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XII.
Manon

Anfangs September ward das Romantische Theater von Archibald neu eröffnet. Claude versicherte überall, er sei froh, es los zu sein. Seit fünfzehnten Juli, dem Abend der Premiere habe er keinen Fuß mehr in die Bude gesetzt. Er hatte einen großen Teil der Zwischenzeit mit Geschäftsleuten geredet. Er hatte Ute niemals wieder gesehen.

Einmal sah er sie von der Frauenkirche her in die Schafflergasse tauchen. Zwei Sekunden lang glitt ihr schwarzer, biegsamer Schattenriß über eine sonnige Hausmauer. Ihr Haar blitzte auf und war erloschen. Ute war schon vergangen, und Claude stand noch, in eine Nische des Doms gedrängt, bleich, die Augen aufgerissen, und mit der Hand am Herzen.

Er zögerte drei Tage, vier Tage, floh vor ihrer Verführung aufs Land, nach Reichenhall, nach Kufstein, fühlte sich überall in dem Gefängnis, dessen Mauern und Gitter aus ihrem Fleisch waren, aus ihrer Stimme, ihren Gebärden, ihrem Blick. Sie engten ihn ein, diese Kerkerwände, rückten ihm immer näher, nahmen ihm Luft und Besinnung ... Endlich ergab er sich und ging zu ihr. Sie war fort, nach Berlin, ins Engagement ... Sie hatte es also getan. Er ward, wie er das erfuhr, dunkelrot; er trollte sich, gesenkten Kopfes.

Etwas später erblickte er bei Fleischmann im Schaufenster ihr Bildnis, von Lennach. Ihr kalter Seitenblick lockte über die Schulter hinweg, aus verlängerten Winkeln, mit geschwärzten Wimpern und dunkel umrändert. Von dem herbstlichen Gold der Landschaft floß auf dem Spitzenschleier vor ihrer Brust ein Widerschein zusammen mit demselben Rot, das da hinten am Himmel fieberte. Ihr Kopf war geschminkt mit Perlmutterglanz, gefärbt durch das Licht von Feenreichen, von grünen Steinen giftig angefunkelt und umprunkt von der violetten Masse ihres Haars. Mit dem hellen, gewitterhaften Rot ihrer geschlängelten Lippen behauptete sie fremde Verderbnisse von Künstlichkeit, mit ihrer großzügigen Blässe weilte sie in zergehender Ferne. Aber ihre grauen Blicke waren kalte, messende Eroberer, und in ihrem Haar flammte ihr siegender Wille.

Und Claude ward wieder erfaßt von dem Elend ihrer Stärke inmitten ihres Mangels an Menschlichkeit. Es erschütterte ihn und es machte ihm Angst, den Sinn dessen, was er geliebt und nie völlig ermessen hatte, plötzlich mit ein paar raschen Kreidestrichen, einigen überlegenen Pinselschlägen geformt zu sehen. Er ging heim, im Gefühl von Kleinheit und Untauglichkeit. Da hinten war sie nun ausgestellt, allen Gaffern, die im Vorübergehn den Fuß zurückrissen, begehrlich den Hals vorstreckten, sich besannen und weitertrabten. Was die von ihr wußten und besaßen, besaß und wußte Claude; weiter nichts. Er hatte nicht die Kraft gehabt, mehr von ihr zu gewinnen.

Er kam wieder und sah ihren grausamen Blick sich an seiner Blässe weiden, wie am Beifall eines Theatersaals. Er holte aus dem Leiden um sie sein Gehirn zurück wie aus einem Krampf.

Er kam wieder und träumte von einem Gang mit ihr durch den Frühling, über lilabebuschte Wiesen, und von lässigem Sommerglück. Nun rauschte der Herbst durch die Straße, Ute war fort für immer, nur mit ihrem Bilde stand Claude im Herbstwind, nur ihr Bild würde ihm künftig zu leben geben. Er kam wieder und fand es jedesmal mächtiger. Es trat immer höher gefärbt, stärker empfunden aus dieser Straße heraus, aus dieser Stadt, aus dem Winter, aus Claudes Leben, das nun endgültig in mattherzigen Liebschaften untergehen sollte, in Maskenscherzen, die Eisblumen umstanden: ein Leben wie ein Schattenzug.

Der Aufenthalt in seinem Hause ward ihm unerträglich, inmitten der gebrechlichen Linien, der Farben für Neurastheniker. Er begann um Utes Bild einen Rahmen zu ersehnen, in diesem München, in das man sie einst überzuführen versucht hatte, nach der Schönheit der Starken zu suchen. Florentiner Paläste türmten an der Ludwigstraße ihre Blöcke, wölbten ihre Fensterbögen über die Säule, die sie teilte, streckten schmale eiserne Laternen aus. Römische Brunnen empfingen und quollen über. Barockkirchen schwangen ihre feurigen Formen. Im Hofgarten schwankten verwelkende Laubgewinde vor langen, rot gefüllten Arkaden.

Claude dankte alle seine Interessen in die Hände seines früheren Vormundes ab. Er wollte den Winter in Italien verbringen. »Ja, wozu denn«, meinte Panier. »Woll darum, weil du dich hier unmöglich gemacht hast?«

»Ja, und um zu sparen.«

»Da hast du Grund zu. Wir haben uns den Schaden nu besehn. Wenn du noch lang so weitermachst wie bisher, mein Jung', bist du baldigst geliefert. Von den Terrains, die noch da sind, geben wir nix mehr her, gar nix, hast du verstanden. Wir warten die Krise ab. Wenn sie steigen, bist du fein raus. Solange mußt du dich 'n bißchen enger schnüren, mein Jung'. Fünfhundert Mark im Monat wollen wir dir woll geben ...«

Mit der ersten Rate fuhr Claude ab, Mitte Oktober. Er dachte, schlaflos, während der Zug rollte, an Ute. Die Bühne, auf der sie stand, das Schaufenster mit ihrem Bilde blieb zurück.

»Ich bringe viele hundert Meilen zwischen uns. Und dabei reis' ich nicht, um sie zu vergessen. Ich reise, glaub ich, um sie zu suchen – auf einem Umwege.«

Er blieb einen halben Tag in Verona, kam am Abend in Florenz an, speiste in seinem Hotel in der Via Strozzi und ging aus. Es war gelinde, unter weichen Sternen schob sich eine festliche Menge durch die Straßen, lagerte an Kaffeehaustischen auf den Plätzen. Claude gelangte an den Dom. Ein braunrosiger Blütentraum aus Marmor umfing ihn lichtvoll, ein schwarzweißer Reigen von Nischen, Pfeilern, Altanen schritt ihm entgegen, leicht und ernst, aus bezaubertem Schatten.

Auf einem Brett bemerkte er einen Zettel mit der Anzeige der »Manon Lescaut« von Puccini. Er fuhr hin; der dritte Akt hatte begonnen. Des Grieux, im Mantel, stand unterm Kerkerfenster. An die Eisenstäbe drückte sich Manons weißes Gesicht. Sie sagten einander noch dasselbe wie einst im Hof des Gasthauses zu Amiens, als sie, ganz jung, dem Kloster entrannen, um einander zu lieben. Der laue Sturm seiner einzigen Leidenschaft hatte sein ganzes Leben durchweht. Sie liebte ihn durch Armut, Verbrechen, Verworfenheit hindurch, in die sie ihn gestürzt hatte. Die Musik schlug in den Saal, heiß und süß. Und ganz oben, auf ihrer leidenschaftlichen Schwellung schwebten die beiden Stimmen wie zwei Engel auf einer geballten Wolke.

Ein Alter löschte die Laterne, bei seinem eintönigen Singen erhob sich fahl der Tag der Trennung. Das Gefängnis öffnete sich, die Dirnen kamen hervor, schamhaft oder frech. Manon warf sich an die Brust des Geliebten. Man zerrte sie aus seinen Armen, ihre Befreier waren untüchtig, man schleifte sie aufs Schiff. Des Grieux bedrohte den Kommandanten. Dann lag er ihm flehend zu Füßen. Endlich ward es ihm vergönnt, mitzufahren, den Einöden Amerikas entgegen und den Hütten der Verbannten – einem Elend zu, in das Manons Glieder und ihre Blicke Paradiese bauten. Ein Chor von Stimmen krönte ihr Glück.

Claude saß da, gesenkten Blicks. Er hatte mit Ute dahin zu ziehen gewünscht, wie dieser, in bebende Weiten von Meer und Himmel. Sie war allein gegangen, in die Einöde ihrer Künstlichkeit. Das Segel war den Horizont hinabgestiegen, Claude saß am Strande.

Der Vorhang hob sich von Sand und Fels und von den beiden Flüchtlingen. Manon sank ohnmächtig hin. Des Grieux lief zurück, nach Wasser und Hilfe. Sie kam zu sich, glaubte sich verlassen, klagte um das Leben. Sie war leicht, ohne Bewußtsein hindurchgetaumelt, unter dem Klirren von Gläsern, Geld, Degen, Juwelen und Ketten. Sie hatte, solange Geld da war, bloß an ihren Ritter gedacht. Nur weil sie Treue ohne Geld für eine Torheit hielt, betrog sie ihn. Sie begriff nicht, warum er litt und raste. Aber sie flog mit leidenschaftlichem Schluchzen und in den Taschen den ihm gewonnenen Raub, zu seinen Küssen zurück. Wie kam es, daß er zum Spitzbuben geworden war und sie zur Dirne? Warum hatten sie bald in Prunkbetten geschlafen und bald auf Pritschen? Und welches Geschickes Strafe legte nun ihren süßen, reinen und unheilvollen Kopf zum Sterben auf einen Stein in der Wüste?

Der Geliebte kam zurück, mit leeren Händen. Manons Stimme erhob sich noch einmal. Ihre Arme erschlafften, lösten sich von ihm ab. Sie rollte zu Boden, atmete aus. Er stürzte zu ihr hin, er betrachtete sie. Erkannte er, sich besinnend, das fertige Meisterwerk seiner Liebe? Es war in einem einzigen, langen Atemzug erschaffen und mit einer nie gesunkenen Glut. Schon durch den Hof zu Amiens war ein heißer Luftstoß gegangen aus dieser von Manons Sterben ganz rot bestrahlten Wüste.

Claude blieb im Parkett stehn, klatschte ohne es zu wissen, und gelangte mit den Letzten an die Garderobe. Im Gedränge am Ausgang starrte er lange auf das weiß- und mattglänzende Oval eines Frauengesichtes, worin sich weit zwei schwarze Augen öffneten. Das ganz dunkelblonde Haar glitt in blanken Wellen um das Oval, Kirschrote Lippen standen eng und dick aus seiner Blässe heraus. Claude dachte dabei nur an Manon. Da traf ihn ein Blick: die Franchini!

Er blieb stehen vor Überraschung und verlor sie. Als der Weg frei ward, sah er sie einen Wagen besteigen. Zwischen den Schultern der Menge fuhr sie davon, zur Seite eines eleganten, breiten Mannes mit schwarzem, breitgeschnittenem Kinnbart und Brille.

In Claudes Gedächtnis hatte sich ein Vorhang geteilt. Eine Nacht, seine einzige Nacht, lag im roten Glanz dahinter. Die Gebärden der Franchini, ihren Mund, dessen Röte schrie, noch ehe er sich öffnete, er erblickte sie am Ende jeder engen Gasse, durch die er wanderte. Er erinnerte sich stundenlang, daß er geliebt worden war und geliebt hatte. Das war wahr, es war so wirklich wie der Sturm von Empfindung, der heute nacht über eine Bühne gestrichen hatte; so untilgbar wie die Leidenschaft der Steine, die von Palästen, Türmen, Statuen auf ihn herniederwütete.

Cosimo, in seinen grünen Falten, barhäuptig, die Hand auf der Hüfte, ritt starr und groß durch die Nacht. So stolz und siegreich durchträumte Claude sie, allem verwandt, was stark und schön war. Vor dem Tor der Nacht leuchtete stumpf weiß und steil der riesige Brunnengott. Vier Rosse, die Wogen durchstampfend, schleppten ihn. Am Rande der Schale rekelten sich Frauen mit kleinen Köpfen und langen Schenkeln und turnten knabenhaft Satyrn und Faune. Der Marzocco hockte grausam auf seinem schmalen Sockel, unter dem wilden Gebirge des alten Palastes. Und die hohe Halle der Bildwerke öffnete sich übergewaltig, auf die Knie reißend.

Da prangte der untadelige Schauspieler, der den Perseus gab, und trug die finstere Schönheit des Medusenhauptes in jener Geste gen Himmel, die ihres wahren Mörders würdig gewesen wäre und die er nicht gefunden hatte. Judith, gedrungen und dunkel, sah gar nicht hin, wie der fürchterliche Kopf zu ihren Füßen sich verzerrte. Aber sie selbst war der Täter ... Da balgten sich Muskelmassen aus Tier und Mensch. Der Räuber der Frau schritt unbewegt über den Besiegten weg, der geduckt und erbärmlich war. In den Hüften zurückgebogen, ein gigantischer Ringer, stützte er die Last empor, die in üppiger Anmut ihr Fleisch nach allen Seiten wand, hilflose Angst in die Lüfte weinte und ihre weichen Arme begehrenswert ausstreckte, ganz oben auf der Pyramide erhabener Fleischlichkeit.

Aber am Morgen fand Claude sich schwach, wurzellos und überempfindlich. Der Glockenklang stürmte zu stark durch diesen zu heftigen Himmel. Die Blässe der Frauen war zu glühend. All dies Leben war zu wach und schleierlos unter den schrägen grünen Fensterläden der blendenden Straßen. Rasche Gesten, schlanke Wendungen, Schreie, jäher Gesang. Den Gecken, eng gekleidet, die an einer Straßenecke ihren Torso darboten und, den silbernen Griff des Stöckchens am Munde, über einen Cafétisch fort süße und harte Blicke aussandten, ihnen gehörte die Franchini. Sie würden mit ihr im Takt leben. Claude aber blieb zurück; er hatte sie im Gedränge verloren. Er meinte noch immer, in dem Gedränge umhergestoßen zu werden, worin er sie verloren hatte. Sie oder Ute?

Er suchte nach ihr, oder nach Ute, manchen Tag erdrückt von Müdigkeit, und manchen in der Zuversicht einer bevorstehenden Wiedergeburt.

Droben, von Piazzale Michelangelo, erblickte er die Hügel von Florenz, wie lauter im Kreise um die Stadt gelagerte Frauen, die Brüste nach oben, die Arme unter dem Kopf, einen Schenkel aufgestellt, in dem kraftvollen Winkel, womit an der Statue der Aurora, dort am Sockel des großen David, der linke Schenkel die gestreckte Linie des Körpers durchbrach. Sie erwachten zu Wollust, die Hügel von Florenz, wie diese Frau. Ihr Schenkel war von allen der schönste, der erträumte, ewig begehrte: Utes Schenkel.

Er gedachte plötzlich des Tages in Walchensee, als der Sommer sie lässig gemacht und erweicht hatte, als sie ihm einen Traum voll Schwäche und Sehnsucht gestand. ›Hätte ich damals nach ihr gegriffen! Da, der David hätte es getan. Zu seinen Füßen warten die Frauen. Seine breitfingerigen, festen Hände werden nach ihnen greifen. Sein Gesicht wird drohen und lachen. Mit seinen jungen nervigen Beinen wird er gelassen in die Mannesjahre hineinsteigen.‹

Claude stützte sich, ganz geschlagen, auf die Brüstung. Über der Stadt schwammen im Blau die weiten Kuppeln und schossen eckige schmale Türme ins Licht, mit Köpfen voller Zinnen. Irgendwo aus stillem braunem Schatten schrie eine Marmorfassade auf. Die Häuser überschwemmten das Tal und erstiegen die Hügel. Mitten in allem trug der helle Fluß das Lächeln eines weiten Landes zwischen die winkligen Gassen.

Claude sah hinein. Dort, an jenem entfernten Punkt, unter einem Torbogen, geht eine kleine Tür auf, eine Gestalt taucht in das Gedränge, das vorüberspült. Auf dem Platz vor der Kirche gleitet sie wieder hervor; es ist eine junge Frau. Sie verliert sich in engen Gassen, die sich winden. Sie findet sich aufs neue. Sie ist wie ein Schwimmer unterm Wasser, der heraufkommt, man weiß nicht wo. Aber schließlich ist sie am Fluß und auf der Brücke. Claudes Herz geht stark. Am Fuß des Hügels ist sie, worauf Claude steht. Auf die Treppe, die zu ihm führt, setzt sie ihren Fuß, setzt Ute ihren Fuß! ...

Claude erwachte. ›Wo ist sie jetzt? Woran denkt sie?‹

Er stieg hinab, tastete sich in die Straßen, wo er sie erblickt hatte. Hinter dem Fenster eines kleinen Ladens hingen illustrierte Karten an einer Schnur. Die in der Mitte trugen Utes Bild.

Claude riß den Fuß zurück, starrte hin, fassungslos. Dann begriff er. Eine hübsche Schauspielerin, deren Bild ein betriebsamer Photograph über die Welt ausstreute: was war daran zum Verwundern. Claude stand lange in der übelriechenden Frische des Gäßchens. In seinem Hotelzimmer drehte er den Schlüssel um, legte das Gesicht auf die Lehne eines Sessels und ließ sich weinen.

Spät am Abend bemerkte er, daß die Manon gegeben ward. Er trat erst am Schluß des dritten Aktes ein. In den vorderen Reihen war ein einziger Platz frei. Wie er sich niederließ, sah er neben sich die Franchini.

»Wir haben uns nicht vergessen?« fragte er, indes ihm der Atem ausblieb.

»Ich vergesse nichts«, sagte sie und hielt ihren großen dunkeln Blick in seinen Augen. Claude, entschlossen:

»Aber Sie lieben den Mann von neulich?«

»Sehr. Wir lieben uns schon sechs Monate. Ach, ich weiß nicht, ob ich jemals so geliebt habe.«

Und da Claude unzufrieden schwieg:

»Er ist Delegierter der öffentlichen Sicherheit.«

»Was ist das?«

»Ein Polizeioffizier. Jetzt ist er in Bologna, mit einem wichtigen Auftrag.«

Sie fuhr fort, von ihm zu erzählen.

»Man glaubt nicht, wie er ehrgeizig ist. Handelt sich's um seinen Ruhm, fürchtet er keinen Verbrecher. Er würde die Ratten aus der Erde ausgraben. Er wird es rasch bis zum Quästor gebracht haben.«

»Wie Sie ihn lieben.«

Ihre Blicke, mit Leidenschaft angefüllt, durchtränkten ihm berauschend das Herz.

»Er ist mein Retter, er ist gut und stark.«

»Was hat er für Sie getan?«

Sie wäre ohne ihn dem schlimmen Leben verfallen. Damals, auf der Flucht aus Ems, hinter ihrem Geliebten her, war sie bis nach Italien verschlagen. Ihr Berliner Kontraktbruch hatte die Rückkehr nach Deutschland zwecklos gemacht. Sie war zu andern Männern hingerissen worden. Einer hatte sie verkaufen wollen. Der Delegato war ihr Befreier.

Claude hörte ihr zu, sah die Gestalten der Geliebten ihren kurzen Weg entlang, wie die Gesten seiner eigenen Empfindung. Auf der Bühne schluchzte und starb Manon.

»Wissen Sie, daß Sie hübscher sind als damals?« flüsterte Gilda.

»Ich?«

»Ja. Sie tragen einen Schmerz auf den Zügen –. Es war noch nicht so. Ihre Freundin muß noch viel böser geworden sein.«

»Sie ist nicht böse«, sagte Claude, die Lider gesenkt. »Sie ist unglücklich, sie kann nicht lieben.«

Er sah sie an.

»Wäre ich damals bei dir geblieben, Gilda. Ich frage mich, wie das Leben geworden wäre. Etwas ganz Unbekanntes, das du mich einst flüchtig sehen ließest: Kraft der Sinne. Das Leben plötzlich gewendet zu blühenden Gestaden hin, das Blut auf einmal überladen mit Küssen ... Und ich erinnere mich an das, was statt dessen war. Glaubst du, daß es damals möglich gewesen wäre? Ich nicht.«

Sie antwortete nicht; sie rühmte wieder ihren Geliebten, den Delegato, während sie das Haus verließen. Claude nahm ihren Arm, im Gedränge fühlte er das kleine blasse Geschöpf an seiner Flanke entlang beben. Aus ihrem Munde kamen die Worte der Leidenschaft wie der heiße Duft aus dem besonnten Fleisch einer Rose. Claude, süß betäubt, lehnte sich fester an sie. Sie trennte sich plötzlich von ihm, sah nach einem vorüberfahrenden Wagen um.

»Die Nacht ist so schön«, bat er. »Und schon lange hat mich nichts mein Leiden so vergessen gemacht.«

»Wie ich? Armer!«

Und sie berührte aufs neue seinen Arm.

»Da ist mein Haus. Ich empfange nachmittags. Kommen Sie, Sie finden alle meine Verehrer, auch den Conte della Bernardesca, der mir sehr zusetzt.«

»Sie wären imstande, einen zweiten Liebhaber zu nehmen?«

»Was hätte das mit dem Conte zu sagen. Silvio hat nicht viel Geld ...«

Ach ja, in Düren hatte sie Verhältnisse gehabt mit der halben Stadt.

Eine Alte trat vor; Claude vermutete, sie sei die ganze Zeit hinter ihnen hergegangen. Sie schloß das Haustor auf. Gleich dahinter stieg steil und ohne Wendung eine Treppe hinauf. Gilda betrat sie, nach der Alten, die eine Kerze angezündet hatte. Claude stand noch in der offenen Tür. Gilda rief von oben etwas, das er nicht verstand. Sie machte ein Zeichen; er sprang hinauf. Sie lachte.

»Was willst du denn?«

»Du hast gewinkt.«

»Ich hab dir gute Nacht gewünscht. Gewinkt wird hier so.« Sie zeigte es ihm.

»Und schließe das Tor«, rief sie ihm nach. Er fragte noch von unten:

»War es eigentlich ein Zufall, daß wir uns heute abend getroffen haben?«

Sie lachte, von der Kerze rot und gelb angeflackert, mit schwarzen Kreisen um Augen und Kinn. Das Licht und ihr Lachen verschwanden gleichzeitig, unter dem Klappen einer Tür.

Claude merkte sich sorgfältig jede Straßenecke, um die er zu biegen hatte, bis zur Piazza Vittorio. Tags darauf fand er glücklich zurück. Die Alte führte ihn in den Salon. Dort ließ die Franchini sich frisieren, vor dem Trumeau. Ein Greis von edelm Ansehn stand neben dem Haararbeiter. Drei geschminkte Jünglinge ruhten in lässigen Lagen auf Strohstühlen um den Tisch herum. Er hatte goldene, geschweifte Füße; auf seiner gelben Marmorplatte stand ein Fiascho neben einem großen Mohren in buntlackierter Blechrüstung. Auf dem fleckigen roten Sofa, zwischen zwei staubigen Festons aus Papierblumen, saß ein eleganter Dreißiger.

»Herr Claude Marehn«, sagte Gilda und reichte Claude, indes sie ihm im Spiegel zunickte, zwei puderbedeckte Finger – »ich stelle Sie dem Conte della Bernardesca vor.«

Der Greis begrüßte Claude, vornehm und gütig. Er war hoch gewachsen und schlank, hatte ein langes Gesicht mit einem weißen Kinnbärtchen und Augen voll feiner Schwermut.

»Entscheiden Sie«, verlangte die Franchini von Claude. »Diese Herren behaupten, es sei unmöglich, zwei Männer auf einmal zu lieben. Sie behandeln mich als Ungeheuer, weil ich sage, ich kann es.«

»Ich fühle mich imstande«, sagte Claude auf deutsch, »zwei Frauen zu lieben. Sei's nur, um mit der einen Proben der Leidenschaft abzuhalten, die ich mit der andern durchleben möchte.«

Die Franchini bedachte sich ernsthaft.

»Er gibt mir recht«, äußerte sie.

»Ich«, versetzte einer der Jünglinge, »habe nie mehr als einen Herzensfreund.«

»Erlaubst du, daß ich dir das Schönheitspflästerchen hier am Winkel der Lippe befestige?« fragte der zweite und beugte sich kameradschaftlich über Gilda. »Sieh doch, wie reizvoll es wirkt, bei mir selber. Ein sehr feiner Fremder hat sich gestern abend in mich vernarrt.«

Der Conte seufzte.

»Wie viel hübscher noch, o Gilda, wären Sie mit kurzen Haaren!«

»Die alte Leier«, erwiderte sie und schüttelte die Schultern.

»Ist sie denn nicht von knabenhafter Schönheit?« rief der Greis lebhaft, mit Angst in der Stimme, und wendete sich an Claude. »Diese zarten Schultern, diese Jünglingsbrust, diese schmalen Hüften und langen Beine. Man schneide ihr die Haare ab – Ceccho, so schneid doch zu! –«

Der Friseur lächelte, klappte mit der Schere.

»– und ihr Gesichtchen wird gedankenvoll unter kurzen Locken hervorblicken. Keiner dieser jungen Leute wird sich mit ihr vergleichen können.«

Die drei Jünglinge schwiegen mißvergnügt.

Claude nahm seine Kenntnis der Sprache zusammen.

»Sie ist ein kleines Florentiner Kunstwerk. Ihre Brüder stehen hier in den Loggien, auf den Plätzen, ihre Väter sind die großen Künstler von einst. Vom Meißel jener tragen ihre Glieder noch die Spur. Ihr Leben ist voll von allen großen Gesten, die jene quälten und zum Schaffen zwangen.«

»Bravo!« rief vom Sofa her der elegante Dreißiger. Der Conte reichte Claude die Hand. Aber Gilda bewegte heftig den Kopf.

»Die Signora ruiniert mir alles!« kreischte entsetzt der Friseur.

»Ich bin kein Kunstwerk«, sagte sie. »Ich bin ein menschliches Wesen, ich fühle und leide.«

»Und machst leiden«, fügte der elegante Dreißiger hinzu, über seine Knie gebeugt.

»Was wirfst du mir vor, Advokat. Die Leidenschaft schickt uns Gott, wie Wahnideen.«

»Das ist wahr«, bestätigte der dritte Jüngling. »Denn ich muß Lino lieben. Ich würde ihn töten, um ihn nicht zu verlieren.«

»Und wenn ich zwei Männer lieben müßte, wen ginge es an. Ich litte selbst am meisten.«

»Du wärst imstande, zehn, zwanzig zu lieben«, meinte der Advokat mit Bitterkeit. »Gilda, ganz Laune.«

»Doch gibt es Frauen«, sagte Claude, »die ihr Leben lang nur einen lieben.«

»Wir lieben alle im Grunde nur einen«, erklärte sie. »Aber wir suchen ihn bald in dem und jenem. Es wäre unehrlich, bei einem zu bleiben, in dem wir unsere Liebe nicht mehr finden. Wir sollen dahin gehen, wohin Gott uns schickt.«

»Er schickt dich weder hier- noch dorthin«, behauptete der Advokat. »Denn er existiert nicht.«

Einer der Jünglinge widersprach mit Überzeugung.

»Und woher kommen uns die Schicksale?« forschte Gilda. »Ich eigne mir diese Frage an«, sagte der Conte würdevoll.

»Woher«, wiederholte die Franchini.

Der Advokat wußte es nicht.

Und Claude, der davon wußte, fühlte sich beschämt von diesen stärkeren, wärmeren Menschen, die nicht zersetzt waren durch Verstehen, die nur dachten, solange sie sprachen, die nicht mit schmerzlicher Kleinlichkeit das Werden ihres inneren Schicksals verfolgten, sondern bei denen alles von draußen kam. Wie vor zweitausend Jahren gingen unter ihnen Götter umher und verteilten Schicksalsschläge. Sie waren nicht mit ihrer durchgesiebten Seele allein. Nicht in einsamem Verstehen gingen sie dem schweren Tod entgegen. Auch er war eine Laune von draußen.

Diese blasse Hetäre, die Männer den Glauben an einen Gott lehrte, dieses schwache, leuchtende Gefäß fabelhafter Leidenschaften, erfüllte Claude mit zehrender Sehnsucht. Sie erkannte im Spiegel seine Anbetung, sie neigte schwärmerisch den Kopf zur Schulter.

»Und wenn ich viele liebte – sie werden mich viele Tränen kosten. Hat nicht Christus von der Samariterin gesagt: ›Sie hat viel geliebt, ihr wird viel vergeben werden‹?«

Claude, erstaunt:

»Wegen der Tränen? Ihr wird vergeben wegen ihrer Tränen?«

»Natürlich. Wer viel geliebt hat, hat viel gelitten.«

»Also deshalb. Ich habe nie daran gedacht«, murmelte Claude.

»Mir ist manchmal, als liebte ich alle«, sagte die Franchini, indes der Friseur den Stift an ihre Braue setzte und die andern sich ansahen und lächelten.

»Wie Christus«, setzte sie hinzu. »Ich verstehe dann seinen Sozialismus ... Seht ihr, wenn jeder von euch sich jährlich sechs Krawatten weniger kauft, können mehrere Familien sich viele Male satt essen. Warum sollten die Ergebnisse der industriellen Unternehmungen nicht besser verteilt werden.« Der Advokat bestätigte:

»Ich bin auch nicht dafür, daß du tausend Lire im Monat verdienst und manche deiner Kolleginnen nur hundertfünfzig.«

»Wann hätte ich jemals tausend. Ich schreibe alles an, was ich verdiene und ausgebe. Willst du's sehn? Unter meinen Spesen stehen lauter weibliche Namen.«

»Und keine männlichen?«

Man lachte. Gilda stand auf, schüttelte ihren Frisiermantel. Della Bernardesca bezahlte den Friseur, der unter Höflichkeiten verschwand. Der dritte der Jünglinge nahm den Platz vorm Spiegel ein.

»Einen Augenblick, Gilda. So sage mir, ob ich gut geschminkt bin. Ich habe eine Verabredung in der Alhambra, mit Lino.«

»Beruhige dich«, erklärte sie, »du bist eine Schönheit.«

»Er ist eine Schönheit«, wiederholte der Greis und betrachtete die feine Gestalt des Jünglings, seine reich gebogenen Stirnlocken, das elfenbeinerne Oval seines Gesichtes, das weiche Feuer seiner dunkeln, künstlich erweiterten Blicke, seine starken, dunkel geröteten Lippen, um die ein wenig Flaum glitt.

»Mit dir verlasse ich nicht das Haus«, sagte die Franchini. »Alle würden dich ansehn, und vielleicht würde mir's Unglück bringen in der Liebe.«

Bei diesen Worten wandte sie Claude den Rücken.

»Liebst du nicht die Schwarzen?« fragte der Jüngling. Seine schlanken Finger, mit falschen Steinen bedeckt, gruben in Fettbüchsen ... »Lino ist schwarz.«

»Auch ich bin fast immer an Schwarze geraten, gewöhnlich an ein Stück Mann mit Schultern, so breit ... Aber ich fühle, auch einen Blonden, Schmalen könnte ich lieben.«

Und im Spiegel berührte ihr Blick Claudes Stirn. Claude trachtete vergeblich, ihn mit den Augen einzufangen. Nur über die Stirn glitt er ihm weg.

»Und dein Delegato?« fragte der Advokat. »Der Held, dem du auch mich geopfert hast?«

»Ich habe keinen Brief ... Wollen die Herren mir erlauben, mich zum Ankleiden zurückzuziehen?«

An der Tür verbeugte sie sich.

Der Advokat schob, als sie draußen war, die Hände in die Taschen, gähnte und sagte:

»Der Granassi stirbt noch nicht.«

»Und die Olivola pflegt ihn unausgesetzt«, setzte della Bernardesca hinzu. »Mit keinem Schritt hat sie den Klub verlassen.«

»Man lernt die Frauen achten«, bemerkte der erste Jüngling.

»Sie, der Sie fremd sind«, äußerte der Advokat und trat auf Claude zu, »diese Begebenheit müssen Sie erfahren. Arturo Granassi, einer meiner Kollegen, ist im Klub von einem Schlaganfall getroffen. Die Marchesa Olivola, seine Geliebte, sofort benachrichtigt, ist herbeigeeilt, hat ihn in ein abgesondertes Zimmer tragen lassen und wacht bei ihm seit zwei Tagen. Olivola, der Gatte, war heut früh vor der Tür und wagte nicht einzutreten ...«

Der zweite der Jünglinge hatte eine Mandoline von der Wand genommen und klimperte darauf. Der dritte sang süß und traurig:

»Avea le chiome nere, ad uno, ad uno
Vidi cader que' suoi capelli fini ...«

Der Advokat beschrieb eine Rednergebärde.

»Sie ist unbesorgt um Ruf und Stellung. Sie wird für den Rest ihres Lebens eine Ausgestoßene sein. Aber der Geliebte wird in ihren Armen ausgeatmet haben.«

Dann setzte er sich wieder. Der Conte führte Claude in eine Fensternische.

»Sie sind reich?«

»Nein«, erwiderte Claude erstaunt. »Ich war es.«

»Ah! Und Sie sind der Geliebte der Franchini.«

»Sie irren sich.«

»So werden Sie's werden, zweifeln Sie nicht ... Würde es Sie kränken, wenn neben Ihnen auch ein alter Mann sich das ihm erreichbare Glück holte? Sie zögern ... Nein? Nun wohl, und ich, mein Herr, bin damit einverstanden, neben Ihnen zu lieben. Aber ich richte eine Bitte an Ihr gutes Herz. Sie, der Sie gewiß erfahren haben, was es heißt, um Liebe zu leiden, haben Sie Mitleid mit den Ängsten eines Greises. Kürzen Sie sie ab. Veranlassen Sie Ihre Freundin, daß sie sich das Haar abschneiden läßt.«

»Aber –«

»Sagen Sie nichts. Ich verlange kein Versprechen. Ich bitte Sie nur, sich vorzustellen, wie es einem Alten zumute sein muß, der die Wonnen der Jugend noch einmal zurückkehren sieht. Sie sind ganz nah, ganz nah. Sie fallen ihm zu – unter einer Bedingung ...«

Della Bernardesca machte ein paar erregte Schritte ins Zimmer hinein. Er blieb einen Augenblick vor dem dritten der Jünglinge stehen, der ihm während des Singens zulächelte, und starrte ihn an, ohne an ihn zu denken.

»Du irrst dich«, sagte der zweite, beim Zupfen der Mandoline, zum dritten. Der Conte kehrte hastig zu Claude zurück.

»Und dann bedenken Sie, daß ich reich bin und daß Ihr Verhältnis zu der Franchini Ihnen Kosten auferlegen wird.«

»Ich verstehe nicht –«

Da trat Gilda ein, schon im Spitzenumhang. Sie sagte etwas zu della Bernardesca. Der Alte trennte seine Lippen von ihrem Handschuh, er rief lebhaft zu Claude hinüber.

»Natürlich. Geben Sie uns die Ehre, mit uns zu speisen ... Eine Weigerung wird nicht zugelassen. Ihr Straßenanzug ist entschuldigt.«

Der Advokat erinnerte sich plötzlich einer Verabredung und verschwand. Der erste der Jünglinge knöpfte der Franchini einen Handschuh zu, der zweite zog ihr den andern an. Der dritte musterte ihren Anzug. Er entschied:

»Du wirst heute abend Glück haben.«

Sie sagte triumphierend:

»Ich glaube es auch.«

Dann gingen sie. Die Alte leuchtete über die Treppe. Della Bernardesca nahm mit Vorsicht die steilen Stufen. Das Kleid der Franchini rauschte, und Claude dachte unvermutet daran, wohin er gehe, wohin es ihn noch führen werde, dies Rauschen, dem er, ohne zu fragen, folgte. Sein Blut floß reich, es war ihm, als hielte er hinter dieser Frau die Arme ausgebreitet, und mit Schwindeln ergriff ihn das Vorgefühl seines starken Glücks.

Der Wagen trug sie zu Giacosa. Der bunte Türhüter begrüßte sie tief, sie erstiegen die weiße Marmortreppe, leise Kellner öffneten ihnen das kleine rote Rokokokabinett. Della Bernardesca war unzufrieden, weil der Tisch nicht gedeckt war. Er überwachte es, beugte sich über die Speisekarte, ließ die elektrische Lampe näherrücken. In ihrem Schein zeigten sich durch seine weiße Haut hindurch die erweiterten Blutgefäße. Claude beobachtete ihn vom Fenster her mit Besorgnis. Er sagte zu Gilda:

»Die Gerichte scheinen nicht übel, er wählt auch ganz gute Weine. Aber wie ich mich revanchieren soll, ist mir unklar.«

Und er erzählte von seinen Geldverlusten. Sie hörte aufmerksam zu, ihr Blick suchte hinter seinen Worten.

»Du hast es für sie verloren, das Geld, für sie. Und jetzt, da es weg ist, will sie dich nicht.«

»O nein! ... Sie kann nicht lieben«, wiederholte er.

»Weißt du noch, damals in Düren fragte ich dich, ob du gar nicht fürchtetest, es möchte dich einmal reuen, daß du alles für sie hingegeben habest ... Reut es dich jetzt?«

»Nein.«

Die Franchini starrte ins Licht. Plötzlich warf sie der Schäferin auf dem Kamin ihre Handschuhe an den Kopf.

»Gehn wir essen!«

Sie erhob vor der Suppe das Sektglas. Auf der roten Damasttapete stand prächtig die meerblaue Seide ihrer Robe, von einem schwarzen Netz überzogen. Bleich, zart und scharf modellierte sich gegen das Rot ihr Nacken. Das Gesicht ruhte hell in breiten dunkeln Locken.

Der Alte zwischen ihnen plauderte. Als die Früchte gebracht waren, schob Gilda plötzlich ihren Teller zurück und sagte über den Tisch hinweg auf deutsch:

»Warum lieb ich dich?«

Sie war noch bleicher, ihr Blick noch dunkler vor Angst.

»Weil ich dich leiden sehe. Weil ich die Frau kenne, die daran schuld ist, und verstehe, was sie dir antut. Weil ich weiß, wie du lieben könntest.«

Sie sah ihm in die Augen.

»Oh, ich weiß!«

Und sie erschauerten beide. Sie erkannten einander wieder, die Geliebten einer einzigen Nacht. Ihr Fleisch erinnerte sich. Sie sahen sich plötzlich nackt.

»Du bist alles das«, sagte Claude mühsam, »was ich lieben wollte, wonach mich immer verlangt hat in der andern.«

»Und doch«, sagte Gilda wieder, »liebe auch ich einen andern. Verstehst du?«

Er war so bleich wie sie. Ihre Lippen bebten wie seine.

Della Bernardesca bezahlte. Er schlug die Alhambra vor. Claude und Gilda folgten ihm, ohne es zu wissen. Sie schauten einigen Nummern zu. Da besannen sie sich gleichzeitig, sahen einander an, standen auf. Der Greis blickte verwundert empor, dann begriff er. Er sagte der Franchini etwas ins Ohr, untertänig flehend. Sie erwiderte halblaut:

»Es ist möglich, daß ich es einst tue.«

Die Nacht war lau, ihr Wagen offen. Sie lehnten sich nicht an, sahen immer geradeaus. Unter dem Rasseln der Räder, dem Klappern des Echos, lauschten sie auf ihr Blut.

Wieder rauschte Gildas Kleid auf der steilen Treppe. Die Alte machte beschwerlich Licht im Schlafzimmer. Sie sahen ihr zu, Gilda reglos im Winkel zwischen Bett und Kommode, Claude am andern Ende des Zimmers, reglos. Plötzlich stampfte Gilda auf:

»Wirst du bald fertig sein?«

Die Alte drückte sich erschreckt aus der Tür. Gilda und Claude liefen einander entgegen, ein starres Lächeln auf den Gesichtern. Sie preßten einander an sich, ihre Knochen knackten. Ihre Zungen küßten sich stürmisch, ihr Speichel vermischte sich.

»Laß dich sehn, laß dich sehn!«

Sie rissen einander an das Licht, auf das Bett, und betrachteten in ihren zuckenden Mienen die tiefe Angst ihrer Begierde.

Nach seiner ersten Ermüdung lag Claude auf der Seite, zusammengerollt, und im Kreise zwischen seinem Kopf und seinen Füßen hoch aufgerichtet tanzte Gilda, leicht und ernst, in rosaseidenen Höschen, die an ihren langen, feinen Schenkeln ins Violette schillerten, in rosaseidenem Bolero, der weit offen stand und das matte Weiß ihrer Brust schmelzend beschien. Ihre Bewegungen waren langsam; Claude, durch sinkende Lider hindurch, meinte sie zu träumen. Und langsam, wie mit Feierlichkeit, warf sie ihre Kleidungsstücke fort, eines nach dem andern. Schließlich kniete er vor sie hin und entfernte ihre Strümpfe. Und er zog sie zu sich nieder.

Sie folgte, wie ein Zweig, schwer von Früchten, den man zu sich herabbiegt. Er atmete ihr Fleisch, besann sich, vor Glück lachend, auf seinen einst geatmeten Duft; erkannte es mit den Lippen wieder, mit den Händen, mit jedem Fleck des eigenen Fleisches. Als wieder ihre Zuckungen ineinanderebbten, lag sie auf ihm ... Er hatte ihr Gesicht dicht über seinem, etwas leidenschaftlich Weißes, mit verschwimmendem Umriß, verdeckte ihm alles, Welt und Leben, alles Sichtbare, alles Fühlbare; und ihre Blicke und ihr rot berstender Mund tropften schwer, lähmend und heiß füllend in ihn hinein. Er fühlte sich voll von ihr. Sie sagte ihm in den Mund:

»Jetzt hab ich dich in mir!«

Am Morgen strich wundervoller Glockenklang über die Schlafenden hin. Die Sonne ließ sich vom oberen Rande des Fensters in ihr Zimmer fallen. Sie gingen aus, frühstückten in einer Konditorei, sie trieben fort im Fest dieses Tages.

Die breiten Steinplatten machten alle Plätze zu Festsälen. Der Himmel überwölbte jeden Kopf mit einer hohen Triumphpforte. Man hatte blaue Gedanken, fuhr glänzenden Auges ins Blaue, stieß Lachen aus, das in Blau verwehte.

Lauter glückliche Dinge boten sich dem sorglosen Blick. In den Schaukästen der Via Tornabuoni standen aus Elfenbein und aus Porzellan Damen in Spitzenkragen und bebänderte Troubadours des sechzehnten Jahrhunderts, Invaliden und Leierkastenmänner des siebzehnten, Venus und ein Kakadu aus dem achtzehnten, silberne Körbe mit Girlanden und Medaillons vom Kaiserreich.

Schüchtern lächelnde Engel blickten empor zu Madonnengesichtern, sinnend auf gezierten Hälsen. Das Lob ihrer Schönheit auf vielen Hundert Seiten lag ihnen zu Füßen statt eines Andachtsbuches; und tausend Fremde, ihretwegen herbeigereist, brachten ihnen ihre Bewunderung wie ein Gebet.

Claude aber fühlte an seiner Seite, eng gegen sein Herz, eine dieser Frauen, deren Traum in den großen, sinnlichen Augen der Madonnen die Zeiten überdauerte. Diese Bilder am Wege versprachen ihm ein langes Glück. So stark wie sie waren Gildas Sinne. So stark wurden nun seine eigenen. Nun war er auch Ute gewachsen – auch Ute. Er dachte ihr Bild, in dem Münchener Schaufenster, hinzu zu diesen. Er dachte Ute hinzu zu Gilda; fast glaubte er sie zu besitzen. ›Ich bin jetzt stark genug. Es war nur meine eigene Schwäche, daß sie mich nicht liebte. Wage Leidenschaft! Der Leidenschaft, die dich selber hinreißt, widersteht auch die nicht, der sie gilt.‹

Das verkündeten die herrischen Figuren der alten Künstler in ihren Nischen unter der Galerie der Uffizien. Claude hielt es fast für unglaublich: aus dem engen Leib dieser einzigen Stadt waren all die überlebensgroßen Menschen hervorgegangen! Sie alle hatten mit dem Tumult ihrer Sinne die Welt erfüllt. Es war, als hätte man den starken, klaren Glockenklang, der über die Stadt hinströmte, bis an die Grenzen der Erde gehört. Dante und Cellini waren mächtig durch ihre Sinne. Alle diese hatten nur durch die Heftigkeit, mit der sie begehrten, Steinen zum Leben verholfen, Worte in Gestalten verwandelt ... Sie hatten Bilder gemalt oder Weisen erfunden – aber hätten sie, meinte Claude, ihr Leben verbracht zu den Füßen einer Frau und mit den Händen um ihre Brüste, sie wären noch ebenso groß, weil ihre Sinne noch ebenso stark wären.

Und ihre Tochter, deren Glieder vom Meißel jener noch die Spur trugen, lehnte sich an Claude, zog ihn fort, in den Fußstapfen vieler, die hier reich geliebt hatten. Um diese Ecke, an dieser Bogenhalle vorbei war einst in einer Nacht Ginevra degli Amieri geschritten, gespensterhaft im Grabtuch, der Krypta des Doms entstiegen. Sie hatte sich nie dem Geliebten gegönnt, nun hatte man sie begraben. Sie klopfte an das Haus ihres Mannes, er entsetzte sich vor dem Geist. Sie ging vergebens vor die Tür ihrer Eltern. Sie hielt sich fast selbst für gestorben. So kam sie zu ihrem Geliebten ...

Hier am Fluß und beim Brückenkopf hatte Dante erschüttert hingestarrt, wie weiß, und den Blick gradaus, Beatrice vorüberzog.

Im Garten Boboli, vielleicht auf dieser selben Wiese, vor diesem Laubengang, hatten zwei junge Leute gesessen. Der Jüngling führte ein abgerissenes Blatt an den Mund und starb. Man bezichtigte das Mädchen und fragte es aus. »Ich weiß nichts. Er nahm ein Blatt von dieser Pflanze hier und sog daran – wie ich.« Und sie starb. An der Wurzel der Pflanze hatte eine Schlange gelegen und sie vergiftet.

Ihre Wege, den Fuß auf ihren Fliesen, die Stirn in ihrer Luft, ging nun Claude. Er fühlte sich neu, unwissend, Unbegreiflichem bestimmt. Die zarten und wilden Hände dieser Frau trugen sein Leben dahin. Sie konnten es unversehens aufbrechen, tragisch machen. So brachen aus der heitersten Straße dieser Stadt drohend und gewalttätig die Zinnen eines Kastells oder die Geste einer Statue.

Gegen Abend fuhren sie am Arno entlang. Von der hohen Dreifaltigkeitsbrücke streuten die flatternden Blumenmädchen aus Stein ihre Blüten über die Stadt aus. In einer süßgrünen Ferne fühlte man die Baumgänge der Cascine dämmern. Die Menge zog dahin, in engen Reihen auf den besonnten Steinplatten. Claude und Gilda genossen Sonne und Liebe mit den Sinnen dieser ganzen Menge. Sie trugen die süßgrüne Ferne in ihren Augen, empfingen jene ausgestreuten Blüten auf ihren Lippen.

Sie stiegen an den Spiegelbildern der Alten Brücke hinab und an denen der greisen Häuser dort drüben. Ein wüstes Gerüst von schrägen Stützen, Steinkästen, Balkonen wiederholte sich seltsamer im Wasser, und durch eine versunkene Stadt von traumhafter Leidenschaftlichkeit wanderten Gilda und Claude.

Hinten in den Cascine standen sie dann vor dem Fluß, der sich in Kies verbreitete, vor den Büschen, die ins Land zurücktraten, vor dem Himmel, der sich rötete. Das Rot ward heftiger, die Hände von Claude und Gilda bebten näher beieinander auf dem Geländer. Sie faßten nacheinander, gleichzeitig. Mit Angst und Entzücken, die Lippen halb offen, leise und rasch atmend und unter hervorgestoßenen Liebesworten beugten sie sich hinüber, flogen Seele an Seele in dieses die Welt verzehrende Feuer.

Als sie zurückkehrten, brannte der Himmel tiefer, mit dunkeln Schlacken. Die Brücke von Santo Spirito schritt ganz schwarz hindurch. Drüben, auf dem nächtlichen Häuserstrich, klebten dicke gelbe Lichter. Den Quai entlang zogen die Laternen einen Feuerschweif. Im Wasser standen goldne Schlangen und ein einzelner großer Stern blaß im fahlen Zenit.

Claude sah seinen Tag zum Abschied winken, mit einem reichen Lächeln, als folgten ihm zahllose andere, die ihm glichen. Claude, verwandelt, erlebte ohne zu staunen ein einst gelesenes Märchen.

Er war entrüstet, als es am Morgen regnete. Gilda lachte. Man saß nun in Konditoreien und wartete gespannt den Moment ab, wo niemand hinsah, wenn man sich küßte. Man schlenderte durch die Galerien; Claude zeigte Gilda einen Marmornacken, der ihr gehörte, ein gemaltes Lächeln, ähnlich dem aus ihrem Fleische. Man drückte sich in triefenden Gassen an die Schaufenster, beriet hinter den Schirmen. Die Spitzenbluse kostete fünfundsiebzig Francs; man erhandelte sie, rot vor Eifer, für sechzig, bloß um des Vergnügens willen, sich gemeinsam mit jemand herumzuschlagen, verbündet gegen alle andern.

Bei Bocconi war ein seidener Unterrock, der neunzig kostete. Er war sicher sehr preiswert, meinte Gilda, schon weil es Bocconi war. Claude gestand beschämt, es werde ihm schwer. Gilda zeigte stürmische Reue, sie wollte nichts mehr, gar nichts.

»Im Gegenteil, sehr viel, aber einrichten müssen wir uns.«

Er nahm sie unterm Arm, redete vernünftig, mit neuer Zärtlichkeit, einer guten, sorgenden Zärtlichkeit, die ihn mitten im Regen ganz warm machte. Schlicht leben; arbeiten für diese Frau. Für jeden neuen Hut, den sie brauchte, Nächte durchwachen ... Als er aufhörte zu sprechen, schnitt Gilda ihm eine Fratze. Und Claude entsetzte sich über sich selbst. Er hatte sich ja die Zukunft eines richtigen Bürgers erträumt – und mit der Franchini.

Vom Unterrock war nicht mehr die Rede; aber tags darauf hängte Claude ihn ganz verstohlen zu Gildas anderen Kleidern. Ihr Dank war hinreißend.

Es regnete fort. Das verführte zu langen Sitzungen bei Melini und zu gewählten Mahlzeiten. Man konnte den Abend nicht auf den Plätzen genießen, mit einer Limonade und der Geige der Straßenmusikantin. Man mußte ins Theater gehn. Nachmittags half man sich mit den Konzerten der Floreal tearooms, wo die sanft dahintaumelnden Walzer des kleinen Orchesters sich verloren im harten Schwatzen eleganter Engländerinnen.

Einmal überraschte Claude sich dort bei der Frage, was er hier zu tun habe. Er erschrak heftig, beugte sich über den Tisch und rief Gilda an – als sei sie im Begriffe gewesen, ohnmächtig zu werden oder ihm davonzulaufen. Er atmete auf, als sie antwortete. Er hatte sie, er hatte Liebe! Gebrochen war die Einsamkeit. Claude war stark, er hatte sie gebrochen. Claude und Gilda waren stark.

Noch niemals meinte er, sie begehrt zu haben, wie in dieser Minute. Sie versäumten zu Hause über den Ermüdungen ihrer Umarmungen das Diner. Sie saßen immer noch aneinandergedrängt, in halber Bekleidung, auf einem Sessel. Claude lebte nur, zusammen mit seinem Spiegelbild, in den vor Leidenschaft unsichern Blicken der Frau. Gilda streckte die Hand aus nach der Schieblade im Tisch; sie holte Briefe hervor.

»Ich liebe dich, Claude!«

»Was ist das da?«

»Siehst du nicht, daß ich rot und blaß werde, sooft du das Zimmer betrittst?«

»Und die Briefe?«

»Die schreibe ich, wenn du fort bist. Ich hab keine Zeit, sie abzuschicken; du bist ja gleich wieder da ... Den hier schrieb ich gestern, noch ganz in Schweiß von unserer Liebe ...«

Er beugte sich, von ihr umschlungen, über das Gestammel, halb deutsch, halb italienisch, und unsicher vor Leidenschaft, wie die Blicke der Frau.

Sie hatte keine Lust, sich zum Ausgehn anzukleiden. Claude stöberte in seinem Portemonnaie.

»Herrgott, ich glaubte doch noch einen Fünfziger zu haben.«

»Du hast keinen Fünfziger mehr?«

Sie tanzte lachend in die Winkel.

»Er hat keine fünfzig Lire mehr! Oh, laß dich küssen! ... Aber dann bleiben wir eben zu Haus. Bin ich froh!«

Aus einer Garküche holte die Alte ihnen Hammelrippen. Hinterher aßen sie Schafskäse. Das Fiascho war mit einem Wein gefüllt, der den Mund zusammenzog. Aber Gilda, die glücklich lachte, ließ ihren Schlafrock offenstehn, und Claude genoß ein Festmahl mit den Augen.

»Es ist aber erst der Fünfzehnte«, sagte er besorgt am andern Morgen. Er telegrafierte an Panier, aber es erfolgte nichts. Sie aßen immer noch zu Hause. Sie machten keinen Ausgang mehr, der Geld kostete. Sie verwandelten das Darben in ein Vergnügen, sagten einander auf der Straße manchmal ins Ohr, daß sie Hunger spürten, berieten halbe Stunden darüber, ob zu einer Wasserschokolade für zwei Soldi, im Bar, ihre Mittel reichten. Dann wollte jeder verzichten, damit der andere auch noch ein Stück Kuchen habe.

Endlich kam ein Brief von Panier, mit einer Einlage von hundert Mark. Claude besah sie zweifelnd. Panier schrieb, Vorschüsse gebe es überhaupt keine. Ob er denn selber wisse, was er alles schuldig gewesen sei. Immer noch mehr. Davon werde er sich in Jahr und Tag nicht erholen. Und die fünfhundert monatlich seien schon reine Unvernunft. Er solle sich nur selbst was verdienen. Wenn er mal nach Rom komme, solle er dem Papst 'ne Offerte machen von Panier und Compagnie in Düren, für Kohlen ins Fegefeuer, frachtfrei loko abzuliefern. Eine gute Kommission sei ihm sicher.

Durch diesen Witz gnädiger gestimmt, hatte der Alte einen Hunderter beigefügt; den solle Claude als Geschenk betrachten.

Claude erinnerte sich der halben Häuser, die sein Vormund ihm abgeknöpft hatte. Er steckte den Schein in einen Briefumschlag und schrieb Paniers Adresse ... Dann entschloß er sich, Gilda einen fröhlichen Tag zu gönnen. Sie tranken abends Sekt in der Alhambra, mit Gildas Freunden, dem Advokaten und den drei geschminkten Jünglingen.

Claude, übererregt, schlief schlecht. Er erwachte endgültig lange vor Tag, mit Angst und Sehnsucht im Gedächtnis. Es war ihm, als habe er von Ute geträumt. ›Warum noch? Werde ich nicht geliebt? Hab ich nicht lieben gelernt? Bei Ute hatte ich nur das elende Verlangen. Ihr seelisches Unvermögen steckte mich an, schwächte mich. Jetzt hab ich all das Glück, von dem sie, die Arme, nichts wissen darf. Und ich träume noch von ihr? Und sehne mich noch nach ihr? Das ist ja schrecklich, das ist ein neuer Zusammenbruch, dann bin ich wieder allein!

Bedenke doch, du bist nicht allein. Gilda liebt dich, wie du sie.

Ja, wie ich sie. Nämlich sie liebt noch einen Zweiten. Sie liebt mich vielleicht nur an Stelle des Zweiten. Hat sie nicht manchmal einen fremden Blick, aus Gedanken her, in denen nicht ich bin? Gestern ließ sie einen Brief verschwinden.

Es war einer von denen, die sie dir schreibt.

Ach, sie schreibt mir keine mehr. Sie braucht Geld und Vergnügen, um lieben zu können. Das Blut erhitzt sich schwer, wenn man Salat ißt und Wasser trinkt. Was sollte sie mir schreiben. Haben wir uns überhaupt etwas zu sagen, die Franchini und ich, zu den Zeiten, wo wir uns nicht begehren? ... Aber Ute und ich, wir konnten wochenlang in Zurückgezogenheit miteinander leben und langweilten uns nie. Wir waren Kameraden durch Gedanken und durch Stimmungen. Sie nannte mich auch einen Künstler ...

Ja, und ihre Künstlichkeit hat dich so elend gemacht, hat dich abgehetzt auf der Jagd nach Liebe, bis du den Atem verlorst.

Ich hasse ihre Kunst nicht mehr. Ute war meine Freundin. Ohne sie zu besitzen wie eine Geliebte, hatte ich, selbst wenn sie fern war, mehr von ihr, als ich von Gilda habe, wenn sie unter meiner Umarmung zuckt ... Nun weiß ich's. Nun ist auch das aus. Beides aus: mit Ute und mit Gilda.

Erst eben hat sie deinen Kopf nahe zu ihren Augen hingezogen, ganz nahe, und hat gesagt: »Ich möchte dich in meinem innern Leben haben.«

Weil sie mich nicht darin hat. Ute hatte mich, und ich sie.‹

Er krümmte sich zur Wand hin, rang im Dunkeln die Hände.

›Immer nur nach ihr werd ich mich sehnen, immer nur nach ihr.‹

Erst mittags ging er zu Gilda, zögernd, mit Schuldgefühl, als habe er sie hintergangen. Es ward ihm schwer, seine Fremdheit zu verbergen. Und litt nicht sie unter derselben Anstrengung? Sie dachte an den andern!

Der Käse stand auf dem Tisch, Gilda rührte ihn nicht an, sie ließ die Lippe hängen. Claude wagte nicht aufzusehn. Schließlich äußerte sie:

»Du hast kein Geld, ich liebe dich darum nicht weniger. Aber Geld müssen wir uns verschaffen. Vorhin war della Bernardesca da.«

»Der Alte!«

»Wäre ein Junger dir lieber?«

»Gilda!«

»Ich bin aufrichtig, mein armer Claude.«

Sie schützte sich das Gesicht mit dem Arm. Claude war aufgesprungen, aber er nahm ihren Kopf in beide Hände, mit Verzweiflung:

»Gilda, ist es denn aus?«

»Was denn, was ist aus, um des Himmels willen, Claude, du glaubst doch nicht? Aber ich liebe dich ja. Verstehst du? Wenn ich dich nicht liebte, hätte ich ja dem Alten nachgegeben!«

Er füllte seine Hände mit ihrem Haar.

»Es ist noch da, fühlst du's?«

»Gilda, versprich mir, daß du's nie, niemals tun willst!«

Sie warfen die Arme umeinander, sie erhitzten sich.

»Da ich dich liebe, und da es dir Kummer machen würde ... Lieber hungern wir!«

»Nur noch sechs Tage. Am vierten muß Geld kommen.«

»Wieviel?«

»Fünfhundert Mark, wie gewöhnlich.«

Dabei fühlte sie ihn schon in ihr Fleisch eindringen. Der Gedanke an Geld rollte bis in ihre Umarmung.

Schon zwei Tage später zog sie ihn zu Doney.

»Ich kenne einen Zahlkellner. Nur Mut, er wartet, bis wir was haben.«

»Wir essen aber einfach das Menü«, verlangte Claude und versuchte, sein Unbehagen mit Wein hinunterzuspülen. Er berechnete, während Gilda über der Speisenkarte saß, wenn sie hier täglich fünfzehn Francs ausgäben, würde sein Monatsgeld kaum fürs Essen hinreichen.

Gilda genehmigte das Menü, aber sie vervollständigte die Horsd'œuvres. Zur Crême Chantilly bestellte sie, Claude zublinzelnd, eine halbe Flasche Pommery. Claude, mit gefülltem Magen, fand keinen Mut mehr zum Widerspruch. Dann kamen die Früchte, und dann verlangte Gilda triumphierend die Rechnung. Dabei legte sie ein schweres Portemonnaie auf den Tisch und sah darüber hinweg Claude in die Augen. Er war weiß geworden. Er stammelte:

»Was ... woher ...«

»Vom Conte«, sagte sie und lachte leichtsinnig, indes sie die Goldstücke auf die Rechnung warf.

Als der Kellner fort war, ganz erstaunt:

»Was stöhnst du denn? Du siehst, mein Haar ist noch da. Es ist also nichts geschehen.«

Sie beugte sich über den Tisch. Claude rückte weiter; innerlich jagte ihn die Scham weit fort. Er blickte halb abgewandt in dieses glückliche Gesicht, das kein Erröten kannte, und er meinte es zum erstenmal zu sehen. Befremdet dachte er nach, wohin er geraten sei.

Gilda fragte:

»Es ist dir doch nicht unlieb? Der Alte gibt Vorschuß herna, und was er will, kriegt er doch nie.«

Claude, leise, indes er sie musterte:

»Du wirst dich auf die Dauer nicht weigern können.«

»Oh! Da kennst du die Franchini schlecht! Von mir bekommt man nur, was ich will. Mein Claude, wußtest du das nicht?«

Wie wild nun ihr bleiches Gesicht war! Claudes Blut wallte auf.

»Du versprichst mir, Gilda, daß du es nie, niemals tun willst?« wiederholte er.

»Wie käme ich dazu. Überhaupt, sich das Haar abschneiden lassen! Das Geld bekomm ich auch so. Der Alte weiß ja gar nicht mehr, was er hergibt, ich brauche bloß mein Haar aufzulösen.«

Sie ließ nochmals Champagner kommen, schenkte ein.

»Er soll nur zahlen, damit ich meinem süßen Claude etwas Gutes vorsetzen kann.«

Und Claude schämte sich nicht mehr. Die grausame Lasterhaftigkeit ihres Blickes durchtränkte ihn brennend. Ihre Körper riefen einander zu unerprobten Genüssen. An diesem Abend würzte Verderbtheit ihre Umarmungen. Claude zog überraschende Schauer aus dem Bewußtsein, eine Dirne zu lieben und von ihr bezahlt zu sein. Sie wüteten gegeneinander. Wie sie schließlich weit voneinander zurückgezogen, zwischen umhergeschleuderten Kissen lagen, spähte jeder mit Feindesaugen nach des andern Zerstörung aus.

Aber als Gilda schlief, glitt Claude zu ihr hin, küßte sie sanft auf die Wange und fragte sie: »Was machen wir auseinander? Wie kommt das alles, und wie endet es?« ... Sie antwortete nicht. Ihr schönes Weibergesicht, rosig vom Schlaf, atmete beruhigt, ohne Gewissen, ohne Wissen.

Am Morgen, nach sehr leichtem Schlummer und arg zerschlagen, stieg Claude, ehe Gilda erwachte, auf die Straße hinunter. Er hatte keine Lust, sein Hotelzimmer aufzusuchen. Er gehörte nirgend hin als zu der Franchini; und die entehrte ihn und brachte ihn um.

Am Lung'Arno begegnete er della Bernardesca, der stehenblieb.

»Ich suchte Sie«, äußerte er hochmütig.

»Da bin ich«, sagte Claude im selben Ton.

»Ich wäre auf dem Lande, nur Ihretwegen mach ich mir die Mühe und wegen Ihrer Freundin.«

Der Greis sprach gequält. Claude zitterte im Innern vor Scham. Er wagte die Augen nicht zu bewegen. Dahinten, in reinem Morgenduft, grünten die Cascine. Knabenhaft klar waren Himmel und Berge. Claude fühlte sich alt und schmutzig.

»Warum raten Sie ihr ab?« sagte der Greis leise beschwörend. »Sie hatten mir Ihre Hilfe versprochen.«

Sie gingen zusammen weiter.

»Nun also?« fragte della Bernardesca.

Claude biß sich auf die Lippen. Der Greis fuhr fort zu bitten. Claude, innerlich gekrümmt, wagte weder zuzusagen, denn seine Hilfe war bezahlt; noch sich zu entrüsten – weil er bezahlt war.

Sie gingen bis zu Reininghaus; der Alte verlangte einen Marsala, und auch für Claude einen. Claude unterließ es aus Mutlosigkeit, sich zu sträuben. Der Wein belebte ihn sofort. Della Bernardesca sprach von seinem seltsamen Gelüst nach Gilda. Es verwunderte ihn selbst. Er bemitleidete sich, von Frauen abhängig, wie er sein Leben lang gewesen war. Claude sah ihn an; die hohe schlanke Gestalt, das lange edle Gesicht mit weißem Spitzbärtchen gehörten scheinbar einem eleganten Soldaten. Und der war seinesgleichen? ... Sie erzählten, jeder nur auf sich aufmerksam, von der Frau, an der sie beide litten. Della Bernardesca sagte:

»Sie zu lieben wie ein anderer, das Unglück wäre noch nicht zu vergleichen mit der Strafe, die mir – mir auferlegt ist: dieses Gelüste, das sie mir eingibt. Das ist das Schlimmste.« »Das Schlimmste«, erwiderte Claude, »ist, wenn die Seele, das was wir Seele nennen, stärker ist als der Rest des Körpers. Das bringt Stürme und Jammer.«

Darauf trennten sie sich, mit verständnisvollem Händedruck. Claude machte noch einen einsamen Spaziergang. Nachher fühlte er sich Gilda wieder leidlich gewachsen und ging zu ihr.

Einige Tage später kam sein Geld für Dezember. Da Gilda Toiletten zum Winter gebrauchte, ging es noch vor dem fünfzehnten zu Ende.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Gilda. »Du mußt spielen.«

»Damit wir morgen nicht einmal Salat zu essen haben?«

»Keine Furcht. Über dem Wiener Restaurant ist ein geheimer Klub, dorthin gehst du heute abend und nennst nur den Namen Silvio Zecchini.«

Claude ward aufmerksam.

»Das ist dein Delegato! Er ist zurück, du hast ihn gesehn!«

»Nimm diese alte Visitenkarte von ihm. Da hat er früher einmal etwas darauf geschrieben, was für dich paßt.«

»›Dieser Herr kommt statt meiner‹? ... Gilda, das hast du ihn schreiben lassen, für mich. Sag's doch!«

Sie umfaßte ihn, kam mit ihren starren Augen auf seine zu.

»Nein, nein.«

»Du hättest es dir ja schicken lassen können. Gesteh wenigstens, ist er zurück?«

»Sei lieber froh, daß wir Geld haben werden!«

Mit ihren Lippen erstickte sie seinen Widerspruch.

»Nimm ihnen nur ihr Geld ab. Oder aber, sicherer ist es, du läßt dir jeden Abend hundert Lire geben, dafür, daß du das Spiel duldest.«

Claude lachte auf.

»Dann schon lieber spielen.«

Unter der Tür schob sie ihm ein Papier in die Hand. Er sah erst draußen nach, was es war: hundert Lire; und er verspürte keine Lust, zu fragen, woher nun das wieder kam.

Er erspielte in dieser Nacht hundertfünfzig Mark, verlor in der folgenden fünfzig, gewann in der dritten sechshundert. Da das Spiel ihm nicht die geringste Leidenschaft beibrachte, büßte er wenig ein. Er blieb nur da, solange er glücklich war. Er dachte, während er setzte, daran, daß eine Frau ihm dieses Leben auferlegte. Sie fachte um ihn her einen Sturm an, sie machte Claude wild, ausgestoßen, fragwürdig ... In Wirklichkeit? Er hatte, ganz im Grunde, das Gefühl, in einer Komödie mitzuwirken. Er, Claude Marehn aus München, führte doch nicht im Ernst ein Abenteurerdasein? Er lächelte. Das alles wäre erst dann ernst gewesen, wenn es Ute gegolten hätte. Wenn Claude mit Ute in dem Sturm gestanden wäre, den Gilda ihm vormachte. ›Für Ute mich in Armut, Schande, Laster stürzen, für sie das letzte Goldstück auf einen Spieltisch werfen, und in einer Dachkammer mit ihr sterben!‹

In seinen wachen Träumen hielt er das manchmal für wahr. Seine Einbildung zog Ute mit hinein in seine Verlumptheit. Nur einmal verlor er seinen ganzen Gewinst: als er sich ganz zu dem Glauben hinaufgehißt hatte, er spiele für Ute.

Es war bald Geld da und bald nicht. Claude ward gleichgültig dagegen, daß es meistens della Bernardescas Geld war, womit er spielte. Denn wenn er es verdoppelte, verfünffachte, dann liebte ihn Gilda. Sie liebte ihn kaum, wenn er arm war.

Er erblickte sie, heimkehrend, manchmal sehr blaß, und wie sie, vornüber, die Handrücken zwischen den Knien aneinandergestützt, ohne ihn zu sehen gradaus starrte. Ein anderes Mal hatte sie einen Weinkrampf. An einem Morgen fand er sie mit einem zugeschwollenen Auge. Sie gab einen Mückenstich vor. Woher kam in der Kälte die Mücke. Und wieder andere Tage warf sie sich überreizt, unter verzweifelten Liebesausbrüchen, in seine Arme. Sie liebte ihn – oh, er brannte von ihrer Aufrichtigkeit. Aber sie suchte Hilfe – gegen wen? Claude wußte es im stillen: gegen den andern. Denn sie liebte auch ihn.

Claude hatte ihn niemals wiedergesehen. Der Delegato zeigte sich nie im Klub, ließ sich nie bei Gilda treffen. Claude schaute vergebens auf der Straße nach ihm aus. Aber sein Vorhandensein war ihm eine innerliche Gewißheit. Und der Kampf mit dem unsichtbaren Rivalen entzündete ihn krankhaft. Seinetwegen opferte er am Spieltisch, durch schwarzen Kaffee wach erhalten, alle seine Nächte. Seinetwegen jagte er Gildas schnellsten Launen nach, fing sie ein und bezahlte sie. Sie, die um lieben zu können, Geld brauchte, er rang sie dem andern immer aufs neue ab. Er besann sich zuweilen darauf, daß seine Leidenschaft nur genährt werde durch den andern, nach dem er Gilda nie fragte und der immer zwischen ihnen der drohende Dritte war. Jeden Augenblick konnte Gilda die Arme von Claude loslösen und sie dem andern um den Hals winden. Darum geriet Claude in Erregung beim Spiel, lernte Geiz, Haß und alle Leidenschaften und taumelte bei Tagesgrauen mit geröteten Lidern über Gildas Schwelle, ihr ein paar knisternde Zettel auf die Bettdecke zu streuen. Wieder hatte er sie für einen Tag dem andern abgerungen.

Einmal, als er beim Heimkommen seinen Schlüssel in der Flurtür umdrehte, fand er sie verriegelt. Er richtete sich auf, fassungslos. Seine Hand lag am Glockenzug und ließ ihn fahren. Claude stieg langsam, mit schweren Füßen, die steile Treppe wieder hinab. Wozu Lärm machen, wenn der andere schon drinnen war. Claude hätte seine Seele samt Gehirn und Rückenmark besser anstrengen sollen, ehe jener kam. Hatte er die Frau nicht halten können, dann mochte sie lieben, wen sie Lust hatte. Was ging das Claude noch an, ihn, dessen Liebe zu schwach gewesen war, um sie zu fesseln. ›Ich fühle es längst, ich liebe nicht mehr. Der schöne Anlauf ist zu Ende. Nur mit Hilfe des andern hab ich sie und mich getäuscht. Denn nicht sie ist die Betrügerin ...‹

Er kam trotzdem, ohne geschlafen zu haben, gegen Abend noch einmal. Gilda gewahrte sofort seinen Zustand, stürzte ihm flehend an die Brust.

»Die Alte hab ich fast geprügelt. Muß das Tier den Riegel vorschieben. Warum hast du auch nicht geklingelt. Bist du beleidigt, mein Claude?«

Er zog sie aufs Sofa.

»Ist's aus? Wirst du den Delegato öfter empfangen?«

Ihre Miene legte sich auf einmal um, sie war nur noch feindselig und leidvoll. Gilda schüttelte sich.

»Wenn du reden willst – auch ich hab's satt, das Schweigen. Ich hab ihn nicht zum erstenmal dagehabt, du weißt es wohl.«

Claude nickte.

»Und warum hast du geschwiegen?« rief Gilda erbittert.

»Er hat mich deinetwegen gequält, so wie du mich seinetwegen. Aber er war offener als du. Du hast mich stille Vorwürfe fühlen lassen, hast mir deine Erschöpfungen vorgeführt. Du willst mich glauben machen, nur du seist der Leidende? Und nicht ich? Ah! Ah! Hast du 'ne Ahnung, was lieben heißt. Lieben, und nicht wissen, wen. Doch: beide. In den Armen des einen an den andern denken. Das Gesicht des zweiten zwischen den Händen halten und verzweifelt nach den Zügen des ersten suchen. Bei keinem je ganz sein: zerrissen sein. Den Geliebten, dem ich ganz gehören will, um Hilfe anflehn gegen die Vergewaltigung durch einen Fremden, und nach dem Fremden lechzen ... Hab ich gewünscht, einen von euch so sehr quälen zu können, daß er mich loslasse! Hörst du nicht? Betrogen hab ich dich, und fast vom Anfang unserer Liebe an!«

Claude hob unmerklich die Achseln.

»Verstehst du nicht? In seinen Abdruck im Bett hast du dich hineingelegt. Du mußt es doch gerochen haben ... Und er roch besser als du!«

Sie schleuderte ihm das in die Augen, keifend, Haß und Leiden im zerstörten Gesicht. Darauf duckte sie sich, kniff die Lider ein, hinter vorgehaltenem Arm. Nach einer Weile kam sie zum Vorschein, ganz erstaunt. Claude sah müde und mitleidig aus. Da legte sich Gildas Gesicht in die Züge der Verachtung. Mit etwas Grauen schien ihm diese Verachtung gemischt. Sie sah ihm nach wie einem Unheimlichen und Elenden, während er hinausging.

Claude sagte sich, sie sei beim Delegierten der öffentlichen Sicherheit gewohnt, daß solch Auftritt anders verlaufe. ›Einer, der nicht prügeln kann, verrät vielleicht einen, der nicht lieben kann.‹

Er legte sich schlafen, erwachte mit leerem Kopf und fühlte sich befreit und matt. Er ging auf Sehenswürdigkeiten aus. Er wunderte sich darüber, wie tot die Bilder waren und daß keine Statue mehr etwas von der Leidenschaft verkündete, die an ihr gehämmert hatte. Von der Stadt war die Größe abgefallen. Statt der Geister von Dante und Ginevra degli Amieri eilten Kommis in Regenmänteln dahin und trollten sich Fremde mit grünen Hütchen. Der Schirokko nahm Claude den Atem, machte ihn zeitweilig so schwach, daß er sich an ein Haus lehnen mußte, ermüdete sein Gehirn so, daß er fürchtete, im Gehen einzuschlafen. Aber am Abend, todmüde, hatte er sich jedesmal im Moment des Entschlummerns aus einem Gehirnkrampf aufzurütteln.

Wenn er sich des Morgens im Spiegel sah, erschrak er schwach über sein abgemagertes Gesicht, die schlaffen Muskeln, die hängenden Lider, die welke Haut. Am Abend kam ihm ein Heißhunger, dem nachzugeben er sich hüten mußte. Es interessierte ihn nichts als sein augenblickliches Befinden. Dabei fehlte ihm die Tatkraft, es durch eine Rückkehr nach Deutschland zu verbessern.

›Wenn Matthacker mich jetzt sähe – Donnerwetter. Ich glaube nicht, daß er es noch der Mühe wert fände, mich zu elektrisieren. Weiber würde er mir auch nicht mehr empfehlen, trotz der Kopfschmerzen ...‹

In der Weihnachtsnacht wendete sich der Wind. Die Tramontana sauste machtvoll. Claude erwachte aus seinem fiebrigen Schlaf, sein Hirn begann plötzlich zu arbeiten. Am Morgen flammte, unter den Streichen des Nordsturms, der Himmel blau auf. Claude, tiefer atmend, schöpfte Mut. Der nächste schwüle Regenwind ermattete ihn wieder.

Eines heitern Abends erging er sich droben auf dem Piazzale Michelangelo. Die Hügelstraße trug ihre Villen und Gärten, wie aus Schmiedeeisen, in den braunrosigen Sonnenuntergang. Der große David, mit den schwellenden Frauen zu seinen Füßen, wuchtete auf dem vergehenden Tag, in dunkler Kraft ...

Der Abendhimmel gleißte höher, dann verkohlte er. Der Wind fegte plötzlich über den Platz. Die Zypressen von San Miniato bewegten sich müde. Die Luft war sterbend blau, in einem weiten, schwindelnden Kreise, ganz leer. Die Stadt drunten dunkelte, am Horizont die Hügel hatten sich aufgelöst. Die Stunde war unheimlich, die Stunde der Fledermäuse. Die Besucher gingen, nur ein Liebespaar, ohne Gefühl für die Kälte, schmiegte sich noch in die Nische am Sockel des David.

Claude, an der Ballustrade, beugte sich über die Stadt und ihre ersten Lichter, über die frühsten Sterne im Fluß; und dachte an sich.

›Ich bin nicht einmal fünfundzwanzig und nehme ab. Aber ist es wünschenswert, daß das Leben sich auf eine lange Strecke verteile? Die oft wiederholten Bewegungen können uns nur abschleifen, die Stimmungen nur schaler wiederkehren. Wenn ich dies Italien zehn Jahre lang kennte, was wäre es noch? Das Glück ist nicht gar lange fühlbar, das Leiden selbst interessiert zuletzt nicht mehr ...

Vielleicht hätte ich schaffen können, für ein Werk leben, wenn ich nicht ganz für eine Frau gelebt hätte ... Wenn einer schafft, sein teuerstes Werk, das, wofür er am reichsten gelebt hat. macht er mit dreißig Jahren. Und wenn er's erst schafft, will das nicht sagen, daß er zu leben schon aufgehört hat, daß seine Jugend aus ist? Das unbefangene Leben haben wir ja höchstens als Jünglinge ... Das alles geht rasch, viel rascher als die meinen, die getrost siebzig Jahre alt werden.

Statt dessen hab ich lieben wollen, meiner Einsamkeit entkommen, mich in ein zweites Wesen flüchten und Großes darin erfahren. Unter den Lippen einer Frau hell und stark werden. Oh, all die Sehnsucht, für deren Erfüllung das Blut zu arm ist! Die Zärtlichkeiten, denen die Nerven nicht gewachsen sind! Was haben wir zu hoffen, wenn wir zur Welt kommen? Nichts, was nicht in unserm Blute wäre. Nichts von draußen, alles in uns. Keine Macht kann von oben, von ringsher auf uns übergreifen, uns verwandeln, uns glücklicher machen oder ärmer. Unser Blut, nur unser Blut rollt Schätze oder hungert uns aus, so sehr wir nach reichem Leben, nach starken Empfindungen lechzen mögen. Und der einzige über uns ist vielleicht der Arzt, der uns durchschaut und nichts ändert.

Du, Ute, hast deine Einsamkeit immer stolz vor Augen behalten. Nie hast du an eine Sehnsucht deinen Kopf verloren. Du hast mir alles vorausgesagt, was geschehen würde. Ich begriff nichts, ich hab dich vergewaltigen wollen. Jetzt ist mir, als hätt ich's getan und hätte meine Unfähigkeit zu lieben an dir erprobt, Ute, an dir, die auch nicht lieben kann. Auch das noch haben wir zusammen durchgemacht.

Jetzt kommst du wohl nicht mehr dahinten unter dem Torbogen hervor, wo in einem kleinen Fenster an einer Schnur dein Bildnis hing – sicher ist es fort –, und findest durch Gassen, an Plätzen vorbei und über die Brücke im Gedränge den Weg, und setzt den Fuß auf die Treppe zu mir? ... Ute? ...‹

Es war ganz dunkel, der Wind rauschte stärker, ein Lichtstrom schwamm im Arno. Die Stadt war voll goldener Augen, voll roter, voll weißer. Welche weinten? Welche waren einsam? ... Das Liebespaar verließ seine Nische. Auch Claude ging.

In seinem Zimmer fand er einen Brief der Franchini.

»Willst du mich denn sterben lassen? So viel Grausamkeit wegen eines Irrtums? Ich liebe nur dich, du mußt es ja fühlen, nur dich. Habe ich gezweifelt? O verzeih, mein Kopf ist ein lärmerfüllter Abgrund! Ich hasse den, der mich einen Augenblick zweifeln machen konnte ... Komm! Komm! ...«

Claude zuckte die Achseln. Am Morgen überlegte er, ob er abreisen solle. Die arme Frau würde weniger zu leiden haben. Wozu das Spiel wiederholen, dessen Ausgang feststand.

Aber aus einer Zeitung erfuhr er, daß gestern abend der Conte della Bernardesca auf dem Wege nach seiner Villa, vor Porta San Frediano von vermummten Männern angefallen, verwundet und ausgeraubt sei. Der Kutscher war tot. ›Zur selben Stunde, als ich auf dem Piazzale stand und gar so blasierte Reden führte, geschah also etwas derart Tatkräftiges ... Das ist erstaunlich!‹

Der Seltsamkeit halber und aus Wohlwollen für den Greis fuhr er am Nachmittag zwei Stunden weit vor die Stadt, nach der Villa della Bernardesca. Der Conte empfing Claude im Bett; er war gerührt, außer den Reportern hatte sich niemand die Mühe genommen. Sie sprachen von der Franchini.

»Sie sind wirklich mit ihr fertig?«

»Ich bin mit ihr fertig«, sagte Claude traurig. Der Alte seufzte.

»Ich nicht.«

Er sah aus seinem verbundenen Kopf starr geradeaus.

»Ich war gestern abend bei ihr, ja, von ihr kam ich, als man mich ermorden wollte ... Ich hab mich zum ersten Male ganz vergessen – oh, Ihnen, der Sie um diese Frau wissen, sag ich's ohne Scham: ich hab ihre Füße geküßt, bin ihr, indes ich sie anflehte, auf den Knien nachgerutscht ... Sie war unerbittlicher als je. Sie lief im Zimmer umher, lachte bitter und wild und stieß gequälte Worte hervor: ›Mitleid soll ich haben, ich? Wer bemitleidet denn mich?‹ ... Dann ging ich, dann fiel man mich an; und anstatt zu sterben, werd ich weiter an ihr leiden.«

Claude atmete rascher, er drückte fest die Hand des Alten.

Auf der Rückfahrt war die Campagna ganz finster, ein trübes Licht tauchte manchmal aus einem Olivenfeld, erhellte schwach den Rand einer Zypresse und ließ die Nacht nur noch schwerer zusammenschlagen. Claude meinte, della Bernardescas Erlebnis könne leicht auch ihn selbst treffen.

»Das ist's, was uns fehlt: die Gefahr! ... Ich bin das Endergebnis generationenlanger bürgerlicher Anstrengungen, gerichtet auf Wohlhabenheit, Gefahrlosigkeit, Freiheit von Illusionen; auf ein ganz gemütsruhiges, glattes Dasein. Mit mir sollte das Ideal bürgerlicher Kultur erreicht sein. Tatsächlich ist bei mir jede Bewegung zu Ende; ich glaube an nichts, hoffe nichts, erstrebe nichts, erkenne nichts an: kein Vaterland, keine Familie, keine Freundschaft. Und nur der älteste Affekt und der letzte, der stirbt, macht mir noch zu schaffen. Ich habe ihn kaum, aber ich gedenke noch seiner. Die Liebe: alle die Grausamkeit, alle die Lust an Gefahren, all der Wille zu zerstören und selbst aufzugehn in einem andern Wesen – woher nähme ich letzter, schwacher Bürger so viele Gewaltsamkeiten! ... Einmal dem Schutz der Polizei entlaufen und genötigt sein, mit Vorsicht um die Ecken zu biegen! Eine Landstraße, auf der ich mein Leben verteidigt hätte – die führte vielleicht zur Liebe zurück!«

Seine Blicke durchforschten das Dunkel, maßen die Schultern des Kutschers und fanden ihre Breite nicht tröstlich genug. Claude saß, ohne sich anzulehnen, lauschend, mit der Hand am Stock, und ernstlich erregt.

Es fing an zu regnen, der Wagen rasselte durch das Tor. In der engen Volksgasse, unter den überhängenden Dächern hoher schwarzer und schmaler Häuser, klapperten wandernde Köche mit Pfannen. Der Dunst geschmorten Öles hüllte, auf triefenden Schwellen, die Liebenden ein. Von der gläsernen Kneipentür, hinter der es lärmte, strich ein blutroter Lichtstrahl über das schwarz umzottelte, grobe Gesicht einer Frau, die Männerarme umklammerten. Nach oben gelegt, hielt dies Gesicht seine Verzückung empor in die Nacht.

Wie Claude im Hotel sein Zimmer öffnete, erhob sich hinten vorm Fenster eine Gestalt.

»Gilda!«

Ihr Zusammenprall warf sie beide um. Gilda fiel auf den Stuhl zurück. Claude, mit dem Kopf auf ihrem Schoß, fühlte über seinem Nacken Gildas Atem, als sei es der des Schicksals – als sei es Utes Atem, in den großen Stunden, wo er sein Gesicht in ihr Kleid gedrückt hatte.

Sie machten kein Licht für die Liebe dieser Nacht. Am Rande des Bettes kniend, mit den Lippen auf ihrer Brust, flüsterte Claude das Bekenntnis seiner Hingegebenheit für immer. Gilda küßte ihn stumm und angstvoll, wieder mit der ahnungsvollen Angst ihrer ersten Küsse – aber ohne die süßen Täuschungen, die sie ehemals einander beibrachten. Gilda wußte: ›Ich werd ihn zu allen Stunden lieben, wo nicht der andere mich raubt.‹ Claude, ganz im Grunde: ›Sie liebt auch ihn. Und ich niemand. Ich leugne es, daß es so ist; ich will leben, will leben. Aber es ist so.‹ Und beide: ›Jetzt heißt es aushalten. Wenn es endet, endet es schlimm.‹

Sie rissen einander, sooft sie sich sahen, zu Taumel fort, gewaltsam. Claude zerdrückte mit seinen Lippen auf dem Gesicht der Freundin die Erregungen, die der andere darauf zurückgelassen hatte. Gilda preßte in ihren zarten und wilden Armen Claudes Herz und seine zähe Zweifelsucht, die es zu ersticken galt. Sie atmeten einer den andern ein, wie Betäubungsmittel.

Gilda sagte einmal:

»Wieviel mache ich dir zu schaffen! Ich werde schlimmer, ich weiß wohl. Früher hatte ich auch die Bühne, um mich auszutoben ...«

Ohne Aussprache darüber, sahen sie einander jetzt nie mehr in Gildas Wohnung. Gilda kam immer zu Claude, sie aßen im Hotel oder auswärts. Während er allein gewesen war, hatte Claude gespart.

Eines Tages, Ende Januar, blieb sie aus. Er zögerte, sie aufzusuchen. Gegen Abend klopfte es. Er fuhr zusammen; Gilda klopfte ja niemals?

Die Tür ging auf. Auf der Schwelle stand ein eleganter Mann, breitschultrig, mit Brille und schwarzem, breit geschnittenem Kinnbart: der Delegato.

Er kam näher, ehe Claude sich fassen konnte; er benahm sich zielbewußt und liebenswürdig.

»Unsere Beziehungen, lieber Herr, waren solange etwas unpersönlicher Art ...«

Claude, sehr besorgt, keine Überlegenheit aufkommen zu lassen:

»Ich wäre zur Duldung solcher Beziehungen in jedem andern Falle sehr wenig geneigt, ich versichere Sie. Nur die abnorme Leidenschaftlichkeit dieser Frau, ja, nur ihr offenbares Leiden vermag mich dazu.«

Sie maßen einander, auf gleicher Höhe. Aber seine eigene, Claude wußte es, war angemaßt. Was für einen kräftigen Umriß hatte das runde Gesicht des andern. Claude bat, Platz zu nehmen, und der Delegato berichtete mit knappen Worten, daß die Franchini in ihrer Wohnung darniederliege, infolge eines Versuches, sich zu vergiften. Und da Claude aufspringen wollte:

»O bitte, beruhigen Sie sich. Das Gift hat kaum die Lippen berührt. Ein kleiner Nervenschock, das ist alles. Sie selbst erwähnten die abnorme Leidenschaftlichkeit der Frau.«

»Allerdings. Aber mir scheint, um sich vergiften zu wollen –«

»Ganz recht, es liegen besondere Gründe vor. Sie verstehen, daß ich mich kaum bemüßigt finden würde, Ihnen den Vorfall anzuzeigen, wenn ich Sie nicht um Ihre Unterstützung ersuchen müßte.«

»Worin?«

»Im Interesse einer Sache, die die öffentliche Sicherheit betrifft.«

»Aber Gilda, aber die Franchini!«

»In zwei Worten: Der Conte della Bernardesca ist angefallen worden ...«

»Ich weiß.«

»Wir kennen den Hauptattentäter, und wir suchen ihn. Um aus seiner Mutter und aus seiner Gattin, die wir in unserer Gewalt haben, seinen Aufenthalt herauszubringen, brauchen wir eine unverdächtige und zuverlässige Person, womöglich eine Frau. Ich kenne nur eine, auf die ich mich verlassen möchte ... Würden Sie irgendeine Unzukömmlichkeit darin sehen, daß Gilda, daß die Franchini uns diesen Dienst leistete?«

Der Delegierte wartete und betrachtete, als legte er auf die Antwort wenig Gewicht, einen Kupferstich an der Wand. Claude dachte an den sympathischen Greis auf seinem Schmerzenslager und an die mögliche Bestrafung des Mörders. Warum sollte man nicht dabei helfen.

»Ich habe keinen Einwand.«

»Nun sehen Sie.«

Der Polizeibeamte hob die Schultern.

»Und infolge meines billigen Vorschlages hat mir das Mädel eine unerhörte Szene gemacht. Sie hat sich aufgeführt, als hätte ich sie mindestens entehren wollen. Solche Weiber haben sonderbare Begriffe von Ehre ... Ich bitte Sie, mein Herr, machen Sie ihr ihre Pflichten gegen die Gesellschaft klar. Interessieren Sie sich übrigens für solch eine Expedition, so nehme ich Sie gerne mit, bei der Verhaftung. Die Sache setzt, wie Sie wissen, die Öffentlichkeit in Erregung ... Ich darf also auf Ihre Hilfe rechnen?«

Der Delegato war fort, es dunkelte, da kam blaß und langsam Gilda herein.

»Du? Aber ich wäre ja zu dir gekommen ... Du weißt, gern tu ich's nicht.«

Er blieb zögernd stehen, kam nicht darüber weg, daß sie heute wieder in den Armen des andern gebebt hatte, ehe sie, wegen eines Wortes von jenem, sich auf eine Giftflasche gestürzt hatte.

Sie wankte durch die Dämmerung, schwarz und bleich, auf ihn zu, sie legte die verschlungenen Hände schwer auf seine Schulter und sagte tonlos:

»Jetzt lieb ich nur noch dich.«

Claude fand es klingen wie eine Klage um einen Toten.

»Wie kommt das«, fragte er, ohne Freude, und zog sie auf einen Stuhl. Auf seinen Knien, die Arme um seinen Kopf, sagte sie über ihn hinweg, in die Luft:

»Ich hasse hin, oh, ich hasse ihn. Der hat mich zu lieben vorgegeben und will mich so weit erniedrigen, bis ich zur Spionin werde! Mach das gut, Claude! Lieb mich dafür, Claude!«

Er, fast erbittert, ohne zu verstehen, warum, über ihren Haß auf den andern:

»Was hat er dir getan. Du sollst helfen, einen Mörder zu fangen.«

Sie sprang auf die Füße, trat von ihm weg.

»Das scheint dir wenig? ... Ein armer Mann hat einen reichen Alten angefallen. Auch ich bin arm, und dieser reiche Alte will mich kaufen für seine krankhaften Greisengelüste. Das darf er, nicht wahr? Das erlaubt die öffentliche Sicherheit? Aber auf den armen Mann wird Jagd gemacht, und ich soll mit jagen ... Ah, nein! Dabei wird man mich nicht treffen. Denn auch mir soll's nichts ausmachen, einen reichen Alten umzubringen. Auch ich bin vom Volk!«

Nach vorn geworfen, bleich im tiefen Schatten, zwischen ihren Zöpfen, die sich auflösten, und sich die Brust schlagend – wie fremd war diese Frau und wie begehrenswert!

»Und wie!« rief sie. »Wie soll ich's anstellen! Einer alten Frau, des armen Mannes Mutter, und seiner Gattin, die einen Säugling auf den Armen hält, soll ich ihr Geheimnis entlocken. Ich, eine Frau, die liebt, soll andern Frauen, die lieben, den Sohn und Gatten verraten und entreißen. Das verlangt von mir einer, der mich zu lieben vorgibt! Er könnte von mir verlangen, ich solle stehlen: ich würde es tun. Er könnte mich verkaufen: ich würde ihm verzeihen. Aber das wäre nichts; damit ich die Niedrigkeit seines Herzens erreiche, muß ich Spionin werden!«

Claude, ergriffen, mit vorgestreckten Armen:

»Gilda! Ich verstehe dich, du darfst es nicht tun!«

An seiner Brust, gebückt, tränenüberströmt, stammelte sie:

»Das ertrug ich nicht, so behandelt zu werden, da, wo ich – da, wo ich – liebte. Ich glaubte, alles ging unter. Ich hatte ein Fläschchen mit einer Säure ...«

»Und an mich«, flüsterte Claude mit Leidenschaft, »an mich dachtest du gar nicht?«

»Lieber, Lieber. Ich bin bei dir, bis zum Tode bei dir.«

In allem Fieber, das sie ihm erregte, dachte Claude: ›Wie muß sie jenen geliebt haben.‹

»Aber ich werde mich rächen. Du sollst sehn, es gibt Blut, oder ich werde nicht mehr glücklich. Höre!«

»Ja«

Claude ließ sich mitreißen, sein Herz klopfte an ihrem und ebenso heftig.

»Ich werde die Frauen ausspionieren, ganz wie er will. Oh, er soll zufrieden sein.«

Sie lachte unheimlich, sie machte sich los.

»Wohin gehst du?«

»Mich verhaften lassen. Ich bin heut nacht im Gefängnis, wo sie sind.«

»Gilda, wann seh ich dich wieder.«

»Morgen. Ich hole dich. Du mußt dabeisein, sonst freut mich's nicht.«

An der Tür tastete er nach ihren Lippen und fand sie geschwollen.

»Ein wenig Gift«, erklärte sie. »Das macht nichts, das wird alles bezahlt.«

Sie entriß sich ihm jäh und war fort. Claude stieß den Fensterladen auf, wartete auf sie und sah sie in der Nacht verschwinden. Er atmete heftig, durchwanderte mit großen Schritten das Zimmer. Die Frau, die ihm gehörte, in deren Geschick er eingetreten war, sie verbrachte diese Nacht im Kerker, auf einer Pritsche. Sie waren zusammen in ein Verbrechen verwickelt. ›Ist das Wirklichkeit? Ich bin ganz verwandelt.‹ ... Keine Spur von der Müdigkeit der vorigen Wochen. Der jugendliche Greisentod, eben schon so nahe gerückt, war weit entwichen. Gilda war gekommen, hatte einige wilde Worte geflüstert, den bittern Duft ihrer emporgeworfenen Arme hinterlassen – und Claude fühlte sich leben.

Sie kam mittags wieder, sie frohlockte unheilvoll. Sie wußte alles.

»Zuerst war ich nur mit der Alten eingeschlossen. Sie war mißtrauisch, ich sagte ihr, ich sei die Geliebte von einem, der auch sehr eifrig gesucht werde von der Polizei. Ohne meine Geistesgegenwart wäre er schon wer weiß wie oft verhaftet. Aber ich liebe ihn und wisse ihn zu verteidigen! So könne ich vielleicht auch für ihren Sohn etwas tun ... Aber dann verlor ich den Mut, als langsam die Tür knarrte und eine Junge hereinkam mit einem Säugling. Diesen Unglücklichen ihr Geheimnis ablügen und es verraten! Diese Scham riß mich fast auf die Knie. Ich schluchzte trocken auf. Die Frauen hielten das für einfaches, hilfsbereites Mitgefühl ... So erfuhr ich es. Jetzt essen wir, und später, wenn wir satt sind, machen wir eine Spazierfahrt und liefern den Mann aus. Aber gegen teure Bezahlung!«

Der Wintertag endete schon, als sie in einer wenig gegangenen Straße einen eleganten Landauer bestiegen. Der Kutscher wartete noch. »Einen Augenblick«, flüsterte Gilda. Da bog um die Ecke der Delegato. Er grüßte und setzte sich zu ihnen. Die Fahrt ging nicht rasch. Erst auf dem Ponte della Trinita bemerkte Claude wieder, im Abstand von fünfzehn Metern, das schmutzige Fuhrwerk von der Gestalt einer kleinen Diligenza, das sie bei der Abfahrt überholt hatten. Es saßen darin nur zwei Reisende: Bettelmönche, und spähten, über den Rosenkranz weg, häufig nach dem Landauer aus.

Claude fürchtete auf dem ganzen Wege, das Volk möchte aufmerksam werden. Gilda war übertrieben elegant. Ihr Federhut schwankte majestätisch. Sie trug trotz des kalten Windes nur einen Umhang aus schwarzen Spitzen über ihrem schwarzseidenen Kleid. Der Delegato scherzte geräuschvoll. Der Kutscher knallte heiter. Dahinten die Klosterbrüder steckten immerfort die Köpfe aus den Fenstern und sahen viel zu jung und entschlossen aus.

Dann fragte Claude sich, was in Gildas Kopf vorgehe, in diesem bleichen, geschminkten und lächelnden Kopf, aus dem manchmal ein verheißungsvoller Blick zu dem Delegierten der öffentlichen Sicherheit hinglitt. Die Frau sah aus, als reize sie seinen Ehrgeiz, verspreche ihm Belohnungen ... Und was hatte sie vor? Das konnten doch nur aufgeregte Drohungen gewesen sein, meinte Claude.

Ein Stück draußen vor dem Tor von San Frediano bog der Landauer in einen Seitenweg. Der Postwagen mit den Mönchen blieb auf der Landstraße. Gilda, Claude und der Delegato stiegen aus. Sie sahen sich auf einmal dem offenen Felde gegenüber, Weinstöcke und Wiesen traten aus der tiefen Dämmerung. Der Nordwind blieb freier, Claude fühlte Gilda erschauern.

»Nimm meinen Mantel«, sagte er.

»Das geht nicht«, und der Delegato hielt ihn zurück.

»Kennst du dich aus?«

Gilda nickte dem Delegato zu, gerade in die Augen, und seltsam schwer. Dann ging sie voraus. Claude vergaß auf die angeregten Fragen des andern zu antworten. Er überlegte angstvoll, ob er ihn warnen solle. Er sah, wie um Rat zu holen, rundum; dahinten zeigten sich der beiden Mönche fremdartige Schattenrisse.

In der Mitte Claude mit einem Polizeikommissar; vor ihnen her eine Kokotte, von der sie beide geliebt worden waren; hinten zwei Mönche; und sie fingen einen Straßenräuber. Claude bekam plötzlich Lust, die Achseln zu zucken. Er stellte sich vor, er spiele in einer Komödie mit.

Dort seitwärts schwamm das Weinlaub goldgelb in einer kleinen Lichtwolke. Man hörte Kinderstimmen. Gilda betrat den Feldweg. Der Delegato ging noch langsamer. Eine Frau rief kreischend: »Isidoro!«

Claude und sein Begleiter erblickten von weitem den Platz, in den ihre Weinreihe auslief. Vor dem Hause wusch eine alte Frau. Gilda stand abgewendet dicht vor einem Manne von dreißig Jahren, mit braunem Gesicht. Ein kleines Mädchen raffte ihren weiten Rock zusammen, neben einer Pfütze; darin waren rote Flecken von dem Licht in der roten Papiertüte, die ein Knabe trug. Durch das Gerüst mit welken Weinblättern, das den Platz überdachte, schienen Sterne.

Sie waren angelangt. Der Delegato, die Arme werfend, rief laut:

»Da ist ja meine Frau. Therese, wo bleibst du? Hast du den Weg erfahren?«

Gleichzeitig waren aus einem zweiten Gang von Weinstöcken die beiden Mönche hervorgetreten. Sie näherten sich der alten Frau mit bettelnder Gebärde.

»Isidoro, sie wollen etwas zu essen«, kreischte die Alte.

Der Mann wendete sich, in diesem Augenblick fiel das Licht in seine Augen, und Claude, dem es kalt ward, gewahrte einen Blick, scharf und tief, wie er noch keinen gesehen hatte: den Blick des Mannes, der über seine Freiheit wacht.

Die Mönche kamen auf ihn zu, die Hand ausgestreckt. Von der anderen Seite schlenderte der Delegato heran.

»Therese, hast du den Weg erfah–«

Claude, noch im Schatten, arbeitete sich ab in planloser Angst, wollte rufen, vorspringen, den Delegato retten, den der wache Blick des Mörders erwartete; und diesen Mörder, auf dessen Schulter von hinten sich zwei Fäuste senkten ...

Da war ein Knall geschehen; der Delegato, mitten im Satz und die Hände in der Luft, fiel ganz langsam um. Und jenseits des Pulverdampfes nachklappende Worte, die mit dem Schuß zugleich begonnen und von ihm überholt waren:

»–bist verhaftet.«

Claude sah, in einem Aufzucken aller Dinge, die alte Frau mit krummen Fingern an ihre Augen fahren, das kleine Mädchen mit seinem langen Kleid mitten in die Pfütze springen, den Knaben die Papiertüte mit dem Licht weit fortwerfen. Es brannte am Boden fort. Claude sah auch, wie der Mann eine Schlangenbewegung machte, geduckt entsprang und sich zwischen Weinstöcken verlor; die beiden Mönche hinter ihm. Claude sah auch Gildas Gesicht, als sie sich umwandte nach ihrem Opfer.

Sie nickte dem Delegato zu, gerade in die Augen. Er machte eine Bewegung, als erkennte er ihr todschweres Nicken von vorhin, und daß zwischen ihren beiden Grüßen ihre Tat liege ... Aber bei der Anstrengung, in ihre einzudringen, erloschen seine Augen, hinter den Brillengläsern. Gildas Haltung und ihre Blässe waren weder aus Triumph gemacht noch aus Trauer; nur aus der Starrheit des Schicksals.

Aufschreckend gewahrte sie die Leute ringsumher. Sie warf sich über den Leichnam, beschwor ihn aufzuwachen, wartete irr, brach in tobendes Schluchzen aus. Die aus dem Hause Geeilten zogen sie fort, sie erklärte, das Gesicht voll Tränen, immer wieder den schrecklichen Irrtum: ihr Mann, ein friedlicher Spaziergänger, der mit der Verhaftung gar nichts zu tun gehabt hatte ... Claude stützte sie; er war ebenso bleich wie der Tote.

Man führte sie ins Haus. Im offenen Herd flammte es um einen Kessel. Gilda war am Umsinken, man rieb ihr die Stirn mit Essig. Claude sammelte sich fieberhaft, murmelte: »Liebe Schwester, fasse dich.« Man gab ihnen beiden Wein zur Belebung. Gildas starre Maske sah ins Licht. Der Greis und die Frauen zogen sich, verstummt vom Grauen vor dem Unglück, vom Tisch zurück. Die Alte schürte leise wimmernd das Feuer. Die Kinder weinten.

Claudes Blick glitt über die flackernde Kalkwand fort, aus der Tür, in die Sternennacht. Er dachte sie sich plötzlich sommerlich; dichtes Weinlaub über dem Steintisch; die Lampe öffnete den Schatten sanft grün. Zu sanfter Liebe saßen Claude und Gilda, weiche Sterne über ihren Häuptern, und genossen langsam die gütige Nacht.

Wie kalt die Sterne funkelten, zwischen dem kahlen Spalier. Der Wind stöhnte am Haus. Gilda und Claude hatten etwas sehr Schlimmes begangen und mußten trachten, rasch davonzukommen.

Claude, alle Sinne gespannt, sagte auf deutsch ganz leise:

»Wir müssen fliehen.«

»Hast du Geld?« fragte sie, aus ihrer starren Maske hervor. Er erschrak.

»Nicht genug.«

»Haben müssen wir welches. Es gibt nur einen Ort, wo wir's bekommen können. Er ist nicht weit von hier ...«

»Bei della Bernardesca?« fragte Claude, kaum verständlich. Gilda schloß, statt einer Antwort, eine Sekunde lang die Augen.

Der Greis und zwei Frauen trugen den Leichnam herein.

»Schickt doch jemand zur Stadt«, sagte Claude, »nach dem Arzt und nach der Polizei.«

Die Leute befragten sich; dann brach der Greis auf. Claude ließ Unruhe merken.

»Wie lange wird der alte Mann brauchen? Es ist besser, wir gehen ihm nach.«

»Vielleicht ist noch Hilfe möglich!« rief Gilda und stürzte sich noch einmal über ihren zweiten Geliebten.

»Rasch, Hilfe!«

Und sie liefen hinaus. Sie gingen nicht eher im Schritt, als bis sie auf der Landstraße waren und in der Richtung der Villa della Bernardesca. Sie suchten das Geräusch ihrer Tritte zu unterdrücken, sie drängten sich am Rande der Straße aneinander.

»Gilda, wie ist deine Hand kalt. Du schüttelst dich. Warum?«

»Wer weiß. Vor Aufregung.«

»Du bist doch nicht krank, Gilda?«

Er nahm sie unter seinen Mantel; ihre Kälte durchdrang ihn, die Kälte der Frau, der er gehörte, die er erwärmte und liebte, für die er als Abenteurer lebte, seine Ehre aufgab, spielte, sich krank machte, an Verbrechen teilnahm, vielleicht gefangen ward und vielleicht starb. Er fühlte sie, weil er sie erwärmte! Unversehens kam ihm die Erinnerung an eine Hutnadel, die er einst, nach Utes erster Abreise, in ihrem Schlafzimmer vom Boden aufgehoben und vor Schmerz und Sehnsucht an seine entblößte Brust gedrückt hatte. So lange er die Kälte des gläsernen Knopfes auf der Haut gespürt hatte, war er glücklich gewesen ... Gilda schüttelte sich heftiger. Claude lauschte, auf Pferdegetrappel. Es war nichts; er hatte Ohrensausen und Herzklopfen. Aber er fürchtete sich nicht. Heute waren die unheimlichen Schatten auf Feldern und hinter Steinhaufen ihm befreundet. Er fühlte sich ausgestoßen, frei wie noch nie, übermäßig wach und auf seine Freiheit bedacht. Der Blick, womit er den Schatten durchspähte, mußte scharf und tief sein: der Blick des Mannes, der über seine Freiheit wacht.

Gildas Kleid rauschte. So war es am ersten Abend über die steile Treppe gerauscht. Wohin hatte es ihn führen sollen? Hierher! Dieses zarte und wilde Geschöpf hatte ihn hingerissen; er war allem entkommen, was ihn geschwächt, ihn zweiflerisch, spottsüchtig und alt gemacht hatte. Nein, man war nicht einsam in seinem Geschick. Es gab Stürme von draußen, und sie warfen zwei Geschöpfe zueinander, zwangen sie, einander zu lieben.

Der Mond stieg herauf. Seinem Lichte bog Claude, auf den Falten seines Mantels, Gildas Gesicht zu. Sie standen still und betrachteten einander mit Leidenschaft, ehe sie einander küßten.

Über öligglänzende Laubwellen erhob sich mit weißem Geflimmer das Dach der Villa. Sie bogen in einen Pfad, gelangten vor eine hölzerne Pforte. Gilda erklärte:

»Dies ist der Eingang für die Frauen ...«

Sie schlüpften in den Garten, drückten sich im Schatten der Büsche um das Portal herum.

»Wir treten gleich in den Hof. Ich kenne den Eingang, hinter jener Statue, die den Korb hält. Ich hatte schon längst den Schlüssel – damit ich mich jeden Augenblick entschließen konnte, ihm nachzugeben.«

»Jetzt tust tu es?«

»Narr ... Wir werden über den Hof gehen; er ist offen, wir müssen die Arkaden entlanggleiten. In der Halle heißt es vorsichtig auftreten, daneben schlafen die Diener. Dann die Treppe hinan und links durch drei Säle und ein Vorzimmer. Dort bleibst du ... Ich trete in sein Schlafzimmer. Er wird seinen Kammerdiener rufen, der wird, am Ende der Zimmerflucht, ein Bad herrichten. Ich führe den Alten ins Bad ...«

»Nein nein«, flüsterte Claude und umklammerte ihr Handgelenk.

»Sei ruhig –« Sie raunte ihm ihre Leidenschaft in die Augen ... »Ich werde nicht einmal diesen Umhang ablegen ... Ich schließe ihn und den Diener im Bade ein. Inzwischen hast du im Schlafzimmer seine Brieftasche gesucht. Falls er noch in den Kleidern steckt, ist es meine Sache. Aber er wird ausgezogen sein; dann liegt sie irgendwo im Schlafzimmer. Und sie enthält immer mehrere Tausend. Ich hab sie oft untersucht, wenn er zu mir kam.«

Sie schwieg, zog ihn in den Hof. Claude lernte ihre Worte auswendig, war beschäftigt, jeden Schritt nach ihrem Willen zu tun. Die Halle war weit und tönend. Auf der Treppe glomm ein Lämpchen, verloren wie in einem Gebirge von Marmor. Die Schatten von Säulen wanderten vorbei an den Schleichenden. Droben in den drei Sälen flammten mondbleiche Gesichter auf aus schwarzen Bildern.

Im Vorzimmer drückte Gilda, ohne stehenzubleiben, Claudes Hand und ließ sie los. Sie raschelte ein wenig vor der Tür, seiden, verheißungsvoll. »Ich bin es: Gilda ...« Ein Ausruf der Freude zitterte; der Riegel knirschte, Gilda verschwand.

Claude, aus seinem Winkel, sah den Mond zwischen weißen Atlasvorhängen in das hohe Fenster fallen. Er traf voll auf eine kleine, helle Susanna im Bade. Sie sah aus, als machte sie sich lustig über die Greise ... Und plötzlich erkannte Claude den Sinn dessen, was im Gange war. So lange hatte er nur an die Tat gedacht.

Er ward sich auf einmal der mondweißen, durchschlichenen Räume bewußt, die hinter ihm lagen: des ganzen schlafenden Hauses, in dessen Mitte sein Gehirn wachte, als Verräter. Seine Geliebte betörte einen Alten; inzwischen bestahl er ihn. Er war der Genosse einer Dirne und ein Dieb ... Er war ernüchtert.

›In was für Vorstellungen hab ich denn die vergangene Stunde gelebt? Ist es möglich, daß man in eine so fremde Welt gerät? Die Komödie ist ohnegleichen. Ich habe eine Ermordung geduldet? Ich soll stehlen? ... Und doch ist die Frau dahinten meine Geliebte. Es ist ernst. Sie hält den Conte della Bernardesca, einen mir sympathischen Mann, mit dem ich Bekenntnisse ausgetauscht habe, so lange hin, bis ich –. Aber ich müßte verrückt sein, um das zu tun.

Und tu ich's nicht? Dann ist sie verloren. Sie vertraut auf mich, denkt nur noch an mich, ist über alles hinweg, außer über mich, gehört in der weiten Welt nur noch zu mir! Und ich zögere, die Hand nach ein paar Papierfetzen auszustrecken. Ich kenne noch Gesetze, die nicht sie mir gibt. Welche Schande. Ich kann nicht lieben.‹

Er machte einen Schritt, ein Gewicht im Rücken riß ihn zurück. Er fühlte sich an die Wand geschmiedet, bereitete sich, mit gelähmten Gedanken, darauf vor, hier von Gilda überrascht zu werden, vor seinen entsetzten Blicken alles enden zu sehn.

Er raffte sich auf, erschrak über das, was er fast versäumt hätte. Er ging rasch an die Tür, horchte. Er öffnete, durchschritt das Schlafzimmer und einen Gang mit offnen Gemächern. Aus einem kam ein Diener, starrte ihn an. Claude, eilig:

»Melden Sie sofort Ihrem Herrn, es handele sich um das Attentat, man brauche ihn. Kennen Sie mich? Also ich bin der Delegierte der öffentlichen Sicherheit. Aber daß die Frau, die bei dem Herrn Grafen ist, von meiner Anwesenheit nichts erfährt. Verstehen Sie? Sagen Sie ihr, Ihr Herr sei unwohl, vor Aufregung über ihr Kommen.«

Er ging zurück bis ins Schlafzimmer. Della Bernardesca folgte sofort, hastig und die Brauen zusammengezogen.

»Sie sind es? Wo ist der Delegierte?«

»Ein Mißverständnis, lieber Graf. Aber ich komme tatsächlich wegen des Raubanfalls von neulich. Ich wollte die Gelegenheit, Ihnen etwas Angenehmes zu melden, nicht versäumen. Ihr Attentäter ist zu dieser Stunde wahrscheinlich schon verhaftet.«

»Sie sind merkwürdig erregt, wenn es sonst nichts gibt.«

»Das Schlimmere geht nur Gilda an; ein wenig auch mich. Es ist bei der Verhaftung ein Unglück geschehn. Der Attentäter hat den Delegierten der öffentlichen Sicherheit verwundet, vielleicht getötet. Infolge der Aufforderung durch diesen selben Beamten hatten wir, Gilda und ich, der Szene beiwohnen wollen. Gilda stand, als der Mann auf den Beamten schoß, dem Mörder etwas zu nahe. Man könnte auf die Vermutung kommen, daß sie ihn gewarnt habe ...«

»Das ist unangenehm.«

»Es ist ja absurd. Aber Gefahr ist da. Ich möchte mit Gilda rasch Florenz verlassen, rascher, als ich mir Geld verschaffen kann. Würden Sie es mir geben?«

Della Bernardesca sah Claude in die Augen. Claude sagte:

»Sie kennen mich nicht genügend. Ich verfüge über reichere Mittel, als Sie glauben.«

Der Greis wehrte ab.

»Sie wissen, daß Ihre Geliebte bei mir ist?«

Claude senkte den Blick.

»Sie ist also bei mir. Ich verstehe, daß Sie das verhindern wollen.«

Claude sah auf; sie maßen einander. Sie horchten auf ihre leisen, hastigen Atemzüge.

»Sie irren sich«, sagte Claude. »Sie hätten Gilda nie besessen. Was Sie wünschen, hätten Sie von ihr nie erreicht: nie. Sie hatte etwas anderes vor, sie hat von mir etwas anderes verlangt ...«

Und ohne es zu wollen, suchte sein Blick im Zimmer nach der Geldtasche.

Della Bernardesca machte einen Schritt zu Seite, prüfte Claude. Seine Wimpern gingen rasch auf und zu. Hatte er Furcht?

»... Aber ich will nicht«, setzte Claude hinzu und beugte sich, schwach stöhnend, ein wenig nach vorn. »Ich werde sterben durch sie, meinetwegen; aber nicht als –«

Er biß sich auf die Lippen und schwieg, rosig unter den Augen. Della Bernardesca hatte seine Meinung fertig. Er ging durch das Zimmer.

»Sie leiden außerordentlich an dieser Frau. Vielleicht habe nur noch ich so an ihr zu leiden.«

»Nein, nicht so«, erwiderte Claude. Der andere hob die Schultern.

»Betrachten wir uns immerhin als Kameraden, und unterstützen wir uns, um sie zu retten – daß nichts verlorengehe von dem, was sie uns auferlegt.«

Er lachte lautlos, mit einer Grimasse.

»Da ist Geld; entführen Sie sie. Man wird wenig Wert darauf legen, diese unangenehme Sache noch mehr zu verwickeln. Man wird kaum nach Gilda fragen; nötigenfalls werde ich's verhindern.«

Claude streckte noch nicht die Hand aus nach den Scheinen. Er flüsterte und wand sich dabei hin und her.

»Ich bitte Sie auch um die Brieftasche ... Erstaunen Sie nicht, ich muß sie haben.«

Der Greis dachte nach. Claude lauschte peinlich auf ein Wasser, das in einem entfernten Zimmer plätscherte. Wenn Gilda kam ... Della Bernardesca zögerte. Plötzlich lachte er auf, und Claude fühlte sich durchschaut.

»Nur geliebt werden: nicht wahr? Sei's auch auf Grund eines Betruges. Aber geliebt werden: das ist die Angst.«

»Auch lieben ist die Angst«, sagte Claude.

Er nahm die lederne Tasche, ging hinaus, wanderte zurück durch die Säle, über die Treppe, die Halle und den Hof entlang. Er stand wieder im Garten und wartete. Es raschelte an dem heimlichen Eingang, Gilda rief unterdrückt:

»Ist's geschehn?«

»Ja«, sagte Claude tonlos.

»Laß sehn!«

Er hielt die Tasche hin. Sie jubelte leise.

»Wir sind frei! Er selbst läßt uns fliehen, sein Wagen wird angespannt. Bevor er's gemerkt hat, sind wir weit!«

Sie warf sich ihm entgegen, sie entdeckte etwas von den Kämpfen, die er überstanden hatte, auf seinem Gesicht. Sie frohlockte:

»Du hast es getan: du gehörst mir!«

Er spürte es auf seinem kalten Gesicht von ihrem Mund wie Brandmale. Er wendete den Kopf vom Mond weg und schloß die Augen, damit sie nicht merke, wie er log, während sie ihn liebte.


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