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VII.
Der Herr Panier

Auf der Fahrt nach München sah Claude gelbe Blätter und Zugvögel.

»Mein Gott, das Sommertheater muß aus sein, und Ute muß wiederkommen!«

Und er bekam Herzklopfen.

Er suchte sich zu beruhigen: ›Ich hab nun soviel anderes erlebt ...‹ Aber er merkte wohl: ›Was ich je erleben werde, es wird mich immer nur lehren, wieviel ersehnenswerter Ute ist. Ich erlebe alles nur irrtümlich und nur, weil ich nicht sie erleben darf.‹

Zu Hause erhielt er ein Telegramm von ihr; sie bat um Reisegeld. Früher hatte sie es abgelehnt. Als er es eben wegschickte, depeschierte sie nochmals: es sei nicht mehr nötig.

Er stand wieder auf dem Bahnsteig, und es war ihm fast noch schlechter zumute als damals bei ihrer Abreise – nicht dumpf und traurig wie an dem hoffnungslosen Tage der Trennung, aber angstvoll und nach gefährlichen Geschicken, die sie mitbrachte. Er wußte nicht welche.

Der Zug fuhr ein; Claude verging der Atem. Er spähte wirr und tief erregt, aber ohne auch nur den Hals zu wenden, nach den Wagentüren, die man aufriß. Dort stieg sie heraus, er ging ihr entgegen, befangen, ohne Freude. Sie ergriff rasch seine Hand, legte, mit einem Versuch der Herzlichkeit, den Kopf auf die Seite und knickte mit Anstrengung zusammen, ganz so – er sah es wohl – wie vor ihrer Mutter, wenn sie gefürchtet hatte, die Arme als Dienstmädchen zu behandeln. Worte fanden sie beide nicht.

Claude bemerkte plötzlich den alten Panier, wie er mit den hohen Stufen des Wagens kämpfte.

»Woher kommt denn der?«

»Oh, der, der ist mitgefahren.«

Und Ute warf die Schultern in die Höh.

Claude begrüßte seinen Vormund.

»Famoses Reisewetter haben Sie gehabt, Herr Panier.«

»Das sollen wir woll haben, mein Jung'. Nöh, auf was anderes lassen wir uns gar nicht ein. Na, nu hast du dein Ideal ja wieder. Kinners, gebt ihr euch denn nicht mal 'n Kuß?«

Sie gaben sich nochmals die Hand, viel ungezwungener. Sie waren froh, den Alten zwischen sich zu haben.

»Wie kommen Sie denn zu Ute, Herr Panier?«

»Er fragt! Tjä, wenn du so knickrig bist und schickst ihr kein Geld, dann müssen wir woll das Billett bezahlen.«

»Aber ich habe doch –«

Claude entschuldigte sich ausführlich.

»Schweig man ganz still«, sagte Panier. »Du bist auch kein einziges Mal hingefahren und hast sie dir angesehen. Glauben Sie man bloß nicht, Fräulein Ute, daß der Ihnen treu gewesen ist. Der ist die ganze Zeit mit Gräfinnen in der Welt rumkarriolt. Da sind wir doch anders ...«

Er unterbrach sich, um Gepäckträger und Kutscher im Preise zu drücken. Ute und Claude standen stumm dabei; Claude dachte: ›Wenn sie doch nach den Gräfinnen fragte!‹

Als sie saßen, redete Panier weiter.

»Da hast du dir nämlich was entgehenlassen, mein Jung', da kannst du dir noch lang die Finger nach lecken. Fräulein Ute als Hannele, im Nachthemd – du ...«

Sein ganzes rotviolettes Gesicht schmunzelte. Mit heftigem Zwinkern seiner wilden schwarzen Augen sagte der Greis:

»Wenn wir bloß noch 'n paar Jahre jünger wären.«

Sie mußten ihn in der Stadt absetzen. Als sie allein geblieben waren, ward die Fahrt erst schwierig.

»Also du bist mit dem Erfolg zufrieden?« fragte Claude.

»Ich hab dir ja geschrieben«, sagte sie ungnädig. »Übrigens, warum bist du so merkwürdig?«

Er stotterte.

»Bin ich? Es ist wohl nur – wir haben uns halt so lange nicht gesehen.«

»Lange? Vier Monate.«

»Vier Monate ist lange«, sagte er, die Augen niedergeschlagen.

Und Ute biß sich auf die Lippen.

»Soll ich mit hinaufkommen?« bat er unsicher, vor ihrer Wohnung. Aber sie war müde, sagte sie.

Zu Hause schloß er sich ein, streckte sich auf die Ottomane, und hinter den Händen, die er aufs Gesicht drückte, stöhnte er.

Es war furchtbar, was nun aus ihnen beiden geworden war – aus den Geschwistern, die zum Sommer sich einen Abschiedskuß gegeben hatten! Fremd! Sie waren einander fremd. Welch eine Pein, neben dieser Ute zu sitzen, diese Ute begehren zu müssen!

»So hab ich sie noch nie begehrt, o nein. Sie war meine Freundin, sie war alles Gute, was ich vom Leben wollte, war das starke, gute Leben selbst. Ich liebte sie! Jetzt aber verlockt sie mich – beinahe wie jene Verbrecherinnen in Spa. Was ist mit ihr vorgegangen? Sie sieht schlecht aus. Ihr Gesicht ist fahl und seltsam gedunsen. Was für einen empörenden Reiz hat es jetzt! Seit ihre Lippen gefärbt sind und gesprungen wie von heftigen Liebkosungen, weiß ich nicht mehr, welche verderbten und zehrenden Küsse ich mir von ihnen wünsche. Ich verstehe nicht, welchen ungesunden Zauber sie um sich hat. Sie hat sich öffentlich gezeigt, das wird es sein, vier Monate lang; ist vier Monate lang von allen begehrt worden. Die begehrlich phosphoreszierenden Blicke sind auf ihr liegengeblieben, haben sie in einen bleichen und gefährlichen Glanz gehüllt ... Oh, ich leide!«

Er schluchzte. In seinen Tränen standen, so deutlich wie seit langem nicht mehr, alle ihre Gebärden auf, die geübten, erarbeiteten Künste aller ihrer Glieder, ihr Schritt und jede ihrer Mienen. Er sah alles wieder.

»Das gehört jetzt allen! Jeder hat für sein Eintrittsgeld ein Recht darauf. Und es sind nur vier Monate, da ging ich mit ihrem reinen Bild durch den Englischen Garten. Ich allein besaß es! Ich allein konnte es auf jeden Rasen zaubern! Es war rein. Wie ist es jetzt schwül!«

Er sprang auf, fassungslos.

»Ich will sie nie wiedersehen!«

Am Morgen darauf kam sie und wollte mit ihm ausgehen.

»Ach ja. Du brauchst natürlich Wintertoiletten.«

Sie musterte ihn.

»Ich brauche dich, zum Spazierengehn.«

Er sah weg, in Verzweiflung über das, was er gesagt hatte. Nun gab sie ihm Bitterkeit ein: Rachlust sogar!

»Komm!« sagte er und nahm ihren Arm. »Gehen wir gradaus, nach Schleißheim zu? Auf der Landstraße ist's leer um die Zeit, und ich muß dir die Geschichten erklären, auf die der Alte gestern angespielt hat. Du darfst sie nicht mißverstehn.«

»Ja, welche denn?«

»Du hast wohl nichts gehört. Er sagte was von Gräfinnen.«

»Ach so. War das so schlimm?«

»Du weißt, daß ich nur dich liebe.«

»Wir sind nicht verlobt. Und selbst dann –«

Er gab seinem Kopf einen kleinen Ruck nach hinten. Ob sie nun hören wollte oder nicht – er war entschlossen, diese Zwischenzeit und ihre herzlosen Abenteuer niederzureißen, in den Boden zu stampfen, indem er sie ihr beichtete.

Sie hörte gut zu. Sie lachte sehr über von Eisenmann, obwohl Claude sich bemühte, ihn tragisch zu deuten.

»Die Zank gefällt mir«, äußerte sie. »Sie ist sehr fein. Ich habe in der Geschichte mehr Verständnis für sie als für dich. Warum hast du sie denn plötzlich sitzenlassen?«

»Warum ich –«

»Nun ja. Jetzt wurde es doch pikant: du und der Jockei.«

Claude sah sie von der Seite an. Ihr metallischer Haarknoten auf dem blauen Glasfenster des Herbsthimmels!

»Ich liebe nämlich dich.«

»Na, die Gelegenheit, bei der du das behauptest, ist gerade nicht sehr passend.«

Und sie lachte hart.

»Du – glaubst mir nicht mehr? Ute!«

»Was soll ich glauben. Übrigens macht es mir ja nichts. Die Zank hat dich amüsiert, wie? Paß auf, dich amüsieren noch viele! Solang ich da bin – oh, da bin ich's.«

Er blieb stehen.

»Du willst mein Gefühl für dich mit diesen Nichtigkeiten vergleichen? Das könntest du? Mein Gefühl für dich, das mich zum Menschen gemacht hat, um dessentwillen ich – bloß da bin!«

»Wer beweist mir das. Du hast inzwischen eine andere gehabt.«

Er sah suchend umher, in die Ahornkronen, die einen goldroten Mantel Utes Schultern hinhielten. In wie ferner Herrlichkeit prangte sie! Er hob die Arme halb auf und ließ sie fallen.

»Ich kann es nicht«, rief er. »Ich kann dir nicht beweisen, daß ich dir gehöre. Ich bin ohnmächtig.«

Ihr Lachen dauerte noch immer, und es war nichts Echtes mehr darin.

»Reg dich doch nicht auf. Ich sag dir ja, es macht mir gar nichts.«

»Im Gegenteil, es scheint, du willst mir nicht glauben. Dir ist's recht, was ich getrieben habe.«

Plötzlich lachte sie nicht mehr. Sie kehrte um.

»Ich meine nur«, murmelte sie, »es ist gut, daß du dich inzwischen unterhalten hast. Und dein Vertrauen finde ich rührend.«

»Du hast gestern gemeint, ich sei merkwürdig. Ich hab dir nur sagen wollen, weshalb. Vier Monate lang haben wir jeder für sich gelebt. Natürlich müssen wir uns erst wieder zurechtfinden.«

Und da sie schwieg:

»Du, Ute, tust aber gar nichts dazu. Erzähl doch was!«

Er bekam einen Blick aus ihren Augenwinkeln.

» Meine Abenteuer?«

»Hast du welche gehabt?«

»Oh, nur leichte Sachen. Hier und da ein Greis, den ich abends unter meinem Bett hervorziehen mußte. Allein wäre er nie mehr herausgelangt. Und dann mußte ich ihm noch über die Treppe leuchten.«

Sie lachte sehr natürlich, und Claude lachte mit.

»Aber junge niemals?« fragte er.

»Einmal nur. Die sind weniger frech. Als ich ihn in meinem Zimmer fand, war er ganz bleich.«

»Er hat dich geliebt!«

»Kann sein. Wenigstens sagte er es mir täglich zum Mittagbäumen und zum Abendessen. Er aß nämlich mit den Schauspielern, er zahlte dem Direktor, glaub ich, dafür.«

Claude zögerte.

»Und wie bist du – ihn losgeworden?« fragte er leise.

»Ich? Aber ganz einfach. Ich hab ihn gefragt: ›Sie wissen doch, ich habe 'ne gute Stimme? Und wenn ich will, kann ich schreien? Nun also, dann verschwinden Sie.‹ – Er behauptete, das sei ja mein Schade, wenn ich Lärm schlüge. Aber ich belehrte ihn, der Skandal sei mir das wenigste; das Unangenehme sei für mich seine Gegenwart. Na, er sah wohl, daß bei mir schon gar nichts zu machen war. Ich mußte ihm auch wieder über die Treppe leuchten.«

Diesmal lachte sie herzhaft; sie sah Claude voll und aufrichtig in die Augen, sie forderte ihn auf, mitzulachen. Aber er blieb still. Er empörte sich gegen sie, für jenen Unbekannten, der um sie gelitten hatte!

»Als er bei der Haustür war, rief ich noch: ›Und sagen Sie dem Direktor, er soll Sie ja nicht wiederschicken!‹ ... Er war paff. Ich wußte das nämlich schon von einem der Alten, daß der Direktor mir die Leute auf die Bude schickte.«

Ihr Lachen verwundete ihn. Diese Farce hatten ihre Erlebnisse aus der Liebe gemacht. Das war's, was sie ihm entfremdet hatte. Diese Farce stand zwischen ihnen. Seit sie sich nicht gesehen hatten, war er immer sehnsüchtiger geworden und sie immer kälter.

Sie gingen schweigend heim. Ute lachte noch mehrmals bei der Erinnerung an ihre Geschichte. Und jedesmal grub dieses schöne, geliebte Geräusch, das ohne Seele war, in seiner Wunde.

Er schmollte einige Tage lang, verschwor sich, nicht zu ihr zu gehen, und fühlte sich traurig vernachlässigt, weil sie nicht kam. Aus Langeweile und Trotz ging er in die Vereinigten Werkstätten und kaufte einen Haufen Sachen, deren Nutzen er nicht einsah. Er beschloß, ihr zu zeigen, wie tätig er sei, und schrieb ihr. Aber sie antwortete auf seine Bitte, begleiten könne sie ihn jetzt nicht. Sie müsse mächtig arbeiten, denn sie habe für den Winter ein bedeutendes Engagement.

›Bedeutendes Engagement ist gut‹, dachte Claude. ›Sind wir so weit, daß sie mir nicht einmal sagt, wo?‹

Er suchte sie auf und verhehlte nicht seine Unzufriedenheit wegen der Fettflecken auf den Möbeln, der zerfressenen Vorhänge, des verkommenen Parketts.

»Die vierzehn Tage, die ich noch da bin –«, meinte sie.

»Aber deine Donna wischt ja den Salon feucht auf! Der Hausherr wird dich hinaussetzen!«

»Pah!« machte Ute.

Sie war an diesem noch warmen Tage in ihrem Kleid aus nachgemachtem Point de Venise. Den Rock bildeten drei große Volants, die übereinanderfielen. Ihre Schultern schimmerten unter den eingewebten Spitzen milchig wie die einer Statue unter einem Blütenregen.

»Du bist wundervoll«, sagte Claude leichthin. »Gehen wir essen?«

»Kann nicht.«

»Weißt du nicht mehr, wie es hübsch war voriges Frühjahr?«

»Man kann es ja nicht immer so haben«, erklärte sie und wendete den Kopf hin und her.

Nach einer Pause:

»Übrigens, wenn du bei mir essen willst? Die Person kann ja für dich noch was herumholen.«

»Ach! Du läßt es dir holen? Woher denn?«

»Weiß ich nicht.«

»Das ist nicht gerade vertrauenerweckend.«

»Ja, siehst du, ich arbeite. Hab nicht viel Zeit, an so was zu denken.«

»Also stör ich dich nicht länger.«

Gleich nach Tisch besah er sich ein Haus, eines der letzten, die sein Vater gebaut hatte. Es lag Leopoldstraße, nicht weit vom Siegestor, hinter einem Garten mit Kegeln aus Buchsbaum und mit eckigen Brunnenschalen; und es war kolossal, mit einseitig ansteigendem Dach, grün lasiert und mit einer Fassade aus turmhohen, flachen Pilastern und stilisierten Ungeheuern in Glasmosaik, rosig, tiefgrün und golden. Formen und Motive des Gebäudes schienen einem babylonischen Rokoko entlehnt.

Claude behielt sich den linken Pavillon des riesigen Baues vor. In den drei Stockwerken fand er Raum für alle seine Einkäufe. Er machte noch viele andere auf den ersten Reiz jeder Neugierde hin und ohne irgendein Ganzes vor den Sinnen zu haben, ein Heim, ein Festhaus oder Arbeitssäle der Musen. Die Stühle mußten sich zu recht sonderbaren Knoten biegen, und recht spindeldürre Arme mußten herauswachsen. Im gelben Grunde der Gobelinpolster mußten die blauen Muster unsicher schwimmen wie Fettflecke. Die Schwäne und die Königskinder mit Messingkonturen mußten in den Glasmalereien auf einer Landschaft ohne Tiefe und mit Messingkonturen kleben. Claude saß bei Littauer umher, besah Pariser farbige Lithographien und sagte:

»Wahnsinnig, ganz wahnsinnig, das kaufe ich.«

Er arbeitete Tag und Nacht. Es galt, die Einrichtung der zwanzig Gemächer fertigzustellen, bevor Ute München verließ. Bei dem Gedanken, sie könne abreisen, ohne sein Haus gesehen zu haben, interessierte es ihn plötzlich nicht mehr. Er beschaffte all die schönen Sachen bloß aus Trotz gegen sie, die ihre Wohnung entstellte, diese lieben Räume, wo Claude von seinem Leben das einzige Glück empfangen hatte!

Um schneller zu machen, ließ er sich helfen von jedem, der zur Hand war. Der junge Ende kam ihm gelegen. Er kehrte eben, im Gefolge der Gräfin Stockwenzel, aus Venedig zurück, mit Ansichten von Taubenfütterungen durch Damen in grünen Hütchen und von andern Damen in grünen Hütchen, die sich angesichts der Punta di Salute in einer Gondel photographieren ließen. Er beklagte sich bitter über die Richtung, die Claudes Geschmack eingeschlagen habe.

»Für ein paar von Ihren Blumenmädchen habe ich trotzdem Verwendung«, versicherte Claude. »In einem Rahmen, der nur aus drei umeinander geknickten Linien besteht, und umgeben von Vasen und Sesseln, die auch nur entstanden sind, weil gerade eine Linie Gelegenheit dazu bot, werden Ihre neckischen Kleinen Augen machen! Darauf freu ich mich.«

Aber schon wenige Tage darauf, und ohne daß Claude ihn inzwischen hätte nachdenken gesehen, erklärte der junge Ende, auch die Sezession habe ihr Gutes. Es müsse ja an einer Sache etwas dran sein, für die reiche Leute bereits soviel Geld ausgäben! Und plötzlich trat er selbst mit einer Schöpfung von unzweifelhaft moderner Eingebung hervor. Eine weiße Gestalt wandelte in steillinigem Hemd irr leuchtenden Auges durch eine Gegend voll phosphoreszierender Dämpfe. Darunter stand Flos paludis, in Klammern Sumpfblume.

»Es ist so leicht«, äußerte der junge Ende, »auch auf diesem Gebiete etwas Hübsches zu machen. So leicht!«

Claude schloß aus dieser Wandlung, daß Utes Vater zufrieden sei mit den Prozenten, die ihm die Lieferanten gewährten. Er hoffte, Ute werde nun, solange ihre Minderjährigkeit noch währte, dem jungen Ende keine großen Abfindungssummen mehr zu zahlen brauchen. Und er genoß die schmerzliche Heimlichkeit seiner Fürsorge. Sie war die ferne Prinzessin, die nicht weiß, daß von der Straße, die ihr Wagen fährt, ein Hirtenjunge einen Stein entfernt hat.

Bei der Gelegenheit beschloß er, auch seiner Mutter zu Hilfe zu kommen. Er sah sie nun schon wochenlang immer in derselben Straßentoilette. Sicher verschuldeten dies die schwarzen, magern jungen Malschüler aus den Balkanländern, von denen täglich einer neben der fleischigen blonden Frau auf ihrem Wägelchen saß, das sie lenkte. Durch den Dichter Pömmerl machte er mit zwei von ihnen Bekanntschaft und gab ihnen zu verdienen, indem er sie auf Besorgungen schickte. Nun konnte Frau Marehn vielleicht etwas besser auskommen mit der Apanage, die Panier ihr gewährte.

Den Pömmerl traf Claude immer beim Dichten. Er war nie so fleißig gewesen. Er saß ganz dicht beim Fenster, das ins Grüne eines fremden Gartens sah. Aus dem Stückchen Natur, das anderen gehörte, schöpfte Pömmerl ein wenig Stimmung, und peinlich wandte er seinem eigenen Zimmer den Rücken, das sie ihm grau erstickt hätte.

»Ich schreibe ›Lustige Verse an eine, die weint‹«, erklärte er. »Aber wenn ich meine vier Wände anschau, da möcht ich lieber selbst weinen.«

Von den wertvollen Gegenständen, die ihre Verfertiger dem gern gesehenen Dichter verehrten, bemerkte Claude keinen einzigen mehr: nur billig gekauften Hausrat. Er überlegte.

»Darf ich Ihr Schlafzimmer ansehn, Herr Pömmerl?«

»Wozu denn«, sagte Pömmerl wehmütig.

»Wegen Ihres Bettes. Es soll geschnitzt, gelb lackiert und versilbert sein.«

»Das war es, lieber Marehn. Jetzt ist es aus Eisen und kostet fünfundzwanzig Mark. Aber bezahlt sind sie.«

»Ich hätte es Ihnen gern abgekauft. Ich suche so was überall. Aber wie kommt denn das?«

»Das macht, daß meine lust'ge Frau im Gärtlein sitzt und weint«, sagte Pömmerl.

»Wieso?«

»Sie wissen es nicht? Ihr Liebhaber, dem ich sie so vertrauensvoll auf die Reise mitgegeben hatte, er hat sie sitzenlassen. Jetzt fährt sie im Süden umher und – o Gott, wozu«, murmelte Pömmerl.

Nach einer Pause:

»Wenn ich sie nicht unterstützte, ginge es nicht einmal.«

»Ach darum. Also Sie lieben sie noch?«

Pömmerl sah auf sein Papier.

»Dann«, meinte Claude leise, »würde es doch weniger Kosten verursachen, wenn Sie sie einfach wieder zu sich nähmen.«

Pömmerl blickte ihn an, die Augen voll Tränen.

»Das kann ich nicht. Wie sollt ich denn die Verse da machen. Die sind ja an eine, die verlassen im Gärtlein sitzt.«

Er las einige vor. Durch die kindliche Fröhlichkeit darin schimmerte ein großer Jammer. Es war eine etwas alberne Jagd nach bunten Schmetterlingen; und dabei versank man im Moor. Das alles hatte einen umständlichen und süßen Biedermeierton, und plötzlich unterbrach ihn ein Aufschrei.

»Also diesen Versen zuliebe verzichten Sie auf Ihre Frau?«

»Wenn sie da wäre, hätten ja die Verse keinen Sinn mehr. Was wollen Sie, ich brauche Stimmung.«

»Und Sie erkaufen sich Stimmung mit Unglück? Nicht wahr, Sie sind unglücklich?«

Das regte Claude an. Er blieb da, zeigte Teilnahme, machte Pömmerl vertraulich, bis er ihm Briefe seiner Frau mitteilte. Die Arme war enttäuscht und reumütig; Pömmerl hätte sie ganz wiederhaben können und glücklich werden.

»Also das Glück wollen Sie nicht, weil Ihnen dadurch Verse verlorengingen.«

Claude stellte dies wiederholt fest. Es war ihm wohl bei Pömmerls Leid, denn er fühlte dabei sein eigenes noch inniger. Er durfte Ute nicht besitzen, weil sie nur ihre Kunst liebte. Und zwischen Pömmerl und dem Glück standen ein paar Verse.

Es drängte ihn, dem Leidensgefährten beizustehn.

»Suchen Sie doch für mich Teppiche aus, lieber Pömmerl. Sie haben soviel Geschmack.«

»Gehn Sie nur hübsch allein zum Bernheimer, mein Lieber. Geschmack hat so einer wie ich nur dann, wenn er eine Frau hat und die Teppiche und das Haus auf die Frau stimmen darf, die er liebt. Das dürft ich bei Ihren Anschaffungen wohl nicht.«

»Also nur durch die Frau sind Sie –«

»Ja, ich bin frauensüchtig, ich gestehe es. Für mich ist das Leben nur darum erlebenswert, weil die Frau darin vorkommt. Ich habe nie eine Zeile geschrieben, zu der nicht sie mich gereizt hätte. Erst der Traum von ihr färbt mir eine Landschaft und beseelt mir ein Kunstwerk. Die Tage allein haben Sonne, an denen ich ihr begegne ...«

Pömmerls Augen blinkten ordentlich. Claude betrachtete den kleinen dicken Mann mit roten Bäckchen und hoher, weißer Stirn. Oben auf seinem runden Schädel wurden die Haare dünn. Was für einen schäbigen Hausrock aus Loden Pömmerl trug!

»Ich will Ihnen was vorschlagen«, äußerte Claude. »Ich geb Ihnen ein Haus, das stimmen Sie auf Ihre Frau.«

»Ja, wie kämen Sie denn dazu?«

»Damit ich von Ihrem Geschmack lernen kann, muß ich Ihnen Gelegenheit geben zu seiner Betätigung. Drum nehmen Sie gefälligst von mir eine Villa an. Bitte, ärgern Sie mich nicht durch Widerspruch.«

»Fällt mir nicht ein«, erklärte Pömmerl fröhlich. Er arbeitete sich aus seinem Kummer. Er steckte schmunzelnd das Geschenk ein.

Claude sprach zugunsten Pömmerls gleich mit Panier. Aber eigentlich hatte er Pömmerl nicht mehr nötig. Er wußte auf einmal genau, wie sein eigenes Haus aussehen sollte. Er hatte jedes Zimmer im Kopf, so deutlich, wie er Utes Hand oder ihre Haarwelle, sobald er wollte, hinter seinen geschlossenen Lidern hatte. An sie wollte er bei diesem Hause denken, wie bei allem übrigen. Es war verwirrt und ohne Stil geblieben, solange als sie darin gefehlt hatte.

Jetzt war es klar, daß der Stoff zum Bezüge jener Wand olivengrüne Seide sein mußte, in Streifen abwechselnd gerippt und glatt. Wie gedämpft würde das Licht sich darauf brechen, indes ihr weißes Gesicht und ihr kupferner Haarhelm davor prunken und schreien würden wie Pallas Athene vor einem Hain von Ölbäumen!

Jetzt war es klar, daß der Marmor milchweiß sein mußte an dem Kamin, vor dem sie ihre herbe schwarze Gestalt ausstrecken würde; daß aus dem Eßzimmer die weißrote Harmonie entfernt werden mußte, die ihr fremd war; daß ganz oben in der durch alle Stockwerke steigenden Eingangshalle pfauenblaue Decken hängen mußten, um zu blitzen in einfallender Sonne, gemeinsam mit der Gestalt derer, die über die Schwelle trat.

Ach, vielleicht würde sie das Haus nie zu sehen bekommen, würde abreisen, ehe es beendet war: die Prinzessin, die an dem Zauberwald, wo jedes Blatt sie kennt und jeder Vogel in ihrer Sprache singt, nichtsahnend vorbeifährt.

Claude arbeitete sich verzweifelt ab, hetzte die Unternehmer, gab ihnen mit Gewalt alles zurück, was Utes Schönheit schaden konnte, stimmte sie feindlich und verlangte kaum zu Leistendes. ›Ich hätte mich nie für einen so unbedenklichen Tatmenschen gehalten‹, dachte er.

Am Tage vor ihrer Abreise gab er alles auf; die Tapezierer hatten mit der Halle noch gar nicht begonnen.

Aber sie reiste nicht. Der Direktor hatte geschrieben; sein erster Liebhaber war kontraktbrüchig. Es konnte eine Woche dauern, vielleicht länger.

Und endlich führte er seine Geliebte in diese Halle, die er um sie her erträumt hatte. Sie war unten hell, mit hohem weißem Kamin, grauen Ledersitzen und lila Pfauengefiedern vor den Türen. In kupfernen Kübeln prunkten violette Blumen. Als die üppigste von ihnen erschloß sich, unter ihnen wandelnd, Utes Haar. Wenn Claude sich setzte, rauschte es gegen die tiefblauen Decken, droben unter dem Glasdach. In der Höhe des zweiten Stockwerkes kreisten rasche schlanke Malereien und luden Ute ein in ihre für sie erfundene Jagd.

Aber sie ging zerstreut darunter hinweg, sie erstieg achtlos die Treppe, über deren Teppich Claude die Biegung ihrer Schenkel ersehnt hatte. Auf dem Balkon, der die beiden Treppenarme überragte, regte sich eine leise Streichmusik. Ute blieb einen Augenblick stehen, faltete die Brauen und fragte:

»Was denkst du dir eigentlich dabei?«

»Nichts«, erwiderte Claude.

»Du mußt dich schrecklich langweilen, daß du auf so etwas verfällst.«

Und sie eilte vorüber, ohne einen Gruß an die Sessel, die mit den Linien ihrer Gestalt vertraut waren, an die Wände, deren Stoffe nach ihr riefen, an die Bilder, von deren Farben sie selbst der Zusammenklang war.

In einem venezianischen Spiegel betrachtete sie sich flüchtig.

»Wie ich mich erhitzt habe. Und ich muß noch so viel umherlaufen heute. Adieu, entschuldige. Der Spiegel ist übrigens gut.«

Claude trug ihn ihr an den Wagen. Er war das einzige Wesen hier, dem sie ihr Bild geliehen, das sie nicht ganz verachtet hatte. Claude hätte es zu bitter gefunden, ihn zu behalten, er, der Verschmähte.

Im Wagen meinte sie:

»Das ist alles ganz hübsch. Aber da drin mußt du ja den Millionenspleen kriegen, wenn du ihn nicht schon hast. Und der Haufen Dienstmädchen, den du brauchst. Na, viel Glück, ich will nun arbeiten.«

Claude geriet, als sie weg war, in helle Empörung.

»Die Dienstmädchen soll sie erleben!« sagte er. Und er verschrieb ein Rudel weiblicher Wesen mit gepflegten Händen und von zweideutiger Herkunft, aus Frankreich, Ungarn und von noch weiter. Wenn sie alle da wären, würden es zwölf sein, und er nahm sich vor, Ute ein Fest zu geben, auf dem seine zwölf Dienstmädchen den Tanz der Nationen aufführen sollten. Seine Rachephantasien schweiften aus. Er wünschte, das dreizehnte Dienstmädchen lieben zu können!

Es langte vor allen andern an, und es war einfach eine Bauerndirn mit dickem Haarkranz um das verschlossene Beterinnengesicht und den goldbraunen Blick nach oben gerichtet in den bläulichen Augäpfeln. Sie wichste das Parkett und lief darauf herum mit den Kinderschritten ihrer nackten Füße, die Claude wohlgebildet fand.

Er witterte in dieser sechzehnjährigen Heiligen einen Schatz schöner, entschlossener Leidenschaft, von dem sie selbst nichts wußte und der zu heben war.

›Soll ich es tun?‹ fragte er. ›Aber was kann ich ihr dafür geben. Könnte ich ihn ihr wegnehmen, diesen Schatz, und ihn in eine andere senken!‹

›Nein, ich werde von meinem dreizehnten Dienstmädchen keinen persönlichen Gebrauch machen.‹

Er ging trotzdem wehmütig um sie herum. Aber er redete sie niemals an. Dafür gab er ihr ein Zimmer innerhalb der Wohnräume, weit weg von den Mansarden der männlichen Dienstboten.

Es fehlten zur Einweihung des Hauses noch ein paar gut erfundene Beleuchtungskörper. Auf Pömmerls Rat begab Claude sich zu Köhmbold, dem verlorenen Kaufmannssohn, der nur noch die Schönheit wollte.

Er wurde in ein rundes Gemach geführt, das keine festen Wände hatte. Ein Schleier nur schloß es, in Farben spielend, die ein gedämpftes Licht von draußen regelte und abstufte. Hinter Köhmbolds Ruhekissen war er bläulich, fast weiß, und es schienen in seinem Gewebe die Blütenglieder von Feen zu spielen. Allmählich, mit etwas Rot auf der leichten Stickerei, wurden kräftige Frauen daraus, und an Köhmbolds anderer Seite, wo der Kreis sich schloß, strotzten in dunkelvioletter Gaze die Leiber schwarzer, brünstiger Hexen.

Die Erfindung war seltsam zum Erschrecken. Köhmbold wußte dies und schwieg. Claude betrachtete beklommen seine Füße, die auf gewirktes Frauenfleisch traten, und zwar auf das der Liebe geöffnete. Er ergriff eine Stuhllehne; es war ein zurückgebogener Frauenhals, um den er die Hand legte. Das Kissen konnte man drücken wie man wollte, es behielt die Form einer Frauenbrust.

Köhmbold klammerte sich mit knotigen Händen an die beiden Frauenrümpfe, die seine Armlehnen stützten. Sein hageres, grobknochiges Gesicht, worin die Nase, mit eingesunkenem Sattel, nur ein Knopf war, zerknitterte sich voller Sorgen.

»Finden Sie es hier schön?« fragte er.

»Schön?« meinte Claude, und schnupperte umher. »Weiblich auf jeden Fall.«

»Nun ja«, erklärte Köhmbold, »das will man doch.«

Und seine wässerigen Augen ergingen sich sehnsüchtig und besorgt über den Schmuck seiner Zelle, über die Vasen ganz aus verschlungenen Frauen, über die Schalen ganz aus tanzenden; über den Tisch, den sie trugen und dessen Platte ihr ineinandergeflochtenes Haar war; über die Gläser, die aus ihnen entstanden und aus denen sie nippten; über die Blumen, deren Stengel in ihren Köpfen staken und sich mit ihrem Blut ernährten. Claude blickte kleinlaut an sich herab, ob er nicht selbst in eine Frau verwandelt werde. Köhmbold war solch ein Zauberer.

»Sie müssen das doch schön finden«, verlangte Köhmbold hartnäckig.

»Immerhin.«

Köhmbold atmete leichter.

»Sehen Sie, es ist so schwer, die Schönheit zu kriegen. Man wird immer betrogen.«

Claude sah Köhmbold in die Augen und bemerkte:

»Das sieht hier aus, als sei es als Ersatz gedacht.«

»Wofür?«

»Für die Weiber.«

»Das sind ja die Weiber. Für die andern dank ich.«

Und Köhmbold sah entrüstet aus wie ein zu kurz gekommener Geschäftsmann.

»Hier weiß ich doch, was ich bezahlt habe. Sind Sie bei den andern Weibern, denen da draußen, schon einmal auf Ihre Kosten gekommen?«

Claude ward von Bitterkeit übermannt.

»Niemals. Sie haben ganz recht.«

»Sie müssen doch auch schon eklig viel Geld an ihnen verloren haben«, meinte Köhmbold. Aber Claude dachte an all die Sehnsucht, die Fürsorge, die lauschenden Zartheiten und die verhaltenen Vergötterungen, die er verschwendet hatte an die eine.

»Es ist wirklich besser, man macht es wie Sie. Sie sind wohl niemals verliebt.«

»Wie werd ich denn, dafür hab ich die Schönheit.«

Claude nickte.

»Diese Weiber aus Gips, Glas, Ton, Stein oder Porzellan sind zwar auch seelenlos, aber darunter leidet man verhältnismäßig nicht so. Bei den andern ist es unerträglich. Sie wollen vom Mann nichts als das Futter und die körperliche Befriedigung. Und wenn sie einen dazu nicht brauchen, dann darf man so viel Seele an sie wenden, wie man mag, sie merken von unseren inneren Stürmen noch nicht soviel, als wenn wir den Schluckauf hätten.«

»Pfui«, sagte jemand, und Claude erschrak, denn er hörte, indes er Ute beschimpfte, die Stimme seines Gewissens. Er betäubte es.

»Ohne sie auskommen, meinetwegen mit der Schönheit, das ist die einzige Rache, die wir nehmen können. Hören Sie mal, ich brauche recht sinnreiche Lüster oder Lampen ...«

Köhmbold reckte, mit einem mordgierigen Lächeln, einen Finger nach oben. Claude sah hinauf: da hing eine Frau von der Decke. Sie war erhängt an ihrem Haar. Es war rot und metallisch, und ihren Hals schnürte es zu wie ein blutiger Strick. Elektrische Birnen saßen an den Enden ihrer Haarsträhnen, an den Spitzen ihrer schlaffen Hände und Füße, vor ihren Brüsten, auf dem muschelförmigen Fleisch zwischen ihren Schenkeln ...

Claude setzte sich.

»Bravo«, sagte er. Und nach einigem Sinnen:

»Das Wahre wäre eine richtige Leiche, die überhaupt nichts merkt. Da wüßte man wenigstens, warum man so allein ist.«

»Pfui Teufel«, sagte jemand ganz deutlich. Claude sprang auf, riß den Schleier weg: dahinter stand auf gelbbehangener Estrade Theodora Gigereit, nackt und in schwarzen Strümpfen.

»Sind Sie ein gemeiner Mensch«, sagte sie von oben herab zu Claude.

»Wie kommen denn Sie hierher?« stotterte er.

»Sie haben mich doch selbst empfohlen hier, Sie. Haben mir 'ne Stelle verschafft bei dem Eunuchen, daß ich hier stehen darf und mich anglotzen lassen.«

Köhmbold schrie erbost:

»Willst du stillschweigen! Sehen Sie wohl, Marehn, die Kanaille. Extra hab ich mit ihr ausgemacht, sie dürfte hier kein Wort sprechen. Aber immer wird man bestohlen, wenn man die Schönheit haben will. Für heute kriegst du nicht bezahlt, du!«

»Ich pfeif drauf«, sagte Theodora. »Ich komm überhaupt nicht wieder zu euch Eunuchen.«

Und aus ihrer schmalen Madonnenmiene, zwischen den spiegelnden Bandeaus à la Mérode, strömte Verachtung.

Sie bückte sich nach ihrem Hemd. Sie warf ihre langen, lockern Gliedmaßen, um schneller fertig zu werden. Hose, Korsett – sie band, nestelte, knotete, knöpfte in planloser Hast, voll Drang zu entkommen.

»Warum denn so schrecklich eilig?« fragte Claude murmelnd vor Scham. Sie hielt die Lippen fest geschlossen. Er versuchte, ihr zu helfen; Theodora stieß ihn fort.

Er sah ihre schmalen, fallenden Schultern im Jackett verschwinden samt dem Duft von den Würfen ihrer gelenkigen Arme, die den engen Schatten unter den Achseln blitzschnell auf- und zudeckten. Sie war fertig. Claude ließ für Köhmbold ein Adieu da und lief ihr nach.

»Theodora, so hör doch. Was hast du plötzlich gegen mich. Man redet doch mal eine Albernheit. Was geht dich das an.«

Sie waren schon aus dem Hause.

»Das Futter und die körperliche Befriedigung. Und von eurer Seele merken wir nicht so viel, als wenn ihr Schluckauf habt. Und was merkt denn ihr, möcht ich wissen.«

»Wovon?«

»Nichts.«

Und sie zuckte wütend die Achseln.

Claude dachte nach, tief erschrocken, er wußte nicht warum.

»Wenn euch die eine nicht mag«, sagte Theodora, »darum braucht ihr nicht auf eure ästhetischen Schweinereien zu verfallen und auf Leichen! Ein ordentlicher Mann merkt schon, wo er gewünscht wird.«

Claude ahnte auf einmal die Möglichkeit, leiden zu machen, wie er litt. Er sah die an ihrem Haar erhängte Frau in der Luft baumeln. Vor Rachsucht schwindelte es ihn.

»In dich kann man sich doch nicht gut verlieben«, sagte er, »meine gute Theodora, dafür bist du doch schon zu bekannt.«

»So?«

Und sie richtete ihre großen schwarzen Augen kühn auf sein Gesicht.

»Ich bin ja verlobt. Jaja, es ist nicht jeder so dumm. Ein netter junger Maler, der nichts hat, aber er kann was und verdient ... Das hast du nun davon.«

Er senkte die Stirn, ganz geschlagen. Da hatte ihn eine geliebt – höchstwahrscheinlich. Oder aber sie log, um ihm Reue beizubringen. Ach nein – er sah plötzlich die Begehrlichkeit ihrer schlanken, flach gewellten Posen wieder, an jenem letzten Abend, den er bei ihr gewesen war, in Begleitung von Spießl; ihre lange, üppige Hand, die mit spitzen Fingern verlangend in seine glitt; ihr von der Kerze vollbeleuchtetes Gesicht, aus dem große, schwarzumränderte Augen ihm nachblickten. Sie hatte ihn geliebt! Er geriet in Angst: war denn alles versäumt?

»Theodora, wenn du noch magst –«

»Du bist wohl verrückt«, sagte sie. »Ich bin ja verlobt. Zu dem Köhmbold geh ich noch, weil er gar nichts machen kann. Aber sonst – Adieu.«

Er rief hinterher:

»Kommst du wenigstens zu meinem Fest? Ich gebe nächstens ein Fest.«

»Mit meinem Verlobten. Adieu, kleiner Ästhet.«

Und sie enteilte. Ihr gleitender Schritt formte ihre Schenke] in den seidenen Wellen des Rockes. Claude sah hin, bis sie verschwunden war. Sie war unsäglich begehrenswert – das Glück, das plötzlich seinen Schleier abgeworfen hatte. Jetzt erkannte er's, und es war zu spät. Er mußte in ein Haustor treten und sich stützen.

Für ihn würde es kein entschlossenes, einfaches Glück geben. Er würde niemals unschuldig zugreifen können. Ute und seine lange, unfruchtbare Sehnsucht nach ihr hatten ihn geschwächt, ihn für die Frau verdorben, ihn zum Ästheten gemacht. Er begriff plötzlich das Mißtrauen, womit Ute sein Haus betreten hatte. »Was denkst du dir eigentlich dabei?« Ja, woher kam all die unglückliche Feinheit? Eine kranke Liebe, die auf Gobelins und an Vasen ihr blutleeres Dasein hinschleppte!

›Die Schönheit der Schwachen, der Ästhetizismus der gänzlich Untauglichen, der Aufputz des verödeten Lebens, persönliche Zahnstocher: ich wollte doch das nicht mitmachen? Und nun gehör ich doch zu der Gilde, in der Pömmerl und Köhmbold sind. Den einen machen ein paar Verse zum Mitglied, den andern seine Impotenz, mich Ute. Pömmerl will nicht, Köhmbold kann nicht, ich darf nicht.

Das soll aber nicht so bleiben!‹ schwor er sich. ›Mein Haus ist mir schon gründlich egal, wir wollen mal zu etwas anderm übergehen. Die Theodora hab ich vielleicht einen Abend vergeblich gereizt. Aber wer hätte die nicht gereizt? Der Greis Panier mehr als ich. Es ist nicht gar soviel dran verloren. Und außerdem, wenn sie verheiratet ist, kann ich sie ja wiederhaben.

Ich bin geliebt worden und hab es nicht gemerkt.‹

Claude ging nicht in den Klub, sondern führte den ganzen Abend diesen Gedanken durch trübe Straßen. Dann und wann wehrte er sich gegen ihn und sagte: »Wissen kann man das nie. Ich hatte gerade geerbt, da hat sie sich eingeredet, sie liebte mich. Was daran war, weiß nicht mal sie, viel weniger ich.

Daß man das nie wissen kann, das ist schrecklich!«

Zu Hause sah er von ferne sein dreizehntes Dienstmädchen das Parkett wichsen. Als sie fertig war, ging sie in ihre Kammer. Claude schlich vor die Tür, er hatte schon den Griff in der Hand, aber da drang ein Geplärr heraus, wie es abends aus Bauernhäusern kommt. Das Kind betete mit zuversichtlicher Schreistimme.

Claude erblaßte. Er sah ohne weiteres die verführte Unschuld, betrogen in ihrem Glauben an Gott und Menschen, mit den Beinen aus einem Wasser ragen. Um die Beine her trieb ein Röckchen wie eine weit aufgeblätterte Rose.

›Ich bin Neurastheniker, ich habe keinen Widerstand gegen solche Bilder.‹

Und er ging nochmals aus.

Am Karlsplatz schlenderte eine kleine Frau, unter einem riesigen schwarzen Hut, ihm mit einer Musikmappe entgegen. Die Stunde und ihr Gang waren zweideutig. Bevor sie Claude einen Blick zuwarf, sah sie sich angstvoll um.

Er erfuhr von ihr, daß sie Gesang studierte. Die Lehrerin wartete auf das Honorar, bis Nelly Gagen kriegte; denn sie war schon engagiert, beim Gärtnertheater. Aber inzwischen mußte gegessen werden, und das ging nicht, weil der Mann alles vertrunken hatte. Darum ging sie manchmal auf die Straße – oh, einmal in acht Tagen, und davon lebte sie dann die ganze Woche.

Claude fühlte Verständnis für dieses Dasein: es war darin eine melancholische Entschlossenheit. Nellys linkes Auge war etwas kleiner, und zwischen ihren schwarzen Zottelhaaren hervor funkelte es ihn leidenschaftlich an, während sie ihm an einer Straßenecke einen Kuß gab. Sie hatte seit acht Tagen keine Liebe gehabt. Er beschloß, ihr mehr zu geben als das, in dieses verlassene Leben etwas von seinem eigenen zu schütten, das auch vernachlässigt war. Er plante märchenhafte Beglückungen – Harun al Raschid, der aus einer Schweinemagd eine Sultanin macht. Ein sehr dunkles Hemd, das später bei ihr zutage kam, ernüchterte ihn etwas.

Tags darauf zog Nelly in eine möblierte Wohnung. Claude riet ihr, das Studium fortzusetzen. Sie versprach es. Sie war nicht mehr ganz jung, nicht schön und hatte wenig Stimme; aber warum sollte sie nicht singen.

Ferner bat er sie, wenn sie einen andern Mann haben wollte, es ihm offen zu sagen. Das sei das einfachste und sauberste. Er werde sie trotzdem mit Geld versehen. Sie antwortete:

»Aber Schatz, wenn ich doch solange mit einmal wöchentlich genug gehabt habe, da werd ich doch jetzt niemand weiter brauchen als dich. Du bist so gut, und ich hab dich so lieb.«

Sie küßte ihn, ihr kleineres Auge funkelte, und sie fragte herzhaft:

»Gelt?«

Aus Anlaß von Nellys Ausstattung merkte Claude, daß er wieder einmal über kein bares Geld verfügte. Der Vormund sagte ihm:

»Du schmeißt großartig mit 'm Draht rum, mein Jung'.«

»Das Haus –«, erklärte Claude.

»Na, davon haben wir ja nu woll glücklich alle Rechnungen, das geht dich weiter nichts mehr an. Und die zweitausend, die ich dir erst neulich zugesteckt hab?«

Claude gestand sein neuestes Verhältnis. Der Alte zwinkerte:

»Is woll was Fettes?«

»Wieso, Herr Panier?«

»Ich dachte, nach deiner magern Gräfin, und dann, wegen deinem Idea–al, das du überhaupt nie kriegst. Ist doch auch bloß mageres Vergnügen. Na, macht nichts, amüsier dich man. Aber mit Maßen, Jung', immer vorsichtig mit die jungen Pferde, besonders wenn es Goldfüchse sind.«

»Steh ich schlecht?« fragte Claude.

»Geradezu schlecht, nee. Obwohl, die guten Zeiten haben wir wieder mal gehabt. Damit ich dein Palais bezahlen kann, muß ich 'n Haufen Grundstücke unterm Preis weggeben; natürlich recht weit weg, in Holland, daß sie es hier nicht so merken.«

»Und hier, Herr Panier?«

»Hier in München, da spuckt uns der Kaiserplatz in die Suppe. Den hatten wir bebauen wollen, und nu verfügen sie, daß da 'n freier Platz zu liegen kommen soll. Das Verfügen kost' sie nix, aber uns!«

»Ist das schlimm, Herr Panier?«

»Es hemmt unsern Betrieb, weißt du. Wir müssen recht viel bauen, ob wir Geld haben oder nicht – nur recht viel, schon damit für die Subhastationen immer Objekte da sind, im Fall, daß 'ne Krise kommt.«

Claude meinte ängstlich:

»Vermeiden wir doch lieber die Krisen, schränken wir das Geschäft ein.«

»Nu soll doch!« rief Panier, und er erhob die Gichthände gen Himmel. »Wenn dein seliger Vater so gedacht hätte, wo wärst du dann! Dann gehörte dir woll nicht halb Schwabing und 'n tüchtiges Stück von allen Vorstädten! Das war das Genie von deinem Vater, daß er vorausgeahnt hat, München werd sich nicht wie andere Städte nach Westen ausdehnen, sondern nach Norden. Also alles gekauft, immer gekauft, überall gebaut, Hypotheken aufgenommen, und die Zinsen bezahlt mittels Verkäufen. Das ist das System.«

»Aber nie Geld«, sagte Claude leise.

»Hat es dir schon mal an was gefehlt? Na, also. Der Witz ist gerade, daß du kein Barvermögen hast und daß bei der Ausdehnung deiner Geschäfte kein Mensch sicher berechnen kann, wieviel du besitzt.«

»Was sagen sie denn?«

»Pöh. Unsinn sagen sie. Vierzig oder fünfzig Millionen Aktiva gegen dreißig, vierzig Passiva. Was macht dir das. Du wirst es selber nie zu wissen kriegen.«

Claude senkte den Kopf. Er würde nie erfahren, ob Theodora Gigereit ihn einmal geliebt hatte. Er würde nie berechnen können, wieviel Vermögen er besaß. Nie im Leben würde er eine unangreifbare Überzeugung, eine gesicherte Erkenntnis oder einen unbedenklichen Willen haben. In seinem Namen, für ihn als Ziel und als Spitze, geschah eine ganze Wildnis handfester Geldgeschäfte, bei denen Scharen von schweißbedeckten Männern einander umherhetzten, in staubigen Stuben voll grüner Register glänzenden Blicks und geängsteten Herzens um ihre Existenz rangen; bei denen Individuen untergingen, Familien zerstört wurden, Arbeitermassen auf einmal ohne Brot waren. In seinem Namen! Und er, Claude, wie er hier stand, fühlte sich unfähig, in einem Gedränge auf den Fuß seines Nebenmannes einen Kotfleck zu treten, und sollte es ihn selbst vor dem Überfahrenwerden retten!

»Wir haben eigentlich 'ne schauerliche Verantwortung, Herr Panier. Bei den Krisen muß eine schwere Menge Unglück passieren. Hat sich nicht neulich ein entlassener Werkführer erhängt? Ich habe so was in den Neuesten gelesen.«

»Pöh«, machte Panier. »Das Erhängen ist seine Sache. Das tut jeder für sich. Uns steht es ja auch frei, wenn mal wieder 'ne Krise da ist. Bloß daß wir so dumm nicht sind.«

Und er klopfte Claude auf die Schulter.

»Wenn mal 'ne zu flotte Zeit gewesen ist im Lande, wenn alle zuviel produziert, zu hoch spekuliert und unsere Terrains darum natürlich einen zu hohen Wert gekriegt haben, dann kommt meinetwegen irgend 'ne alberne Börsennachricht – braucht gar nicht mal wahr zu sein –, und alles kracht. Wir zuerst. Wie es gerade mit der Volkswirtschaft geht, so geht es mit uns.«

»Das ist furchtbar«, sagte Claude. »Wir sind die reinste Falle, ein Loch ohne Boden. Die Leute stecken ihr Geld hinein, und von unten wird es immer weggeholt. Kommen sie dann in der Not, ist gar nichts da.«

»Schnack, Jung'. Unser Wohlergehn ist mit dem des deutschen Volkes eng verknüpft. Das hat mir mal 'n Professor gesagt. Das ist doch alles mögliche! Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an«, deklamierte der Greis.

Da er Claude besorgt sah, fügte er noch hinzu:

»Und dann, das Feine ist, daß wir überhaupt nicht pleite gehn können. Dazu ist unser Betrieb viel zu verwickelt. Das eine versteigern sie uns – deinem seligen Vater haben sie ja das Café Luitpold versteigert –, was macht das? Wir kaufen uns was anderes. Und daß zu viele Leute dabei zu Schaden kommen, ist auch nicht wahr; schon weil wir immer wieder hochkommen. Sie haben hier in München sogar ein Sprichwort, daß noch nie jemand schließlich was an Marehn verloren hat.«

»Das sollen sie auch nicht«, sagte Claude mit verhaltener Erregung.

»Na also. Immer 's Panier hoch!« schloß Panier.

Er sang noch eine Zeitlang »Du hast mich nie geliebt«; dann verlangte er, daß Claude ihn zu Nelly begleite.

»Ich muß mir deine Flamme besehn, das ist meine Pflicht als Vormund.«

Sie soupierten bei Nelly, aber nicht so einwandfrei wie ehemals bei Frau Gisela Gigereit. Nelly war ohne Erfahrung, sie hatte Leberkäs kommen lassen! Panier bekam vor Zorn eine schwere Zunge, und Claude fürchtete einen Schlaganfall. Der Sekt machte es wieder gut.

»Nu soll einer sagen, das Volk hätte sich über uns zu beklagen. Wenn wir nicht auf der Welt wären, denn möcht ich doch wissen, ob das Mächen da je 'n Tropfen Sekt gekriegt hätte. Na Mariechen?«

Nein, Nelly trank zum erstenmal Sekt.

»Und dabei is sie 'n Sektmatz. Das Wurm wird überhaupt erst hübsch, wenn sie beschwipst ist.«

Nelly flog, mit reizenden kleinen Flügelschlägen, von einem zum andern. Panier zog ihr die Bluse aus.

»Genieren Sie sich nicht«, bat Claude.

»Du bist woll eifersüchtig?«

Und der Alte fuhr, unter spöttischen Seitenblicken auf sein Mündel, fort mit Aufbinden und Ausschälen. Nelly stand mit hängenden Armen da wie eine Gliederpuppe. Claude hielt sich nicht mehr, er riß sie wütend am Arm. Sogleich besann sie sich auf ihre Pflicht, taumelte ihm an den Hals, versuchte, die Spitze ihrer Brust in sein Glas zu stecken. Sie redete mit ihrer Brust.

»Magst trinken, Kleiner?«

Aber Claude hielt das Glas unsicher, es kippte um, zerbrach an Nellys Fleisch. Sie kreischte.

»Ach mei, ich hab bloß die zwei gehabt, und Steigerwald hat g'schlossen.«

»Das habt ihr davon, Kinners, nu müssen wir alle aus meinem trinken«, entschied Panier.

Claude dankte. Er fand, der Abend habe lange genug gewährt. Er erhob sich und ging streng im Zimmer umher. Panier fragte:

»Du suchst wohl nach einem guten Abgang?«

»Für Sie«, erklärte Claude gereizt.

Dann verstummten sie. Nelly war hinausgelaufen.

»Tja, tja«, machte Panier und trommelte mit dem Fuß. Claude drehte ihm den Rücken.

»Hörste?« flüsterte plötzlich der Alte. »Sie hat jemand.«

Claude schlich hinaus. Nelly stand an der Flurtür mit einem Arbeiter. Sie machte ein bestürztes Gesicht.

»Es ist mein Bruder.«

Panier feixte.

»Wenn er dir's glaubt –«

Und er zeigte auf Claude.

» Uns kann's recht sein.«

Claude stellte fest, von oben herab:

»Warum nicht Bruder. Sie sehn sich ja ähnlich.«

Panier schlug sich auf die Schenkel, er erstickte vor Lachen.

»Was für 'n Gemüt! Du, den halt dir warm, Mariechen, so einen kriegst du nich wieder.«

Nelly und der Arbeiter sahen ernst und ohne Verständnis drein. Aber Claude stampfte auf.

»Dies ist mein Haus, nicht wahr, Herr Panier. Und der junge Mensch ist mein Gast.«

Panier verbeugte sich vor dem Proletarier.

»Kommen Sie rein, Herr Graf, in die gute Stube, es gibt Sekt, aber Sie müssen ihn aus der hohlen Hand trinken.«

Claude öffnete ihnen die Tür, die Gesellschaft zog ins Zimmer. Nelly umhalste Claude:

»Du bist gut, dich hab ich lieb.«

Sie legte ihrem Bruder den Leberkäs vor.

»Er möcht gern hier übernachten«, erklärte sie.

»Der hat ehrliche Absichten«, schrie Panier und pruschte aus. Nelly war erstaunt.

»Weil's ihm aus seiner Schlafstell' ausquartiert ham, und wo find't er jetzt a Schlafstell, glei halber zehn is ... Er arbeitet beim Maffei«, sagte sie noch.

Sie bemerkte, wie ihr Bruder ihren Hals betrachtete, und bedeckte sich hastig.

»Prost«, sagte Panier und goß dem Arbeiter aus seinem Glas etwas in die Hand. Der junge Mann sah verdummt aus. Nach einem braven Arbeitstag und mit zwei Litern Bier im Leibe hatte er sein Bett von einem anderen besetzt gefunden und geriet unter Leute in Bourgeoiskleidern, die ihm Champagner in die Hand gossen. Die Welt befremdete ihn. Claude fand die Lage dieses Bruders unwürdig.

»Ihn hier abfüttern«, sagte er zwischen den Zähnen und sah Panier scharf an, »das ist keine Kunst, aber nehmen wir ihn doch mal mit ins Café Luitpold.«

»Machen wir!« kreischte der Alte. Er lehnte sich zurück im Sessel und hampelte mit den Beinen in der Luft. Claude sagte:

»Aus dem Café Metropole ist mal ein Arbeiter hinausgesetzt worden, der ruhig in seinem Arbeitsgewand dasaß und für sein Geld etwas verzehren wollte. Die Gäste – eine Rotte stinkender Bürger – haben ihn hinausgesetzt! Der Wirt ist nachher verklagt, aber freigesprochen, weil Arbeiterbesuch sein Lokal ruinieren würde.«

»Also prost«, sagte Panier.

»Hören Sie mal, so stumpf darf man nicht sein!« rief Claude. »Wenn einem so was erzählt wird! Das ist doch haarsträubend. Soll ich Ihnen mal sagen, wozu ich imstande wäre?«

»Na?«

Er suchte, er hatte ziemlich viel Sekt im Kopf.

»Ich wäre imstande, selber als Arbeiter verkleidet in die Palmensäle zu gehn, und wenn sie mich ausweisen wollen, dann mache ich Krach, balge mich mit den Kellnern und dem dummen Gesindel, das da zu Abend frißt, und wenn schließlich die Polizei kommt –«

»Dann setzt es was.«

»Dann springe ich draußen in meinen Wagen.«

»Aber der Schutzmann springt mit.«

» Mir ist es einfach nicht gegeben, diese sozialen Ungerechtigkeiten ruhigen Blutes mit anzusehn. Warum haben wir den Menschen hier unter uns sitzen wie ein Wundertier und geben ihm Sekt, als wenn wir einem Rhinozeros die Nase mit Eau de Cologne einrieben! Geradesogut könnten ja wir das Rhinozeros sein!«

»Du bist ja eins!«

Und Panier hielt sich den Bauch.

»Haha! Is das 'n Witz! Du bist ja eins!«

»Warum gehören eigentlich mir all die Terrains und nicht dem da.«

»Großartig!«

»Na, warum denn!«

»Weil sie dir gehören, mein Jung', weil sie dir gehören

»Weil mein Papa mit einem Haufen Leute, die zum Teil gewiß schon tot, pleite oder verrückt sind, Verhandlungen gepflogen hat, weil er Briefe geschrieben, Kontrakte unterzeichnet, Wechsel ausgestellt und in einem Wust von Papieren gekramt hat, darum gehört mir ein gewisses Stück von der Erdoberfläche. Was haben Papiere mit der Erdoberfläche zu tun, möcht ich wissen, und wer hat das Recht, ein Stück von ihr, mir – mir zu eigen zu geben, der ich gar nicht weiß, wie mir geschieht. Das kann doch nur mittels logischer Ungeheuerlichkeiten zustande kommen! Das Eigentum – ich weiß nicht, ob es Diebstahl ist, aber Unsinn ist es, Unsinn: nie hab ich das so klar gefühlt wie in diesem Augenblick!«

»Wo du besoffen bist«, ergänzte der Vormund.

Claude fuhr nochmals auf.

»Und wenn nun auf sämtlichen Papieren statt meines Namens derjenige dieses Proletariers gestanden hätte ... Wie heißt er eigentlich?«

»Xaver«, sagte Nelly.

»Na, wenn Xaver drauf stände, dann wäre er der sogenannte Eigentümer von einem Teil der Erdoberfläche, und ich könnte statt seiner an einem großen Ofen stehn und mich schwarz machen und schwitzen!«

Er sah sich um.

»Das werd ich nie begreifen, das geht mir einfach ab: woher ich eigentlich das Recht habe, mir nie, nie die Hände zu beschmutzen. Ich könnte doch genauso 'n Mensch sein wie der da, auch voll Bier und auch ohne feinere Regungen, ohne Bedenken, Zweifel und seelischen Jammer, und getrost dabeisitzen, wenn meine Schwester ohne Korsett zwischen zwei Herren liegt. Woher kommt es, daß ich auf Smyrnateppichen umhersteige mit einer in Zartheiten bewanderten Seele und nicht an einem großen Ofen stehe, mich schwarz mache, schwitze und dabei ans Fressen denke? Das könnt ich doch ebensogut tun! Und Sie auch!«

» Wir?«

Panier war entrüstet.

»Dafür wollen wir uns woll bedanken. Wir mit unserer Gicht, wir könnten 'n nettes Reißen davon haben.«

Claude stellte sich vor ihn hin voll Klage und Verachtung.

»Also Sie wissen, Sie – warum Sie gerade der Herr Panier sind?«

» Wir!« sagte der Greis. Er erhob sich und pflanzte sich breitbeinig auf. Aus dem Rachen, voll Überzeugung, mit einer Stimme, die nach dicken Zigarren schmeckte, sagte er:

»Wir sind Karl Panier, das woll'n wir uns woll ausgebeten haben. Immer 's Panier hoch!«

Claude senkte den Kopf.

»Na, also gehen wir.«

Claude sah unterwegs die Sterne an. An einer Ecke murmelte der Alte etwas und drückte sich, ohne daß Claude darauf achtete.

Er war, als er sein Haus betrat, bei der Frage angelangt, ob es nicht viel wünschenswerter, viel genußreicher gewesen wäre, am großen Ofen zu stehen und sich auf sein Bier zu freuen. An der Tür seines dreizehnten Dienstmädchens schlich er auf den Fußspitzen vorbei. Und solch keusches Glück durfte man dann vielleicht umarmen, wie es dort drinnen mit ungeküßtem Gesichtel auf einem Kinderarm lag.

Nach einer Stunde bewegter Schlaflosigkeit kleidete er sich wieder an und kehrte den Weg zurück, den er gekommen war. Nelly war ja jetzt seine Verbindung mit dem kräftigen, unschuldigen Leben! Und daß dort ein Arbeiter auf einer Matratze schnarchte, das war eher noch eine Würze.

Er öffnete mit seinem Schlüssel sehr behutsam die Tür zu Nellys Wohnung. Er brauchte zwei Minuten, bis er die Klinke ihres Schlafzimmers niedergedrückt hatte. Er würde sie im Schlaf überraschen. Sein Herz klopfte. Es würde immer klopfen, sooft er sich dem Lager einer Frau näherte. Keine Frau war je so niedrig, daß er sich nicht vor ihr beugen würde, wenn sie im Bett lag. Noch die mißbrauchteste blieb seine Herrin. Ein Abglanz von der Macht und Würde ihres Geschlechts folgte ihr bis ins Spital.

Er hatte allmählich einen schmalen Spalt geöffnet und suchte mit den Augen nach Nellys Kopf. Er fand ein Kissen, aber nichts darauf als einen heftig roten Fleck, zu breit, als daß sich eine Form unterscheiden ließ. Auf einmal sah er weiße Haare. Er riß die Tür auf.

»Nanu!« rief der Herr Panier.

»So, du bist es, Jung'.«

Und er warf ein griffestes Messer auf den Nachttisch zurück.

Wir dachten schon, der Prolet sei rebellisch geworden und wollt uns an 'n Kragen. Nöh, da hätten wir uns woll unserer Haut gewehrt. Könnt uns passen ... Na Jung', wo kommst du denn her, wir haben uns ja lang nicht gesehn.«

»Herr Panier –«, sagte Claude und würgte an seiner Aufregung. Wenn er sich nicht eben noch nach ihr gesehnt hätte wie nach etwas Besserem als er selbst.

»Ach, du giftest dich, weil wir in deinem Revier liegen? Mußt nicht tun, Jung'. Bei Weibern sind wir Kommunist. Wenn wir eins haben, darfst du ruhig ran.«

»Herr Panier, mit dieser bin ich fertig. Wenn Sie sie behalten wollen – bitte. Ich zahl nicht länger für Sie!«

»Können wir dir gar nicht verdenken. Aber wir haben an einmal genug, wir nehmen sie auch nich.«

Claude brach aus.

»Sehn Sie, Sie alter Schuft, nun haben Sie wieder das Mädel auf'm Gewissen!«

»Wir, wir?«

Der Greis sah ganz dumm aus.

»Es geht ihr ja ausgezeichnet. Sie ist draußen und kocht Kaffee.«

»Nun liegt sie wieder auf'm Pflaster. Nun muß sie hungern!«

»Chotts! Denn hungert sie mal 'n bischen«, sagte der Greis und feixte. Sein Bauch kollerte unter den Decken umher; Claude hatte wütende Lust, sich draufzustürzen, seine Fäuste in das wellige Fett zu graben.

»Wenn Sie sich nur mästen!« rief er ganz heiser.

Der Alte hörte auf zu lachen.

»Mein Jung', davon verstehst du nix.«

»Sie sind ein sozialer Schädling«, schrie Claude. »Ich bin auch einer!«

»'n junger Esel bist du«, entgegnete Panier. »Das Mädchen kann nix dafür, daß es auf der Welt ist. Das Mädchen kann nix dafür, daß sein Mann alles versoffen hat, daß es dich aufgegabelt hat und daß es nu wieder in der Gosse liegt. Das kommt alles, wie Gott es schickt, da brauchst du dir keine Sorgen um zu machen. Sie macht sich auch keine. Aber wirwir –«

Und Panier wühlte sich empor, er schlug sich klatschend auf die fette, weißbehaarte Brust.

»Wir sind was geworden, weil wir 'n Kerl sind, 'n richtiger Kerl! Sekt haben wir auch nicht immer gehabt, das könntst du woll wissen, mein Söhnken. In Friesland oben, da sind noch Leute, die haben uns Holz laden gesehn. Im Wasser drin, mein Söhnken. Da ist nämlich 'ne Stadt, namens Emden, da geht das Meer in die Fleete rein, und weil die immer so voll von Lastbooten waren, haben wir da mittenmang rumsteigen müssen und Bretter schleppen, immer bis an 'n Bauch in 'n Wasser. Von dem Wasser haben wir auch unsere Gicht. Später hab'n wir noch Sekt dazugegossen. Von Sekt und Salzwasser sind wir so geschwollen.«

Panier saß auf dem Bettrand und schob seine weichen Beine beschwerlich in die Unterhosen.

»Und wie wir denn selbst 'n kleinen Kohlenhandel angelegt haben, denn meinst du woll, der Karren is von alleine gegangen? Ja, Kuckuck, versuch es man mal. Anno fünfundsechzig, da war gerade das Streiken Mode geworden in England. Da hatten meine paar Mann auch von gehört und kriegen nu doch den Koller und wollen auch nich mehr. Und wir hatten gerade Kohlen auf ein Kriegsschiff zu liefern – das erste Kriegsschiff in unserm Leben. ›Kerls‹, haben wir da gesagt. ›Wenn ihr Lumpenhunde mich jetzt im Stich laßt, bin ich kaputt. Hin is hin, denn schlag ich lieber erst noch 'n paar von euch tot!‹ Und denn haben wir sechs Stück richtig zu Boden geboxt. Da hat der Rest Respekt bekommen und hat weitergearbeitet, und keinen Pfennig mehr haben sie gekriegt als vorher.

Jawoll, mein Jung'.«

Panier kroch in seine ungeheuren Lederkähne hinein.

»Die Zähne zeigen muß man dem Pack! Da habt ihr weichen Gemüter keinen Begriff mehr von. Ihr mit euerm Sozialismus. Ich möcht doch wissen, wozu man noch 'n richtiger Kerl ist, wenn jeder Lumpenhund dasselbe kriegen soll. Nöh, da wird nichts aus.«

Und Panier konnte endlich in seinen Stiefeln aufstampfen.

»Vielleicht doch«, meinte Claude eingeschüchtert.

»Keine Bange. Nu hilf uns mal den Rock an. So.«

Da entdeckte Claude zwischen Mauer und Angel, daß hinter der Tür zum Nebenzimmer Nelly stand, im Nachthemd und einen Handrücken angstvoll am Munde.

»Komm nur herein«, sagte er.

»Na, du Kröt, ist der Kaffee fertig?« fragte Panier.

Sie blieb vor Claude stehen, gebeugt und weinerlich.

»Ich hab keine Schuld«, murmelte sie.

»Ich kann mir schon denken«, versetzte Claude verächtlich. Sie flehte:

»Es ist wahr! Er hat solchen Skandal gemacht. Ich hab ihm auch extra gesagt, ich tät es nicht aus Liebe, lieben tät ich nur dich. Noch nachher hab ich es ihm gesagt.«

»Jawoll«, sagte Panier und zwinkerte Claude zu.

Claude hob die Achseln.

»Soll ich dich nun prügeln?«

»Jaja«, sagte sie und starrte ihn an mit einem verstörten Lächeln. Ihr kleineres Auge funkelte zwischen schwarzen Zotteln.

»Da hast du eine«, äußerte Panier und schwang seine Hand mit den Gichtknoten über Nellys Gesicht. Sie schrie auf. Claude wandte sich ab.

»Er kann es nicht sehen, wenn's Hiebe setzt.«

»Von mir«, sagte Claude, »hast du nichts mehr zu erwarten, weder Prügel noch sonst was.«

Nelly schluchzte. Claude überlegte peinvoll:

›Soll ich mich an dem armen Wesen rächen, dadurch, daß ich ihr das Essen entziehe? ... Ich bin schwach, ich will lieber weiterzahlen, um nur hinter meinem Rücken keine Tränen zu wissen und keinen knurrenden Magen ... Was sie dazu sagen wird. Sie wird mich nicht verstehen, ich werde ihr Mißtrauen einflößen. Es ist menschlicher gehandelt, und sie wird mich achten, wenn ich sie einfach in die Ecke werfe.‹

Er stöhnte schließlich.

»Ich mag nicht mehr.«

Und er ließ es unentschieden.

Panier schäkerte.

»Willst du noch 'ne saftige, Mariechen?«

Sie schrie im voraus. Da trat stürmisch der Arbeiter auf, in Hose und Hemd, noch schlaftrunken, aber gerüstet zur Verteidigung seiner Angehörigen. Er schob sie hinter sich, stellte einen Fuß vor.

»Moants, ös Affen, ös windinga, i loß mei Schwester von eich schlogn, ös Lumpn, ös miserablige?«

»Frechheit!« schrie Panier. »So 'n Prolet!«

»Geh nur her, Kraatschuasta, moanst eppa, i furcht di?«

Und der Mann machte noch einen Schritt. Er legte die Fäuste vor die Brust.

»Na, nun boxen Sie ihn mal nieder wie Ihre sechs Arbeiter«, sagte Claude sanft. »Das geht wohl nicht mehr?«

Der Greis färbte sich violett.

»Ihr Bande bild't euch ein, ihr könnt Karl Panier auf 'n Kopp rumtanzen.«

Und er zog sein griffestes Messer. Nelly kreischte auf.

»Fortsetzung folgt«, sagte Claude und trat dazwischen.

»Der Herr meint es nicht bös«, sagte er zu Nellys Bruder. »Er ist ein bissel zu lebhaft für seine Jahre ... Sind's gescheit?«

Er hielt die Hand hin. Der Arbeiter knurrte:

»No jo, da lossn mer's holt guat sei, aber wahr is, gfolln muaß ma sich vüll lossn.«

»So, Herr Panier, jetzt gehn wir mit dem Mann ins Café Luitpold.«

»Was? Den Kerl soll'n wir nochmal abfüttern! Du bist woll nich wohl?«

»Machen Sie keine Geschichten. Oder haben Sie Angst vor dem Mann gekriegt?«

»Da werden wir woll noch mit fertig, das wollen wir ihm schon zeigen.«

»Dann haben Sie Angst vor den Kellnern!«

»Dummer Junge, nu komm man weiter und faß deinen Proleten untern Arm. Wir wollen der Gesellschaft woll klarmachen, wer Karl Panier is. Nöh, uns könnt der Kaiser von China kommen ... Und gegessen haben wir auch noch nichts als Leberkäs.«

Sie nahmen den Arbeiter in die Mitte und gingen aus, ohne Nelly zu beachten. Claude brachte es nicht fertig, nochmals von ihr anzufangen. Er äußerte seinen Groll auf Umwegen.

»Schief geht es doch noch mal, Sie werden auch noch dran glauben müssen. Wenn uns unsere Laster nicht umbringen – ich wundere mich jeden Tag beim Aufstehen, daß die da uns so ruhig weiterwursteln lassen.«

Und er faßte ganz vorsichtig, mit zwei gespitzten Fingern, als sei es Sprengstoff, ein Stück vom Rockärmel seines Nachbarn. Der Arbeiter sah sich gutmütig um.

»Hobn's mi gmoant, Herr?«

Panier stieß seinen Stock aufs Pflaster.

»Ihr werd't euch woll nich mausig machen, sonst soll'n unsere Soldaten es euch besorgen ... Arbeiten sollt 'r!« schrie er. » Wir arbeiten mit 'm Kopf!«

Dabei schlug er sich vor seine dick geäderte Stirn. Der Proletarier sagte zurückhaltend:

»Ja, ös habt's leicht redn, mir derfn uns den ganzen Tag schindn und plogn, und ös theats Schampus saafn. Aber wart's nur, 's kracht scho no amol.«

Claude frohlockte:

»Da haben Sie's.«

Aber Panier warf knurrend die ganze Frage über die Achsel. Daher näherte sich Claude von einer andern Seite zum Angriff.

»Also boxen tun Sie nicht mehr. Aber zusammen mit Guttmann und den Kohlenbaronen legen Sie die armen Leute auf Eis!«

»Ach was«, erklärte Panier. »Wenn sie nichts zu heizen haben, denn wärmen sie sich im Bett, und das Deutsche Reich kriegt Soldaten. Jawoll, Söhnken, wir arbeiten fürs Deutsche Reich.«

»Wenn das Deutsche Reich nur für Sie arbeitet ... Und wären Sie wenigstens bei Ihrem Kohlenwucher geblieben. Aber mit Grundstücken spekulieren Sie auch, und viele gehören uns zusammen, und ich muß Geschäfte mit Ihnen machen. Wenn ich mir das vorstelle, daß ich an Ihren verbrecherischen Raubzügen teilnehme!«

Und Claude begann wieder zu zittern vor Wut.

»Hör mal«, sagte Panier bieder, »wart wenigstens, bis wir was im Magen haben. Nüchtern laß ich mir keine Gemeinheiten bieten.«

»Etwas soziales Empfinden muß man doch haben!« rief Claude noch stärker.

»Wenn du es dir leisten kannst. Wir wären dabei untern Kinderwagen gekommen. Darauf wartet das Pack ja bloß, daß man soziales Empfinden kriegt und die Zähne verliert. Dann stecken sie einen in die Tasche. Selber einstecken oder eingesteckt werden, man hat bloß die Wahl. Nöh, solang wir noch jappen, knöpfen wir den andern die Taschen ah. Hurrje, könnt uns passen.«

Die Brillen des Alten funkelten. Claudes Wallung legte sich. Er fand ihn zu seltsam anzusehn, diesen Greis aus kräftigeren Zeiten.

»Einmal«, meinte er, »ist der Höhepunkt eines Vermögens doch überschritten. Die nächste Generation hat keine Lust mehr, zu verdienen.«

» Unsere Söhne verdienen. Wir sehen gar nicht ein, warum nicht unsere Enkel Europa im Sack haben sollen. Mindestens im Kohlensack. Haha!«

»Es kommt der Moment«, äußerte Claude zögernd, in sich hineinspähend, »wo das Geschlecht für die Handhabung des Geldes zu sehr verfeinert ist. Es liegt einem mehr an seelischen Erlebnissen.«

»Huch«, machte Panier. »Seelische Erlebnisse. Und was woll der Magen alles erlebt, wenn ihr kein Geld mehr anfassen wollt.«

»Und man leidet an Bedenken. Wenn man mit Kohlen handelt oder Minenaktien hat, stellt man sich die schwarzen Männer im Innern der Erde vor, wie sie zwischen Kohlenschichten liegen, nackt, mit schwarzem Schweiß beklebt, erstickt von Staub und Gasen, und schwarze Blöcke herausschlagen.«

»Den Deubel stellen wir uns die Kerls vor. Nöh, wir werden uns doch den Appetit nicht verderben ... Nu man rin.«

Sie durchmaßen den Gang zwischen den spiegelnden Säulen zum feindseligen Erstaunen der späten Gäste. Claude sah herausfordernd aus, Panier wackelte vor Selbstbewußtsein mit dem Kopf, der Arbeiter hielt sich bescheiden.

Die Palmensäle waren schon dunkel; trotz ihres kräftig geäußerten Wunsches wollte man sie nicht wieder beleuchten. Sie ließen sich im hintern Lokal nieder, verlangten kalte Platten und Sekt. Einige Kellner schlenderten herbei, um mit angewiderten Mienen die falsch zugeknöpfte wollene Weste des Arbeiters zu mustern, der den Kopf senkte. Claude zeigte ihn den Befrackten.

»Der Herr hat heute abend das Große Los gewonnen.«

Augenblicklich knickten sie zusammen, wischten auf den Tischen umher, zeigten sich beflissen.

»Na prost«, sagte Panier und goß ein Gläschen fine champagne in seinen mit getrüffelter Pastete gefüllten Mund.

»Prost, Jung', und laß den Quatsch unterwegs. Wenn du die Schufte, die Proleten, kennen würdest, wärst du auch nicht mehr sentimental, dafür garantieren wir dir ... Was?« und er wandte sich an den Arbeiter – »Schufte seid ihr!«

»Da muaß i scho bitt'n, Herr.«

»Na, laß gut sein, prost. Moët-Chandon, der is woll was für dich, oller Umstürzler, den magst du woll?«

»Da legst di nieder«, äußerte der Proletarier nach dem ersten Zug voll Achtung. »Dees is fei guat, dees is gar kei ibles Gsüff.«

»Das passiert dir heut nu schon zum zweitenmal. Du kannst wahrhaftig Gott danken, daß wir auf der Welt sind.«

Er wandte sich an Claude:

» Wir wissen woll, was das Pack wert is, wir sind ja selbst dabeigewesen! Ihr Jungen, weil ihr nie was mit zu tun gehabt habt, geht ihr zu den Dokters, die die Bücher schreiben, und laßt euch dämliche Gefühlsduseleien in die Köppe setzen. Die sollen woll jammern, die Dokters, die haben ja selbst nix! Aber ihr jungen Kerls, die ihr's von euren Papas habt, wenn ihr deswegen die Kränke kriegen wollt, weil andere nicht so vorsichtig in der Wahl ihrer Eltern waren – – haha! Fein ausgedrückt, was? – na, das is doch 'ne infame Gefühlsduselei. Zu weich seid ihr, Kinder, laßt euch abknöpfen, was man will.«

Er tätschelte sein Mündel vor den Magen.

»Abknöpfen, was man will ...«

Und nach einer Pause:

»Ihr macht's nicht halb so lange wie wir. Na prost. Und immer 's Panier hoch!«

Claude trank nicht mehr. Panier und der Arbeiter hielten Schritt im Sekttrinken.

»So könnt'st du's ja alle Tage haben, du dummes Luder«, sagte der Alte. »Was verdienste denn? Drei Mark fünfzig, das is ja mehr als wir hatten, wie wir noch Holz luden. Warum sparst du nicht und legst 'nen Handel an. Aber an so was denkt das blöde Volk nicht. Säuft immer Bier und weiß nicht, daß es sich selber all den Sekt wegsäuft, den es später haben könnte.«

»Wohr is, wohr is, ganz recht ham's. Ah!!«

Der Proletarier trank.

»Zwölf Jahre lang«, schrie Panier, »haben wir uns den Zucker vom Kaffee gespart. Davon sind wir heute Millionär!«

»Ganz recht ham's. Ah!!«

Aber Panier gab ihm eine Ohrfeige, die der Arbeiter zu erwidern wünschte. Sie torkelten übereinander aufs Sofa, Panier trachtete schreiend seine Gichtknoten in Sicherheit zu bringen. Ein Herr im Gehrock stellte sich ein. Claude bezahlte, indes Panier die Rechnung anfocht und der Proletarier ihn unterstützte. Sie wurden durch die Hintertür entlassen.

Draußen in der Nacht glättete sich ihre Stimmung. Nellys Bruder verabschiedete sich.

»Dees hat Zug g'hobt. Donk Schee, donk schee. Pfuet enk Gott. Servus Nazi, Servus Schorschi. Aaf an andersmal wieder.«

An einem Hause lehnte eine Kaminkehrerleiter. Der Proletarier erstieg sie, malte mit der Drahtbürste schwankende schwarze Züge auf die Mauer, tastete sich wieder hinunter, taumelte von dannen und sang dabei:

»Da droben aaf der Heh
Steht d' boarisch' Armee,
Keenig Otto soll leben,
Prinz Alfons daneben –«

Hier ereilte ihn der Schluckauf.

Panier kam auf die soziale Frage zurück. Claude ließ ihn mit ihr allein des Weges ziehen.

In aller Frühe ward er geweckt. Kassierer Ringsum war da.

»Nun, Herr Ringsum?«

»Entschuldigen gütigst, Herr Marehn, wenn ich so zeitlich störe. Ich hab vorm Büro herkommen müssen.«

Er räusperte sich.

»Es war zwar ein schwerer Gang, Herr Marehn.«

»Warum denn.«

»Und lieb ist es mir nicht, daß ich den Angeber spielen muß. Aber, Herr Marehn, ich bin in Ehren grau geworden, und zum Mitschuldigen des Betreffenden will ich nicht werden, nein, das will ich nicht.«

Claude sagte gar nichts.

»Der Betreffende ist nämlich Ihr Herr Vormund, und es tut mir wirklich leid, Herr Marehn, daß Sie das erleben müssen.«

»Bitte, es macht nichts«, sagte Claude. »Aber was tut denn Panier.«

»Da ist erstens das Anwesen Friedrichstraße Nummer –«

Und Ringsum zog aus seinem Rockschoß einen Zettel. Er las aus den Notizen eine lange Geschichte heraus. Panier verkaufte unter dem Wert und ließ sich vom Käufer Provision zahlen. Die Käufer, ehrlich entrüstet über die Gaunerei des Vormunds, die ihnen zustatten kam, hielten nicht immer reinen Mund. Auch plauderten die Strohmänner des Alten.

Claude erinnerte sich, daß schon von Eisenmann so etwas behauptet habe. Übrigens hätte er es voraussehen müssen. Panier hatte ihm noch eben ins Gesicht gesagt, man knöpfe ihm ab, was man wolle. Und wirklich knöpfte er ihm Nelly ab und halbe Häuser. Es stimmte. Und es war nichts dagegen einzuwenden, weil offenbar jeder von ihnen, Panier wie Claude, in der ihm angeborenen Rolle war.

Die dumpfe Stimme des Kassierers leierte Zahlen her. Claude sah ihn sich zum erstenmal näher an. Ringsum stak in einem wollenen Anzug, ganz geschlossen und von vielen Regengüssen in dauerhafte Falten gelegt. Über seinen wollenen Hemdsärmeln engten leinene Röllchen seine braunen Handgelenke ein. Seine Glatze war braun, ein weißer Schnurrbart hing aus seinem langen, braunen Gesicht. Ringsum trat beim Gehen wacker auf, mit den Absätzen seiner breiten Stiefel, deren Schäfte die Hosen spannten.

Claude kannte Ringsum von jeher, und es hatte ihm immer als selbstverständlich gegolten, daß Kassierer so aussähen. Heute machte Ringsum ihn neugierig.

»Ja, ist recht. Und was wollen Sie nun damit?« fragte er.

Ringsums Mund blieb offen.

»Ich muß Ihnen sagen, meinem Vormund Krach zu machen, dazu bin ich nicht geneigt. In diesem Augenblick besonders nicht, denn er würde glauben, ich will mich rächen für – für etwas, was gerade zwischen uns vorgefallen ist. Und dann ist mir die Sache auch zu umständlich. Wenn nachher vor Gericht Ihre Zeugen nichts mehr wissen wollen, was dann. Dann bleib ich mit meinem Vormund hängen, und er schikaniert mich natürlich und gibt mir kein Geld mehr.«

Ringsum sagte dumpf und fassungslos:

»Aber es liegt Untreue vor, Herr Marehn. Untreue liegt vor.«

»Wie Sie's nennen wollen.«

»Die darf aber doch nicht vorliegen.«

»Wenn's doch so ist. Ich bin noch sechs Monate minderjährig. Ich habe keine Lust, sechs Monate krumm zu liegen.«

»In diesem Falle, Herr Marehn – ich kann es vor dem Andenken Ihres seligen Herrn Vaters nicht verantworten, daß sein Sohn bestohlen wird und ich soll zusehn –, in diesem Falle bitte ich um meine Entlassung.«

»Tun Sie mir den Gefallen, Ringsum, wenn Sie kündigen, merkt Panier am Ende, daß Sie was wissen. Machen Sie mir doch keine Ungelegenheiten, das schulden Sie wohl meinem Vater.«

»Herr Marehn, es wird mir schwer.«

»Das schulden Sie meinem seligen Vater, daß Sie ganz ruhig zusehn, wie Panier mir Häuser abknöpft ... Sagen Sie mal, und Sie, wieviel beziehen Sie eigentlich?«

»Dreitausend Mark, Herr Marehn.«

»Das ist wohl ziemlich wenig?«

»Wie man's nimmt. Unsereins ist gewohnt, zu rechnen.«

»Entschuldigen Sie –«

Claude dachte nach.

»Was haben Sie gestern zu Mittag gegessen?«

»Gestern? Spinat, Herr Marehn, und dann einen Pfannkuchen. Ich bin Vegetarier.«

»Sind Sie nicht verheiratet?«

»Ja. Wir sind alle Vegetarier.«

»Sagen Sie bitte, Herr Ringsum, Sie müssen manchmal viel Geld zwischen den Fingern haben.«

»Bei der Verwaltung eines Vermögens wie des Ihrigen, Herr Marehn ... Hunderttausende, oft genug.«

Claude lachte.

»Da wär's Ihnen doch leicht, durchzubrennen. Sind Sie darauf noch nie verfallen?«

Ringsum richtete sich streng auf.

»Das gehört nicht in meinen Gedankenkreis, Herr Marehn.«

Claude bemerkte sanft:

»Dann brauchten Sie nicht mehr vegetarisch zu essen.«

»Das tue ich aus Überzeugung.«

»Ach so. Ich will aber doch mit Panier sprechen, ob er Ihnen nicht lieber sechstausend geben will statt dreitausend. Das ist doch angenehmer für Sie.«

Der Kassier trat einen Schritt zurück, sein braunes Gesicht begann zu arbeiten, der Schnurrbart wankte. Endlich kam ihm die Stimme.

»Herr Marehn, wenn Sie wüßten, ich habe drei Töchter, jetzt kann ich sie vielleicht verheiraten.«

»Oder wenigstens eine«, sagte Claude und überließ seine Hand den haarigen Tatzen des Beglückten.

Er dachte, als Ringsum weg war: ›Ich kann mir nicht helfen, mehr achten als Panier kann ich den Biedermann auch nicht. Wenn es ihm ein einziges Mal aufginge, was er sich alles entgehen läßt – er ginge durch. Ihm geht es bloß nicht auf. Er dreht sich in seiner Mühle, wo Ehrlichkeit gemahlen wird. In der, wo Panier sich dreht, wird Gaunerei gemahlen. Aber drehen tun sich beide Esel.‹

Ringsum dachte draußen: ›Wenn der Herr Marehn nur nicht andern gegenüber solch dappig's G'schwatz macht, das könnte dem Ruf des Hauses schaden.‹

Einen Teil des Vormittags durchwanderte Claude seine zwanzig Gemächer und betrachtete, die Stirn in Falten, das Parkett. Das dreizehnte Dienstmädchen hatte es spiegelblank gewichst. Endlich entschloß er sich, ging zu dem Agenten, der die andern zwölf kommen ließ, und bestellte sie mit großen Kosten alle wieder ab. Darauf begab er sich zu seinem Freunde Spießl. Der Herbsttag verfing sich hier in Schleiern von Qualm.

»Na, du Jubeljüngling?« sagte Spießl.

Claude stutzte.

»Findest du?«

»Du treibst's schon arg. Hast ja schon wieder ein Weib.«

Ja, wahrhaftig, er hatte schon wieder eins gehabt. Kam denn das in Betracht? Tat er's etwa zu seinem Vergnügen? Also man hielt das für ein Jubeldasein, was er führte.

»Allerdings. Wegen der komm ich sogar. Aber vor allem möcht ich mich von meinem Vermögen unabhängig machen.«

»Du dich –«

Spießl maß ihn voll Mitleid.

»Hältst du das für so gewagt?«

»Du ohne Geld! Wenn wir auf Schulausflügen zwölf Pfennige aus den Taschen gruben für ein Bier, und du zogst zwanzig Mark. Was du wohl ohne deine zwanzig Mark gewesen wärst! Und heute, ohne dein Geld – a was, ich mein ganz gewiß, da müßt ein Haufen Kleider in sich zusammenfallen, und vom Claude Marehn war nichts mehr da.«

» So siehst du mich an?«

Claude war erschrocken, er dachte nach.

»Also du meinst nicht, ich könnte wie du mit hundertfünfzig Mark leben, arbeiten, ins Stehparterre gehn und alle verachten, die handeln.«

»Das hast du schon oft gewollt. Aber der reinen Idee bist du nicht gewachsen, armer Kerl. Du wirst niemals ein ganzer Nihilist sein, der an nichts hängt. Du hängst ja an der Frau. Du liebst, oder vielmehr, du jagst nach Liebe: ich hab dir deine Analyse doch schon mal geliefert, was? Also was willst du überhaupt noch.«

Claude biß sich die Lippen. Ja, er mußte Ersparnisse machen, sein Vermögen retten, denn Ute – er glaubte nicht, daß sie den Ruhm und den Reichtum je erreichen werde. Erreichte man denn die? Sie würde ihn brauchen.

»Du hast ganz recht, ich hatte im Augenblick vergessen ... Man hat so Stimmungen, wo einen das Handeln mehr anwidert als gewöhnlich. Wenn du wüßtest, was das heißt, Coupons abschneiden oder sie von seinem Vormund abschneiden lassen.«

»So, was heißt das?«

»Das ist eine Handlung, schwer, schwer von Verantwortungen. Du hast wohl noch nie an die Arbeiter in Quecksilberbergwerken gedacht?«

»Ach von der Seite. Kennen wir.«

Und Spießl, in jedem Gedankenkreise zu Hause, winkte ab.

»Dann komm nun also mit zu Nelly.«

»Was denn, Nelly. Welche Nelly.«

»Nun kriegst du's wieder mit der Angst. Nelly ist ja die Neue. Du mußt ihre Geschichte kennen, sie ist zu verwenden.«

»Soll ich denn jetzt schon am hellen Mittag bei deinen Weibern herumliegen?«

Claude besiegte Spießls Widerstand, der ohne Größe war.

Er ließ durch Nelly ein gutes Essen besorgen. Beim Chaudeau, als er Nellys kleineres Auge begehrlich über seines Freundes grobe Knochen hinfunkeln und ihn voll ehebrecherischen Dranges sah, nahm er Spießl beiseite.

»Du kannst sie haben und behalten, sie kostet fast gar nichts. Für den Anfang leih ich dir was, du gibst es mir wieder, wann du magst.«

»Erlaube mal.«

Spießl war gekränkt.

»Ich hab dich noch nie um etwas gebeten.«

»Ich bin es, der bittet. Ich möchte sie los sein aus gewissen Gründen. Dich liebt sie, das siehst du doch. Sie wird dich gar nichts kosten.«

Spießl, von freudigem Aufruhr gepackt, stotterte:

»Du, du willst doch nicht frotzeln? Du meinst wirklich, ich kann das Weib haben, das wundervolle Weib, für mich allein und ganz umsonst?«

Er traute seinem Glück noch lange nicht. Claude bat Nelly heimlich, es ihm recht greifbar zu machen. Dann empfahl er sich.

In der Residenzstraße sah er Utes Rücken. Er hatte sie seit zehn Tagen nicht gesehen.

›Sie weiß nicht, daß ich gleich bei ihr sein werde. Wenn sie mich liebte! Sie würde ahnen, ich sei nahe. So viele Menschen, so viele Häuser zwischen uns wären, die Mauern wären durchsichtig für den einen, hinter denen der andere weilte. Allein im fremden Gewühl, würden wir an unserer Schulter die des andern fühlen.‹

Er erreichte sie.

»Ach! Claude! Ich hab an dich gedacht.«

»Du, an mich!«

»Ja. Ich habe dich erwartet.«

Er überwand seinen Schrecken.

»Woher kommst du denn?«

»Vom Halsarzt.«

»Schon wieder pinseln? Du studierst zuviel, Ute.«

»Ah bah. Und warum hast du dich nicht sehen lassen?«

»Aber –«

Er stotterte.

»Du warst ja nervös, du wolltest allein sein.«

»Davon kriegt man auch genug ... Bevor ich für den ganzen Winter fortgehe –«

Sie zögerte.

»Hab ich dich noch zu sprechen ... Du wolltest ja dein Haus einweihen? Nun, dann tu's endlich. Ich verschiebe ja bloß darum meine Abreise.«

»Meinetwegen? Ute!«

»Nun ja, auch weil ich heiser bin, wie du hörst.«

»Und du mußt nicht reisen?«

Sie wandte den Kopf weg.

»Oh, dort kann ich mir alles erlauben.«

›Wo‹, dachte er. Sie hatte schon zweimal vermieden, es ihm zu sagen. Warum? Er war in Angst um die guten, freundschaftlichen Gedanken, die sie auf diesem Gange, eine ganze lange Straße hindurch, für ihn hegte, und er wollte nicht fragen.

»Ich hab etwas gezögert mit dem Fest, weil ich jetzt alle Kosten scheue. Ich muß mir endlich etwas ersparen.«

»Willst du vielleicht heiraten?«

»Du sagst das, als ob es dir unangenehm wäre? Ute, wie machst du mich heute glücklich ... Nein, auch für dich spare ich.«

Sie fuhr auf.

»Ist nicht mehr nötig.«

»Was – was denn?«

Ute nahm sich zusammen.

»Nun ja, ich bekomme künftig schon ganz gute Gage. Das erste Jahr 200, das zweite 220, das dritte 240. Dazu die 200, die du mir gibst, das genügt für Toiletten. Und was brauche ich weiter als Toiletten?«

»Aber ich bitte dich ewig, du kannst ja viel mehr kriegen.«

»Es ist schon zuviel.«

»Wie du stolz bist. Nein, wenn du ein ganz wenig Gefühl für mich hättest, wärest du nicht so stolz ... Übrigens hast du früher auch aus Freundschaft das Geld angenommen. Aus bloßer Freundschaft. Ist die auch aus?«

»Nein«, sagte sie sanft, leidend fast.

»Ute, was hast du? ... Ach, es ist immer nur, weil ich liebe und du nicht. Daher kommen alle Mißverständnisse. Zehn Tage habe ich geschmollt mit dir. Hab mich – ich kann es vor dir nicht verschweigen – sogar mit andern abgegeben.«

»Schon wieder.«

»Aber das galt ja auch nur dir«, sagte er und sah sie rasch an. Er erkannte es: Theodora, die Zank, Nelly, was waren sie anders als Flügelschläge seiner Sehnsucht nach Ute!

»Dann ist's recht«, erklärte sie leichthin. »Es ist meine Schuld«, murmelte Claude. »Ich bin nicht stark, auch meine Liebe ist nicht stark genug, um dich zu erobern. Würd ich sonst schmollen und mich bei unbeträchtlichen Genüssen aufhalten? Ich weiß gewiß – wäre ich ein richtiger starker Kerl, du würdest mich dennoch wollen, trotz deiner Kunst.«

»Dann schon gar nicht. Je mehr einer ein richtiger starker Kerl ist, desto schlimmer wird mir zumut.«

Sie schüttelte sich, den Blick starr auf dem Pflaster. Claude sah es nicht, er war noch bei seinem Gedanken.

»Du bist ja nicht bloß eine Frau, Ute. Du bist die ganze Erfüllung, ja die ganze Erfüllung der Sehnsucht nach dem schönen, starken Leben, die ich in mir habe, die – die in mir jagt. Du bist unerreichbar, ich weiß es«, flüsterte er.

Sie standen in Schwabing vor Utes Hause.

»Ich hol dich wieder ab, willst du?«

»Adieu.« Sie wandte sich in der Tür um. Er erkannte plötzlich, wie schmerzlich gespannt ihre Züge waren.

»Ich wollte, ich könnte erst anfangen, dir zurückzuzahlen«, sagte sie und ging hinein.

Er stand mit hängenden Armen und sah ihr nach. Er begann zu zittern und wußte nicht warum. Was bedeutete ihre seltsame Stimmung? Es geschah etwas, er fühlte es. Ute, die immer sein Herz in der Hand trug, drückte mit ihrer unachtsamen Hand wieder einmal stärker zu. Sie würde ihm wieder zu leiden geben. Noch mehr als in den zehn Tagen, wo er ihr ausgewichen war? Nein. Sie war heute so fremdartig sanft, geängstet, fast schamhaft gewesen. Sie machte eine Krise durch, die zu etwas Wunderbarem zu führen schien. Wie, wenn sie –

Claude blieb stehen, ihn schwindelte.

Wenn sie ihn liebte!

Er ging kopfschüttelnd weiter. Er kannte doch Ute – was schlimmer war, er kannte sein Schicksal, worin Utes Liebe nicht vorkam ... Aber er konnte sie erobert, endlich erobert haben, durch eine Übermacht von Zärtlichkeit, die sie endlich selbst in ihrem Rücken fühlte, wenn sie durch ein Menschengewühl ging, und Claude war hinter ihr ... Er beugte die Schultern; er glaubte an kein Erobern. Das Schicksal war fertig, wenn man die Augen aufschlug, man eroberte nichts, änderte nichts. Zärtlichkeiten und Empörungen flatterten am Schicksal hin wie weiße und schwarze Schmetterlinge über eine Statue aus Bronze.

Ihre Ohnmacht hinderte sie nicht am Wiederkommen. Claude dachte bis zum folgenden Abend tausendmal: ›Wenn sie mich liebte. Es wäre die Logik, die in Märchen herrscht. Aber – wenn sie mich liebte.‹

Die ersten Gäste, die ihm sein Haus einweihen wollten, waren Matthacker und Killich.

»Wieso?« sagte der Arzt. »Hier herrscht ja Tempelstille. Und ich hab einer russischen Gräfin so viel Morphium gegeben, daß sie mir ebensogut in die Binsen gehen kann. Dann ist das halbe Honorar hin. Und alles bloß, damit ich abkommen konnte zu Ihnen, Marehn.«

»Sie renommieren mit Zynismus, Doktor«, sagte Claude. »Sie müssen ein gütiger Mensch sein.«

»Ich will mal fragen«, meinte Matthacker und sah über seinen dicken, dunkelroten Wangen erstaunt und hilflos drein.

Killich holte seinen wildblonden Bart herab von der Schulter, auf die der Wind draußen ihn gelegt hatte.

»Nun also zu unserer Setzmaschine ...«

Und auf Claudes Einladung nach der Treppe, deren goldenes Gitter aufsprang, wenn man darauf losschritt:

»Bleiben wir doch da in der Halle, die ist schon langweilig genug, mit all dem Gold und Pfauenblau. Ich bin ja kein Paradiesvogel.«

»Das nicht. Also Ihre Maschine halten Sie für interessanter?«

»Sie haben doch schon sechstausend Mark dafür bezahlt. Und sie interessiert Sie noch immer nicht? Dann müssen Sie noch mehr Geld geben, junger Mann. Es wird schon kommen.«

»Und die Frettchen«, behauptete Matthacker, »dafür werden Sie noch Ihre Möbel verkaufen müssen, bis wir das Serum haben gegen den Schlangenbiß.«

»Für die Wissenschaft –«, erklärte Claude höflich, »da häng ich mich auf.«

»Na sehen Sie, das ist ein Anfang.«

»Den Stahl-Argon-Streifen, Argon hinzulegiert aus den Dämpfen des Mont Pelée – den haben wir jetzt hergestellt«, berichtete Killich. »Nun also Geld für die Maschine selbst.«

Matthacker sagte:

»Wir verhandeln jetzt mit Indien wegen der zu beißenden Verbrecher. Die könnten Sie – Sie haben hier so viel Platz –, die könnten Sie in Pension nehmen.«

»Das ist vielleicht billiger«, vermutete Claude.

Aber der junge Ende hastete herein mit einem Schwarm von Damen. Die Schransky vom Gärtnertheater, funkelnd in paillettes d'argent, wogend von Hermelin und bereit, ihn sich gnädig von den Schultern heben zu lassen, kam auf Killich los. Er steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Du wagst dich blicken zu lassen, wo ich bin?«

Sie verzog das Gesicht zum Weinen, dann besann sie sich und ging zu Claude. Er nahm ihren Umhang. Er hatte Mitleid, weil sie solche Pferdezähne hatte.

»Ihr scheint was miteinander gehabt zu haben?«

Sie sah, daß er ihre Schultern bewunderte. Sie seufzte.

»Ach, das war anders, als ich dich hatte.«

Er betrachtete ihre angstvoll glänzenden Augen. Nie hatten sie so geglänzt, als sie auf von Eisenmanns Befehl mit ihm, Claude, Automobil fahren mußte. Den Killich liebte sie, er hatte sie satt, sie lief ihm nach. Natürlich, wenn Claude sie wiederhaben wollte, sie würde kommen und in dies neue Haus einziehen. Aber würden ihre Augen jemals glänzen, dann wußte er, warum. ›Und ich warte auf Ute und darauf, daß sie mich liebt!‹

Er ging erregt zwischen den Leuten umher. Es waren Paare. Theodora stellte ihm ihren Verlobten vor, der breite Schultern und X-Beine hatte.

»Anfangs hat er ein Atelier bei einem Bäcker gehabt und hat Brot austragen und mit den Gesellen schlafen gemußt, weil er nicht zahlen konnte. Aber jetzt zeichnet er schon für die Jugend.«

Wie sie sich bescheiden gekleidet hatte, und wie sie glücklich aussehen wollte! Claude schnürte es die Kehle zusammen. ›Sie würde es nicht nur wollen, sie würde wirklich glücklich sein, hätte ich sie nicht versäumt.‹ ... In diesem Augenblick war es ihm gewiß.

Eine Menge Klubfreunde kamen, auch die jungen Maler seiner Mutter samt ihren Kameradinnen – ein Haufe von Fremden. Claude sah jeden fragend an wie eine schlimme Vorbedeutung.

Spießl erschien mit Nelly.

»Bist du denn glücklich?« fragte Claude.

»Übermenschlich. Ich pfeife auf Messalina.«

»Das ist recht.«

»Aber wo ist sie denn?«

Und Spießl verschwand hinter Nelly im Gedränge.

Die Vorstellungen, Empfänge und das Herumführen besorgte der junge Ende, ganz ausgestreckte Hand, strahlend vor Menschenliebe und Freude am Guten, Wahren, Schönen, für das er die Honneurs machte.

»Herr Dichter Dr. Pömmerl, mein lieber, treuer Mitarbeiter bei der Schöpfung dieser hübschen Räume.«

Pömmerl gab Claude einen glücklichen Händedruck.

»Ich laß meine Frau zurückkommen«, flüsterte er.

Claude zuckt zusammen. Ein Genosse weniger.

Pömmerl erstieg mit Claude und den Damen den ersten Stock, ging über die Galerie, die offen an der Halle hinlief, und durch hohe grünlackierte Türen, in Zimmer, die die Damen musterhaft stilisiert und aus einem Guß fanden wie auf Ausstellungen. Für Claude aber fieberte jedes vor Ungeduld nach Ute. Pömmerl sagte zu ihm in seiner freundschaftlichen Schmeichlerart, die dem Hörer nicht zum Bewußtsein kam, so daß er sich später wunderte, warum Pömmerl ihm so sympathisch sei:

»Hier läßt sich leben. Ich fühle sehr wohl, das alles ist aus einer einzigen Erregung hervorgegangen, ist ein Ausbruch –« Er sah diskret an Claude vorbei.

»– Der Ausbruch einer schmerzvollen Sehnsucht ... Hier will ich den Abend verbringen, als säße ich zu Hause an meinem Kamin und läse ein bebendes Gedicht«, schloß Pömmerl stimmungsvoll.

»Das ist lieb von Ihnen«, sagte Claude.

Wie Pömmerl wieder gut duftete! Bei Claudes letztem Besuch in der ausgeleerten Wohnung war er fast gar nicht mehr parfümiert gewesen. Wohlgeruch und Lebensmut, bei Pömmerl war alles mit dem bißchen Geld eingezogen, das Panier ihm bewilligt hatte.

Sie lehnten über der Brüstung und blickten in das Gewimmel der Halle. Aber auf der Treppe hörte man den jungen Ende mit einem Schub von Gästen. Köhmbolds Organ fiel ihm schleppend ins Wort.

»Was hat ihn das gekostet? ... So? ... Na, mit der Schönheit fällt man immer hinein.«

Der junge Ende führte die Leute durch die Salons, machte sie aufmerksam auf die Sitze, deren Lehnen launisch und nicht zu benutzen oder aber ausdrücklich für die gekrümmten Rücken sehr müder Menschen berechnet waren; auf die Uhren wie Spinnen, mit langen Stelzen und kleinem rundem Rumpf; auf die Beleuchtungskörper in Gestalt von Tulpen, Lilien, Engelsflügeln und Frauenhänden, aus deren gerundeten Fingern das Licht brach.

Die jungen Maler und ihre Kolleginnen, formlos ausgeschnittene Mädchen auf großen Schuhen und von einer durch Arbeit entstellten Haltung, bewegten sich geschäftig wie auf Ausstellungen, hoben breite Daumen im Abstande vors Gesicht, lugten darum herum und entschieden zuversichtlich:

»Das ist flächig hingesetzt.«

»Das steht kolossal fein im Raum.«

Ein Herr mit grauem gewelltem Scheitel und Spitzbart, untersetzt, elegant und gewöhnlich, mit der Zigarre im Mundwinkel und ein Auge eingekniffen gegen den Rauch, lachte bei jeder Gebärde der Künstler, bis sein Gesicht, völlig ausgeweitet, wie ein Gefilde der Seligen aussah. Plötzlich schlug er sich, unter verwildertem Gelächter, auf beide Schenkel. Es wandelte über die Galerie ein auffallendes Paar. Der Mann näherte sich dem weiblichen Typus, die Frau dem männlichen. Er trug eine braune Jacke ohne Revers, aber überall eingefaßt in dicke braune Litzen, und durchflossen von einer Krawatte wie aus lauter Apfelblüten. Sein Beinkleid war weit wie ein Rock. Er hatte halblange, weichbraune Haare, das Gesicht eines Nagetiers, ganz als Kurve angelegt, schlaufromm, mit Brille; und er war hochschultrig. Sie, im Gegenteil sehr gerade, ließ aus ihrer platten Frisur an den Schläfen ein Stück Kamm hervorwachsen wie ein Diadem. Sie war in einem Frackjacket aus schwarzem Tuch und hatte ein korrektes Gesicht.

Diese zwei achteten nicht des jungen Ende und seines herzgewinnenden Vortrages, sie übersahen die selbstbewußten Gesten der Künstler. Mit einem hochgebildeten Lächeln, still, unzugänglich für die Gaffer, die sie anstaunten, betrachteten sie die schönen Dinge ringsumher, verständigten einander schweigend und entzückt über einen porzellanenen Bastard, erzeugt von Japan und Dänemark, über eine Etagere, so wirr gebaut, daß man die geheimsten Schriftstücke offen hätte darauflegen dürfen, und niemand hätte sie gefunden.

Der junge Ende und die Seinigen betraten Claudes Frühstückszimmer.

»Hier, meine Herrschaften«, sagte der junge Ende, »bitte ich Sie, die Harmonie in Lichtgrün und Lila zu bewundern. Das Gemach soll beim Erwachen des Schläfers jeden Tag wie eine Frühlingslandschaft mit Flieder wirken. Das war die Absicht«, setzte er hinzu mit bescheidener Verbeugung.

»Wie wunderbar poetisch«, sagte eine Dame und wackelte vor Innigkeit mit dem Kopf.

»Jeden Morgen im Frühling Kaffee zu trinken.«

»Wenn er nur nicht mal im Dalles Kaffee trinkt«, meinte der Herr mit der Zigarre, halb erstickt, und schlug sich auf die Schenkel. »Das ist doch a ganz a albern hinausg'hautes Geld.«

Und er schüttelte sich.

»Is dees a Hetz.«

Claude fragte jemand, wer der Mann sei. Man kannte ihn nicht. Spießl drängte sich vorbei.

»Hast du Nelly nicht gesehn?«

Ja, Claude hatte sie gesehn, aber er verriet sie nicht, denn sie hatte sich im Zimmer aus Purpur, Violett und Weiß von Killich die Brust küssen lassen und neugierig zugesehn.

»Hast du sie verloren?«

Spießl war schon fort.

»Wer ist der lustige Herr?«

Graf Kreuth, dessen langes Gerippe, abwesend über die Welt hingeisternd, eben herbeiwankte, wußte es.

»Ich hab ihn mitgebracht, wenn Sie erlauben. Er heißt Ehglücksfurtner, er hat mir mehrfach Geld geliehen. Jetzt hat er genug und macht keine Geschäfte mehr.«

»Ach, darum ist er so lustig.«

»Drum hab ich gedacht, jetzt ist er fast anständig genug, daß ich ihn mitbringen kann.«

»Das Arbeitszimmer«, rief der Tenor des jungen Ende, »ist gelb und rot wegen der lebenbejahenden Gedanken, die diese Farben auslösen.«

»Wann ma an an Gläubiger schreibt um Stundung«, schrie Ehglücksfurtner und kollerte vor Vergnügen gegen die Wand. Hier erwischte er eine Malerin und zwickte ihren rötlichen Arm zwischen zwei kurze, runde Finger.

Es war deutlich: Ehglücksfurtner, der die längste Zeit nur Geld verdient hatte, betrachtete sich jetzt als einer, der Eintritt bezahlte in die Welt, wo man es nicht mehr verdiente, sondern ausgab; und er kam, um darüber zu lachen. Die Kunst, die Geld kostete und wenig einbrachte, die Frauen, die keinem Manne im Geschäft beistanden, diese jungen Leute, die noch nie einen Pfennig aus eigener Arbeit gewonnen hatten – Ehglücksfurtner sah das alles als gute Witze an, eigens für ihn erfunden, weil er jetzt so volle Taschen hatte, daß er wohl lachen durfte. Claude kam ihm neugierig näher. Kaum traf Ehglücksfurtner, der gerade in seiner Hose ein Geräusch von Goldstücken verursachte, mit dem Blick in Claudes Gesicht, platzte er aus wie in einer Posse. In der Nähe sagte Köhmbold mit leidender Sehnsucht:

»Die Spiegel! Die Spiegel, die wie Fauteuils aussehen, deren hohe Lehne aus Glas wäre. Die Spiegel, die eine nackte Frau auf den Schultern trägt. Die Spiegel, die ein Ecksofa im Winkel unterbrechen. Die Spiegel wie ausgebrochene Kutschenschläge. Die Spiegel wie die oft geteilten Fenster in den Giebelhäusern kleiner Städte. Sie wissen doch, im Spiegel sind alle Dinge ferner und seltsamer, wie in Ahnungen, unter Wasser sozusagen, versunken, verzaubert usw.« –

Das auffallende Paar tauchte wieder auf, hielt sich an den Händen und lächelte einsam über das Meer von Schönheit hin, auf dem es trieb.

Claude blickte nochmals auf Ehglücksfurtner und dachte:

›Hat er recht?‹

Aber im Gemach aus Schwarz und Orange, wo man nach der Behauptung des ganz der Moderne gewonnenen jungen Ende betrachten, sich prüfen und unter Umständen sogar Andacht halten sollte, dort zeigte sich unversehens Bella, die Freundin Utes. Claude fuhr auf, sein Herz tat einen Sprung. Er schob sich unauffällig bis an den Eingang des Zimmers. Nein, Ute war nicht gekommen, nur der alte Panier schnaufte hinter Bella.

»Fräulein Bella«, sagte Panier, »Ihr Kleid ist nicht von schlechten Eltern, das kann einen ganz verrückt machen.«

»Soll es auch«, erwiderte Bella sanft und geheimnisvoll, den Kopf leicht geneigt auf ihre taubenhafte Schulter.

»Das merkt man.«

Und Panier streckte die Hand mit dem Gichtknoten nach Bellas behaglichem Fleisch aus.

Sie riet ihm besorgt:

»O Gott, das dürfen Sie nicht.«

»Meinen Sie, daß es uns schaden kann?«

»Ich weiß doch nicht.«

In diesem Augenblick stellte sich in entsetztem Abstande Köhmbold vor sie hin und rang die Hände.

»Wie können Sie mit dem Kleid in dem Zimmer sein!«

Bella war in einer schreiend bunten Toilette für teure Kokotten. Eine Stickerei von Äpfeln und Blättern war aufgelegt auf violettrosa Grund.

»Hier ist es orange und schwarz!« stieß Köhmbold hervor, schwach vor Grauen. Bella sah geschlagen aus, aber Panier erklärte kräftig:

» Wir verknusen noch ganz andere Dinge, alter Freund. So was muß man können. Überhaupt, wissen Sie, aufs Können kommt es an in der Welt.«

Und er zwinkerte erst Köhmbold zu, der rasch verschwand, und dann Bella, der eine süße Pfirsichröte bis unter die Spitzen am Corsage floß.

»Also uns, Karl Panier, kann es nicht schaden«, wiederholte der Alte.

»Was eigentlich? ... Papa hat gesagt, Sie schicken ihm aus Düren jetzt viel mehr Kohlen, als er in der Fabrik gebrauchen kann. Wem wollen Sie eigentlich einheizen, Herr Panier?«

»Ihnen, Fräulein Bella. Nee, was für 'n Witz! Ihnen!«

Bella erschrak:

»Oh, Herr Panier.«

»Über uns werden Sie sich noch freuen, Bella. Das Heizen verstehn wir wie keiner. Soll'n zufrieden sein, Bellachen. Na?«

Er warf plötzlich seinen Arm um die weichen, schaukelnden Gewebe und fand sie gepolstert von Bellas Reizen.

»Es kommt drauf an, wo«, meinte sie vertraulich und machte sich los.

»Wo?«

Er riß die Augen auf. Das Mädchen!

»Wo Sie mit uns zufrieden sein sollen? Na, das – na, das

»Ich will es Ihnen sagen«, flüsterte Bella. Und zurückweichend, mit einer listigen und sanften Verbeugung:

»Am Standesamt.«

Damit entwischte sie, viel zu behende für den Greis. Claude verfolgte sie:

»Fräulein Bella, Fräulein Bella!«

Auf der Galerie blieb sie stehen, den Atem leicht beschleunigt.

»O Gott, da sind Sie ja, Herr Claude.«

»Sie sind hübsch ... Haben Sie denn Ute nicht mitgebracht?«

»Danke schön ... Ja, denken Sie, ich komme doch gerad von ihr. Aber es war gar nichts mit ihr anzufangen. Auf ihrem neuen Hut hat sie herumgetrampelt – schrecklich! Wissen Sie, der aus gewundenem Illusionstüll, wo Hermelinschwänze draufsitzen und 'n ganz paar Rosen.«

»Was hat sie? Ist sie krank? Will sie nicht kommen?«

»Dann mal will sie kommen und dann mal wieder nicht. Zwei Wagen hat sie schon wieder weggeschickt. Das ganze Zimmer liegt voll von guten Kleidern, die sie an- und wieder ausgezogen hat, und sie sitzt und schimpft in gräßlichen Bühnenausdrücken.«

»Was sagt sie, daß sie hat?«

»Sie sagt Zahnschmerzen. Ich glaub es aber nicht, obwohl sie so rot im Gesicht ist. Vielleicht ist irgendwas entzündet ... Einmal hat sie sich im Unterrock vor den Totenkopf Nathanael hingepflanzt und hat ganz erschütternd deklamiert: ›Auch das muß durchgemacht werden‹ oder so ähnlich.«

Claude rang die Hände. Sie liebte ihn! Es war schrecklich, wie sie daran litt. Er war bereit zum Verzicht; er wollte viel lieber nicht geliebt sein und daß Ute nicht mehr leide.

Bella sah ihn geängstet; sie murmelte:

»Es ist gewiß nicht schlimm. Gewiß ist es bloß das Gewöhnliche.«

Claude stutzte, er zögerte zu begreifen. Ach so. Und er war heruntergerissen aus seinen schmerzvoll beglückten Einbildungen.

»Ihr gewöhnliches Unwohlsein?« fragte er.

»Das heißt –«

Und Bella führte erschreckt die Hand an den Mund.

»Das würde sie Ihnen doch sagen«, meinte er. »Und das kann sie doch nicht so aufregen.«

»Oh, davon sagt die gar nichts ... Und wer weiß, es ist wohl wieder mal nicht in Ordnung.«

Claude wandte sich ab. Bella säuselte auf Wiedersehn und verschwand. Panier hatte sie entdeckt; er kam mit einem violetten Kopf an Claude vorbei und rief ihm zu:

»Du, das is 'n Weib, ganz toll. Da is dein Idea–al nichts gegen. Die versteht es, die kriegt einen klein. Aber in uns soll sie sich doch verrechnet haben.«

Claude blieb allein, er tastete fiebernd auf der Brüstung der Galerie umher. Im Zimmer hinter ihm stand das Büfett. Er hörte ein knisterndes, scharrendes Geräusch von geschobenen Menschen, gedrückten seidenen Röcken, ein Summen, Lachen, Klappern, Klirren und Schwatzen. Ihm gegenüber ragte der Balkon in die Halle hinein. Ein paar Streichinstrumente setzten sich darauf, stimmten, brachen in das nervöse Schluchzen eines Walzers aus. Claude sah Ute vor sich, wie sie schluchzte – schluchzte und ihn liebte, und es nicht wollte.

›Soll ich hin zu ihr? Wie kann ich mich hinausschleichen? Und wenn ich anlange, ist sie vielleicht hier? ... Ach, sie kommt nicht, ich weiß es. So ist es bestimmt, damit es recht herbe sei. Sie muß einen Abend gehabt haben, wo sie auf mich gewartet hat, wo sie mich nur zu ihren Füßen wollte, um für immer die Arme um meinen Hals zu legen – und ich werde ihn versäumt haben, den Abend! Morgen hat sie's überwunden ... Es ist besser, sie überwindet.‹

Er empörte sich.

»Nein!«

Und er schüttelte die Schultern, ganz allein, weit fort von allem um ihn her.

Eine tiefe klangvolle Frauenstimme sagte:

»Ihnen geht's gut. Reden Sie am End gar mit sich selber?«

Claude fuhr herum. Theodora lächelte, an der Seite des Grafen Kreuth. Ah! die war gerächt. Sie ging weiter mit ihrem gleitenden, lockenden Schritt. Einen Augenblick später kam Kreuth zurück.

»Sie hat Sie wohl weggeschickt?«

Natürlich, sie hatte sich ihm bloß mit einem Grafen zeigen wollen. Wie solch Weib klein war.

»Mensch«, sagte Kreuth, »konnten Sie mich nicht avertieren, als Sie das Mädel hergaben? Das wäre wohl Freundespflicht gewesen. Statt dessen haben Sie sie dem traurigen Köhmbold angehängt, der nicht mal Gebrauch davon machen kann.«

»Hätten Sie ein Wort gesagt.«

»Für das Weib hätte ich mich trainiert«, erklärte Kreuth hohl und knarrend wie aus altem Gemäuer hervor.

»Was hätten Sie?«

Und Claude betrachtete das beängstigend hohe, schmale Gesicht, das etwas Rot dem eines Lebendigen ähnlich machte. Kreuth berührte mit langem, spitzem Finger seine gepuderte Nase und umfaßte behutsam das Bärtchen, das blaß wie ein Tautröpfchen von seiner hölzern vorstehenden Unterlippe hing.

»Trainiert hätte ich mich für sie ... Oh, mein Lieber, ich kann alles vertragen, den schwersten Wein und das tollste Weib – nur hygienisch leben muß ich.«

»Wie machen Sie das unter den Umständen.«

»Wenn man sich vier Wochen lang trainiert, kann man alles leisten. Durch geeignete Hygiene ermögliche ich die ärgsten Ausschweifungen. Sie sollten es auch mal versuchen.«

»Danke ... Aber Theodora verheiratet sich.«

»Verhei– dann leihen Sie mir bitte fünfhundert Mark. Aber ich muß sie gleich haben.«

»Sie wollen zum jungen Haushalt beitragen? Ja, man meint unwillkürlich, das geht. Aber ich hab jetzt doch den Eindruck, daß Theodora Schluß macht.«

»Marehn«, sagte Kreuth todernst. »Ich liebe dies Weib.«

»Kann man das noch, wenn man soviel Hygiene treiben muß? Und dann bin ich mit dem Gelde knapp in diesem Moment.«

Kreuth erbebte. Claude merkte erst jetzt, daß er vom Büfett kam und daß er sich schlecht dafür trainiert haben mußte; denn er war halb betrunken. Kreuth schluchzte auf. Er deutete nach dem Orchester hinüber und sagte:

»Ich bin so reich an Empfindung, daß ich damit zwölf schmelzende Melodiker ernähren könnte und ebenso viele Liebhaber, die von ihren Mädchen als Born aller menschlichen Zärtlichkeit angebetet und benutzt werden. Aber niemand weiß es, und ich kann keinem davon Kunde geben.«

Claude senkte den Kopf.

»Ich will schaun, was sich tun läßt«, erklärte er leise und schlich sich fort aus der unheimlichen Nähe eines Ansteckenden.

Spießl lief die Leute um und fragte Claude:

»Wo ist sie denn, wo ist denn –?«

Und er war weg.

Das auffallende Paar wandelte durch einsame Schönheit.

In das Bibliothekszimmer trat eben Ehglücksfurtner, sah Pömmerl auf einem altgoldnen Polster lagern und sich, das Kinn in der Hand, der Hypnose durch die linearen Verschlingungen an der Wand aussetzen – und Ehglücksfurtner schlug, die Wangen gebläht, auf seine beiden Schenkel, daß Pömmerl auffuhr.

Claude holte Gisela Gigereit vom Büfett fort.

»Haben denn Sie schon das Gemälde vom jungen Ende gesehn?«

Und Ute! Ute schluchzte – vielleicht schon nicht mehr? Es war wohl schon alles vorbei? »Was tue ich, was sage ich!«

»Nein«, sagte Gisela gemächlich.

»Gehen wir also.«

Der junge Ende führte die Leute zu allerletzt in den Raum, wo Flos paludis, in Klammern Sumpfblume, hing. Darauf verstummte er plötzlich und wartete. Gerade stand Matthacker davor; er sagte aber nichts. Der junge Ende räusperte sich.

»Ach so«, sagte Matthacker. »Das haben Sie gemacht. Das gefällt mir.«

»Ihre Anerkennung ist mir besonders wertvoll, Herr Doktor. Vielleicht kaufen Sie mir auch so etwas ab?«

»Nein, aber Ihren Leichnam kauf ich Ihnen ab«, erwiderte Matthacker.

»Wissen Sie«, sagte er zu Claude, »es ist ein Fehler, da Bilder hereinzuhängen, wenn sie noch so schön und sogar von Ihrem Schwiegervater sind. Die stören bloß.«

»Finden Sie?«

Claude begriff nichts von dem, was gesprochen ward.

»Man darf jetzt nur noch Bilder hinhängen, die nicht in Frage kommen, die einer gewissen Farbe wegen gemalt wurden, weil man die an dem Punkt der Tapete gerade brauchte. Aber der Farbenfleck wirkt im Unterbewußtsein, über das Bild sieht man hin.«

Jemand im Kreise bemerkte:

»Dann gibt's halt keine berühmten Maler mehr.«

Killich arbeitete sich durch und rief:

»Und das haben sich die Esel selber eingebrockt! Wer erfindet denn diese modernen Zimmer, wo für Bilder keine Verwendung mehr ist? Sechs oder sieben werden reich damit, die andern dürfen einpacken. Oder sie holen sich ihre Inspiration nicht mehr von einer Landschaft, bei einer Frau oder aus einem Traum, sondern von der Tapete, wo das Bild hängen soll. Da ist's eben aus.«

»Aus is!« schrie Ehglücksfurtner und pruschte los. Claude erwachte davon. Ein junger schwarzer Maler erwiderte etwas. »Was reden die alle?« Claude erinnerte sich, daß er Gisela neben sich habe; er wiederholte:

»Also gehen wir.«

Gisela wünschte, die Küche zu sehen. Claude führte sie in den zweiten Stock. Niemand war droben. Der Herd war kalt und blank, die Sammlung kupferner Pfannen und Töpfe wohl aufgereiht, in der Luft lag Geruch von Lack, Ölfarbe, frischer Tischlerarbeit. Claude ließ Gisela bewundern und hatte seine Ruhe. Dann erinnerte er sich:

»Du, der Kreuth möchte durchaus die Theodora.«

Sie wandte sich gelassen um.

»Da wird nichts draus, weißt.«

»Fünfhundert«, sagte Claude.

»Die leihst du ihm, dummer Kerl? Aber die Theodora wird jetzt anständig, da muß ich schon bitten. Es war immer mein Traum. Ich selber war ja auch die längste Zeit anständig, weißt.«

»Ich weiß«, sagte Claude tröstend. Gisela seufzte.

»Es gibt halt Umstände. Aber daß 's mit der Theodora noch so kommen würde –«

»So schlimm?«

»Nein, so anständig – nie hätt ich das gedacht.«

Claude sah weg.

»Ich auch nicht.«

Plötzlich nahm er Giselas Hand.

»Aber das dürfen wir nicht sagen, hörst! Das könnt ihr ja schaden.«

»Ach ja. Und sie verdient, so glücklich zu werden.«

»Das ist sicher. Ich hab dir wohl noch nicht mal gratuliert?«

Sie fragte nach Claudes Schlafzimmer; es lag im selben Stockwerk. Es war satt graublau, mit silbergrauen Polstern. Der silbergrau lackierte Kleiderschrank ging von einem Winkel aus und setzte seine mit Spiegeln bedeckte Flucht, die allmählich niedriger ward, über zwei Wände fort. Gisela untersuchte lange das Toilettezimmer.

»Alles, was eine Frau nötig hat. Nein, aber auch alles«, sagte sie voll Anerkennung. Und dann seufzend:

»Die fünfhundert könnten wir brauchen, das ist gewiß.«

»Noch immer abgebrannt?«

Ja. Der Sommer hatte es auch nicht hereingebracht, trotz Badereisen. Sie hatten einen Grafen getroffen, einen ungarischen. Aber nachher war's bloß ein Apotheker, hatte nichts und hatte sie geprellt.

»Also der Graf Kreuth möcht die Theodora?«

Claude war gerührt. Er nahm Giselas schönen vollen Arm und strich mit den Lippen darüber.

»Gelt? Der Graf tat dich doch freuen.«

Sie entrüstete sich behaglich.

»Was glaubst denn. Mit der Theodora is fertig.«

»Aber mit dir ... Wart nur, ich glaub sicher, daß es ihm schließlich alles eins sein wird. Und für alle Fälle geb ich ihm die fünfhundert.«

»Du bist schon ein lieber Kerl.«

Er beugte sich über ihr Haar, das beiläufig von Utes Rot war, eine fremde Seele war darin, kraftlos, willenlos und ohne Utes violette Lichter. Er legte sein Gesicht darauf, hielt die Augen offen, lauschte: Nun kam sie, nun kam sie. Aber er zog enttäuscht den Kopf zurück; es roch ganz anders.

Da fuhr er auf. Von unten kam ihre Stimme!

»Geh, geh, ich erwarte wen«, rief er Gisela zu.

Und er stürzte auf die Galerie, an die Brüstung. Unten sagte Ute:

»Sie haben mich in Ruh zu lassen, verstehen Sie. Ich schulde Ihnen nichts mehr.«

Claude konnte nur ihren Haarknoten sehen, der im ersten Stock über das Geländer vorstand. Er sah weder sie noch Panier, der sie fragte:

»Nanu, Fräulein Ute, Ihnen ist wohl was in 'n falschen Hals gekommen? Neulich waren Sie doch noch ganz gut mit uns.«

»Oh, die Folgen kommen nach.«

»Folgen? Woher Folgen? Nee, Utechen, das machen Sie uns nich weis. Erst mal geht das nicht so rasch. Und denn sind wir überhaupt nicht so.«

»Ich verstehe Sie nicht. Lassen Sie mich.«

»Und wozu flunkern. Wenn Sie noch was nötig haben, brauchen Sie es bloß zu sagen. Für die Damen sind wir immer zu haben. Immer höflich mit den Damen.«

»Lassen Sie, la–«

Claude war in zwei Sätzen die Treppe hinunter. Ute stand, rasch atmend, in einem Haufen junger Frauen. Panier unterhielt sich unbefangen mit einem Herrn.

Sobald sie Claude bemerkte, schlug sie den Weg ein zu ihm.

Er blieb am Fuß der Treppe stehen, er sah ihr atemlos entgegen. Hatte Bella nicht gesagt, sie sei rot, wie entzündet? Nein, sie war von tiefer Blässe, wie mit Reif bedeckt, bis in den langen, schmalen Ausschnitt ihres Kleides hinein. Es war schwarz. Gestickter schwarzer Chiffon besäte das schwarzseidene Unterkleid mit Medaillons. Claude fühlte sich blaß werden gleich ihr. Er zitterte vor ihren hängenden Armen; in ihrem Ärmel, am Handgelenk bauschig, trug sie ein Verhängnis mühsam herbei. Ihr Kleid, unten ganz weit und eine Handbreit am Boden zerdrückt, hob sich bei jedem ihrer Schritte aus seinen schwarzschillernden Falten. Ein schwarzer, tragischer Vogel stieg daraus auf, schwankte schwer auf Claude zu und wollte sein Herz fressen.

Er ließ sie vorangehen.

»Wo?« fragte sie, qualvoll umherspähend.

Er wies auf die Tür seines Schlafzimmers.

Ute ging, ohne sich umzusehen, auf den Tisch los, der nichts trug, als ihre Photographie. Sie lehnte sich dagegen, die Schenkel bis hinunter zum Knie knapp eingespannt und mit vorgebeugter Büste. Claude wartete an der Tür. Um sie beide war weites Schweigen; die Geräusche des ersten Stockwerks waren ihnen tief in die Erde versunken. Sie sahen sich in die Augen. Ute öffnete die Lippen. Eine letzte, rettungsferne Angst brach über Claudes Herz herein.

»Ich bin nämlich nach Düren engagiert.«

»Seit – wann?« fragte jemand, dem Claude betäubt zuhörte.

»Seit – ich neulich wiedergekommen bin. Zwei Tage darauf.«

»Als du wiederkamst – mit Panier?«

Sie hielt fest an seinem Blick, sie nickte heftig.

»Ja.«

Er stürzte vor. Ute streckte die Arme aus.

»Was willst du!«

»Oh, nichts.«

Und er schüttelte, die Lider eingedrückt, langsam und stark den Kopf, als zöge er sein Gehirn mit Gewalt aus einem Krampf, zwänge es aufzuwachen. Er sah an sich nieder, über Utes Gestalt hin. Er im Frack, sie so schön, und sie beide in seinem Schlafzimmer, dessen Polster um Utes Formen baten, dessen Teppiche und Wandbezüge nach dem metallischen Rot ihres Haares riefen: – es galt nur zuzufassen, sie verlangte nach ihm, es war ihre Hochzeitsnacht, sie war gekommen, sie liebte ihn.

Nein. Sie war gekommen, um ihm zu sagen, er habe sie verloren, auf schändliche Weise verloren.

Er nahm sein Gesicht in beide Hände.

»Warum? Ute! Warum?«

Sie überstürzte auf einmal ihre Worte.

»Wenn ich dir das genau sagen könnte. Ich verstehe es nicht mehr ganz. Ich hatte kein Engagement. Der Direktor aus Merseburg, der mich auf der Sommerbühne ansehen sollte, ist nicht gekommen. Ich vermute, Archibald hat intrigiert, weil ich ihn damals hab abfallen lassen. Der andere versprach mir das Engagement nach Düren, wo er so mächtig ist – wenn ich wollte. Natürlich hab ich gelacht. Warum hab ich nicht immer gelacht? Wohl weil's mein Stolz war, kein Bürger zu sein, keine Moral zu haben. Wozu die ehemaligen Dienstmädchen Automobil fahren lassen und aus Sittlichkeit ihren Staub schlucken. Nicht wahr? Wozu den ausgehaltenen Mädchen die großen Bühnen überlassen und selber jahrelang auf Schmieren herumtreiben, in der Hoffnung, daß einmal etwas für die wahre Kunst geschieht – wenn man alt wird. Nicht wahr?!«

»Aber deine Selbstachtung! Ute! Der Ekel vor diesem Menschen!«

»Ach, das kam alles weit hinterher. Ich hab mir immer behauptet, das, was ihr von uns wollt, sei nicht so wichtig, wie ihr meint. Die Kunst, meine durch Kunst erarbeitete Persönlichkeit und ihr Sieg, ihr Rausch, ihr Ruhm – die Kunst rechtfertigt alles, überwiegt alles andere ... Ich hab mich zehnmal entschlossen, wenn der Mensch nicht da war, und konnte es nicht, wenn er kam. Schließlich in der Bahn, auf der Herreise – ich hab noch einmal mein Äußerstes versucht, um das Engagement von ihm zu erreichen, ohne ihm was dafür zu geben. Hab ich gespielt! Aber dieser ist kein Archibald, bei diesem zog das nicht, dieser ließ sich nicht abbringen vom Reellen. Oh, Claude, Claude, der Kampf, der Abscheu und das Geschlagensein! Und als ich's war – ich weiß nicht einmal, wie und woher. Ich hatte mich doch nicht ergeben wollen!«

Claude murmelte:

»Er muß dir was eingegeben haben?«

Sie stammelte:

»Ja, ja ... Bonbons ...«

Sie starrte mit weiten, trockenen Augen in einen Winkel. Was sah sie dort? ›Die Kissen eines Eisenbahnwagens‹, dachte Claude. Auch er sah sie. Und er stürzte herein, packte den grauenhaften Alten mit beiden Händen um seinen Stiernacken, wälzte sich mit ihm zu Boden, zerbrach, zerwühlte, zerriß ihn ...

»Claude, ich bitte dich.«

Sein Blick kehrte zurück. Claude keuchte noch.

›Wenn ich nun hinunterginge und ihn kaltmachte – kein Richter könnte mich verurteilen, keiner, der in die Dinge hineinblickte, in das Leben.‹

Aber sofort dachte er hinzu:

›Ein Richter, der hineinblickte, der – würde sein Amt niederlegen. Wer hineinblickt, wie ich in dieser Minute, hebt keine Hand auf. Nur in meiner Einbildung hab ich die Tat begangen. Meine Einbildung nimmt alles vorweg, und für die Wirklichkeit bleibt keine, keine befreiende Geste ...‹ Er besann sich:

»Und du?«

Seine Frage war leise und durchtränkt mit mitleidiger Bitterkeit.

»Du hast's wohl sehr nötig gehabt, mir das zu sagen? Du mußt eine schlimme Zeit hinter dir haben.«

Sie warf den Kopf in den Nacken und ließ ihn langsam nach vorn fallen.

»Ja.«

»Ich Narr habe dich nicht verstanden.«

Sie machte ein paar Schritte, tief atmend.

»Gottlob, daß es überstanden ist ... Weißt du, gesagt mußte es werden. Seit zwei Wochen bin ich mir selbst ein Abscheu; ich mag mich nicht mehr anfassen beim Waschen. Buchstäblich. Denke doch: ein Geheimnis zu haben zusammen mit dem – dem Menschen! Zu wissen, daß er sich einbildet, er hat mich in der Tasche und ich hänge von seiner Verschwiegenheit ab. Himmel, am liebsten möchte ich aller Welt die Geschichte erzählen – um nur wieder frei zu werden, frei von dem Alp.«

Sie blieb vor Claude stehen.

»Aber dir – dir mußte ich's sagen. Ein solches Geheimnis vor dir, das war unerträglich – unerträglicher fast als das andere.«

Er faßte sich ans Herz, reckte sich ganz steif. Also der Gedanke an ihn ergriff sie? Sie mußte ihm beichten? Warum? Wenn sie ihn nicht – liebte?

»Ich werde dir einmal dein Geld zurückgeben, das ist abgemacht. Ich muß unabhängig sein. Ich brauche Freiheit, Wahrheit. Ein Künstler darf nicht lügen wie ein Geschäftsmann. Wer lügt, ist nicht frei. Du wärst mein Herr gewesen, so gut wie der andere, wenn ich es dir nicht gesagt hätte. Ich muß frei sein.«

Frei, frei, das Wort kam immer wieder. Zuviel Enttäuschung, zuviel Qual. Claude trat auf die Schwelle, die Schultern Ute zugewendet. Er trollte durchs Zimmer, verschob Möbel, ohne darum zu wissen. In ihm war nichts als der Wunsch, es möchte aus sein, Ute möchte gegangen sein.

Draußen entstand Musik; eine schwere, süße Melodie wogte auf einmal ins Zimmer, eine Melodie vom Duft des Jasmins, mit dem Wogen eines lauen Sturmes, eine Melodie, die jung machte, über die Welt einen roten Schein stürzte und die zu Sehnsucht hinriß.

Claude schluchzte trocken auf. Unvermutet hörte er Ute sagen:

»Verzeih, ich hab dir weh tun müssen.«

Er wandte sich um, sie saß vorgebeugt in einem Sessel. Er fiel vor ihr hin, drückte das Gesicht auf ihr Knie.

»Tu mir nur weh!«

»Ich weiß«, flüsterte sie, den Hals zugeschnürt, »wie du leidest. Jetzt kann ich's wissen. Früher kannte ich kein Leiden, es hatte mich noch keines getroffen.«

Jetzt kannte sie's. Claudes Nacken zuckte, und Utes Atem, dicht über ihm, ging in kurzen, mühsamen Stößen. Er hob plötzlich den Kopf, sie sahen jeder die Tränen rinnen auf dem Gesicht des andern.

»Verstehst du jetzt auch, was es heißt, dich lieben?«

Sie nickte. Die Melodie draußen schwoll schmerzlich an zu einem ganzen Leben voll Hingerissenheit bis zum Verbrechen um sie, die eine, voll jäher Stürze und voll Elend, bis zum Sterben, die Arme um sie.

»Du wirst mich nicht lieben können«, stammelte Claude. »Wirklich nie?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du weißt ja –«

Und sie trocknete ihre Augen.

»Aber wenigstens wenn du Kummer hast, dann kommst du wieder zu mir?«

»Das ja. Das ja.«

Und sie drückte ehrlich und stark seine Hand. Sie standen auf, Ute ging an den Toilettentisch, puderte sich. Claude dachte: ›Die ganze Traurigkeit der Dinge braucht's, bis wir einmal zusammenkommen – um zu weinen.‹

Sie kam hervor aus dem Ankleideraum; er sagte:

»Geh nur voran.«

Sie nickte ihm zu. Draußen raschelte noch ihr Kleid, da hastete er ihr nach, bis unter die Tür, den Mund geöffnet zum Schreien. »Laß mich nicht allein! Ich habe nichts gehabt als die kurze Täuschung, bei dir zu sein, weil wir zusammen weinten. Nun gehst du, bist mit allem fertig, und ich – ich –«

Er nahm sich zusammen, machte die Runde durch die leeren Zimmer des zweiten Stocks. Die Tür seines dreizehnten Dienstmädchens war leicht angelehnt, ein sanfter Lichtschein lag in dem Spalt. Claude betrachtete ihn mit einer leidvollen Innigkeit. Es war ihm, als habe das, was von Ute in seinen geheimsten Träumen ihm gehört hatte, ihre verlorene Reinheit, sich dort hinein geflüchtet und ruhe mit ungeküßtem Gesichtel auf einem Kindesarm.

Er stieg hinunter. Im ersten Salon redete jemand aus einem großen Bart heraus über Kunst, über die gebrechlichen Linien von heute, die Farben für Neurastheniker.

»Und die Möbel! Immer ist man auf der Suche nach bizarren Seitenwegen. Rokoko, nichts weiter, und ohne die Gesundheit des Rokoko. Fächerchen, die man nicht gleich merkt, verschiebbare Polster. Rückkehr zum Versteckspiel und zu Boule. Aber für starke Empfindungen – sagen Sie doch selbst, ob zwischen Möbeln aus den Vereinigten Werkstätten irgend 'ne starke Leidenschaft möglich ist?« fragte der Sprecher Claude, ohne ihn sich anzusehn.

Claude begriff nicht. Ehglücksfurtner, der neben ihm stand, pruschte ihm ins Gesicht.

Claude ging weiter; das auffallende Paar kam ihm entgegen, Hand in Hand, im Frieden der Schönheit. Auf einmal hörte er hinter sich:

»Wir, auf unsere alten Tage? Nöh, Mariechen, da wird nichts aus.«

»Wer weiß?« sagte Bella sanft.

»Wir haben ja Söhne und Enkel, was die da woll zu sagen würden, wenn wir 'n Rappel kriegten und heiraten noch mal. Wir müßten ja woll was mit 'n Stock haben.«

Claude machte raschere Schritte, die Zähne aufeinander. Er merkte plötzlich, daß er wütende Kopfschmerzen habe. War das nicht ein Musiker, der Langhaarige mit dem überirdischen Mathematikergesicht?

»Bitte, was war das eigentlich für ein Stück, das vorhin gespielt wurde. Das vorletzte.«

»Das? Das war die Manon Lescaut, von Puccini.«

Er zuckte die Achseln, schob den Mund vor.

»'ne Art seriöse Operette.«

»Danke.«

›Die Manon?‹ dachte Claude im Weiterschlendern. ›Ein Roman, nicht wahr? in dem die Liebenden sich ganz jung begegnen, ganz jung, eigentlich Kinder – und es ist fürs Leben, für eine Leidenschaft, die stärker ist als das Leben selbst. Er verläßt für sie seine Familie, seinen Stand, sinkt, wird Falschspieler. Sie nötigt ihn zu stehlen, bei einer Gelegenheit – ja, als sie, um sich und ihrem Liebsten Geld zu verdienen, sich einem reichen Alten hingegeben hatte. Da stiehlt er – er, der Edelmann, der sich nur mit seiner Familie zu versöhnen brauchte, und hätte Vergnügen und Ehre. Nein! Manon ist mehr als Ehre und mehr als Vergnügen. Durch Verbrechen, Ausgestoßenheit, Armut, Schande stürzt er immer wieder in ihre Arme – bis ins tödliche Elend, bis in jene von ihrem Sterben ganz rot bestrahlte Wüste!‹

Claude bückte sich ein wenig beim Gehen.

»Einem reichen Alten hatte sie sich hingegeben, wegen gewisser Vorteile ...«

Er blieb stehen.

»Ach! Eine – eine von all seinen Gesten, von seinen gezogenen Degen, seinen erbrochenen Gefängnissen, niedergestochenen Schergen, zur Flucht gepeitschten Pferden. Und seinen gewürgten Alten!«

»Was haben Sie denn?« fragte Matthacker.

»Ich? Schmerzen im Hinterkopf, die will ich Ihnen nicht wünschen.«

»Na, Sie wissen doch, was ich Ihnen dagegen verordnet habe.«

»Ja, Weiber.«

»Also. Nehmen Sie gefälligst gleich eine mit hinauf.«

»Meinen Sie?«

»Jede einzelne fühlt sich doch bloß geschmeichelt, Sie glücklicher Herr.«

»Na dann ... Sagen Sie, Doktor, sehen Sie den alten Herrn da drüben, den mit dem hübschen dicken Mädel?«

»Panier. Gewiß. Statt der Ringe trägt er Gichtknoten an den Händen.«

»Sagen Sie, was ist eigentlich Gicht?«

»Was geht denn Sie das an?«

»Ich glaube nämlich, ich kriege sie.«

»Sie? Na, dann will ich sie Ihnen erklären, damit Sie sie sich nachher bequemer einbilden können ... Gicht ist, wenn sich Kohlenstoffe und Stickstoffe im Körper anhäufen. Es findet 'ne intensive Verkohlung statt. Die Harnsäure bildet Schlacken und Depots, anstatt daß sie zu Harnstoff verbrennt. Unvollkommene Oxydation, Gefäßkrankheit, entsteht durchs Trinken. Wollen wir nicht 'ne Flasche Sekt ausstechen?«

»Später gern.«

Claude sah aufatmend nach Panier hin. All die Schweinerei hatte der im Leibe. Da mochte er inzwischen so viel Unheil anrichten wie er wollte: das hatte er im Leibe und platzte noch daran! Und Claude drückte die Hand des Arztes. Das war der einzige, der ihn hätte rächen können.

Der Alte zog ihn an. Er ging ihm nach, in der undeutlichen Hoffnung, im nächsten Augenblick seine gichtischen Gliedmaßen sich lüften und als runde Ballons aufsteigen zu sehen.

Panier strebte auf eine Gruppe zu, die in achtungsvollem Kreis irgend jemand umstand. Claude bemerkte auf einmal Archibalds Kopf, vom gefärbten Rest eines schwarzen Schopfes spitz beleckt, seinen kühnen Magen, den fettigen Glanz von Marmor auf seinem edlen Nasenrücken, und seinen Mund, blau vom Messer und gewulstet, der bebte bevor er sprach, wie ein Rennpferd, ehe man es losläßt. Archibalds hohe metallische Stimme rief:

»Ich gratuliere Ihnen, mein Fräulein, unsere gestrige gemeinsame Übung hat mich vollends überzeugt, daß ich recht hatte, Sie zu halten. Sie sind Künstlerin! Vergessen Sie bitte nicht, daß ich es bin, der Ihr Talent geweckt hat!«

»Verehrter Meister – wie können Sie glauben.«

Archibald war huldreich, von gedämpfter Majestät, Ute zeigte Größe in der Anmut. Die Umstehenden murmelten beifällig, man hob die Hände wie zum Klatschen. Claude dachte: ›Dahin gehört sie, das sind die Ihrigen. So sehen ihre glücklichen Minuten aus, die ihre Belohnung sind für die mit mir erduldeten leidvollen ...‹ Er blieb außerhalb des Kreises; aber Archibald bemerkte ihn, er durchbrach die Menge.

»Süßester Freund! Wie ich mich freue, König Philipps Sprößling zu begrüßen.« Er schob Claudes Arm unter den seinigen, führte ihn ein Stück weiter. Ute ging an seiner andern Seite.

»Ja, Sie haben eine sehr schöne Rolle, ich habe das immer gefühlt. Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen? Als entstiegen Sie der Gruftkapelle, von wo aus Ihr großer Vater die Geschicke seiner Welt gelenkt hat, und musterten, durch die Säle des Palastes wandelnd, noch einmal bleichen Blicks alle die, die vor ihm gezittert haben. Sie zittern nicht mehr ganz so –«

An ihrem Wege stand Ehglücksfurtner, die Backen heftig aufgeblasen. Plötzlich brach geräuschvoll die Luft heraus, und er schlug sich auf die Schenkel.

»Sie erlauben sich vielleicht zu lächeln. Die Fäden der weiten Geschäfte, die der König über die Hemisphären spannte, sind verwirrt und gelockert. Das Gold, das mit den indischen Schiffen anlangt, zerrinnt gleich wieder für – für –«

»Für die Bezahlung von Hypothekenzinsen?« fragte Claude ein wenig scharf.

»Verzeihn Sie, o verzeihn Sie doch, mein lieber junger Freund! Wie haben Sie denn glauben können – Ich spreche ja als Künstler, den der ästhetische Gehalt der Dinge verführt. Ich erlaube mir nicht, Sie zu meinen; ich meine eine Gestalt, die ich spielen würde! Karl der Zweite war, wie Sie wissen, Philipps letzter Sproß. Er wandelte in dunkler Tracht, blutleer, mit hängender Lippe, wie ein Geist, von Verfall ordentlich phosphoreszierend, durch die Säle.«

»Was wollen Sie denn. Ich bin doch ganz rüstig«, bemerkte Claude.

Archibald beachtete es nicht.

»Er warb zeitlebens vergeblich um die Liebe der schönen jungen Prinzessin von Frankreich, die seine Gemahlin war. Sie starb, er geisterte noch. In seinen letzten Tagen öffnete er die Särge seiner Väter und dann den ihrigen. Man hörte das erstickte Schluchzen des müden Gespenstes, dessen Väter so starke Machthungrige gewesen waren, aus ihrer Gruft herauf, wo er sich über den Sarg seiner einzigen Liebe wälzte: Meine Königin! Meine Königin!‹ ... Gebt mir das zu spielen!« rief Archibald.

»Und Sie, mein Fräulein?« sagte er leichter, mehr im Ton des feinen Lustspiels. »Verraten Sie doch, was hatte bei Ihrem Sommertheater im Walde der erste Liebhaber für eine Nase? Groß? Wohlgeformt? ... Ah, Sie weichen zurück? Herr Marehn, Ihre Freundin hat heute, als ich mit ihr übte, unglaublich temperamentvoll gespielt. Ich mache Sie darauf aufmerksam, irgend etwas muß sie aufgerüttelt haben. Ihre Natur braucht das.«

»Ach ja«, sagte Ute und seufzte. »Es ist vielleicht ganz nützlich.«

Archibald wendete Claude den Rücken.

»Wissen Sie noch, mein Fräulein, die Szene mit mir, in meinem Kabinett, als Sie plötzlich das Schluchzen lernten. Seitdem sind Sie Künstlerin!«

Er raunte:

»Aber hineingelegt haben Sie mich. Nun, ich komme noch wieder dran.«

»Bitte, ich bin ja schon engagiert – nach Düren.«

Archibald stutzte. Dann fragte er mit gekräuselter Nase:

»Düren, wo ist das?«

»Holt Bier oder schminkt sich ab.«

Ute lachte, Claude, hinter Archibalds Rücken, wußte nicht, warum. Aus dem Loch in Archibalds Frack, ihr wohlbekannt, grinste eine Harmonika gelber abgeschminkter Falten ihr ins Gesicht.

»Wir begegnen uns schon noch mal, in Düren oder im Dunkeln.«

Plötzlich war Panier da.

»Tja, tja, Herr Geheimrat, das is 'ne abstoßende Dame, da können wir grauen Donjuane man bloß einpacken.«

»Bitte? Mit wem habe ich –«

Archibalds Kopf war ganz auf Amtlichkeit und Einschüchterung gearbeitet.

»Panier aus Düren«, sagte der Herr Panier mit einem Kratzfuß und blinzelte Ute an, die die Brauen zusammenzog. Auch Archibald sah sie an.

»Soso«, machte Archibald dann. »Und mein lieber Herr Panier, womit beschäftigen Sie sich denn in Düren?«

»Wir haben uns immer am liebsten mit den Damen beschäftigt, Herr Geheimrat. Aber die Damen, die sind undankbar, und wenn man erst 'n alter Knabe ist wie wir beiden, dann kriegt man sie nicht mehr. Das heißt, in Ihren Jahren, Herr Geheimer Professor, da ist noch Hoffnung, aber wir, Panier –«

Ute sagte hart:

»Gott, wenn man einen irgendwie nötig hat ... Nachher wirft man ihn erleichtert in die Ecke.«

Darauf sah sie Claude an.

»Tja, tja«, und Panier nickte, »die jungen Leute, die haben es alles und wissen gar nicht warum. Jung muß man sein, das ist das Geheimnis. Na, Kinners –«

Er faßte Claude bei den Schultern und schob ihn Ute entgegen.

»Nu seid mal nicht so.«

Ute nahm Claudes Hand. Sie zog ihn unmerklich zu sich hin; sie neigten sich, bis einer des andern Brust fühlte. Ihre Münder senkten sich aufeinander; Claude biß, die Augen geschlossen, alles vergessend, in eine große, schwerreife Frucht, deren Spalt unter seinen Zähnen duftete.

Er hörte das Kichern angeregter Greise. Man ging weiter; ihm schwindelte, er blieb zurück. Jemand sprach mit ihm, der junge Ende war an seiner Seite.

»Ute ist aber schon schrecklich nervös, kein ruhiges Wort läßt sich mehr mit ihr reden. Und eben die Szene – ich bitte Sie, lieber Freund, das muß ja Anstoß erregen, selbst hier in freierer Gesellschaft.«

Claude fuhr auf.

»Wenn es Ihnen nicht paßt –«

Er faßte sich an die Schläfe.

»Ach verzeihn Sie, ich bin selber ziemlich nervös heute abend.«

»Mein lieber, lieber Herr Claude.«

Unter dem Druck von des jungen Ende warmer Hand fühlte Claude sich getröstet, gut behandelt, erweicht.

»Sehen Sie, ich bin besorgt«, sagte der junge Ende milde. »Ute macht mir Sorgen, sie ist doch mein Kind, und sie ist nicht glücklich, das sieht man doch.«

»Das sieht man«, murmelte Claude.

»Ja, die Karriere beim Theater bringt Aufregungen für Ute, muß ihr Aufregungen bringen, wenn sie überhaupt was leisten soll. Sie hat kein geniales Temperament, Herr Claude. Ich, ihr Vater, den sie geringschätzt, bin im Grunde genialer als sie: ich improvisiere. Sie ist ganz auf Arbeit angewiesen, auf zähe Arbeit; und das reicht auch noch nicht, gelegentlich braucht sie eine Aufrüttelung ... Das kommt immer wieder.«

Claude sah auf, erblaßt.

» Was kommt immer wieder?«

Der junge Ende hatte das hingeworfen, als dächte er sich nichts dabei.

Hatte er etwas gemerkt? Er seufzte.

»Wenn ich an die Zeiten der Gräfin Stockwenzel denke – da war's anders.«

Er seufzte nochmals, fuhr sich durch die hellen Locken. Er ward Claude unvermutet sympathisch, der junge Ende. Auch er sehnte sich nach jenen schlichten Tagen zurück, als er Ute in den Salons Scharaden spielen ließ und als sie Claudes Freundin war.

»Damals waren ihre künstlerischen Genugtuungen ohne Kehrseite. Sie lernte leicht, man klatschte, ihre Nerven waren gut. Wir machten Kitsch – nun ja, was will das sagen, wir machten Kitsch –«

Claude wußte im Augenblick auch nicht mehr, was das sagen wollte.

»Glauben Sie mir, wenn Ute sich mit Kitsch begnügen könnte – das wäre das einzige ihrem Temperament Angemessene! Für die Kunst – die Kunst, wie sie sie jetzt betreibt, muß man ja – na, ich glaube, leiden muß man dafür. Wozu denn leiden? Was muß man noch?«

»Lieben?« schlug Claude vor.

»Wahrscheinlich. Und das ist doch gar nicht ihre Sache. Die ganze grämliche, verbissene Kunst von heute ist gar nicht unsere Sache. Ich bin doch ihr Vater. Nun, und meine Gabe ist es, mit glücklichem Genie einem gefälligen Publikum was Hübsches vorzumachen. Das ist die Kunst, glauben Sie mir. Ob Blumenmädchen oder Flos paludis – es ist so leicht, was Hübsches zu machen, so leicht.«

Claude nickte zu den Ausführungen des jungen Ende, er hörte sie gern. Aber sie wurden unterbrochen durch Spießl, der in Aufruhr war.

»Einen Moment, Marehn, ich habe dir was Wichtiges zu sagen, was außerordentlich Wichtiges.«

»Brennt es bei Messalina?«

»Laß deine schwachen Witze. Du bist sentimental veranlagt und nichts weniger als satirisch. Übrigens hab ich dir gesagt, daß ich auf Messalina pfeife. Es handelt sich um Nelly ... Teufel, macht die da einen Lärm.«

Sie mußten durch das Musikzimmer, das voll Menschen war und wo Bella zum Klavier sang.

»Sie, die beim Sprechen so sanft tut«, sagte Claude entrüstet, »wie kann sie mir nichts, dir nichts das Geschrei anfangen.«

Im Bibliothekszimmer stoben bei ihrem Eintritt eine reife Dame und ein schwarzer Malschüler fassungslos auseinander. Claude und Spießl zogen sich rasch zurück. Aber das auffallende Paar, das von der andern Seite kam, schritt Hand in Hand und friedevoll hindurch, in ferner Schönheit, in die von menschlichen Leidenschaften kein Echo drang.

Die Freunde erreichten auf Umwegen ein leeres Gemach.

»Sie wird mich betrügen«, sagte Spießl, die Zähne aufeinander. »Wenn sie es nicht schon getan hat.«

»Ja, dazu neigt sie«, erklärte Claude. »Hab ich dir das nicht gesagt? Aber sie meint es nicht schlimm.«

»Ich ertrage das nicht«, sagte Spießl, bleich und drohend.

»Ja du, wie schaust denn du aus!«

»Ich hätte sie eben fast erwürgt. Bei Gott, ich ertrage das nicht. Geohrfeigt hab ich sie sogar.«

»Du, ein rein geistiger Mensch«, murmelte Claude. »Ein Nihilist, für den die einzige anständige Handlung darin besteht, die Achseln zu zucken.«

»Du weißt nicht, was dies Weib aus mir gemacht hat. Ich bin dem Dämon verfallen, Marehn – rettungslos.«

»Denk doch an deine Bude mit all dem reinen Geist, an die großartige Überlegenheit, die dein Nihilismus dir sichert, an die Niedrigkeit des Weibes, das doch nur psychologisches Objekt ist.«

»Seine Niedrigkeit ist das Hypnotisierende, sie reizt uns zum Opfer unserer Geistigkeit. Wir zerschmettern in ihren schmutzigen Schlünden unsere Gehirnschale!«

»Ist es so schlimm?«

Spießl hatte fliegende Gesten, seine Stirn rötete sich.

»Und du behauptest, daß du liebst?« fragte er voll Verachtung. Claude zuckte zusammen.

»Na also«, äußerte Spießl; und die beiden Zwanzigjährigen sahen sich an.

Spießl warf den Kopf herum, griff sich ins Haar.

»Dies Weib wird mich zermalmen, ausleeren, was noch! ... O du, bei dir hat's keine solche Gefahr, du schonst deine Gesundheit, amüsierst dich halt so gut's geht. So ein Jubeljüngling. Aber ich, ich – du kennst mich, ich hab alle Tollheiten, alle Verderbtheiten in mir! Früher bin ich damit am Schreibtisch fertig geworden. Aber jetzt, durch dieses Weib –«

»Genug, was denkst du zu tun?«

»Du weißt, ich hab dich nie um was gebeten, Marehn.«

»Ein Anfang muß gemacht werden«, sagte Claude ermutigend.

»Sie will Geld.«

»Die Kanaille hat Blut geschleckt. Vor vierzehn Tagen lebte sie noch von dem, was sie einmal wöchentlich auf der Straße fand.«

Ich muß mir eine Existenz gründen, Marehn. Ich habe an ein Familienblatt gedacht, was meinst du dazu?«

»Du, ein – Soll da Messalina auf dem Marsfeld hineinkommen?«

»Witze verbitt ich mir. Willst du mir ein Wurschtblatt für das deutsche Haus gründen helfen oder nicht?«

»Ich sag ja nicht nein.«

»Ich danke dir ... Und es hat doch auch seinen Reiz, keusche Minnelieder und Fleckmittel zusammenzukleistern, und der Ertrag ist nachher für ein Weib wie dieses. Wie dieses! ... Wenn das nicht pervers ist!«

»Gut, daß dich das tröstet ... Aber jetzt muß ich Hausherr spielen.«

Claude kehrte in den Musiksalon zurück, er beglückwünschte Bella. Sie nahm alle Lobeserhebungen sanft und betreten hin.

»Aber, Herr Professor, aber gnädige Frau, wir haben hier einen, der viel mehr kann als ich ... Herr Panier, singen Sie, bitte, das ›Verlorene Glück‹.«

Die Damen umringten den Greis:

»Ach bitte, bitte.«

Er schmunzelte, fraß von ihnen mit seinen schwarzen Augen, so viel er fassen konnte. Schließlich gab er nach.

»Wenn die Damen es nu mal wollen, immer höflich mit den Damen.«

Darauf räusperte er sich und legte einen Tenor frei, der wankte, aussetzte, umkippte, sich verirrte und immer glücklich zurückfand zum Refrain:

»Und dennoch du, du hast mich nie geliebt.«

Nach der ersten Strophe brach schon der Beifall los. Ute sagte zu Bella:

»Kann man den Menschen nicht zum Schweigen bringen?«

»Du bist gereizt.«

»Warum klatscht das Pack?«

»Gott, die einen lachen, die andern weinen, aber entzückt sind alle.«

Panier stimmte näselnd die zweite Strophe an. Ute und Bella rückten sich näher.

»Es ist wohl sehr schwer, den Alten herumzukriegen?« fragte Ute. Bella flüsterte eifrig:

»Du machst dir keinen Begriff, was der zäh ist. Also ich weiß doch, was ich will, aber bei dem –«

»Kann ich dir was helfen? Ich geb dir einen Rat.«

»Du? Von dir kann ich nichts lernen. Wir haben ja ganz verschiedene Grundsätze. Von mir erlangt einer nur was, wenn er mich heiratet. Aber von dir nicht einmal dann. Wie?«

»Ganz recht. Aber einen Rat geb ich dir doch.«

»Na?«

»Iß keine Bonbons, wenn er dir welche schenkt.«

»Ach so ... Das ist doch überhaupt verboten!«

Bella war erschrocken; sie hielt den Kopf schief über der hochgezogenen Taubenschulter. Die Freundinnen blickten einander in die hellen Augen. Panier erreichte soeben nach manchen Verirrungen triumphierend den Kehrreim.

»Und dennoch du, du hast mich nie geliebt.«

Da ward zum Essen gebeten. Claude selbst ging, gefolgt von zwei Dienern, bei seinen Gästen umher.

Der Speisesaal war weiß und von silberweißen Linien kühl überzogen. Auf den kleinen Tischen erhoben sich weiße Kerzen, weiße Servietten und weiße Chrysanthemen. Man setzte sich in schmale, weißlackierte Lehnstühle, vor Teller, auf deren Boden weiße Lotosblumen von Mondlicht bläulich geschminkt schienen. Die Früchte ruhten auf den weißen Bogen porzellanener Märchenkronen.

Spießl irrte noch umher, als die meisten an ihren Plätzen waren.

»Wo ist denn Nelly – wo ist –«

»Holt Bier oder schminkt sich ab«, sagte Ute, an einem Tisch mit Archibald.

Claude mußte dem auffallenden Paar Stühle hinschieben. Es stand hilflos inmitten all der Schönheit und hielt sich bei den Händen.

Claudes Magen hatte die Verbindung mit dem Hinterkopf gefunden und schmerzte; Claude fühlte sich dem bevorstehenden Mahl nicht gewachsen.

»Nun wollen wir uns mal hineinknien«, verhieß er.

Seine Nachbarin, die Schransky, tat es. Ihnen gegenüber waren Gisela Gigereit und Graf Kreuth miteinander beschäftigt. Claude betäubte seinen Magen mit einer halben Flasche Sekt, gleich zur Suppe.

Theodora, einfach und schön, trank ihm zu, von drüben her, von der Seite ihres Verlobten. Claudes Magen wollte sich plötzlich losreißen; Claude sah bleich aber mit Fassung Theodora an und schluckte, soviel sie wollte.

Köhmbold saß bei Ehglücksfurtner. Er bedauerte all das Geld, um das der Besitzer dieses schönen Speisezimmers wieder mal geprellt sein müsse.

»Meinen Sie, daß ich, solange ich schon bloß noch die Schönheit will, sie ein einziges Mal zum richtigen Preis gekriegt habe?«

Ehglücksfurtner unterbrach seine Beschäftigung mit den Spargeln. Er betrachtete den Gefährten, an den er hier geraten war, und pruschte ihm ins Gesicht. Dann kehrte er zu den Spargeln zurück. Köhmbold bat:

»Stoßen Sie doch den Diener da hinter Ihnen an, daß er mir die Mayonnaise noch mal reicht.«

Ehglücksfurtner sah sich um.

»Ist die so gut? Sie, mir die Mayonnaise!«

Das auffallende Paar schaute zu, wie goldgelbe Widerscheine aus Weingläsern über das blanke Weiß des Tafeltuches spiegelten. Es ordnete die Früchte auf den Märchenkronen, saß in die Sammetfarben großer Pfirsiche ganz verloren, und während ringsumher gekaut und geschmatzt ward, lächelte es.

In der Mitte des Saales, unter dem Lüster, schlug der Herr Panier an sein Glas und erhob sich mit Anstrengung. Bella, neben ihm, führte erschreckt die Hand an die Lippen. Panier selbst war anfangs befangen, er grunzte zwischen den Worten, stotterte etwas von einem Kranz lieblicher Damen.

»Unser großer Dichter« – und Panier fand sich wieder – »hat gesagt: Ehret die Damen und so weiter. Na und das ist woll das mindeste, was die Damen von uns verlangen können, meine Herren, das allermindeste ist das woll. Ohne die Damen könnten wir uns doch überhaupt nicht amüsieren. Wenigstens wir, Panier, bedanken uns dafür. Nöh –

Schenk doch ein, Mariechen, dumme Dehrn, wir sollen ja gleich anstoßen«, raunte er Bella zu, die in Verwirrung alles über den Tisch goß. Panier sah sich um, mit violettem Kopf, um seinen Erfolg sehr besorgt.

»Und darum und in diesem Sinne können wir woll nicht besser schließen als mit den Worten unseres allergrößten Dichters: Das beste hier auf Erden und unterm Sternenzelt, das beste sind die Damen auf dieser Tränenwelt.«

»Bravo!« schrie Killich mit riesiger Stimme. Die schwarzen Malschüler stimmten ein. Man klatschte. Panier, über seine Wirkung beruhigt, schmunzelte, das Glas erhoben, allen nacheinander zu: Bella, Theodora, Nelly, Gisela, Ute. Dann brach er aus:

»Die Damen hurra, hurra, hurra!«

»Bravo, Herr Kollege von der andern Fakultät,« wiederholte Killich und stieß mit Panier an. »Ohne das, was Sie die Damen nennen, hätte es wahrhaftig keinen Sinn.«

Die Schransky stand flehenden Blicks dabei. Panier stieß mit ihr an.

»Das Beste sind die Damen, Mariechen.«

»Ach, das sagen die Dichter immer«, bemerkte sie, und ein leidvolles Lächeln entblößte ihre Pferdezähne.

Panier begab sich zu Kreuth. Er sagte bieder und mit einem Kratzfuß:

»Herr Graf, haben Ihnen meine Worte zugesagt? Ja? Na, dann ist es Ihnen woll recht, wenn wir die Karten wechseln?«

Kreuth stutzte, dann fügte er sich. Und Panier schob schmunzelnd die Karte mit der Krone in seine Brieftasche.

Claude stieß mit Gisela an. Er war bei der zweiten Flasche Sekt und sehr aufgeräumt. Sie war Kreuths und der fünfhundert Mark versichert; dankbar und weinselig faßte sie Claude unters Kinn. Er schob den Kopf vor und erreichte mit gespitzten Lippen ihren weißen Hals. Pömmerl applaudierte gefällig mit zwei Fingern. Claude, sehr angeregt, trug sein Sektglas weiter herum: erst zu Nelly, und er nahm einen Anlauf, um sie auf den Mund zu küssen. Der Kuß ging vorbei, Nelly schwankte. Spießl rief:

»Was fällt dir denn – Ich hau dir eine –«

»Denk mal an das Wurschtblatt«, sagte Claude und ging weiter, während Spießl knirschte. Man lachte beifällig.

Claude verbeugte sich vor Theodoras Verlobtem:

»Sie erlauben? Ich habe ältere Rechte.«

Theodora gab ihm freundlich die Hand. Ihre Schönheit, ihre Ruhe, die Kinderleiche eines Glücks, die unsichtbar vielleicht zwischen ihnen lag – alles stimmte ihn kleinlaut. Er küßte demütig die volle Hand mit den zugespitzten Fingern, die sich oben umbogen wie Widerhaken.

Er wollte zurück auf seinen Platz, aber die Schransky stand am Wege, und Panier sagte:

»Nu, Mariechen?«

Claude mußte sie küssen. Darauf entschloß er sich. Wem noch hatte der Alte zugeschmunzelt am Schluß seines Trinkspruchs?

Er wanderte zwischen den Tischen zu Ute hin. Sie lachte und winkte, solange sie ihn kommen sah; auch sie hatte getrunken. Aber als er vor ihr stand, verstummte sie und schlug die Augen nieder. Auch seine Blicke fielen in ihren Schoß. Ihre Gläser tasteten aneinander vorbei, ohne sich zu finden. Ute stieß erregt zu, sie gaben einen schwachen Klang. Claudes Finger war dazwischen gewesen, sonst hätte eines der Gläser zerspringen müssen. Ute konnte es sich, von der Bühne her, nicht anders vorstellen, als daß bei solcher schicksalsträchtigen Gelegenheit ein Sektglas zersprang. Sie war enttäuscht. Draußen spielte die Musik irgend etwas sehr Dummes.

Spießl, betrunken und erbost, äußerte:

»Der geht da herum, wie in seinem Harem. So ein Jubeljüngling.«

»Bravo, Jubeljüngling!« schrie Killichs Marktschreierorgan. Sofort brachte er einen Toast aus auf den Jubeljüngling. Claude dankte, gerührt und stolz. Er erwiderte lauter halbbetrunkene Händedrücke; zuletzt den des Herrn Panier, der ihm sagte:

»Das Beste sind die Damen, mein Jung'. Tja tja, wenn man jung ist.«

Ehglücksfurtner, der dazukam, brüllte vor Lachen. Er klatschte sich dermaßen auf die Schenkel, daß der Schmerz plötzlich seine lachende Fratze herumriß zu einer heulenden. Aber er erholte sich und brüllte weiter.

»Ich kauf Ihnen Ihren Leichnam ab, Sie Jubeljüngling«, sagte Matthacker. Claude erwiderte:

»Haben Sie gar nicht nötig, Sie kriegen ihn gratis. Oder vielmehr, Sie können mich gleich so kriegen.«

»Lebend? Was man lebend nennt?«

»Na ja, für Ihre Krebs- und Syphilisexperimente. Wissen Sie, ich hab das Bedürfnis, mich mal irgendwie nützlich zu machen.«

»Kann ich Ihnen nachfühlen.«

»Und mir ist so gottvoll wurschtig zumute, daß ich ebensogut der Wissenschaft dienen kann.«

»Famos. Dann brauch ich nicht mehr meine Assistenten auf die Straße zu schicken und mir für zehn Pfennig arme Kinder zu kaufen, zum Einimpfen.«

»Sollt mich freuen, wenn ich Ihnen zehn Pfennig ersparen kann.«

Die Tischgesellschaft löste sich auf, drunten in der Halle ward getanzt. Claude schlenderte, die Hände in den Taschen, zu Pömmerl, der hinter einer Flasche und die Stirn in der Hand ganz allein zurückgeblieben war.

»Sind Sie auch lustig, Pömmerl?«

»Immerhin.«

» Mir geht's gut. Ich fühl mich so dumm, daß, glaub ich, in aller Stille ein Gedicht draus wird. Was Fröhliches, wo absolut kein Sinn drin ist.«

»Bei mir auch«, sagte Pömmerl.

»Matthacker behauptet, das sei ein schlimmes Zeichen.«

»Warum? Daran gewöhnt man sich.«

»Wissen Sie was? Ich soll dem Spießl eine Zeitschrift gründen. Ich will Ihnen auch eine gründen. Man gründet ja so manches.«

»Das kann nicht schaden«, meinte Pömmerl. »Prosit!«

»Da wollen wir dann ganz dummfröhliche Sachen hineinbringen, ausgesprochen nur völlig überflüssiges, wobei sich kein Mensch was denken kann.«

Pömmerl richtete sich auf.

»Wissen Sie was? Meine lustigen Verse an eine, die weint, sollten da hinein.«

»Richtig, so was wollt ich ja auch machen ... An eine, die weint ... Aber schauen's, bei mir kommt nichts heraus, nicht einmal lustige Verse.«

»Sie haben es innerlich«, vermutete Pömmerl gefällig.

»Ja, innerlich hab ich's.«

Sie gingen Arm in Arm hinab. Der Ball lärmte, lachte, schlürfte, flüsterte hinter Pflanzen, seufzte in Winkeln, klirrte mit Steinen, an Hälsen, die geküßt wurden.

Claude küßte Utes Hals während eines Walzers. Sie schlug ihm lachend mit Blumen ins Gesicht.

Dann nahm sie heimlich von ihm Abschied.

»Wann reist du eigentlich?«

»Übermorgen.«

»Ich hol dich ab, Ute.«

»Ist gar nicht nötig. Keine Umstände.«

»Auf Wiedersehen, Ute.«

»Auf Wiedersehen. Wenn nicht in dieser Welt, dann in Bitterfeld.«

Als sie weg war, fragte Archibald:

»Und Fräulein Ende?«

»Holt Bier oder schminkt sich ab«, sagte Claude.

Das Haus leerte sich. Am Schluß war Claude allein und stieg langsam die Treppen hinauf. ›Es ist ja gut abgelaufen.‹ In müden Pausen dachte er noch hinzu: ›Nun reist sie ... Das ist ja wohl auch das beste ... Auf die Art kommt man leichter drüber weg ... Im Grunde, im Grunde –‹ Er blieb stehn. ›Liegt denn gar soviel dran?‹ Er ging weiter und gähnte.

Im zweiten Stock ruhte noch immer der schmale Lichtschein in der Tür seines dreizehnten Dienstmädchens. Vielleicht war der Spalt jetzt ein wenig breiter. Dort drinnen lag ein ungeküßtes Gesichtel auf einem Kinderarm. Ute, ach Ute – Claude riß den Mund auf, blieb stumm, warf die Hände vor die Augen, beugte den Kopf zur Brust nieder.

Aber drinnen entstanden Geräusche. Claude sah auf, die Tür bewegte sich. Das dreizehnte Dienstmädchen stand auf bloßen Sohlen im Lichtkreise der Lampe und erhob den goldbraunen Blick aus verklärtem Beterinnengesicht zu einem Fünfmarkschein.

»Na denn gut Nacht, Mariechen, schlaf auch schön.«

Und der Herr Panier riß die Tür auf.

»Hurrjeh, Claude, daß wir uns man nicht erschrecken. Was machst du denn da?«

Claude hatte sich zurückgeworfen, die Augen aufgerissen. Seine gebogenen, nach hinten gestemmten Arme bebten, mit geballten Fäusten, als befiele ihn ein Krampf. Das Ungetüm, das dort auf ledernen Kähnen aus der Tür stampfte, es knöpfte ihm Frauen ab wie Häuser. Es hatte Theodora grunzend aus dem Zimmer gezerrt, in der Nacht, als Claude vielleicht, vielleicht Liebe zu fühlen gekriegt hätte. Es hatte Nellys dankbare kleine Neigung für Claude mit seinen Gichtfüßen niedergetrampelt. Sein tierischer Atem hatte alles erhitzt und beschmutzt, was Claude mit Sehnsucht anbetete, das schöne Leben: Ute selbst! Und noch die Erinnerung an ihre verlorene Reinheit, die sich in diese schmale Tür geflüchtet hatte, noch die Erinnerung fraß es!

Erschien nun wieder die Versuchung des erwürgten Alten? Ach, das war alles erledigt, hier war jeder in seiner Rolle. Er faßte sich, machte eine erschöpfte Handbewegung. »Es gibt für mich keine befreiende Geste ... Aber innerlich hab ich's.«

»Was haste denn da gemacht?« wiederholte Panier.

»Na und Sie?« erwiderte Claude und pruschte aus wie Ehglücksfurtner.

Der Herr Panier schmunzelte.

»Immer 's Panier hoch!«


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