Er sucht sie«, fuhr Giocondi fort, »weil er sie nicht vergessen kann, der Unglückliche, und wird von ihr angesprochen, ganz wie irgendeiner. Es ist eine klägliche Geschichte.«
»Was denn!« keuchte der Advokat. »Das ist unmöglich! Der Maestro verliebt in die Primadonna?«
»Warum nicht. Es nützt ihm ja nichts. Denn sie ist kalt … oder –«
Italia machte ein angewidertes Gesicht.
»– sie hat unnatürliche Neigungen.«
»Oh, gar so unnatürlich werden sie nicht sein«, erwiderte der Advokat mit heiterer Stirn.
»Da sich mir Gelegenheit bietet, der größten Künstlerin zu nützen, deren Anfängen ich beiwohnen durfte –«, und der Unterpräfekt verbeugte sich gegen Italia, die vor ihm die Hüften hin und her drehte, »so spreche ich also wegen Ihrer Arie, Fräulein, mit dem Maestro, noch in dieser Pause. Auch auf mich wird der junge Mensch ein wenig hören.«
Er verbeugte sich endgültig. Italia eilte ihm nach. Der Bariton Gaddi war herzugekommen und sagte:
»Da sehen Sie, wie dieses Metier die Seelen verdirbt! Sogar Italia wird bösartig.«
Man hörte sie noch sagen:
»Sie wollten wirklich, mein Herr? Dann tun Sie es rasch, denn wir haben nur die eine Pause; der zweite und der dritte Akt sind durch ein Orchesterstück verbunden.«
Herr Fiorio bot ihr den Arm.
»Ich werde stolz sein, mein Fräulein, Ihnen das Ihre zurückzubringen.«
»Wie soll ich Ihnen danken, mein Herr!«
»Sie fragen: wie? Wollen Sie nicht lieber fragen: wo? Auf der Unterpräfektur, liebe Kleine.«
Und Herr Fiorio gab Italia zart ihren Arm zurück. Die Bürger sahen ihm bewundernd nach.
»Ah! er weiß genau, wie weit er gehen darf. Jetzt zeigt er sich wieder im Saal. Welche Geschicklichkeit!«
Der Apotheker Acquistapace hielt nicht länger an sich; er fluchte laut. Wie Italia zurückkehrte, stelzte er ihr polternd entgegen.
»Wissen Sie, Fräulein, daß jener Mann Sie belogen hat?«
»Aber, Romolo!« sagten die Freunde.
»Was Romolo! Soll ich etwa die Wahrheit verschweigen? Hat er nicht der Primadonna wörtlich dieselben Komplimente gemacht wie dem Fräulein Italia?«
»Aber für mich wird er doch handeln?« sagte Italia, eingeschüchtert durch seinen roten Kopf mit der zitternden Unterlippe.
»Ich bin ein alter Soldat Garibaldis«, rief er und ging, um zu atmen, ein Stück weiter. »Auf das Ränkeschmieden verstehe ich mich nicht!«
Da sie ihm bittend gefolgt war:
»Aber wenn ich jemand liebe, tue ich's ordentlich.«
»Herr Apotheker«, sagte sie schmeichlerisch, »glauben Sie, auch ich träume zuweilen von einer großen Leidenschaft …«
»Kein Glück, der arme Romolo«, – und der Advokat feixte still und heftig.
Polli fragte:
»Sollte man nicht seine Frau holen?«
Der alte Giocondi bemerkte:
»Der Tenor scheint sehr aufgeregt. Ich sehe ihn schon die ganze Zeit vor dem Vorhang hin und her laufen. Jetzt sieht er wieder durch das Loch. Vorhin hatte er sich sogar in die Gardine gewagt; draußen müssen sie ihn wahrgenommen haben, denn sie begannen zu schreien.«
»He! Herr Nello!« rief der Advokat.
»Lassen Sie ihn«, sagte Gaddi. »Es ist sein gewohnter Zustand am ersten Abend. Betrachten Sie lieber den Cavaliere: er hat eine gute Maske.«
Der Cavaliere Giordano nahm, um die Herren zu begrüßen, mit einer Verbeugung, großartig und dabei zitternd, den durchlöcherten Filz von seinem Kopf, der spitz und ganz kahl war. Frostig in seinen entfärbten Mantel gerollt, machte er kleine, schlürfende Schritte, die ihn nicht von der Stelle brachten. Auf der Hand am Rand des Mantels blitzte sein großer Brillant auf.
»Nun?« fragte er, atemlos vor Anstrengung, »erkennen Sie, Gaddi, wie es sich herausarbeitet? Sie, der Sie etwas verstehen? Wie? Diesmal werde ich alle schlagen! Ich gebe zu, meine Herren –«
Er kam hastig herbei mit einem starren Lächeln von einem zum andern und kleinen bedrängten Handbewegungen.
»– im ersten Akt kam ich nicht voll zur Geltung.«
Nachdem er vergeblich auf Widerspruch gewartet hatte:
»Das liegt an der Rolle des alten Geronimo. Dieser Bettler aber, das ist ganz etwas anderes. Man sieht ihm an, nicht wahr, daß er eine gefallene Majestät ist.«
»Wie? Stellen Sie denn einen König vor?«
»Ich will sagen, daß er große Tage gesehen hat und sich eines ungewöhnlichen Geschickes bewußt ist. Als die Liebenden ihn unter seinem Bogen aufstören: ah! meine Herren, das ist der entscheidende Augenblick, in dem die Tragik des Stückes und auch des Lebens sich enthüllt. Ich darf sagen, daß ich die wichtigste Figur der Oper darstelle. Drum habe ich es auch abgelehnt, vorher und nachher noch den Schenkwirt zu spielen. Mag es ohne Schenkwirt gehen: ich werde dem Bettler all meine Kunst und die ganze Kraft meiner Empfindung geben. Sie werden mich bewundern! Was sage ich: weinen werden Sie!«
»Teufel!«
»Wozu rede ich! Ich will es Ihnen lieber vormachen.«
Der Cavaliere Giordano legte sich unter den Bogen, an den Fuß der Stufen, die hinabführten. Unsichtbar rief er:
»Gaddi, das Stichwort!«
»Unser Schlafgemach! Erkennst du es, Geliebter?«
Und der Alte, auffahrend wie aus einer Attrappe:
»Ich bin früher gekommen.«
»So werden wir weitersuchen«, sagte Gaddi ehern.
»Unnötig«, – und der Cavaliere Giordano stieg lang und klapprig aus der Dunkelheit. Mit Gespensterstimme trällerte er:
»– da ich sehe, daß ihr Liebende seid. Als ich jung war wie ihr, hatte ich's weicher, und Michelina, mein Weib, mit mir. Sie ist tot, mir blieb dieser Stein. Seid ihr glücklich, wird er euch weich sein.«
Dabei hüpfte der alte Sänger aus dem Bogen hervor: hüpfte auf einem Fuß schief zur Seite, – und von den halb erhobenen Armen schwankten ihm die Hälften des Mantels wie gebrochene Flügel.
»Hahaha!« machte Polli. Der Advokat erstickte insgeheim, indes der kleine Herr Giocondi sich schallend die fetten Schenkelchen klatschte.
»Ist das komisch! Gut, daß etwas zum Lachen dazwischen kommt. Man will das.«
Der Cavaliere Giordano war zurückgewichen; die Hand hatte er an der Stirn.
»Wie? Sie lachen? Aber das ist –!«
Er schluckte hinunter und kam näher.
»Wenn Sie denn lachen –. Ich werde sehen. Es wirkt also auf Sie?«
Er ging, den Kopf gesenkt, umher.
»Vielleicht kann man es auch so auffassen? … Sollen Sie also lachen!«
»Daß der Tenor etwas hat«, sagte der junge Savezzo, die Brauen zusammengezogen, »das werden Sie uns nicht ausreden.«
»Was soll er haben?« erwiderte Gaddi; aber Nello beunruhigte ihn. In seinem Lauf den Vorhang entlang war er plötzlich stehengeblieben, das Ohr geneigt, als unternähme er, aus der Wirrnis von Stimmen dort draußen eine einzige zu erhorchen, und mit einem solchen Ausdruck der Entferntheit im Gesicht, daß der Bariton einen raschen Schritt machte, um ihn zu rütteln.
›Es war ihre Stimme!‹ dachte Nello. ›Sie ist nicht in der Loge, und dennoch habe ich dorther, ja dorther ihre Stimme gehört. Ist sie denn tot? Spricht denn ihr Geist zu mir wie der Geist jener Äbtissin in Parma? Mein Gott, es ist die dritte Loge rechts: dieselbe Loge! … Welcher Wahnsinn! Die Märchen des Cavaliere Giordano wiederholen sich nicht, und Alba ist mir ferner, als wäre sie vor hundert Jahren gestorben.‹
Er wandte den Kopf und sah, fieberhaft klagend, in das Gesicht des Freundes.
»Sieben Tage der Angst«, murmelte er. »Wie man hoffen kann! Es ist lächerlich. Immer zitternd in ihrer Nähe, nie sie sehen, – und im Herzen wissen, daß der Abend bevorsteht, an dem sie mir erscheint: mir, der ich ihr dort hinauf alles, alles –«
»Und nun ist's aus? Kann sie nicht noch kommen?«
»Schweig! Man hört uns … Er fragte nach der dritten Loge im ersten Rang rechts«, rief Gaddi den andern entgegen. »Warum steht sie leer im ausverkauften Haus? Ich muß sagen, daß auch mich –«
»Das ist ja die Loge der Familie Nardini«, erklärte Polli.
»Aber –« machte der Advokat von fern.
Nello wandte sich, die Finger ineinandergeschlungen, dem Tabakhändler zu.
»Ist das wahr?« fragte er.
»Eh! Beim Bacchus!«
Da faßte, zwischen seinen gesträubten Brauen, der junge Savezzo den Tenor ins Auge. Seine pockennarbige Nase hüpfte frohlockend ein wenig auf, und er sagte:
»Ich glaube nicht. Der alte Nardini ist bei seiner Weigerung geblieben. Man hat jene Loge ihm zugeschrieben, dem Mittelstand gegenüber, der sie beanspruchte –«
»– und dem man sie hoffentlich nicht geben wird«, setzte der Herr Giocondi hinzu.
»Ich habe für das Volk gearbeitet, aber wie dankt mir das Volk?« fragte der Advokat, indes Nello sich an die Stirn griff.
»So viel ist sicher, die Familie Nardini kommt nicht«, sagte der Savezzo noch, – da sah man den jungen Sänger schwanken. Gaddi griff zu, aber Nello lag schon mit geschlossenen Augen am Boden. Alle waren zurückgesprungen, nur Gaddi beugte sich über ihn. Als sie dann herandrängten: »Was hat er?« – schnellte der Bariton wütend auf.
»Man darf wohl nervös sein, hoffe ich. Ich selbst bin abergläubisch, und jene einzige leere Loge gefällt mir nicht.«
»Ja«, sagte Savezzo und sah mit breitbeinigem Hohn auf Nello nieder, »sie sind zarter Natur, die Künstler.«
»Man sollte einen Arzt holen«, verlangte der Cavaliere Giordano.
»Aber es ist nichts«, behauptete der Apotheker.
»Man weiß nicht«, meinte der Advokat. »Auch ich habe einmal –«
»Einen Arzt!« rief Polli, umherfuchtelnd, unter die Arbeiter, die gafften. Laufend erschien der Kapellmeister.
»Was ist geschehen?« – und er war tief erbleicht.
»Gar nichts«, sagte Gaddi und rüttelte Nello. »Bringen Sie Wasser, Dorlenghi!«
Der Kapellmeister griff sich in die Taschen. Plötzlich warf er sich neben dem Ohnmächtigen auf die Knie.
»Wird er singen können? Sagen Sie nur das eine!«
Er sprang wieder auf.
»Mein Gott, ich bin verloren!«
Der Herr Giocondi stieß den Apotheker in die Seite; dem Advokaten blinzelte er zu.
»Übrigens, Maestro«, äußerte er, »hat auch die Primadonna sich geweigert, weiterzusingen. Sie schien sehr unzufrieden, wie, ihr Herren?«
Der Kapellmeister blieb stumm, und der Advokat fand es nötig, mit ausgebreiteten Armen hinter ihn zu treten. Aber der Kapellmeister fiel nicht um, er lachte laut auf und begann mit einer Stimme, die man an ihm nicht kannte, zu schreien.
»Wußte ich's nicht? Wußte ich's nicht?«
Gaddi richtete sich von Nellos Schläfen auf, die er rieb.
»Werden Sie nicht schweigen? Merken Sie nicht, daß man sich über Sie lustig macht? Auch dieser hier hat schon die Augen geöffnet!«
»Gleichviel«, machte der Advokat. »Wer, wie ich, außergewöhnlichen Gemütsbewegungen unterworfen ist, wird ihre Folgen nicht leichtnehmen. Wie fühlen Sie sich, mein Freund?«
»Einen Arzt«, rief der Tabakhändler hinter den Kulissen. Er war falsch gelaufen und stand unversehens vor seinem Sohn Olindo, der die große gelbhaarige Choristin unter den Achseln hielt und sie mit angstvollem Entzücken preßte. Einen Augenblick blieb der Vater, sosehr er mit den Armen vorwärts ruderte, am selben Fleck, als seien ihm die Füße eingesunken. Dann tat er einen Satz.
»Wie? Du bemerkst mich und läßt sie nicht einmal los? Ich will doch sehen, ob ich noch dein Vater bin!«
Und seine Hand klatschte rechts und links in Olindos Gesicht, das maßlose Enttäuschung malte.
»Ich liebe sie so sehr«, stieß er, wirr jammernd, aus. »Ich will sie heiraten.«
»Und du wagst es mir zu sagen! Welch ein Typus!«
»Aber warum schlagen Sie ihn?« fragte das Mädchen. »Was ist Schlimmes dabei? Geben Sie mir lieber eine Zigarette!«
»Fort! Beine!« – und Polli hob sich auf den Zehen, um den jungen Menschen zu wenden und ihm den Fuß in das Gesäß zu setzen. Als er ihn abgeschnellt hatte:
»Ich verbiete Ihnen, mein Fräulein –«
»Du bist doch nur eifersüchtig, mein Alterchen«, sagte sie und griff ihm unter das Kinn. »Aber ich liebe noch immer nur dich.«
»Hoffen wir's! Du darfst übrigens nicht wieder in den Laden rufen. Wehe, wenn meine Frau drinnen gewesen wäre … Auf morgen um drei! – aber wenn du mir den Jungen nicht in Ruhe läßt, sind wir keine Freunde mehr.«
»Das wäre schrecklich«, rief sie ihm nach. »Und die Zigarette?«
»Unglücklicher, was tust du noch hier?«
Denn Olindo saß auf einem Versatzstück und weinte.
»Anstatt ein Menschenleben zu retten, indem er einen Arzt holt, jammert dieser Unglückliche um eine Komödiantin! Eine Frau ohne einen Heller, die dir niemals treu sein würde!«
»O ja! das wäre sie!«
»Ah! Und der Advokat? Und der Baron? Frage sie einmal nach den beiden!«
»Das ist nicht wahr!« – und Olindo sprang auf, den Blick voll blinden Opfermutes. Der Vater lehnte sich zurück; er setzte sich, den Finger auf die fette Brust und lächelte breit.
»Dann frage sie also nach mir!«
Darauf ließ Olindo, rot bis in die roten Haare, die Lider sinken und knickte ein. Polli klopfte ihm auf die Schulter.
»Da du hier so gut Bescheid weißt, zeige mir, wo es hinausgeht!«
Durch die kleine Tür unter der Bühne gelangten sie ins Orchester, das leer war. Nur Nina Zampieri und der junge Mandolini saßen ineinander versunken bei der Harfe, und der alte kleine Beamte Dotti schnarchte mit seiner Klarinette unter dem Arm. Im Parterre erklärte der Tabakhändler jedem: »Wir brauchen einen Arzt, auf der Bühne ist einem etwas zugestoßen.«
Aber niemand verstand ihn in dem allgemeinen Gelächter, das Galileo Belotti entfesselte. Er stand vor einem ganz kleinen Menschen, der beim Eingang unter der Loge der Familie Giocondi an der Wand lehnte.
»Sie sind ja bucklig«, sagte Galileo mit erhobenen Brauen.
Der Kleine schrak auf.
»Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.«
»Ich aber habe sogleich erkannt, daß Sie bucklig sind« – und Galileo hielt unerbittlich den Finger auf ihn gerichtet.
»Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, werfe ich Ihnen das Glas an den Kopf«, schrie der Krüppel schrill, und seine Hand, die zitterte, verschüttete die Hälfte des Wassers.
»Vielleicht werden Sie mir das Glas an den Kopf werfen«, antwortete Galileo, »darum sind Sie aber immer noch bucklig.«
»Wieviel Witz er hat!« sagten die Pächter und drängten herzu.
»Aber ich rufe die Carabinieri herein!« kreischte der Verwachsene.
»Rufen Sie die Carabinieri! Das hilft Ihnen jedoch nichts: Sie bleiben bucklig« – und Galileo pflanzte sich fester auf. Der dicke Zecchini und seine Zechbrüder brüllten. Von draußen eilten die Leute herein, um mitzulachen.
»Ich werde Sie verklagen! Sie kommen ins Gefängnis! Was! Ich bringe Sie um!«
Das lange Gesicht des Zwerges war grün. Mit seinem Höcker schlug er taumelnd gegen die Wand; das Glas entfiel seinen Händen, die sich krampften, und auf die Lippen trat ihm Schaum.
»Wenn Sie auch alles tun, was Sie sagen«, erklärte ihm Galileo, »bucklig sind Sie, und bucklig bleiben Sie.«
Unerschüttert sah er ringsum, während sein Opfer sich am Boden wälzte. Der Barbier Bonometti und der Schneider Coccola waren mit dem Ausgang nicht zufrieden; sie nahmen den Menschen, der um sich schlug, und trugen ihn hinaus.
Vor der Tür standen große Gruppen. Am Rande der Terrasse, in der lauen dunklen Luft unter den Steineichen duckten Mädchen, die sich in Ketten umherschwenkten, den Nacken bei den Scherzen der Burschen. Mütter und Kinder umringten im Lampenschein am Palast den Eiskarren. Hier und da stieg eine Tenorstimme auf, mit zwei Takten aus dem Gebet der »Tonietta«, mit den ernst und selig schwebenden Tönen des Duetts: »Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus …« »Welche Musik!« sagte einer der jungen Leute in großen Hüten und bunten Halstüchern. »Es geschieht viel Trauriges in dem Stück, und dennoch, wenn man die Musik hört, scheint es einem, daß es keine Unglücklichen mehr auf der Welt gibt.«
»Trotzdem bringen sie dort einen«, sagte ein anderer; und alle zusammen:
»Kennt niemand ihn? Was ist ihm passiert? … Das ist ja der Schreiber des Notars in Spello. Ich war für meinen Herrn bei seinem … Wie soll er in seinem Zustand die drei Stunden zurückgehen? Hat er Geld, um zu übernachten? Gleichwohl, Gevatter Felipe, müßt Ihr ihn bei Euch aufnehmen.«
Der Wirt »Zu den Verlobten« weigerte sich. Bei so vielen Fremden, an einem solchen Tage! Jedes Bett sei drei Lire wert.
»So gebe ich eine!« sagte der junge Mann. »Und ich bin ein, Arbeiter, der zwei Lire fünfundsiebzig am Tag verdient.«
Er schlug sich auf die Brust und sah umher.
»Auch ich gebe eine.«
»Auch ich.«
Sie luden sich den Kranken auf die Schultern und liefen mit ihm die Treppengasse hinunter. Aus dem Theater scholl noch immer Gelächter. Die Frauen in den Logen wollten sehen, was geschehen ist. Die beiden Fräulein Giocondi gackerten durchdringend; ihr Vater sagte ihnen:
»Dieser Galileo! Sein Bruder, der Advokat, ist eine Persönlichkeit, aber auch er hat großes Talent.«
Galileo kugelte, die weißen Brauen emporgezogen, inmitten seines Erfolges umher und polterte.
»Pappappapp, man wird sich wohl einen Spaß machen dürfen! Und du, Polli«, sagte er zu dem Tabakhändler, der sich die Seiten hielt, »du wolltest einen Arzt? Für den Tenor? Nun, da schickt man den Ranucci, und inzwischen macht man seiner Frau den Hof. Ihr werdet noch ganz anders lachen.«
»Doktor!« rief er in die erste Parterreloge rechts, »auf der Bühne stirbt jemand. Rasch! Sie müssen hin.«
»Ich kann nicht«, rief der Doktor zurück und stellte sich vor seine Frau. »Sagen Sie es dem Kollegen Capitani!«
»Er ist nicht da. Wenn Sie nicht gehen, ist ein Mensch dahin, was Deixel!«
Galileo schrie so sehr, daß es ringsum still ward. Alle sahen in die Loge des Arztes, der die Arme ausbreitete und leise tanzte. Sein massiger Körper war ihm nicht groß und breit genug, um die kleine demütige Frau vor allen diesen Augen zu verdecken.
»Sie sollten gehen«, sagte neben ihm Mama Paradisi, »es scheint ernst.«
Drüben sah er Frau Salvatori einen mißbilligenden Blick mit Frau Malandrini wechseln. Die alte Frau Mandolini schlug mit dem Fächer hart auf die Brüstung ihrer Loge, und von der Galerie rief es:
»Laßt ihn! Er ist kein Arzt für die Lebenden, er ist einer für die Toten.«
Unter dem Druck der öffentlichen Meinung griff Ranucci plötzlich nach seinem Hut und eilte hinaus. Sogleich setzte Galileo Belotti sich in Bewegung.
»Holt mir den schönen Alfò!« verlangte er. »Ich brauche ihn, denn ich selbst bin nicht schön genug.«
Und als er ihn hatte: »Ich werde dich einer Frau vorstellen, die dir gefallen wird.«
Gemeinsam sah man sie in der Loge erscheinen. Frau Ranucci zog sich hinter ihrem Fächer ganz zusammen, indes Galileo unter fetten Seufzern kleine kurzbeinige Kratzfüße machte und der schöne Alfò eitel in den Saal lächelte. Man erhob die Hände gegen ihn, als wollte man klatschen, man stieß sich an, halblaute Ermunterungen flogen hin. Der kleine alte Giocondi in seiner Loge gerade gegenüber platzte lärmend los:
»O Gott, ich kann nicht mehr. Wie das komisch ist! Und es ist meine Idee: ja, gewiß, ich bin es, der sie Galileo eingegeben hat.«
Sogar die entlobte Rosina schüttelte sich; Cesira aber kniff den Vater in den Arm.
»Du bist ein unbezahlbarer Papa!«
Ihr Jauchzen weckte ihre Mutter, die das schmutziggraue Haupt erhob.
»Und die Miete, Ottone?« fragte sie blechern. »Wie soll ich sie bezahlen?«
»Wer denkt an die Miete? Hier gibt es zu lachen.«
Aber die Töchter waren auf einmal still.
»Welch gute Erfindung«, rief der Vater fröhlich, »daß dieser Tenor krank werden mußte! Der Bucklige krank, der Tenor krank, alle krank: nur ich nicht.«
Die Töchter sahen sich, die Zähne auf der Lippe, aus den Augenwinkeln an. Beunruhigt schielte der Vater nach ihnen hin.
»Oder bin ich vielleicht jemals krank gewesen?«
Da sie weiter schwiegen –
»Denn daß ich mir auf der Treppe das Bein gebrochen habe, das kann man doch nicht Krankheit nennen.«
Er ließ die Backen hängen und hatte einen bettelnden Ton.
»Habe ich nicht erst neulich in Adorna mit einem Handlungsreisenden gewettet, ich würde dreißig kleine Vögel essen, und habe die Wette gewonnen?«
Plötzlich schlug er sich wieder auf die Knie.
»Dieser Galileo streichelt ihr schon das Gesicht! Ah! das ist noch eine ganz andere Komödie, als die der Komödianten. Man müßte dabeisein. Was meint ihr, wenn ich hinginge?«
»Bleibe lieber da«, sagte Frau Giocondi. »Wer weiß, was der Doktor tut, wenn er zurückkommt … Da ist er schon.«
Man hielt den Atem an, und man hörte den Doktor Ranucci sagen:
»Was tun Sie?«
Er griff sich an den Kopf.
»Sie schicken mich zu einem Kranken, der seit einer halben Stunde wieder auf den Beinen ist, und inzwischen –«
Unversehens rötete er sich heftig; er tat einen drohenden Schritt. Der schöne Alfò wich – und sein törichtes Lächeln verging ihm – bis an die Brüstung zurück. Wie der Doktor die Hand ausstreckte, war er schon hinüber und sprang in den Saal.
»Bravo, Alfò!« rief man, was den Doktor zu erbittern schien. Voll Wucht trat er zwischen seine Frau und Galileo Belotti, der mit hohen Augenbrauen unverfroren weiterpolterte.
»Pappappapp, krank oder gesund, aber die Bekanntschaft Ihrer Frau haben wir gemacht. Mein Kompliment, Doktor, ein schönes Stück Frau …«
Er gurgelte; denn der Doktor hatte eine Faust in seinem Munde, und mit der andern griff er ihm ins Gebiß. Galileo brüllte dumpf: – da schwang der Doktor einen Zahn. Klatschen erhob sich; dann ward ein Sturm daraus, und Ranucci mußte sich verbeugen. Galileo war verschwunden.
»Siehst du, Ottone, wie es dir ergangen wäre?« sagte Frau Giocondi. Ihr Mann hatte die Hand an der Wange, als wäre der Eingriff bei ihm selbst vollzogen worden. Er suchte die Augen der Töchter. Rosina hielt die ihren im Schoß, Cesira hatte zwischen den gekniffenen Lidern ein dünnes, spitzes Lächeln. Der Vater stieß mit dem Fuß einen Schemel fort und schalt:
»Nun, eine Krankheit wäre auch das noch nicht!«
Das Lachen ging in Stößen durch den Saal; wenn es oben endete, begann es unten. Auf der Galerie, die sich wieder gefüllt hatte, rief man:
»Wie er tüchtig ist, der Doktor!«
Und die Väter hoben ihre Kinder auf die Schultern, damit sie ihn sehen konnten. Der Advokat Belotti wandte sich ironisch an seine Nachbarn in der Klubloge:
»Es scheint, daß der Doktor Ranucci den größten Erfolg des Abends hat.«
Sein Bruder Galileo zeigte sich wieder im Parterre, lehnte alle Bemitleidungen ab und sagte:
»Unterhalten habe ich mich doch. Und der Zahn war nicht mehr gut.«
»Wie man vom Lachen heiß wird!« bemerkte Mama Paradisi. Wie Mancafede wegsah, nahm sie ihr Fläschchen und befeuchtete sich unter den Achseln.
Frau Polli schlug mit ihrem Fächer mächtige Luftwellen.
»Welche Hitze! Werden sie denn niemals wieder anfangen?«
»Und die Haushälterin des Herrn Ortensi«, flüsterte der Tabakhändler, »hat ein gewisses Parfüm an sich –! Ich weiß wohl, daß er blind ist, aber hat er denn auch den Geruch verloren? Keines von jenen Mädchen auf der Bühne roch so stark. Du weißt, als Mitglied des Komitees konnte ich es nicht vermeiden, dort einmal nachzusehen. Aber was man nicht glauben würde, ist, daß auch dein Olindo sich dort umhertrieb. Ah! Schlingel, daß du dich nicht aus deiner Ecke rührst!«
»Das Theater ist zu voll«, sagte Frau Camuzzi zu dem Halbkreis junger Leute unter ihrer Loge. »Die Düfte der Galerie gelangen bis zu uns. Man sollte nicht erlauben, daß hier Knoblauch gegessen wird. Aber was ist von einem Komitee zu verlangen, das vor mich hin, gerade vor mich gewisse Damen setzt.«
Sie deutete mit dem Kopf, ohne hinzusehen, ins Parkett. Die große Raffaella war des Pächters schräg hinter ihr sicher und bekümmerte sich nicht mehr um ihn. Sie machte Augen nach vorn ins Orchester, wo der Tapezierer Allebardi ihr zu Ehren in sein Bombardon stieß. Aber der Mechaniker Blandini stach ihn aus mit einem frei erfundenen Thema auf seiner Klarinette.
»Der Nonoggi hat es auf dich abgesehen«, sagte Lauretta zu Theo. »Er schneidet dir Gesichter.«
Sie antwortete:
»Ich will nicht. Ich bin wegen der Musik hier, und jener Tenor nimmt einem den Mut, auf andere zu hören. Ah! ihm würde ich nicht nein sagen. Die Madonna wird nicht erlauben, daß ihm ein Unglück zugestoßen ist.«
»Wieviel Mitleid ich mit dem lieben jungen Menschen habe!« wimmerte Mama Farinaggi ganz süß und fromm; aber die beiden Fräulein Pernici fuhren dennoch zurück, gegen den Leutnant Cantinelli.
»Wie übrigens unsere heilige Religion es vorschreibt«, setzte die Eigentümerin des Hauses in der Via Tripoli hinzu und drehte die Büste allen Umsitzenden zu, während sie sich bekreuzte.
Über die Galerie ging plötzlich ein Raunen.
»Man sagt, Pomponia, daß er tot ist, der Tenor.«
»Dann ist an seinem Tode die Primadonna schuld, Felicetta; denn der Arme, aus Liebe zu ihr ist Ihm so übel geworden.«
»Hast du's von deiner Herrin?«
Die Magd des Kaufmanns Mancafede zuckte die Achseln und schloß sich mit dem Finger die Lippen.
»Also er liebt die Primadonna«, sagte unter ihnen Frau Salvatori zu Frau Malandrini. »Die Evangelina weiß es. Übrigens sieht man an seinem ausdrucksvollen Spiel, daß er wie wahnsinnig ist. Sie aber ist kokett und behandelt ihn schlecht.«
Die Frau des Steuerpächters neigte sich zu der Schwester des Unterpräfekten.
»Die Primadonna hat ein Kind, wie ich höre, von dem Tenor. Die guten Sitten finden sich nicht auf dem Theater.«
»Im Gegenteil, meine Liebe. Die beiden sind verheiratet, aber sie sagen es nicht, weil es die Illusionen verhindern würde.«
Frau Camuzzi erklärte:
»Dieser Tenor: wie heißt er noch –«
Sie sah auf dem Zettel nach.
»Er taugt noch weniger, als ich erwartete. Vor allem ist er völlig ohne Empfindung.«
»Aber mir scheint«, wandte der Gemeindesekretär ein, »daß er gerade infolge von allzuviel Empfindung in Ohnmacht gefallen ist.«
»Ah! sprechen wir ein wenig von seiner Ohnmacht. Was glauben die Herren: hat das Komitee sie bei dem Künstler bestellt, oder hat er selbst gefühlt, daß es vielleicht besser sei, der Wirkung seiner Kunst ein wenig nachzuhelfen?«
»Wieviel Geist die gnädige Frau hat!« sagte der junge Salvatori. Der junge Savezzo kreuzte die Arme und beobachtete mit Senkblicken das gehässige Aufleuchten in den Augen der Dame.
Die alte Frau Mandolini berührte ihren blinden Freund mit dem Fächer.
»Orlando, ich denke immer an jene Aufführung der ›Celimena‹ im Pagliano zu Florenz: sind es nicht fünfundvierzig Jahre? Diese kleine Garlinda ist die einzige, die mich je an die Branzilla erinnert hat: an die Branzilla, als sie jung war.«
»Was sagst du, Beatrice! War es doch auch mir so. Ich hörte, während jenes junge Mädchen sang, eine alte, sehr geliebte Stimme zurückkehren, wie in einem Traum, den ich beim Erwachen vergessen hatte.«
»Der Gennari ist sympathisch, ohne viel gelernt zu haben, denn es scheint, man lernt heute nichts mehr; und der arme Cavaliere Giordano hätte besser getan, sich nicht hören zu lassen.«
»Denn es ist, als sänge er uns immerfort in die Ohren, wie alt wir selbst nun sind.«
»Nur diese kleine Garlinda scheint noch von den großen Zeiten zu wissen.«
»Aber sie ist nicht schön«, sagte die Haushälterin des Blinden. Er rief:
»Nicht schön? Wunderbar schön ist sie!«
»Sie sehen sie doch nicht.«
»Aber wie schön muß sie sein!«
»Heraus!« rief droben der Schustergeselle Dante Marinelli.
»Maestro!«
Und plötzlich trampelte und schrie die ganze Galerie.
»Macht man sich über uns lustig? Es ist eine Schande!«
Der Lehrling des Konditors Serafini pfiff gellend auf den Fingern. Der Advokat Belotti trat an den Rand der Klubloge und entblößte mit einer Verbeugung das Haupt vor ihm und vor dem Volk.
»Meine Herren, haben Sie Geduld …!«
Es ward still, und da hörte man in der letzten Parkettreihe den Bäcker Crepalini:
»Auch noch in der Klubloge, der Advokat! Wie viele Logen hat er denn? Ich aber, der ich sechs Plätze –«
»Schweig!« – und droben wurden Fäuste geschüttelt. »Du hungerst uns aus. Er ist der einzige Bäcker, weil er die Herren bezahlt; und dafür darf er uns aushungern mit seinem teuren Brot. Rede, Advokat!«
»Denn«, keuchte der Advokat, »wir sind noch neu in diesen Dingen: es ist die erste Vorstellung in unserer Stadt seit achtundvierzig und dreiviertel Jahren. Dann der Unglücksfall, den die Herren verzeihen mögen, mit jenem jungen Künstler, der so viel Talent hat …«
»Der Arme! Ja, wir werden Geduld haben«, riefen die Frauen.
»Aber wir werden alles tun, was möglich ist, und in fünf Minuten, o meine Herren, werden Sie befriedigt werden.«
»Bravo, Advokat!« – und es ward geklatscht. Der Barbier Bonometti rief:
»Er ist ein großer Mann, der Advokat!«
»Da ist Brabrà! Bravo, Brabrà!« – und plötzlich lachte alles. Die jungen Leute mit großen Hüten und bunten Halstüchern sagten:
»Er stand, als wir den Buckligen forttrugen, ganz allein auf dem Platz und machte dem Mond seine Komplimente: da haben wir ihn mitgebracht. Du sollst Musik hören, Brabrà!«
Und der Advokat mußte sehen, wie der kleine Uralte, als parodierte er ihn, das Volk grüßte. Er führte seinen Hut, der keinen Rand mehr hatte, im Bogen über die Ränge, er legte die Hand aufs Herz, schlug mit dem Fuß aus, – und unter dem Jubel der Galerie schienen die Gesichte, denen er in den leersten Gassen nachging, zur Wirklichkeit geworden, und die Menge war da, die ihn feierte.
»Aber der Mittelstand wird gefährlich!« sagte Frau Camuzzi zum Baron Torroni.
Denn der Bäcker Crepalini fuhr fort zu agitieren. Man sah ihn mit seinen herausquellenden Augen und seinem furchtbaren Gebiß im Parterre sich abarbeiten, die Leute um sich her zusammenziehen und unter wütenden Schlägen in die Luft Aufruhr bei ihnen stiften.
»Warum steht Ihr hier unten und laßt Euch stoßen, Gevatter Felipe? Ihr wißt es nicht. Dann fragt also den Malandrini. Er ist der Wirt ›Zum Mond‹, Ihr seid der Wirt ›Zu den Verlobten‹; eine Loge aber ist nur für ihn da. Versteht sich, denn seine Frau ist eine Schwester der Frau Polli, und der Tabakhändler ist ein Onkel des Doktors Capitani, dessen Frau eine Großnichte des Bürgermeisters ist!«
»Die Herren halten zusammen«, sagte der Schlosser Fantapiè, der mit dem Schlosser Scarpetta von der Galerie herabgestiegen war; »und der einzige, der dem Volk helfen kann, ist Don Taddeo.«
Der Schuhmacher Malagodi bekam einen roten Kopf.
»Man kann sagen, daß wir im Nepotismus umkommen. Warum bin ich nicht Gemeinderat geworden? Weil die Elena, mein Lehrmädchen, sich geweigert hat, zu tun, was der Severino Salvatori von ihr verlangte. Die Herren machen Ansprüche …«
»Die Herren!« schnaubte der Bäcker, und der dicke Nußknackerkopf wackelte vor Zorn auf seinen engen Schultern. »Wenn es noch Herren wären! Aber seht nur jenen Giocondi an, der nun die zweite Frau zugrunde gerichtet hat und als Versicherungsagent umherzieht: wer ist mehr Herr, er oder ich, der fünftgrößte Steuerzahler der Stadt? Aber weil seine erste Frau eine Pastecaldi und Schwägerin der Schwester des Advokaten Belotti war, hat die Loge der Giocondi, nicht ich. Und da eine übrig ist, läßt man sie lieber leerstehen, als daß man sie einem Manne wie mir gibt.«
»Die Herausforderung gilt mir« – und der alte Schenkenheld Zecchini schob seinen Bauch in den Haufen. »Denn wenn man eine Loge bekommt, weil man Bankrott gemacht hat, muß auch ich eine bekommen.«
»Was denn? Welche Loge?« polterte Galileo Belotti. »Wißt ihr denn nicht, daß jene leere Loge dem Advokaten gehört? Denn sonst hätte er nur die unserer Schwester, die der Jole Capitani und die Klubloge, und ihr begreift wohl, daß ein Mann von seiner Wichtigkeit eine vierte nötig hat.«
Der junge Savezzo schien unabsichtlich in den Haufen geraten.
»Wir haben den Advokaten Belotti, wie Rom den Cäsar hatte«, erklärte er. »Ist das nicht genug? Aus Bewunderung für unsern großen Mann verschmerze ich es leicht, daß meine Mutter und meine Schwestern zu Hause bleiben mußten, weil keine Loge für sie da war.«
»Man müßte ein Lamm sein wie Ihr, Herr Savezzo«, sagte der alte Seiler Fierabelli, »um nicht zu sehen, daß keine Gerechtigkeit in der Welt ist.«
Der Barbier Druso bestätigte es; der Barbier Bonometti wandte ein:
»Der Advokat tut viel für das Volk. Es ist, wie der Herr Savezzo sagt: er ist ein großer Mann.«
»Was, großer Mann!« – und Galileo hüpfte auf. »Wenn einer den Advokaten kennt, bin ich es, und ich sage dir, daß er noch nicht einmal der Dreck eines großen Mannes ist!«
Frau Malagodi mischte sich ein:
»Ich habe meinen Hut abnehmen müssen, der nicht weniger gekostet hat als das Ungeheuer, das die Paradisi auf dem Kopf trägt. Aber sie sitzt in einer Loge.«
»Sitzen nicht auch die Kommis des Mancafede mit ihm in der Loge?« schrie ihr Gatte. »Damit erspart er ihre Gratifikationen, der alte Geizhals!«
»Gegen die Herren kann niemand helfen als Don Taddeo«, wiederholte hartnäckig der Schlosser Fantapiè. Der Bäcker brach vor:
»Ich weiß noch einen, der mir hilft, und das bin ich.«
Er holte seine Frau und seine vier Kinder von den Sitzplätzen und schob die ganze Herde vor sich her.
»Wohin, Crepalini?«
»Ich will ein wenig nachsehen, wem die leere Loge gehört. Komm mit, Malagodi!«
Auch der Schuhmacher trieb die Seinen zusammen.
»Wir alle sind dabei, wenn es lustig wird!« rief der dicke Zecchini und hieb mit seinem Bauch ein Loch in die Menge. Das ganze Parterre schlug Wogen, die aufbrüllten.
»Seid ihr dort unten etwa verrückt geworden?« rief die Galerie.
»Ruhe! Du willst wohl Prügel, Volksaushungerer? Keinen Ton hört man. Lauter, Maestro! Bring sie mit den Trompeten zum Schweigen!«
Die meisten bemerkten erst jetzt, daß der Kapellmeister da war und daß er dirigierte. Er sah sich nicht um nach dem Getöse und ließ, geneigten Kopfes, ganz sanft die Arme schweben, als sei er mit seinem Orchester allein. Der Bäcker Crepalini, der den Ausgang fast erreicht hatte, fuhr zurück, denn ein abgenagter Apfel war ihm heftig ans Ohr geflogen. Der Schuster Malagodi fühlte etwas Feuchtes auf seine Glatze klatschen, und droben jubelte eine Jungenstimme:
»Ins Zentrum!«
Auf einmal erstickte der ganze Lärm: es war dunkel, keine Lampe brannte mehr. Erschreckt suchte man einander ins Gesicht zu sehen. Im Saal war ein unterdrücktes, unbekanntes Hin und Her von Keuchen und Scharren. Etwas Drohendes wälzte sich heran! »Was gibt es?« In den Logen sprang man auf. Eine Frau rief:
»Himmel! man ermordet mich!«
Und Stimmen auf der Galerie:
»Feuer! Hinaus! Wir sind alle verloren.«
»Nicht doch!« schrie eine Fistel, und man erkannte, aufhorchend, den Advokaten Belotti. »Es ist nichts, lassen Sie mich machen!«
Der Herr Giocondi brach plötzlich in tobendes Lachen aus; seine Töchter mußten ihn auf dem Stuhl halten; – und darauf begriff auch die Galerie:
»Das hat der Advokat getan! Ein Streich des Advokaten! Spaßvogel, geh! … Genug! Wir wollen Licht. Wo ist Elenuccia hin? … Bravo, Advokat!«
»Seht ihr jetzt, daß er ein großer Mann ist?« rief der Barbier Bonometti, – indes der Advokat im Dunkeln sich verbeugte.
Da es schon wieder hell war:
»Ah! Aber wir wollen auch die Bogenlampe.«
»Ruhig! Man spielt!«
»Da ist der Piero, da ist er! Bravo! du bist schön.«
»Es lebe die Madonna, weil es ihm gut geht!«
»Ruhig die Weiber! … Ein Platz in Rom, sagst du? Aber das ist unser Brunnen! Nur jenen Bogen haben wir nicht, aber die Stadt sollte ihn bauen.«
»So also steht es jetzt mit deiner Tonietta, o Piero. Warum hast du sie fortgejagt und nicht auf uns gehört, denn sie war unschuldig, sonst will ich blind werden!«
»Noch einmal! Noch einmal!«
»Wie er bleich ist, Dante!«
»Es kommt, weil es Nacht wird. Die Freunde sind fort, die ihm gesagt haben, was aus der Tonietta geworden ist. Er steht allein, das Gesicht im Mantel, und weint … Er singt. O Cölestina, höre das, höre! Ich weiß nun wieder, wie es war, als ich glaubte, du betrögest mich!«
»Und an der Ecke? Das ist sie! Das ist die Tonietta!«
»Sprich nicht! Was wird geschehen?«
»… Lege mir deine Hand auf das Herz; ich bin außer Atem: sie hat ihn erkannt!«
»Rufini, was meinst du? Ich bin in die Stadt gekommen, um ein Kalb zu verkaufen, nicht, um über erfundene Dinge zu weinen. Auch weine ich nicht über sie, sondern über mein Haus, das mir vor drei Jahren abgebrannt ist, und mein Söhnchen, das darin umkam. Ist es die Musik, die sie machen? Mir ist, als steige ich wieder in den Trümmern umher. Und doch will ich nicht fort; denn dies ist der erste richtige Trost, den jemand mir gibt.«
»Wird er ihr glauben? Wird er? … Er glaubt ihr!«
»Es ist ein wenig spät. Ich würde sie nicht mehr nehmen.«
»Du hast keine Poesie, Malandrini. Höre doch, was sie einander vorsingen. Ihnen scheint, daß sie vor ihrem Hause stehen wie in ihrer Hochzeitsnacht, unter den Ölbäumen, durch die der Mond scheint. Man hat solche Einbildungen, wenn man liebt.«
»Woher weißt du das?«
»Da, Polli, wieder ›Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus‹.«
»Aber es ist entschieden kein Vergleich möglich mit unserem Phonographen. Das ist übrigens gut: ›Laß uns unser Bett aufsuchen.‹ Ich sehe kein Bett: alles Stein, und der Himmel sieht nach Regen aus. Ah! sie meinen, daß sie sich unter jenen Bogen legen wollen. Einverstanden; aber ob sie sich so aufführen werden, daß wir Olindo hierlassen können? … Was gibt's, Giocondi?«
»Der Bettler, da ist er. Oh! ist der Cavaliere komisch. Seht ihn euch an, Töchter! Ich kenne ihn schon. Er hat es mir vorgemacht, und ich habe ihm Ratschläge gegeben … Bravo, Cavaliere!«
»Bravo! Noch einmal! Wie man lacht! Ich kann nicht mehr.«
»Jetzt sind sie allein, kaum erkennt man sie im Schatten; und immer wieder hörst du es durchklingen: ›Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus heißt uns blühen‹ …«
»O Nina, deine Harfe!«
»Man würde nicht glauben, daß man noch auf Erden ist.«
»Es würde sich lohnen, unglücklich zu sein, um dann so glücklich zu werden wie diese.«
»Aus … Was haben sie? Warum soll man nicht klatschen: der Vorhang ist zu.«
»Aber das Orchester spielt weiter. Man sagt, daß sie spielen werden, bis die auf der Bühne sich ausgeruht haben und wieder singen.«
»Pappappapp, ich gehe hinaus und rauche eine Zigarette. Es passiert doch nichts.«
Die jungen Leute in großen Hüten und bunten Halstüchern nickten, die Arme verschränkt, einander in die Augen.
»Wie viele Dinge jetzt vorgehen! Ist es möglich? Solch Leben! So also wird es sein, wenn einmal das Volk sich Gerechtigkeit schafft.«
»Dies aber«, – und der alte Literat Ortensi breitete zitternd die Arme aus, »o dies geht hinaus über die glückliche Liebe jenes Volkes, das einen Engel gebar. Denn dies, o Beatrice, ist die Abdankung und die elende Herrlichkeit des Helden, der das Land verläßt, das er erkämpfte. Die Liebe der Sterbenden! Ist's nicht zuletzt dies, was wir haben?«
Die alte Frau schwieg, und sie streichelte seine Hand.
»Wie schade«, sagte der Apotheker Acquistapace zu der Witwe Pastecaldi, »daß der General Garibaldi diese Musik nicht gekannt hat! Gewiß hätte er sie spielen lassen, wenn er uns das Ziel, die Freiheit, vor Augen rufen wollte. Welche Begeisterung! Ist mir doch, nun ich zuhöre, als sähe ich wieder dem Helden selbst ins Gesicht.«
Der junge Savezzo schielte in der Klubloge auf seine Nase.
»Was schiert mich die Sache der andern und ob sie vor oder hinter dem Vorhang leben oder sterben. Nur mir gilt dies, denn nur ich habe Schicksal, werde triumphieren über die, die mich niederhalten, und werde mächtig und berühmt sein … Diese Musik hätte ich machen können; auch sie hat man mir geraubt.«
Hinten in der Loge der Frau Jole Capitani, der er einen heimlichen Besuch machte, wippte der Advokat Belotti mit den Absätzen, suchte unruhig auf dem Fußboden umher und dachte an die Niederwerfung des Don Taddeo, die Gründung einer Zeitung, die Belebung der Stadt und ihre Beglückung. ›Niemals fühlte ich, wie sehr ich ihr gehöre!‹ Seine Augen, die sich verschleierten, irrten von unten über die Hüften der Doktorsfrau, als seien es die Plätze der Stadt, und bis auf das entblößte Stück ihres gepolsterten Nackens. Sie wandte sich um, und er sagte:
»Wer diese Musik geschrieben hat, der wußte, was ein großer Mann ist.«
Unter ihnen schluchzte eine Frau heftig auf. Sie horchten; es blieb still.
»Frau Camuzzi? Unmöglich. Sie ist zu wohlerzogen; und dann, welchen Grund sollte sie haben, zu schluchzen?«
»Oh! jede Frau findet dazu Grund«, erwiderte Jole Capitani, und der Advokat erkannte mit Genugtuung, daß ihr unsicherer Blick nur noch ein wehrloses Flehen war.
»Bravo, Maestro!«
Der Kapellmeister fuhr auf seinem Sessel herum und machte im Sitzen mehrere rasche Verbeugungen. Die Haare klebten ihm in der Stirn; den Stab führte er jedesmal, als nötigte ihn ein unberechtigtes Gesetz dazu, flüchtig und bedeutungslos über seine Mitarbeiter im Orchester hin.
›Zum Schluß klang es dennoch wieder tragisch‹, stellte Rosina Giocondi im stillen fest. ›Es wird sich zeigen, wenn der Vorhang aufgeht … Natürlich, vor dem Wirtshaus ist der erste, den man sieht, der Conte Tancredi, der damals die Tonietta verführt haben soll. Dem Piero dagegen, der nun Schuhe flicken muß, bringt jene Frau, die ihn haben wollte und die jetzt die Wirtin zu sein scheint, zu essen. Sie hält ihm ihren Fuß hin, sie verführt ihn. Die Tonietta drüben bemerkt es wohl, drum kokettiert sie auch von ihrer zerbrochenen Treppe herab mit dem Tancredi. Es ist schon wieder aus, meine Lieben, mit dem Glück. Das kennt man. Man hofft zu leicht; – aber auch mit Olindo Polli ist es nichts, sonst hätte er in der langen Pause der Mama einen Besuch gemacht.‹
»Paß doch auf, Piero!« rief jemand auf der Galerie. »Er nimmt sie dir weg!«
»Sei still! Er hat es schon bemerkt. Der Tancredi geht, alle Gäste gehen: jetzt bekommt sie das Ihre.«
»Was, Dante! Wie kannst du so böse sein gegen die arme Tonietta. Ich, deine Cölestina, verstehe sie zu gut.«
»Du verstehst, daß sie ihn, obwohl er Mitleid mit ihr gehabt hat, betrügt?«
»Ich verstehe, was sie sagt: ›Du hast mir schon einmal unrecht getan, ich war unschuldig.‹«
»Auch er aber hat recht: ›Seither warst du's um so weniger!‹ Denn sie war eine Dirne, wie?«
»Hat er's anders gewollt?«
»Gut! Er schließt sie ein und geht. Das verdient sie.«
»Nicht fortgehen, Piero! Der andere wird kommen!« rief Cölestina so laut, daß Nello Gennari den Fuß anhielt und sich umwandte. In den Logen lachten mehrere. Eine Sekunde lang spähte er mit dem düsteren Blick seiner Rolle durch den Saal, dann stieß er beide Fäuste hinter sich und trat in die Kulissen. An ihrem Rande blieb er stehen. Flora Garlinda stützte sich dort vorn auf das Fenster und sang ihre Arie: »Welche Erlösung, nicht mehr von Liebe zu wissen.« Es war ihre schönste, und sie sang sie wie ein Engel: ganz sicher mußte sie sie wiederholen … Nein? Wenige klatschten, und sie wurden zum Schweigen gebracht.
›Die Leute sind neugierig. Sie fühlen eine Entscheidung kommen; wahrscheinlich klopft ihnen das Herz. Keine Stimme ist mehr im Saal, kein Geräusch. Ja, starrt her! Gaddi ist aufgetreten, mit seiner Peitsche und seinem strammen Bauch, den er schwenkt, indem er die Hose höher zieht. Ein furchtbarer Kerl! Er hilft meiner Tonietta aus dem Fenster, führt sie auf die Straße, will sie fortschleppen. Noch widersteht sie; aber seid überzeugt, sie wird mitgehen: ich habe Unglück.‹
»Mein Lieber«, sagte hinter ihm der Cavaliere Giordano, der schon abgeschminkt war, »was halten Sie von meinem Bettler? Welch Erfolg! Sagen Sie nur!«
Der junge Mann war zu tief in seinen Gedanken.
›Gaddi ist großartig. »Ich bin nicht eifersüchtig wie er; mir gefallen die Dirnen«: seine Glanznummer … Und sie schweigen, keine Hand rührt sich. Armer Freund! er hatte schon die Linke auf der Brust, um sich zu verbeugen. Aber du vergißt, daß wir da sind, um sie aufzuregen. Sie wollen durch uns einen hohen Herzschlag bekommen: an unseres denkt keiner. Die dritte Loge ist leer geblieben … Wie dort hinten die Augen glühen! Mir scheint, ich fühle die Hitze ihres Atems bis hierher. Sogleich werdet ihr befriedigt werden, meine Herren. Sogleich wird Italia, die Verräterin, mich rufen; ich werde vorstürzen, ich werde sie beide –. O Alba!'
Er zog die Schultern in die Höhe, schüttelte, mit geschlossenen Lidern, heftig den Kopf und stieß das Gesicht in die Hände.
›Ist es möglich? Von allem, was meine Seele schreit, kein Echo? Vor einer leeren Loge spielen? Und nachher? Was nachher?‹
»Da bin ich!« – und er fuhr hinaus. Das Zittern des Hasses, des gehässigen Elends, er fühlte, daß es von ihm auf eine unbekannte Menge übergehe, auf die in Dunkel versunkene Welt dahinten, deren Keuchen das seine war, deren Leiden er seine Stimme gab. Wie er mit dem Verführer und Herrn kämpfte, empfing er leise Zurufe der Angst. Nun streckte er ihn hin, – und da jauchzte es auf, und neben ihm fielen Blumen nieder.
»Warst du sein? Sage die Wahrheit! Die Wahrheit!«
»Gnade!« rief eine Frau von oben, aber er stach zu.
»Ich habe nur dich geliebt, Piero«, hauchte die sterbende Tonietta; und auf der Galerie die Geliebte des Schusters: »Hörst du es, Dante?«
»Bravi! Alle heraus! Maestro!«
Der Kapellmeister lief schon. Die Kette der Darsteller zog ihn aus der Kulisse hervor. Erst als die Hand, nach der er gegriffen hatte, die seine drückte, merkte er, daß sie Flora Garlinda gehörte. Sie verbeugte sich, wie sie dem Publikum dankte, halb zu ihm gewendet, mit einem Lächeln zärtlicher Unterwürfigkeit. Der runde schwarze Mund des Baritons beteuerte seine Ergriffenheit; Italia kitzelte alle, die, bis unter die Bühne gedrängt, klatschten, mit den Augen; und Nello Gennari tat nichts, als daß er sich niederdrücken und wieder emporreißen ließ von dem Cavaliere Giordano, der abgeschminkt, aber noch im Kostüm des Bettlers, unermüdlich zusammenknickte. Mit seiner freien Hand winkte er in den Saal.
»Bravo, Cavaliere!« rief Frau Camuzzi sehr laut; und der Unterpräfekt, Herr Fiorio, kehrte noch einmal in die Loge zurück, um den Beifall zu Ehren des berühmten Sängers zu verstärken.
Wie Frau Camuzzi ihrem Manne folgen wollte, stand der junge Savezzo vor der Tür ihrer Loge und versperrte sie ihr.
»Gnädige Frau« – und er sah ihr in die Augen, »die Ohnmacht des Tenors war echt. Ihm wurde schlecht, weil jene Loge leer blieb.«
Da Frau Camuzzi erbleichte, schielte er, wie aus Diskretion, auf seine Nase. Frau Camuzzi trat zurück.
»Warum sagen Sie mir das?« fragte sie halblaut. Er drückte die Hand auf die Brust.
»Ausschließlich, um Ihnen etwas Neues zu sagen. Ich hoffe, daß ich der erste bin!«
Ihr Blick irrte in den Saal und traf unter denen, die noch klatschten, den jungen Severino Salvatori. ›Er wollte die Nardini heiraten‹, dachte sie; ›und er kann fechten. O Verräter! Ich werde dich töten lassen …‹
Ihr schwindelte vor Gedanken; sie setzte sich.
›Aber der Savatori ist eitel und wird prahlen. Übrigens ist ein Duell unmöglich. Der alte Nardini wird erfahren, wer seine Enkelin in einen Skandal verwickelt hat. Er ist einflußreich, und mein Mann verliert seinen Posten. O Elend, an das Interesse eines solchen Mannes gebunden zu sein!‹
Sie klatschte; sie rief:
»Bravi! Bravo, der Gennari!«
›Ich brauche einen Menschen‹, dachte sie, ›der etwas Stärkeres hat als seine Eitelkeit: einen Haß wie ich, damit er verschwiegen ist. Und das Geld der Nardini muß ihm eine furchtbarere Begierde machen als dem Gecken Salvatori; er muß arm und ehrgeizig sein, damit er ohne Bedenken ist.‹
Da überraschte sie den Blick, den der Mann neben ihr unter seinen gewulsteten Brauen auf den jungen Tenor warf. Der vom Neid gekrümmte Mund des Savezzo, die graue Blässe seiner pockennarbigen Haut schienen ihr Glück zu versprechen, die Muskeln seiner verschränkten Arme erquickten sie. In seinen Lackschuhen sah sie schwarz verschmierte Sprünge: da entschloß sie sich.
»Mein Mann wird mich draußen suchen. Jetzt müssen Sie mich begleiten, Herr Savezzo.«
»Es lebe der Advokat!« rief es hinter ihnen her, und wie Frau Camuzzi sich umsah, machte auf der Bühne, als mittleres Glied der Kette von Gefeierten, der Advokat Belotti seine Kratzfüße. Ihr Mann stellte sich gerade ein; Frau Camuzzi lächelte ihm heiter zu.
»Sie vergessen zu rufen: ›Es lebe der Gemeindesekretär!‹«
»Bravo, Advokat!« – und auf der Galerie hing alles in einem Knäuel hoch über seinem Kopf. Er sah verklärt hinauf.
»O Volk!« murmelte er.
»Weine nicht mehr, Cölestina«, sagte droben der Schuster Dante Marinelli. »Sie konnten nicht länger leben; es ist besser, daß der Piero ein Ende gemacht hat.«
»Aber ist nun etwa sie schuld?«
»Oder er? Es war ihr Schicksal.«
»Und was wird unseres sein, Dante?«
Er umarmte ihre Schultern. Ein Strom Fortgehender ergriff sie. Aneinandergedrängt, verschwanden sie darin.
»Das Theater hat sich geleert«, sagte die alte Frau Mandolini. »Wir können aufbrechen, Orlando, ohne Furcht, daß sie dich stoßen. Nimm meinen Arm: wir sind auf dem Korridor, hier kommt die Treppe.«
»Der Schluß war wirklich aufregend«, sagte die Haushälterin und erwiderte über die Schulter die Blicke der Herren Polli und Giocondi.
»Er war mehr als aufregend«, sagte der Blinde. »Diese Vorgänge, nicht wahr, Beatrice, haben uns tiefer bewegt, als eine Liebestragödie in unserm Dorf, unter unserm Fenster. Warum? Was macht diese Dinge groß?«
»Daß ein Volk sie mitfühlt, Orlando: ein Volk, das wir lieben! Denn es ist noch dasselbe, dem wir unsere Jugend gegeben haben. Hast du gehört, wie sie jenen Unglücklichen anfeuerten, ihr Urteil zu vollstrecken an dem Herrn, dem gelbbärtigen Herrn?«
»Ein Zeichen also!« rief der alte Literat. »Ein Zeichen für das, was wir getan haben! Aber auch was wir taten, ist nur ein Zeichen, denn immer aufs neue wird die Menschheit Herren zu stürzen haben, wird der Geist sich messen müssen mit der Macht.«
»Wir werden zur Stelle sein.«
Der Alte warf den Kopf zurück.
»Aber dieser Piero tötet auch seine Tonietta. Heißt das, daß wir vergeblich gekämpft haben werden und daß das Ziel, die Freiheit, eins ist mit dem Tod?«
»Gleichviel«, erwiderte seine Freundin, »wir werden kämpfen.«
Sie gelangten ins Freie.
»Ich komme mit dir, Orlando; denn mein Enkel wird die Nina Zampieri nach Hause bringen. Gut so; mag er sie rasch heiraten, die liebe Kleine, damit sie ihrer armen Mutter nichts mehr kostet.«
»Beginnen jetzt die Stufen, Beatrice?«
»Ja; und man hat die Treppengasse so schlecht beleuchtet, daß ich kaum mehr sehe als du. Stütze dich um so fester auf mich, Freund.«
»Es wird besser sein, gnädige Frau, er nimmt meinen« – und die Haushälterin drängte ihren Arm zwischen die beiden Alten. »Nehmen Sie, Herr Ortensi!«
Und streng flüsternd:
»Du wirst kein Wort mehr mit ihr sprechen! Den ganzen Abend hast du dich nur um sie bekümmert.«
Die alte Frau lächelte barmherzig.
»Nur voran, Orlando! Ich bleibe hinter dir.«
Und sie stiegen langsam ins Dunkel.
Der Tabakhändler rief plötzlich:
»Wo ist Olindo?«
Er blieb stehen; die Familien Polli und Giocondi stauten sich in der Treppengasse.
»Wirst du denn niemals auf deinen Sohn achten, Klothilde?«
Der alte Giocondi machte, den Kopf zurückwerfend: »Eh!« – und seine Töchter sahen sich, die Münder herabgezogen, an: auch sie wußten wohl, was aus einem jungen Manne ward, der zu solcher Stunde abhanden kam.
»Wehe ihm, wenn er heimkommt!« schloß Polli.
Olindo hörte es hinter dem Vorsprung des Hauses Belotti, und er zitterte. Dennoch war er, kaum daß die Seinen um die Ecke bogen, in vier Sätzen wieder oben und drang ins Theater. Gerade hüpfte hinter der erloschenen Rampe der Barbier Nonoggi umher, verrenkte das Gesicht und knickte unvermittelt in zwei Teile.
»Wie der Cavaliere! Bravo, Nonoggi!« riefen die Freunde hinauf aus einem Winkel vorn im halbdunklen Saal und aus dem Dunst, den die Stadt hinterlassen hatte.
»Auch uns soll man beklatschen! Was wäre die ›Arme Tonietta‹ ohne uns, frage ich. Hinauf, Allebardi! Blandini, hinauf!«
Hinter ihnen schlüpfte Olindo Polli durch die Bühnentür.
»Was habt ihr da auf euren Notenbüchern für Bilder?« fragten die Freunde. »Ah! der Allebardi stößt so stark ins Bombardon, daß ihm seine Tapeziererfedern herausfliegen und die Hühner der Hühnerlucia krepieren. Ah! die Klarinette des Artilleristen Blandini liegt auf der Lafette, und Nonoggi bläst seine Flöte vor dem Rasierspiegel. Welche Fratze er schneidet! Ihr seid große Künstler!«
Der Kapellmeister kam, um seinen Hut zu suchen. Er steckte den Kopf unter alle Stühle, und wenn er hervorkam, sah man ihn stehen und lächeln.
»Wie, Maestro? Wir haben ihnen gezeigt, was wir können!« sagte der Tapezierer.
»Ja, ja, ihr seid sehr brave Leute« – und der Kapellmeister streifte die Hände nur und sah niemand an.
»Ich habe alles aus euch herausgeholt, was möglich war.«
Dabei nahm er seinen Hut vom Rande des Souffleurkastens und lief hinaus.
»Wie?« sagte der Tapezierer und sah den Schneider Chiaralunzi an, der die Faust auf ein Notenpult fallen ließ.
»Er wird verrückt geworden sein«, meinte Blandini. »Den ganzen Abend schien er mir seltsam.«
»Hat er nicht auch –?« fragte Nonoggi und schien sich aus der hohlen Hand etwas in den Mund zu gießen.
Der Schneider fand Worte.
»Ein böser Mann ist er!« sagte er schwer. »Ich irrte mich, als ich ihn für einen guten Mann hielt. Aber ich bin noch rechtzeitig gewarnt worden.«
»Hört den Schneider!« rief Nonoggi. »Er versteht mehr als der Maestro und wir. Er wird mich die Pickelflöte blasen lehren.«
»Ein böser Mann«, wiederholte Chiaralunzi, »mein Tenorhornsolo fand er nicht gut, und sogar das Fräulein Flora Garlinda hat er beleidigt, indem er ihre Arie nicht noch einmal gespielt hat.«
»Sogar das Fräulein!« höhnte der Barbier. »Ein Fräulein zum Lachen. Es heißt, daß sie in den Schenken gesungen hat. Nehmt sie doch mit, Chiaralunzi, wenn Ihr mit Eurer Bande den Bauern aufspielt!«
Dunkelrot und wortlos holte der Schneider zum Schlagen aus, aber Nonoggi war entwischt. Er fand den Kapellmeister draußen unter den Steineichen; er tänzelte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
»Welch Unglück, Maestro, daß ein friedliches Leben mit dem Schneider nicht möglich ist! Kein Tag, an dem er Euch nicht verleumdet. Ihr sollt getrunken haben, Ihr sollt niemandem etwas gönnen. Hört Ihr's, Maestro? Sich selbst hält der Schneider für einen größeren Künstler, als Ihr seid!«
Der Kapellmeister hatte den Hut im Nacken; er lehnte an einem Baum.
»Gut, mein Lieber«, sagte er und lachte sonderbar. »Alles ist gut gegangen; ich bin zufrieden.«
»Aber der Schneider –«
Der Kapellmeister machte eine Bewegung, die den andern wegschickte. Wie er den Rücken von dem Stamm hob, schwankte er deutlich.
»Er hat also doch getrunken«, bemerkte der Barbier. »Ich dachte es gar nicht.«
Erstaunt sah er den Kapellmeister die Treppe hinabspringen. Er nahm drei der breiten Stufen auf einmal und setzte ohne Not über die Prellsteine.
Auf dem schiefen kleinen Platz beim Hause Belotti schöpfte er Atem, aufgerichtet und das Gesicht zum Himmel gewendet. ›Ich habe also ein Volk gesehen! Das Volk, für das der Maestro Viviani seine Oper geschrieben hat. Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein Volk höre uns! Wir wecken seine Seele, wir … Und es gibt sie uns! Ich weiß jetzt, welche Stimmen, wenn ich komponiere, mit dem blauen Wind durch mein Zimmer streichen. Es erfindet für uns, dies Volk, es fühlt und tönt in uns. In der Musik der »Armen Tonietta« hat es seinen eigenen Tonfall wiedererkannt, seine Gesten, sein Tempo. Die ungeheure Wirklichkeit der Klänge und Gesichte übertraf vielleicht, was sie je erlebten. Nie hatten sie von ihrer Akropolis in ein so gründereiches Land gesehen und sahen es nie so voll Licht, noch so voll Schrecken. Ein verklärtes Erdengefühl weitete sie mitten im Drang der Leidenschaften; der Kampf, die Wonne und das Leiden gingen in die tönende Harmonie ihrer Erde ein. Die singenden Gestalten waren stärker und reiner als sie, und doch sie selbst. Da waren sie glücklich, Menschen zu sein. Sie liebten einander. Und wir – und wir –‹
»Ein Betrunkener?« sagte auf dem nächsten Treppenabsatz Frau Camuzzi zu dem jungen Savezzo. Er zuckte die Achseln.
»Der Maestro: ein Mensch, der an nichts denkt.«
»Aber geben Sie acht, daß mein Mann und der Advokat nichts hören; sie sind gleich vor uns, hinter der Ecke. Dies muß geheimbleiben, das Interesse einer unserer ersten Familien verlangt es. Und handelte es sich um Alba allein: ich bin ihre beste Freundin, – soweit man die Freundin einer armen Kleinen sein kann, die schon halb Nonne ist. Und nicht einmal vor ihr hat dieser Komödiant haltgemacht … Denn – wir dürfen nicht hoffen, uns zu irren – er hat sie verführt. In diesem Augenblick und aufgeklärt durch Sie, Herr Savezzo, weiß ich zu gut, was es zu bedeuten hatte, wenn er in der ersten Frühe zu einer Stunde, wo noch niemand, und am wenigsten ein fauler Komödiant auf der Straße ist, vom Tor her in die Stadt zurückkehrte.«
Da sie ihren Begleiter knirschen hörte, führte sie aus:
»Er war jedesmal bleich und sehr in Unordnung; man sah ihm eine Nacht an, die –, genug: eine Nacht.«
»Was tut das mir«, sagte er zwischen den Zähnen.
»Wie? Haben Sie denn kein Herz? Verstehen Sie nicht, daß Alba gerettet werden muß und daß Sie sie retten müssen?«
»Ich bin nicht Jesus Christus, den sie heiraten soll.«
»Oh, mein Herr, Sie lästern … Aber wir können es nicht verantworten, ihren Großvater aufzuklären: es wäre gefährlich für den armen Alten; und Alba zu warnen, ist unnütz, denn muß sie nicht wahnsinnig sein, wenn sie handelte, wie sie handelte? Kein Mittel bleibt, als den Komödianten zu beseitigen.«
Sie fühlte, wie der Mann neben ihr mit dem Kopf zuckte, und sie flüsterte rasch:
»Oh! mit leichter Hand, ohne Gefahr für sein Leben.«
Darauf schwiegen sie und verlangsamten den Schritt, denn unter ihnen war der Advokat stehengeblieben. Er wandte Brust und Handfläche seinem Gegner zu.
»Ich verstehe Sie nicht mehr, Camuzzi, – obwohl ich gewohnt bin, daß Sie unglaubliche Dinge sagen. Unsere Aufführung war also mittelmäßig und kleinstädtisch? Gut. Orchester und Chöre schlecht diszipliniert, die Sänger teils zu jung, teils zu alt? Gut. Und die ›Arme Tonietta‹ des Maestro Viviani, dieses Meisterwerk, das dem Genius unserer Rasse die Welt unterworfen hat, es soll wenig wert sein, Jahrmarktsmusik und Operette? Auch das sei wahr. Aber nun sagen Sie mir eins: wo bleibt, wenn wir uns nicht rühren, der Verkehr unserer Stadt, die geistige Wachheit, der Fortschritt?«
Mit erhobener Stirn und offenem Munde erwartete der Advokat die Antwort. Der andere feixte lautlos.
»Fragen Sie lieber: wo bleibt die Befriedigung des Ehrgeizes einzelner?«
Und der Advokat, nach Luft schnappend:
»Der Ehrgeiz einzelner, mein Herr, ist eine Forderung des öffentlichen Wohles. Sahen Sie schon je einen Staatsmann groß werden, ohne daß auch sein Land groß ward?«
Er schrie, daß sogar der Kapellmeister es hörte. Aber der Kapellmeister schob es mit der Hand fort, und er wiederholte stürmisch:
»Wir, die wir aus dem Reichtum eines Volkes schöpfen dürfen, wie müssen wir es lieben! Wird es mein Werk als das seine anerkennen? Von dort unten aus der dunklen Stadt steigen Stimmen: ›Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus‹ –. Wird auch meine Oper einst in allen Gassen, auf allen Lippen sein? Werden sie mich groß nennen, – weil ich sie geliebt habe? … Gott, mir schwindelt. Entschuldigen Sie, mein Herr. O gnädige Frau, verzeihen Sie mir!«
»Wie denn, Maestro. Wir lassen Sie vorbei … Er scheint nicht vom Wein berauscht, sondern von seiner Musik, der Arme. Sie aber, Herr Savezzo, haben weniger Mut, als ich dachte. Wie? Sie wollten nicht um eines guten Zweckes willen einige Rebstöcke zerbrechen und dem Bauern die Meinung beibringen, der Komödiant, der sich bei Villascura umhertreibt, sei der Täter? Wie leicht und wie dankbar für einen Mann von so viel Geist, solchem rohen Menschen den Arm zu lenken! Er selbst wird nachher nicht wissen, daß Sie es waren; – und inzwischen hat der Verführer eine Warnung erhalten: oh, nichts Ernsthaftes, unsere Bauern sind zu geschickt, – aber doch genug, um ihn im Augenblick unschädlich zu machen und ihm für später die Lust zu nehmen nach den Töchtern unserer ersten Familien. Der Herr, dem Sie eine Magd erhalten, wird es Ihnen vergelten.«
Er lachte hart.
»Für den Herrn wage ich nicht meine Freiheit; und die Belohnung verlange ich nicht von ihm, sondern, gnädige Frau, von Ihnen.«
Frau Camuzzi seufzte.
»Ich habe es erwartet, denn ich wußte wohl, welch energischen Charakter Sie haben. Wenn Alba denn nicht dem himmlischen Gatten gehören soll, so ist es immer noch besser, sie wird die Ihre, als daß jener Landstreicher sie ins Elend führt. Ich verspreche Ihnen, daß ich für Sie handeln werde, wie Sie für mich. Ich habe Alba etwas zu sagen, das ihr gegen ihren Liebhaber Haß machen und sie in die Arme dessen treiben wird, der ihn getötet hat. Zählen Sie auf mich! … Und bleiben wir nicht zu weit zurück! Dieser Narr von Maestro ist mit meinem Mann und dem Advokaten zusammengestoßen.«
»Es tut nichts«, schrie der Advokat. »Sie dürfen zuhören, Maestro. Wir haben keine Geheimnisse. Es ist nur eine kleine Abrechnung, die ich mit Freund Camuzzi halte. Denn, Herr Camuzzi, sehen wir nur genau zu, und wir werden finden, daß in dieser Stadt keine Neuerung, kein Fortschritt, kein dem Volke zu leistender Dienst je anders bewirkt worden ist, als gegen Sie und durch mich. Wer hat sich gegen die Wiederherstellung der Vizinalwege gesträubt und wer sie durchgesetzt? Wer hat den armen Frauen ihr wohlverdientes Waschhaus vorenthalten wollen, und wer hat es ihnen verschafft? An die kaum beendeten Kämpfe um das elektrische Licht und das Theater brauche ich Sie nicht zu erinnern. Sie waren nie dafür, daß irgend etwas geschähe. Man kann sagen, daß Sie, Herr Camuzzi, der Geist der Verneinung selbst sind, und ich, der Advokat Belotti, der Genius der Tat!«
»Aber mein Mann«, sagte droben Frau Camuzzi, »trägt einen besser gemachten Frack. Finden Sie nicht, daß dieser Advokat etwas sehr Vulgäres hat?«
Savezzo erwiderte:
»Also, ich zähle auf Sie, gnädige Frau. Sollte ich aber falsch gezählt haben« – und er verschränkte die Arme; sie sah seine Muskeln anschwellen –, »dann würde ich freilich machen, daß der Komödiant alles ausplaudert, was er von den Damen der Stadt weiß.«
Sie begegnete seinem drohenden Blick leise von unten, indes sie mit dem Fächer spielte.
»Und auch von den Männern?« fragte sie sanft. Dann erhob sie mit einem offenen Lächeln den Kopf.
»Wir verstehen uns, Herr Savezzo, und wenn wir uns niemals mißverstehen, können wir sehr stark sein. Wer weiß, was aus uns geworden wäre, aus einem Manne von so großem Talent, aus einer vielleicht nicht ganz gewöhnlichen Frau, wenn wir anderswo hätten leben können, in einer großen Stadt –«
Er fiel ein:
»– unter Menschen ohne Vorurteile, in einem wütenden Spiel von Interessen und Leidenschaften. Wem sagen Sie es? Sie treiben vom Grunde meines Daseins mit einem Hebeldruck alle Bitterkeit herauf. Dort wäre man vielleicht ein Politiker, der eine Welt in Bewegung setzt, der Liebhaber mächtiger Damen, ein großer Dichter, durch den das nationale Gewissen spricht. Zu allem fühle ich mich berufen. Hier gehört man keiner der herrschenden Familien an, und damit ist man abgetan und zum Neide verdammt auf jeden, der hervorragt.«
»Hier hat man einen Mann, der Gemeindesekretär ist und bleibt. Hier muß man heucheln: heucheln um sein Vergnügen, heucheln um seinen Schmerz.«
»Ist es vielleicht die Falschheit des ganzen Jahres, die uns heute abend gegeneinander so offen macht?«
»Oder«, murmelte Frau Camuzzi, und sie drückte, sehr bleich, die Lider zu, damit die Träne nicht herausrinne, »ist nicht nur der Maestro durch jene Musik in Aufruhr gebracht?«
Schweigend stiegen sie die letzten Treppen hinab; drunten fuchtelte der Advokat.
»Wäre ich die Persönlichkeit geworden, für die alle mich halten, wenn ich nicht Sie gehabt hätte, Camuzzi? Vielleicht mußte Ihr Widerspruch meinen schöpferischen Drang anstacheln, damit Waschhaus und Theater, Vizinalwege und Licht entstehen konnten. Zuweilen denke ich mir: wenn einst der greise Vertreter unserer politischen Wählerschaft zurücktritt –. Sie verziehen das Gesicht, Camuzzi, aber der Cavaliere Lanzerotti wird dennoch zurücktreten, und kann sein, daß das Volk mir selbst die Ehre erweist, mich als seinen Deputierten in die Hauptstadt zu schicken –: dann, so denke ich mir, wäre es gut, wenn ich auch in der Kammer Sie, Camuzzi, wiederfände; denn Sie würden mich größer machen … Ich sei groß in Worten, sagen Sie? Sie wissen nicht, Freund, was Begeisterung ist, sonst wären Sie heute abend begeistert!«
Er streckte den Ankommenden die Hände hin.
»Wie, gnädige Frau? Bewegung und Tätigkeit, das ist alles, und das lehrt uns die Musik des Maestro Viviani!«
»Eine Frau kann nicht handeln«, sagte sie; »und daß ich bei den Komödianten war, werde ich morgen dem Don Taddeo beichten müssen. Inzwischen werden die Gewissensbisse mich nicht schlafen lassen.«
»Ich wußte, meine Liebe, daß es so enden würde«, sagte Camuzzi.
»Und der Maestro?« rief der Advokat die Gasse hinauf. »Wir haben ihn verloren?«
Der Kapellmeister winkte, bevor er sich von der Rampe losriß, noch einmal in das Dunkel der Höfe und Häuser hinab, das ihm voll lauschender Atemzüge schien.
›Ja, ich werde euch wohltun! Durch mich werdet ihr glücklicher werden und einander lieben. Ein Mädchen, das meine Arie aus dem Fenster singt! Ein Junge, der mit seinem Korb voll Gipsfiguren durch den Staub zieht und dem eine Melodie von mir die Straße weniger heiß macht! Werde ich nicht sein wie ein König, dessen Bild auf allen Münzen, in allen Händen ist? – und dessen Bild ein Sinnbild des ganzen Volkes ist!‹
Er lief die Treppe zu Ende.
»Da wären wir alle beisammen«, bemerkte der Advokat; »und wenn unser Theater auch nicht sehr zentral liegt, – der Bau eines neuen städtischen Theaters hier im Mittelpunkt wird trotz Ihrem Händeringen, Camuzzi, eine unserer nächsten Aufgaben sein –: so verschafft uns das doch einen Spaziergang, der hoffentlich allerseits angenehm war.«
»Jeder genießt solchen Spaziergang auf seine Art«, erwiderte Frau Camuzzi.
Sie bestand darauf, nach Hause zu gehen. Vor ihrer Tür trennte man sich. Wie der Advokat mit Savezzo und dem Kapellmeister zu der bewegten Versammlung beim Café »Zum Fortschritt« stoßen wollte, sah er aus der Treppengasse Flora Garlinda biegen. Sofort entschuldigte er sich und eilte ihr durch das festliche Gedränge entgegen. Sie kam seinen Komplimenten zuvor.
»Ah! Advokat, Sie sind ein Mann, auf den man sich verlassen kann, Sie wollen mir Ihre Rezension vorlesen … Wie? Sie haben sie noch nicht geschrieben? Sie haben die Zeit verschwatzt, gleich all dem Volk hier?«
Da er stammelte –
»Ach, Herr Advokat, ich habe Sie in meiner Einbildung so hochgestellt, daß Sie vielleicht Mühe haben werden, sich dort zu behaupten … Treten wir unter die Rathausbogen: es ist schattig darin, und ich hasse das Girren dieser Geputzten, ihr nutzloses Umhertreiben … Sagen Sie mir also, was Sie schreiben werden!«
Und obwohl er beteuerte, er müsse sich in der Muße seines Kabinetts darauf vorbereiten –
»Sie werden mit Recht das meiste über den Cavaliere sagen. Er ist berühmt; seine Kunst ist zweifellos die größte und seine Stimme die glänzendste. Vergessen Sie das nicht, Herr Advokat! Für Gaddi ist das Lob nicht zuviel, daß er sich seit zehn Jahren auf der Höhe seines Könnens befindet.«
›Dieses Lob erregt nirgends Neugier‹, dachte sie und streifte mit einem feinen, hellen Blick den Advokaten, der leise keuchend die Lippen bewegte, als lernte er ihre Worte auswendig.
»Was Italia angeht, stellen Sie zu ihrem Ruhme fest, daß das Publikum, geblendet durch ihre Erscheinung, die Streichung ihrer beiden Arien nicht einmal bemerkt hat. Der arme Nello sodann bietet Ihnen Gelegenheit, Ihre Leser als Menschen zu rühren: ist er doch, weil er die Anstrengung des Singens nicht erträgt, in eine schwere Ohnmacht gefallen. Der Maestro –«
»Ich erwähne ihn gar nicht« – und der Advokat spreizte voll Eifer die Hand. Er dachte: ›Sie wird mich nicht umsonst bis hierher geführt haben: ich wußte es‹ – und er trat ihr voran in den ganz dunkeln Hof des Rathauses.
Die Primadonna sagte:
»Das geht nicht. Sagen Sie, er sei trotz seinem Mangel an regelmäßiger Vorbildung, also sozusagen als Dilettant, überraschend gut gewesen, so daß das Publikum nicht nur aus Lokalpatriotismus der Freundlichkeit der Hauptdarsteller zustimmte, die bei Empfang des Beifalls auch den Maestro in ihrer Mitte sehen wollten.«
»Aber das ist ja beinahe gerecht!« rief der Advokat. »Ich bewundere Sie immer mehr. Und von Ihnen selbst –«
»Oh! nur wenig. Aber schließen Sie mit mir!«
»Ich werde sagen, daß Flora Garlinda ein Stern ist, der vorläufig nur erst über den Dächern unserer kleinen Stadt leuchtet. Bald aber geht er über denen der Hauptstadt auf, ja über denen von Paris, London und New York!«
»Sie haben Talent, Advokat.«
»Ich setze hinzu, daß ich lieber schweigen würde, um Sie nicht zu rasch zu verlieren. Aber die Wahrheit drängt ans Licht.«
Die Hand auf dem Herzen, tat er einen Schritt. Sie wich einen zurück.
»Und da Sie das im Ernst meinen, Herr Advokat, habe ich Ihnen nicht zu danken. Männer wie Sie wären beleidigt, wenn man täte, als erwiesen sie Gunst, wo sie nur gerecht sind.«
»Wie wir uns verstehen!« – und heftig schnaufend trat er noch einmal vor. Sie bog sich weg, bis ihr Rücken die Mauer berührte. Links und rechts hatte sie seine gerundeten Arme. Ihre Hände staken in den Taschen ihres Staubmantels, die Schultern hielt sie hochgezogen, als ob sie fröre; – aber mit ruhiger, warmer Stimme sprach sie zu ihm:
»So habe ich auch keinen Augenblick den Verdacht gehegt, Sie seien wie die anderen Mächtigen, die sich von der Frau für das belohnen lassen, was sie für die Künstlerin tun. Wissen Sie doch selbst um den großen Ehrgeiz und die ungeheuren Pflichten, die das Talent uns auferlegt. Ich kenne Sie, Advokat: Sie würden durch die Demütigung einer Frau, die Ihresgleichen ist, auch sich gedemütigt fühlen.«
»Wie wahr!« sagte er erstickt, »das ist meine Art zu denken; Sie lehren sie mich erst richtig kennen.«
»Man kann nicht oft so zu einem Menschen sprechen. Nehmen Sie diese Hand, mein Freund!«
Der Advokat entfernte die seine vom Augenwinkel, den er gedrückt hatte.
»Ich danke Ihnen für Ihre Worte, Fräulein Flora Garlinda, und ich darf behaupten, daß ich sie verdiene.«
Er hob ihre Hand zwischen den seinen auf und ließ sie nachdrücklich wieder hinunter.
»Sie tun mir weh, Herr Advokat.«
»O Verzeihung!« – und er sank tief zusammen, um ihre Fingerspitzen zu küssen. Darauf trat er mit einer großen Gebärde beiseite. Sie ging vorüber, den Kopf schief, mit einem leisen, unbestimmbaren Lächeln aus dem Profil.
»Eine so große Künstlerin«, murmelte er unter dem Schauer, womit seine eigene Ritterlichkeit ihn überzog.
»Sie, Herr Advokat, wären einer größeren würdig«, sagte Flora Garlinda und gelangte mit einem letzten, rascheren Schritt über die Schwelle.
»Da sind sie«, sagte Nello Gennari, »ich will sie holen.«
Er verließ hastig den Tisch, tat, als trachtete er auf dem Umwege um mehrere Gruppen mit der Primadonna und ihrem Begleiter zusammenzutreffen, verfehlte sie aber und schlüpfte plötzlich selbst in den Rathaushof.
»Würde man glauben«, – und der Apotheker Acquistapace lächelte, vor Bewunderung starr, in die Runde, »daß dort eine so große Künstlerin kommt?«
Der Herr Giocondi entgegnete und verzog diskret die Lippe:
»Tatsache ist, daß sie mit aufgestecktem Haar nach nichts aussieht.«
»Sie hat eine schöne Hand«, meinte der junge Savezzo und zeigte die eigene umher mit allen ihren abgerissenen Nägeln.
Italia erklärte rasch noch:
»Wenn man immer die vier Finger in der Mitte teilt, wird jede Hand schön.«
Dabei lächelte sie schon für die Ankommende. Von der andern Seite traf Camuzzi ein, schlank und elegant in einem neuen Herbstmantel mit enger Taille. Savezzo musterte ihn mit düster leidender Miene und sagte dem Sekretär voraus, daß er schwitzen und sich erkälten werde. Der Advokat lobte vielmehr Camuzzi, weil er dem einheimischen Handwerk zu verdienen gebe. Polli stellte fest:
»Tatsache ist, daß wir alle – kurz, wir haben uns verändert. Entweder irre ich mich, oder sogar dein Bruder, Advokat –«, und er nickte nach dem Nebentisch, wo Galileo Belotti und der Baron Torroni mit den Pächtern eine lärmende Unterhaltung führten: »ja doch, er hat eine andere als seine Arbeitshose an.«
»Und was die Frauen betrifft«, begann der Leutnant Cantinelli.
Der Advokat unterbrach ihn:
»Und warum haben wir uns verändert, meine Herren? Weil wir durch unser Theater endlich ein wenig Bewegung in die Stadt bekommen haben. Daher Ihr neuer Mantel, Herr Camuzzi, mit dem Sie selbst für meine Ansicht kämpfen; daher die neue Blüte unseres öffentlichen Lebens!«
Er rundete die Arme, als wollte er den weiß beleuchteten, vollen und schwatzenden Platz damit umfangen.
»Nie sah man so viele Frauen mit Hüten!« rief der Apotheker.
»Freilich sagen die beiden Fräulein Pernici«, begann der Leutnant wieder, »daß einige Hüte nicht von ihnen bezogen und darum nicht schön seien.«
Jeder nannte, ohne den andern zu hören, die Frau, die ihm am besten angezogen schien. Hinter den Bürgern, an der Mauer, fragte Flora Garlinda den Kapellmeister:
»Und Sie, Maestro? Denken Sie an Ihren Ruhm, den die ›Glocke des Volkes‹ verbreiten wird? Denn Sie haben es so einzurichten gewußt, daß neben Ihnen wir andern heute abend ganz verschwanden.«
Und er, mit weichem Lächeln:
»Ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich Ihnen gegen meinen Willen weh getan habe. Ich weiß nicht, was andere denken, was andere fühlen: für mich hat es heute nur eine gegeben, nur eine, bei der Schönheit und Größe waren. Flora Garlinda, die falsche Scham sollte uns nicht hindern, die Wahrheit zu sagen …«
Seine blauen Augen glänzten feucht in seinem rosig bewölkten Gesicht. Sie musterte ihn kalt.
»Es war ein großer Abend«, stammelte er. »Vielleicht waren wir alle nur dazu da, Sie noch größer zu machen. Aber auch ich habe gelebt heute abend, und ich danke allen dafür –«
Mit einer zitternden Geste:
»– allen.«
Sie sah, die Mundwinkel gesenkt, düster weg.
»Auch noch danken«, murmelte sie. »Ich hasse alle, weil ich sie nicht einfach verachten kann. Ich hasse sie, und ich – liebe sie. Vielleicht möchte ich, daß sie mir zujubeln und daran ersticken. Danken? Bilden Sie sich ein, daß, was geschieht, um Ihren Dank geschieht? Fühlen Sie nicht, wie alles böse und gefährlich ist?«
Sie zuckte die Achseln und drehte ihm den Rücken.
»Den schönsten Hut« – und der Advokat verbeugte sich mit Wucht nach dem Tisch zur Linken, »ah! nur Frau Aida Paradisi hat ihn.«
Die beiden Töchter lugten unter der weiten schwarzen Spitzenwolke hervor, die über dem Haupte der Mutter schwebte, und auch der Kaufmann Mancafede zeigte sich darunter. Er erhob ein Glas Punsch und schlug vor, die Tische zusammenzurücken. Es geschah; und sogleich fragten die Damen nach dem Tenor Nello Gennari. Man suchte ihn vergeblich.
»Aber ist es zu glauben«, sagte der Advokat, »daß dort hinten eine Nonne umherstreicht? Nach Mitternacht noch sind diese heiligen Unterröcke unterwegs! Sollte man nicht der kirchlichen Behörde einen Wink geben?«
»Er ist so zart, der arme junge Mensch?« – Mama Paradisi wand sich nach allen Seiten, um ihrer Stimme den delikatesten Fall zu geben. »Sein Unwohlsein von vorhin wird er noch spüren; und vielleicht verträgt er auch die Nachtluft nicht.«
Der junge Savezzo verfolgte unter gewulsteten Brauen den Zipfel einer weißen Flügelhaube, der aus dem Schatten des Bogenganges hervorhuschte und wieder darin verschwand.
Wie der schöne Alfò mit Kaffeegeschirr vorüberlief, hielt Savezzo ihn an.
»Alfò«, raunte er, »man nimmt dir die Alba weg.«
Der Sohn des Caféwirtes lächelte glücklich.
»Die schöne Alba, ich werde sie heiraten.«
»Bist du so gewiß, daß sie dich liebt?«
»Warum kommt sie sonst täglich zur Messe? Nur um hier vorüberzugehen und mich anzusehen!«
»Aber seit einer Woche kommt sie nicht mehr.«
»Sie kommt nicht mehr« – und die Augen des jungen Mannes strahlten vor Eitelkeit –, »weil sie mit mir schmollt; denn das letztemal habe ich versäumt, sie anzusehen, weil ich den Wein aufwischte, den der Schlächter Cimabue verschüttet hatte. Im Mai aber bin ich zwanzig Jahre alt und heirate sie, sie mag ruhig sein.«
»Alfò, man verführt dir die Alba. Es ist der jüngste der Komödianten, jener Tenor, der sie dir verführt.«
Alfò schüttelte glucksend den Kopf.
»Du glaubst mir nicht?« sagte der Savezzo. »Ich habe es gesehen. Der Komödiant ist heute in Ohnmacht gefallen, weil er alle Nächte, verstehst du, dort draußen verbringt.«
Das Lächeln des schönen Alfò ward nachdenklich. Plötzlich fletschte er die Zähne.
»Wo ist der Komödiant?« – und er griff unter schnarchenden Lauten in die Hosentasche. Der Savezzo zog ihm die Hand heraus.
»Wenn er da wäre, hätte ich nicht mit dir gesprochen; denn ich will nicht, daß ein Unglück geschieht. Auch kann ich mich irren. Vielleicht hat er sie noch nicht verführt, deine Alba. Nötigenfalls werde ich dich warnen, ja, ich werde dir die beiden zeigen. Aber du mußt versprechen, vernünftig zu sein.«
Der schöne Alfò lächelte wieder vollkommen glücklich.
»Wie sie mich liebt, die Alba!«
Ein Jubelgeschrei erhob sich. Über allen Häuptern erschien in den Händen des Gevatters Achille ein Tablett mit drei Flaschen Asti. Unbemerkt hatte der Apotheker sie bestellt. Der Herr Giocondi ließ sich von ihm einschenken und erklärte:
»Da deine Frau dich nicht mit Asti empfangen wird, ist es gut, wir trinken ihn jetzt.«
»Welch glänzendes Leben wir führen!« rief der Advokat. »Wer das alles noch vor acht Tagen vorhergesagt hätte! Auf taghell erleuchtetem Platz stoßen wir mit schönen, prachtvoll geschmückten Frauen an, und um uns her bewegt sich eine Gesellschaft, auf die manche bedeutende Stadt stolz wäre. Unsere alten Monumente sehen sich mit Staunen verjüngt durch die Wogen des Verkehrs, die sie umfluten; das Blut pulst heftig in den Adern unserer Stadt; und wehe dem –«
Er stieß den Arm nach dem Dom aus.
»– der es wagen wollte, den Fortschritt aufzuhalten.«
Auch die andern waren in diesem festlichen Augenblick der Zuversicht, daß Don Taddeo den Eimer werde herausgeben müssen. Camuzzi allein äußerte Zweifel. Der Mittelstand sei unzufrieden, er drohe die Reihen der klerikalen Opposition zu verstärken. In all dem Glanz erweitere sich, setzte der Sekretär hinzu, ein dunkler Fleck. Niemand hörte auf ihn; der Apotheker schwenkte sein Glas vor der Primadonna.
»Es lebe die ›Arme Tonietta‹! Ich glaubte immer, solch einen Tag würde ich nicht wieder sehen; denn dies ist ein Tag wie zu Zeiten Garibaldis. Der Advokat hat recht: wir sind hier in einer kleinen Stadt, aber was für große Dinge erleben wir!«
Man trank einander zu; man trank den Pächtern nebenan zu. Galileo Belotti und der Baron Torroni kamen mit ihren Gläsern und forderten die Damen auf, auch ihnen und ihrer Gesellschaft die Ehre eines Besuches zu geben. Italia war eben dabei, dem Apotheker zu schwören, daß sie keinen Fuß in die Unterpräfektur setzen werde. Galileo zog sie, unter Kratzfüßen, am Arm. Sie folgte; aber bei jedem Schritt kitzelte sie mit den Augen den Apotheker, der sich rötete.
Der Kapellmeister bemerkte plötzlich, daß zu seiner Linken der Cavaliere Giordano mit hängender Lippe und Falten auf der Brust teilnahmslos hinausstarrte. Er mußte den Alten anstoßen, damit er aufhorchte.
»Ihre Leistung war schön, Cavaliere«, sagte er warm; »sie war ergreifend: ich danke Ihnen.«
Der alte Sänger bewegte mit einem müde spottenden Lächeln die Hand.
»Ich hätte es nicht tun sollen«, sagte er.
»Aber Sie sind ein großer Künstler!« sagte der Kapellmeister erschreckend. »Wenn es Abende gibt, an denen Sie sich nicht ganz auf Ihrer gewohnten Höhe fühlen –«
Der berühmte Tenor legte ihm die Hand auf den Arm.
»Sie sind ein guter junger Mann, Dorlenghi; Sie haben Mitleid mit mir. Glauben Sie aber nicht, daß ich zu jeder Stunde in Unwissenheit darüber bin, wie es mit mir steht! Morgen werde ich zweifellos mich dieser Worte nicht mehr erinnern und wieder auftreten. Was kann man tun.«
Der Kapellmeister sah auf seine Knie; er wagte nicht zu atmen. Der Cavaliere Giordano hob mehrmals die Schultern; dann griff er nach seinem Glas. Als es leer war, richtete er sich auf und lachte gewaltsam.
»Ich rede Dummheiten: Sie werden es bemerkt haben, Maestro, und sie hoffentlich vergessen. Wie Sie selbst wissen, hat man schlechte Abende, und ich hatte sie schon vor dreißig Jahren. Was beweist das? Und selbst wenn man sich eine Zeitlang zum Singen nicht disponiert fühlt, bleibt man darum etwa nicht Mann? Gewisse Frauenblicke geben mir zu verstehen, daß ich noch heute einem Jüngeren gefährlich werden könnte. Sie machen große Augen, Maestro: Sie haben Grund dazu.«
»Was für eine Frechheit!« schrie der Apotheker mit einem mächtigen Schlag zwischen die Gläser. »Dieser Bauernlümmel untersteht sich, das Fräulein Italia auf den Hals zu küssen!«
»Was denn, Bauernlümmel!« keifte Galileo Belotti und trat ihm watschelnd entgegen. »Versteht sich, wir sind weder Gecken noch Schwätzer, aber wir haben Fäuste, wir!«
Seine ländlichen Freunde bestätigten dies.
»Wir werden sehen!« rief der Apotheker und stapfte auf seinem Holzbein der feindlichen Schlachtreihe entgegen …
Der Cavaliere Giordano kicherte.
»Sie sollten sich hüten, Maestro. Ihre kleine Rina: ich bin ihr in diesen Tagen öfter begegnet, und es ist nicht sicher –. Sie hat mir gestanden, daß Sie sie vernachlässigen, und versteht sich, daß ich mich daran gemacht habe, sie zu trösten. Das Kind ist schüchtern; dennoch scheint es, daß die Liebe zu mir im Werden ist; und wenn nun Sie, Dorlenghi –«
Ein Krach: mehrere Stühle waren umgefallen, und Galileo Belotti kugelte sich, vom Apotheker hingestreckt, im Staube. Die Pächter drangen auf den alten Krieger ein. Er brüllte, während er um sich stieß, vor Wut, denn einer von ihnen lud dort hinten Italia, die kreischte, auf seinen Wagen! Der Baron Torroni kam, vom Wein brandrot, dazwischen: sie gehöre ihm, er sei ein Herr.
»Was denn Herr«, keifte Galileo Belotti zwischen den Beinen der Kämpfenden hervor.
»Seht ihr nicht? Das ist der Conte Tancredi mit der ›Armen Tonietta‹!« keuchte der Advokat in den Lärm. Alle Bürger hatten die Arme in der Luft und feuerten den Apotheker an. Mama Paradisi flüchtete kreischend mit ihren Töchtern; der Gemeindesekretär brachte seinen neuen Mantel in Sicherheit; in weitem Umkreise zogen sich die nächtlichen Spaziergänger zurück; die streitenden Pächter benutzten die Gelegenheit, ohne Zahlung zu verschwinden; – da ging, festen Schrittes und eine Hand in der Hosentasche, der Bariton Gaddi auf die beiden Bewerber Italias los, stieß den Edelmann und den Bauern vor die Brust, daß sie hintenüber in den Wagen fielen, und hieb auf das Pferd ein. Dann führte er, ohne sich umzusehen, Italia, die in die Hände weinte, durch die Gasse der Hühnerlucia von dannen.
»Lassen Sie doch jene Leute!« – und der Cavaliere Giordano stieß den Kapellmeister an. »Unsere Angelegenheit ist wichtiger. Die Kleine würde mich gewiß lieben, wenn Sie, Dorlenghi –«
Der Alte murmelte etwas dazwischen; durch das Pergament seiner Wangen drang ein wenig Rot, schön rund und kirschenfarben, wie frisch geschminkt.
»– wenn Sie ihr sagen wollten, daß sie – frei ist, daß sie sich ohne Furcht, die arme Kleine, ihrer Neigung zu mir hingeben darf.«
Er schielte angstvoll auf den jungen Mann hinunter, der die Lider nicht aufschlug und stumm schluckte. Plötzlich stand der Kapellmeister auf, drückte dem Sänger, immer ohne ihn anzusehen, die Hand und entfernte sich schnell.
»Welch häßlicher Zwischenfall«, sagte der Advokat Belotti; »wir werden uns hüten, der ›Glocke des Volkes‹ darüber zu berichten. Solche Dinge, sagen wir nur die Wahrheit! – können in jeder Stadt vorkommen. Überall gibt es immer noch schlecht erzogene Leute; um so schlimmer, wenn man in seiner eigenen Familie –«
»Ich habe so gut gelacht«, sagte Flora Garlinda; »es war so unterhaltend.«
»Wie? Aber man hat die Achtung vor Ihrem Geschlecht verletzt!«
Sie warf die Lippe auf.
»Ich freue mich, wenn ich es sehe. Ich selbst verlange nicht darum Achtung, weil ich eine Frau bin, und ich hasse die Weiber.«
»Aber es war gefährlich! Jene Bauern tragen Messer!«
»Warum haben sie sie nicht gezogen? Wie unterhaltend es gewesen wäre! Wozu nützen alle diese Leute! Was können sie? Sie hätten einander einmal stechen sollen, das wäre das beste gewesen, was sie je getan hätten.«
Die Mienen des Advokaten, des Tabakhändlers und des Herrn Giocondi trugen entsetzte Mißbilligung. Gleichzeitig rafften alle drei sich zurecht, griffen nach den Gläsern und stießen sie auf dem Tisch zusammen.
»Auf die Gesundheit!« sagten sie kräftig.
Während sie tranken, erlosch die Bogenlampe; – und plötzlich, wie aus dem Schatten geboren, stand auf dem leeren Platz inmitten des seltsam scharfen Geplätschers vom Brunnen ein kleiner Uralter und zog mit einer klapprigen Verbeugung seinen randlosen Hut von fern vor dem Cavaliere Giordano – und dann noch einmal vor Flora Garlinda. In einem wankenden Tänzeln näherte er sich; sein winziges Gesicht lächelte aus allen Runzeln, die glanzlosen Augen versuchten eine stumpfe Schelmerei; – und wie er beim Tisch anlangte, legte er die Hand aufs Herz und öffnete, ohne daß ein Laut entstand, einen weiten, dunklen Mund, der das Gesicht zu verschlingen schien. Der Advokat bemerkte, wie die Primadonna zurückschrak, und wendete sich um.
»Ah! da ist Brabrà. Keine Furcht: es ist ein harmloser Verrückter, seit dreißig Jahren ernährt ihn der Herr Nardini in Villascura. Man hat nie erfahren, wie er zu uns geraten ist. Sage den Herrschaften deinen Namen, Brabrà! Denn Sie müssen wissen, daß dies der einzige Laut ist, den er je von sich gibt. Sage Brabrà!«
Statt dessen kam aus dem gereckten Hals, woran lange, schlaffe Sehnenstränge schaukelten, ein feiner Fistelton: ein Ton, wie von einem Kinde, das schwärmt und singen möchte.
»Was fällt ihm ein«, sagte der Advokat. »So hat er noch nie getan. Was will er?«
»Auch ich –« sagte eine erloschene Stimme; und der kleine Greis tastete sich immerfort, mit Fingern aus lauter schwarzen Hautringen, über Brust und Hals. »Auch ich –«
Polli vermutete:
»Er war im Theater: das scheint ihm geschadet zu haben.«
»Ah!« machte der Advokat; und in der Erinnerung an das Benehmen des Verrückten, der die Huldigung der Menge von ihm abgelenkt und, als parodierte er ihn, das Volk gegrüßt hatte, ließ er ihn streng an:
»Was tatest du im Theater, Brabrà?
»Theater!« – und der Greis zuckte auf. Mit den Fingern am Hals: »Auch ich … Theater …«
Der Cavaliere Giordano erkannte:
»Er will sagen, der arme Teufel, daß er früher einmal gespielt hat. Wie hießest du denn damals, mein Freund?« fragte er mit Wohlwollen und großer Überlegenheit. Der Uralte schloß die Lider, erhob tastend die Hand; und alle seine Runzeln, die Faltensäcke, zwischen denen der Mund verschwand, sein ganzes eingeschrumpftes Gesicht stand angstvoll still. Auf einmal öffnete es sich, begann zu arbeiten, den Augen entstieg eine schwache Flamme, und der Mund kam herauf, um zu sagen:
»Der Montereali.«
Der Cavaliere Giordano lehnte sich zurück.
»Der Montereali – es ist lange, daß ich den Namen nicht mehr gehört habe. Der Montereali«, erklärte er dem Advokaten, »war, als ich anfing, nicht mehr auf der Höhe, aber man sagte, daß er große Zeiten gehabt habe. Seit mehr als dreißig Jahren ist er tot.«
»Der Montereali«, wiederholte der Uralte und deutete sich zitternd auf die Brust.
»Auf was für Dinge die Verrückten verfallen!« bemerkte der Advokat. Der Herr Giocondi sagte:
»Er ist gut aufgelegt. Bravo, Brabrà!«
Der zahnlose Mund stand wieder schwarz offen. Der Cavaliere Giordano legte die Hand ans Ohr.
»Er singt etwas: ja, eine Melodie, die ich – vielleicht – gekannt habe. Welche Oper war doch das? Welche – Oper –«
Plötzlich hörte man Flora Garlinda laut auflachen. Alle fuhren herum: sie lag mit den Armen auf dem Tisch und schrie gellend. Ihr schmaler Körper ward geschüttelt, aus dem bläulichen Gesicht traten die Adern. Man versuchte umsonst, ihre Finger vom Rande des Tisches loszumachen: ihr Blick, voll der Verlassenheit einer nie gesehenen Angst, schreckte die Helfer zurück, und sie lachte … Wie der Advokat sich die Stirn trocknete, erschien in der Gasse der Hühnerlucia der Schneider Chiaralunzi.
»Das Fräulein ist nicht nach Hause gekommen«, sagte er. »Wo ist denn das Fräulein Flora Gar –«
Da stockte sein Schritt, die Farbe verließ sein Gesicht, seine großen Hände schlotterten.
»Ich habe ihre Stimme nicht erkannt«, sagte er. »Wie ist das möglich?«
Kaum berührte er ihre Hände, und sie lösten sich. Sie ließ sich von ihm aufheben; er führte und trug sie, und dabei wiederholte er:
»Das Fräulein verzeihe die Freiheit, die ich mir nehme.«
Polli, Giocondi und der Advokat sahen einander an.
»Teufel, man weiß nie, mit diesen Künstlern. Sie scheinen in bester Laune, und dann auf einmal machen sie solche Sachen … Es wird vielleicht besser sein, nicht darüber zu reden? Wer weiß, was die Leute vermuten, wenn man dabei war … Hoffen wir nur, daß sie niemand aufgeweckt hat … Das ist sicher: die Unsichtbare hat einen guten Abend gehabt … Freund Acquistapace ist längst bei seiner Frau: er wird seine schwere Stunde überstanden haben … Gute Nacht, Cavaliere. Sie bleiben also sitzen? Es ist ein Uhr. Ah! wer wie diese Künstler am Morgen schlafen könnte.«
Der Advokat kehrte nochmals um; er stellte sich dem kleinen Uralten gegenüber, der nun wieder allein inmitten des Platzes sein Grüßen und Lächeln übte, und sprach zu ihm mild, aber bestimmt:
»Das nächste Mal, Brabrà, wirst du dir eine Art Verrücktheit aussuchen, die den Leuten weniger auf die Nerven geht. Auch, die Verrücktheit, Brabrà, läßt sich regeln und organisieren. Du hast heute abend einen häßlichen Epilog an ein schönes bürgerliches Fest gehängt. Aber die Tatsache, daß du verrückt bist, bedenke dies wohl, Brabrà, gibt dir noch nicht das Recht, ein schlechter Bürger zu sein.«
Da der Uralte, als sei nichts geschehen, weiterdienerte, verlor der Advokat die Geduld, nahm ihn beim Kragen und beförderte auch ihn in die Gasse der Hühnerlucia.
Der Gevatter Achille kam aus seiner Tür, um dem Cavaliere Giordano am vereinsamten Tisch gute Nacht zu wünschen und ihn um Verzeihung zu bitten, wenn er jetzt sein Lokal schließe. Der Platz lag dunkel und leer. In seinem tiefsten Schatten, am Hause des Kaufmannes Mancafede, regte ein halboffener Fensterladen sich, zitterte ein wenig und begann sich zu senken. Aber dahinten aus der Nacht des Rathaushofes kam ein Schritt: – und der Laden am Hause Mancafede blieb stehen.
Nello Gennari hielt, den Kopf gesenkt, unter dem Torbogen an: da flüsterte etwas Weißes, das fortflatterte:
»Ihr sollt sogleich ins Theater zurückkehren und –«
Er hörte nicht mehr. Eine kleine Nonne wendete sich nach ihm um, sie lief noch einmal ganz nahe vorüber.
»– und singen. Man wird Euch hören.«
»Die Äbtissin?« fragte er und langte nach der Erscheinung. Aber sie flog schon die Treppengasse hinan. Er lief hinterdrein, die Arme erhoben. Die Füße schienen ihm in Erde einzusinken, und doch hieß es nun in den Himmel folgen! Er merkte nicht, daß er über lagernde Ziegen fiel. Die Zähne klapperten ihm, er dachte wirr: ›Alba ist gekommen, sie wartet auf mich. Werde ich sterben müssen, wenn ich singe: »Die kostbare Nacht«? Sie kostet vielleicht das Leben, die kostbare Nacht. Die Äbtissin entscheidet nun. Wie immer du entscheidest: Alba, ich bin dein!‹
Der Satz über die letzten Stufen fühlte sich an wie ein Flug. Er sah sich auf der weiten Terrasse vor dem Palast; die Nonne war fort. ›Habe ich. geträumt? Wie sollte zu dieser Stunde Alba herkommen; was weiß sie von mir? Jemand verhöhnt mich.‹ Da drückte er die Augen zu und stürzte hinein.
Die Gänge waren nicht ganz dunkel; und zwei Kerzen in Laternen an den Kulissen sandten eine schwachrote Bahn zwischen den getürmten Schatten von Saal und Bühne, die Rampe entlang. Nello Gennari betrat, die Hände um die Schläfen, in zwei stürzenden Schritten die Bühne und schüttelte sich ganz. Die Töne versagten ihm, sein Atem flog. Er zügelte ihn, um hervorzubringen:
»Die Nacht wollen wir genießen, sie kostet vielleicht das Leben, die kostbare Nacht!«
Er gelangte, stockenden Schrittes, bis in die Lichtbahn vor der Rampe und erhob, die Handflächen hingewendet wie ein zum Sterben Bereiteter, den Blick. Das Dunkel droben war undurchdringlich. Zwischen ihren beiden schlanken Säulchen deuchte ihm jene Loge dort, die dritte rechts, schwärzer als alle: eine Galerie von Nächten, hindurchgeleitet durch Rätsel voll Grauen und voll Entzücken.
Er wiederholte, den Kopf in den Nacken gebogen: »Die kostbare Nacht«; und wie er die letzte Note aushielt, fühlte er eine Hand an der Kehle. Sie würgte ihn, weich und stark. ›Die Äbtissin‹, dachte er und schloß die Augen. ›Sie ist es, ich sterbe … Und soll dich nicht sehen, Alba?‹ Als er aber die Lider voneinander löste, entschwebten droben der Finsternis zwei kleine weiße Hände, die lautlos applaudierten. ›Das ist das Glück: jetzt weiß ich, daß es mir bestimmt ist!‹ – und Nello sank auf die Knie.
Kniend sang er: »Sieh, Geliebte, unser umblühtes Haus heißt uns blühen!« – und fühlte die Töne seiner Brust entströmen, wie die unerschöpflichen Fluten des Glücks. Das Ohr geneigt, erwartete er den Einsatz seiner Partnerin. »Ihre Stimme! Ihre Stimme!« Da fielen auf seine Hände Blumen. Gleich darauf ging eine Tür. Er sprang auf, stürzte hinaus und erreichte die Treppe früh genug, um sie zu versperren. Leichte Schritte liefen ganz oben ein paar Stufen herab, wieder zurück, und enteilten. Er war hinterher. Um eine Ecke flatterte eine Rockfalte. Unter der Tür eines Zimmers erkannte er die dunkel fliehende Gestalt. Dort hinten, wo eine lange Galerie in Schatten zusammenfiel, spreizte eine unsicher schimmernde Hand sich beschwörend rückwärts. Durch die himmelhohen Fenster eines Saales warf sich, zwischen zwei Wolken, die es überjagten, ein kleines angstvolles Sternenlicht auf einen eingesunkenen Thron, zersprungene Bilder und ein weißes Profil, das dahingleitend in einem Schrei ohne Laut den Mund aufriß. Den Augen des Verfolgers entstürzten Tränen; vor Tränen sah er die nicht, die dicht vor ihm laut atmete, strauchelte, ein Fenster aufriß. Er blieb stehen, er erhob langsam die gefalteten Hände. Seine Augen, die sich entschleierten, trafen den Schatten unter ihren Brauen. Einander gegenüber, schwiegen sie und blieben reglos. Sie hielt die Arme über die Gitterschranke des bis zum Boden offenen Fensters gebreitet. Der Umriß ihres Kopfes zerging in dunkler Luft. Ein Wasser rauschte, vom Felsen hinter ihr, in große Tiefe.
Aus einer jagenden Wolke glitt wieder jener Sternenschein, da sagte Alba:
»Du hast geweint.«
»Denn ich mußte dich ängstigen«, sagte Nello. »Aber wenn ich jetzt nicht bis zu dir drang, war's aus. Verstehst du, was das heißt?«
»Ich weiß alles.«
»Alba!«
Sogleich riß er den Fuß wieder zurück: ihr Nacken lag weit draußen, sie rief:
»Rühre mich nicht an!«
Schaudernde Stille; – und dann, unmerklich zuerst, sank sie nach vorn, seinen Armen entgegen.