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Der Gedanke, mit dem er hingefallen war, kam als erster zurück bei seinem Erwachen. »Mein guter Lehrer«, sprach Henri, wie zu einem noch Lebenden, der ihm hätte helfen sollen. Er hörte die Antwort, sie hieß: ›Ich bewohne ein streng verschlossenes Haus, auf dessen Tür die Leute mir unfreundliche Namen malen.‹
Diese einst wirklich gesprochenen Worte klangen in seinem Geist so pünktlich nach, daß er sich umsah. Er war allein, das eheliche Zimmer geschlossen, und Stille lagerte ringsum. Die Glocken schwiegen, das Mordgeschrei hatte sich zurückgezogen von dem Platz dort unten, zusammen mit dem Sonnenschein, und beendet war die vorige eifrige Tätigkeit. Nichts regte sich, außer den Gehängten an den fertiggezimmerten Galgen; die schwankten leicht. Ganz unbewegt blieb der hohe Haufe der Entkleideten. Nur Hunde strichen daran hin und beleckten die Wunden. Die Menschen, soweit sie lebten, hatten sich unsichtbar gemacht, sie, die vorher mit Nachdruck und Genugtuung gezeigt hatten, was sie konnten. Sogar vor die Öffnungen ihrer Häuser hatten sie nunmehr alle Läden gelegt.
Das zweite, was der wieder erwachte Henri dachte, war: ›Meine arme Mutter ist tot, und auch sie hatte mich gewarnt.‹ Er ging in den hintersten Winkel des Zimmers und hörte sie sprechen, wie vorhin seinen Lehrer. Sie sagte: ›Der sittenlose Hof, die böse Königin‹ - und die Stimme der Mutter, ihr Tonfall wandten sich an ein Kind, das noch unwissende Kind, längst vor den Ereignissen. Gerade darum war herzbrechend der milde vergangene Klang, weil in Wirklichkeit jetzt alles geschehen war, mehr Grausen und Furchtbarkeit, als bei den Lebzeiten der armen Jeanne ihr jemals hätte träumen können. ›Du bist am Gift gestorben, meine liebe Mutter. Weißt du es? Der Herr Admiral wurde erschlagen seitdem; hast du es erfahren? Ermordet ist La Rochefoucauld, den du mir schicktest als deinen letzten Abgesandten. Tot sind viele, die dir dienten, und hingestreckt liegen unsere Edelleute. Wir gingen in die Falle, obwohl du mich gewarnt hattest, Mutter. Ich hörte aber weder auf dich, noch auf den alten, schlauen Beauvois, noch auf -‹, « mein Gott, wie viele!« sagte er laut. Denn alle versäumten Warnungen drangen vereint auf ihn ein - so zahlreich, so schnell, daß er sie nicht unterschied und sich an den Kopf griff. ›Margot - auch Margot: ihre Warnung durch das anatomische Bild! Das arme Fräulein: Sackleinen bedeckte ihre kleine Leiche! D'Elbeuf: am Tor, als er mich zurückriß aus dem Gedränge, war noch Zeit zu fliehen! Karl der Neunte selbst: Navarra, räche mich! Mornay: Coligny bleibt, weil ihn das Grab erwartet, dich aber erwartet das Bett! Maurevert: schwitzt Mord! d'Anjou: umschwebt von schwärzlichen Geistern! Guise: sein gezückter Dolch, sein jäh enthülltes Gesicht! Madame Catherine: um sie hing, mit ihr ging, von je und überall, das brütende Geheimnis dieser Nacht! Ich aber dachte glücklicher zu sein - unter ihren Blicken glücklich. Denn ich kannte die Hölle nicht.‹
Dies war das hereinbrechende Urteil, das ihn noch einmal niederwarf. ›Ich kannte die Hölle nicht.‹ Damit fiel er, ohne einen Laut, quer über das Bett, drückte Brust und Stirn darauf und ergab sich dem Urteil, das gefällt wurde in seiner Stirn, seiner Brust. ›Ich feierte Hochzeit, und inzwischen stöhnten alle von verhaltener Blutgier. Sie zogen sich zu geteilten Haufen an die Wände zurück, damit sie noch nicht gegeneinander losgingen. Ich ließ mich zum Beilager führen. Die Königin, meine Mutter, war das erste Opfer gewesen. Wir alle waren bestimmt, ihr nachzufolgen, die Vorzeichen verkündeten es, die blutigen Wunder. Ich ließ mich zum Beilager führen und feierte es bis hinein in die Mordnacht. Denn ich kannte die Hölle nicht. Alle anderen entsinnen sich ihrer fortwährend, nur ich nicht, das ist mein Gebrechen. Das ist meine sehr große Schuld. Ich handelte derart, als wären die Menschen zurückgehalten von Anstand, Spott und leichtsinnigem Wohlwollen. So bin aber nur ich und ich kannte die Hölle nicht.‹
Während dies in seinem Kopf geschah, zuckte einige Male sein Körper, wie um aufzuspringen und als wagte er es nicht. Das erstemal trat dies ein, als die Worte und Mienen seiner Schwester ihm in den Sinn kamen. ›Lieber Bruder! Unsere Mutter hat die Wahrheit gekannt, ich sage es Ihnen wahrlich. Sie hinterließ, bevor sie am Gift starb: Sie sollten gar nicht, oder als der Stärkere kommen. Fort aus Paris, mein Bruder! Reitende Boten über das Land! Mit Ihrem Heer rücken Sie an zu Ihrer Hochzeit!‹ Er vernahm es in seinem Innern von der rührenden Stimme Kathrins, mit ihren hohen erschreckten Endsilben. Eigentlich war es seine eigene Stimme, und diese Warnung glich keiner anderen. Alle hatten ihn nur von außen angerührt, diese allein hatte er bestätigt aus seinem eigenen tiefen Wissen!
Da schüttelte ihn Reue von Grund auf, er mußte sich mit Fäusten und Zähnen an das Bett klammern. ›Ich kannte die Hölle nicht. Wo war mein Ernst! In meiner Leidenschaft für Margot? Auch dort nicht. Sonst hätte ich sie geraubt und fortgeführt von diesem Hof. Ihn aber wollt ich nicht verlassen, wegen seiner Kühnheit und Gefahr, aus Neugier auf die Furcht - und weil ich spielte wie ein Kind, anstatt den Blick auf die Hölle zu richten!‹ Nochmals großes Schütteln der Seele, und davon zitterte auch das Bett.
Ja, sein ungeheurer Mißerfolg machte, daß er seine Jugend verfluchte. ›Ich, der den Herrn Admiral belehren wollte! Ihm vorwarf, er führte nutzlos Krieg. Coligny hatte aber den Glauben, der frei macht - von Spanien oder von der verderblichen Leidenschaften. Er kannte die Hölle, gegen sie kämpfte er. Ich - lief in sie hinein!‹ Zuviel. Hier war er überwältigt. Seine Gedanken gingen in Rausch über, nicht anders, als einen Jüngling die Begeisterung ergreift. So hatte im Meereswind von La Rochelle sein Herz einer neuen Welt entgegengeschlagen - und jetzt wieder einer. Nur ist es diesmal keine weite und freie, vergleichbar dem Reich Gottes. Diese ist voll Schmerz und Schande. Sie wirft Flammen von Schwefel, schon lodern sie nahe, sogleich werden sie ihn einhüllen. Im Rausch seiner Verzweiflung springt er auf und läuft mit dem Kopf gegen die Wand. Noch ein Ansturm mit vorgestoßener Stirn, noch einer. Er denkt nichts mehr außer dieser Bewegung und findet von selbst kein Aufhören. Aber er wird aufgehalten.
Zwei Hände drückten ihn auf einen Sitz.
»Ruhe, Sire! Besinnung, Vernunft und Gleichmut der Seele - es sind christliche Tugenden wie auch Vorschriften der alten Philosophen. Wer sie vergißt, wütet gegen sich selbst, wobei ich Sie noch rechtzeitig überraschte, mein lieber junger Herr. War aber dessen nicht gewärtig von Ihnen - nein, von Ihnen nicht dessen, sondern eher, daß Sie die Bartholomäusnacht mit zuviel Nachsicht aufnähmen und, wie soll ich sagen, mit einer lachlustigen Verachtung. Als ich das erstemal zur Tür hereinsah, lagen Sie allerdings auf den bloßen Dielen, schliefen aber, und Ihr Atem ging so friedlich, daß ich bei mir meinte: ›Stören Sie ihn nicht, Herr von Armagnac! Er ist Ihr König, und diese Nacht war schwer. Wenn er erwacht, hat er alles überwunden, und wie Sie ihn kennen, macht er einen Witz.‹«
Diese lange Rede, vorgetragen in kühner, gehobener Art und mit kunstvoll wechselnden Tönen, ließ dem achtzehnjährigen Verzweifelten übergenug Zeit, zu sich zu kommen, oder doch einer zu werden, der dem bekannten Henri ähnlich sah. »Macht er einen Witz«, schloß der Edelmann als Diener; sein Herr aber ergänzte ohne Pause: »Ist der Hof noch immer so gut aufgelegt wie gestern nacht? Dann brauch ich zum Abschluß des Festes zwei Pastoren und die Sterbegesänge. Mir zuliebe wird sogar Madame Catherine mitsingen.« Das Lachen blieb im Halse stecken.
»Noch nicht ganz so, wie es sein soll«, sagte d'Armagnac prüfend. »Gut genug für den Anfang; aber Sie dürfen nicht bitter erscheinen, wenn man Sie wiedersieht. Seien Sie leicht! Seien Sie frei!« Er sah wohl selbst, daß dies im Augenblick viel verlangt war. Ohne ein Wort legte er dem Herrn ein nasses Tuch auf die Stirn, die vom Anprall gegen die Wand etwas zerbeult war. Dann trug er nach seiner Gewohnheit den Trog herein, für das Bad. »Auf dem Weg nach Wasser«, äußerte er und füllte es ein - »bin ich keinem begegnet. Nur eine Tür wurde vorsichtig zugemacht. Während Sie schliefen, war ich sogar auf der Straße, vom Hunger getrieben, denn in den Küchen gibt es nichts, dort ist letzthin mehr Menschenblut geflossen als Hühnerblut, und wer schlachten sollte, ist selbst geschlachtet. Die Straße ist leer, von weitem kamen zwei Männer mit weißen Abzeichen, das fällt auf, man hat Augen dafür bekommen. Schon suchte ich nach einer Zuflucht - da geschah es aber, daß die beiden kehrtmachten und sich entfernten. Wenn nicht alles täuscht, liefen sie davon, denn sie zeigten ihre ganzen Fußsohlen, so hoch schwangen sie die Beine. Sagen Sie mir, Sire, was das bedeutet.«
Henri überlegte es wirklich. »Ich glaube nicht«, erklärte er, »daß sie Furcht haben könnten vor uns, die sie fast alle umgebracht haben.«
»Glauben Sie an das Gewissen?« fragte d'Armagnac, beide Arme hochgestellt, jede Bewegung abgeschnitten. Henri betrachtete ihn ernsthaft, wie ein frommes Standbild. »Deine beiden Weißen müssen dich verwechselt haben«, entschied er. Hierauf stieg er in sein Bad.
»Es wird schon dunkel«, bemerkte er indessen. »Wie merkwürdig, dies war kein Tag.«
»Es war ein Tag der Schatten«, berichtigte d'Armagnac. »Leise und kraftlos verlief er nach zuviel Blutverlust. Bis zum Abend hielten alle sich hinter ihren Türen, sie haben nichts gegessen, ihre Stimmen sanken zum Flüstern herab, nur in einem bewährten sie vielleicht noch die Fähigkeiten der Lebenden. Denn von den dreihundert Ehrenfräulein der Königinmutter hat keine in ihrem Bett allein gelegen.«
»D'Armagnac«, befahl Henri, »ich muß etwas essen.«
»Ich verstehe, Sire. Dies sagen Sie nicht allein aus einem körperlichen Bedürfnis. Die tiefe Anschauung der Seele gibt Ihnen den Wunsch nach Nahrung ein. Mit wohlgefülltem Magen werden Sie sich ehrenvoll blicken lassen können unter Hungerleidern und werden im Vorteil sein vor den meisten. Beliebt es Ihnen?« Womit der Erste Kammerdiener den Mantel hinhielt in ganzer Breite; erst der abgetrocknete König konnte den Tisch entdecken, und der war besetzt mit Fleisch und Brot.
Henri stürzte sich darauf. Er zerschnitt, zerbrach, schlang und trank, solange noch etwas da war; inzwischen aber entrannen den Lidern seines Dieners zwei Tränen. D'Armagnac bedachte, daß wir dem Tode essen - unter seiner immer erhobenen Hand, die heute den Zugriff wohl noch hinausschiebt. So reiten wir durch das Land, so essen wir, so setzen wir den Fuß in die Säle des Schlosses Louvre. Dabei sind wir Diener und doch Edelleute, einer aber ist König, und dieser, so nah d'Armagnac, schlingt königlich. Gerade infolge seiner feierlichen Gedanken begann d'Armagnac fröhlich zu singen.
»Ganz still - ganz sacht - wie eine alte Maus lugt Madame Catherine durch allen Mord und Graus. Ist hinter ihrem Schlüsselloch so recht zu Haus.«
»Und was treibt sie dort?« fragte Henri wider Willen. Seit er nichts mehr zu essen hatte, drängte es ihn vielmehr, nach Margot zu fragen. Er wollte fragen: ›Hat die Königin, meine Gemahlin, ihre Gemächer schon verlassen?‹ Der Erste Kammerdiener hätte darauf antworten sollen: ›Die Königin von Navarra hat sich dringend nach Ihrem Wohlergehen erkundigt, Sire.‹ D'Armagnac hätte sogar hinzusetzen sollen: ›Madame Marguerite erwartet baldmöglichst den Besuch ihres geliebten Herrn‹ - obwohl d'Armagnac nicht der Mann war für eine solche Ausdrucksweise. Außerdem würde Margot ihm den Auftrag nicht erteilt haben. Henri seinerseits hätte die Einladung nicht annehmen dürfen. Für sie beide war es damit vorbei - und er seufzte. D'Armagnac begriff warum. Er war nicht der Mann, zarte Aufträge zu überbringen, weil er Ihnen zuvorkam mit seinem schnellen Geist.
»Madame Catherine hat bei sich die Königin von Navarra«, sagte er im natürlichsten, obwohl wirksamsten Tonfall - ließ seinen Herrn erstaunt aufblicken, machte eine fühlbare Pause; als aber die Erwartung groß genug war, sprach er um so geläufiger. »Ich habe die Königin gesehen. Sie kam zu mir heraus, da ein Diener ihr im Zimmer ihrer Mutter zuflüsterte, ich stände vor der Tür. Ich unterhalte Beziehungen zu den Dienern der Königinmutter. Diese trug Tinte hinein. Ich fragte: ›Wozu?‹ - ›Sie will schreiben‹, erwiderte er. ›Und Madame Marguerite?‹ fragte ich, ohne wirklich zu wissen, ob sie drinnen wäre ›Sie sitzt auf der Truhe‹, verriet mir sogleich der Dummkopf. ›Sie traut sich nicht fort von der Alten.‹ Ich bot ihm an: ›Wetten wir ein Maß Wein, daß sie zu mir herauskommt!‹ Durstig wie er war, schlug er ein, und dann mußte er selbst die Tür öffnen für Madame Marguerite: es kostet sein Geld.«
»Verlasse jetzt die Diener und gehe zu den Kutschern über!« verlangte der ungeduldige Hörer. »Ich dachte daran, Sire«, sagte d'Armagnac. »Indessen trug die Königin von Navarra mir Umstände auf - ich überbringe sie stammelnd und mit dem schwachen Verstand des geringen Menschen. Die Königin von Frankreich schreibt eigenhändige Briefe nach England, Spanien und Rom. Sie entwirft sie mehrmals, denn die Botschaft ist schwierig, da sie die Ereignisse der vorigen Nacht jedesmal verschieden darstellen muß, für die Königin Elisabeth, für Don Philipp, und für den Papst. In ihrer Verlegenheit hat Madame Catherine, ganz gegen ihre Gewohnheit, den Rat ihrer gelehrten Tochter eingeholt - und in sicherer Kenntnis dessen, was vorgeht, läßt die Königin es Ihnen melden durch meinen viel zu redseligen Mund.«
D'Armagnac verbeugte sich, er hatte geendet. Von jetzt ab gehörte er nur der Kleidung seines Herrn, breitete sie aus, legte sie ihm an, alles ohne Worte damit sein König denken konnte. Henri dachte: ›Margot verrät mir die Geheimnisse ihrer furchtbaren Mutter. Das ist soviel, als ließe sie mich wissen, daß sie mich erwartet, wie einst in unserem Schlafgemach. Nein, es ist mehr. Ihr Auftrag bedeutet: Teuerster Henricus‹ - einen Augenblick dachte er lateinisch und hörte sie selbst es aussprechen mit ihrer schönen Stimme: ›Komme nicht sehr teuerer Henricus; das ist uns leider verboten - alle Lust und jeglichen Schmerz unserer gemordeten Liebe.
Quod petiere premunt arcte, faciuntque dolorem
Corporis -
Wild pressen sie an sich, den sie begehren, und verwunden den Leib. Brennende Erinnerungen drängten herzu, von wütenden Umarmungen und dem Biß der Zähne in die geküßten Lippen. Vorbei und nieder damit! Jetzt steht es derart, daß meine Geliebte mir ihren Geist und ihr Gewissen hingibt, wie vordem ihren Leib - aber auch dies nicht ohne Wut und Bisse. Faciuntque dolorem animae. Wunden der Seele. Könnten wir jetzt vereint sein, wir würden beide weinen, weil wir bestimmt sind, Feinde zu sein und einander Schmerzen zu bereiten. Eher wäre es angezeigt, zusammen zu entdecken, was die Ihren vorhaben und wie man von hier entkommen könnte. Welcher Art sie auch immer gesonnen sind, ich muß so bald wie möglich hundert Meilen zwischen mich und diesen Hof bringen, und dabei will ich rechnen auf Margot, die Feindin, die mir dennoch ihre Mutter verrät.‹
Hier stockte der Gedanke. In dem Denkenden fielen einzeln die Worte: ›Faciuntque dolorem.‹ Laut, ohne daß er es gewollt hatte, sagte Henri: »Auch sie nicht und niemand ist verläßlich. Ich muß mir selbst helfen.«
Er sah sich um. Zugegen war nur d'Armagnac, der nichts gehört hatte oder so tat. Der Erste Kammerdiener hielt die Hand auf dem Türgriff, ohne ihn umzudrehen. Dies erfolgte erst, als ein Herr unzweifelhaft in die Gegenwart zurückgekehrt war. Das geöffnete Vorzimmer wies zwei Edelleute auf; sie standen vor der Schwelle, bereit, den König von Navarra mitzunehmen, nicht wohin er befahl, sondern wohin sie Auftrag hatten. In dieser Haltung warteten Herr de Nançay, den Henri geohrfeigt hatte, und Herr de Caussens, einer der Mörder des Admirals. Auf sie trat Henri zu, ohne Überwindung wie es schien, ja ohne das volle Bewußtsein der Lage, denn er ließ ein harmloses Lachen hören. Sogleich entschuldigte er sich deswegen durch einen frommen und betretenen Ton. »Gehen wir von hier geradeaus zur Messe?« fragte er und stellte sich von selbst in die Mitte. »Die Stunde ist günstig, da wir alle nüchtern sind wie noch nie. Oder haben die Herren seit gestern etwas zu essen bekommen? Ich nicht einmal ein Blatt Salat, und das fällt mir schwerer als alle anderen Zumutungen an meine Natur.« - Bis zu ihrer Ankunft im großen Saal des Louvre hielt er noch mehrere unverantwortliche Reden, zwischen denen er vergebens Pausen für eine Antwort ließ. Ernstlich war er inzwischen beschäftigt, herauszufühlen, warum sie schwiegen. Nur, weil sie auf diesem Wege seine Wächter waren, er aber ihr Gefangener? Sie hatten noch andere Gründe, die mußte er unterscheiden. In der Kenntnis dieser Menschen war sein Heil.
Zuerst erblickte man nur Rücken. Aus allen Fenstern lehnten Personen, und andere suchten sie zu verdrängen, um selbst hinauszusehen. Am Himmel schien auf einmal völlige Nacht zu sein, und bei den Menschen herrschte eine Aufregung, die auch Henri und seine Begleiter sofort ergriff. Diese ließen ihn stehen. Er selbst fand neben sich d'Alençon, den jüngsten Bruder des Königs. Der Mann mit den zwei Nasen, wie er wegen eines Auswuchses genannt wurde nickte vielsagend. Sein Vetter Navarra mußte ihn ausdrücklich fragen, was draußen vorging. Hierauf erwiderte der Vetter ein Wort - und schnell war sein Blick anderswo. »Die Raben«, hatte er gesagt.
Da erkannte Henri die Ursache der unvermittelten Verdunkelung: ein großer Schwärm der schwarzen Vögel ließ sich auf den Louvre nieder! Ein Geruch, der ihnen angenehm war, hatte sie angezogen von fern, als noch die Sonnenhitze ihn verstärkte; aber sie hatten ihre Stunde erwartet. Der Mann mit den zwei Nasen äußerte: »Für die ist hier gesorgt worden« - warf es nur hin, wechselte die Stellung und kehrte im Kreise zu seinem Vetter zurück, nicht ohne wachsame Kopfbewegungen, wer etwa aufpaßte. »Für sonst niemand«, ließ er fallen und verschwand auf eine Weile hinter den Drängenden. Ein schöner Mensch Bussy, murmelte wie für sich selbst: »Nicht auf ihn hören! Ist etwas verrückt. Das sind wir alle.« Worauf auch er wieder untertauchte.
Allmählich kehrten viele aus den Fenstertüren in das Innere zurück. Die meisten Gesichter waren bleich und trugen Wunden oder Beulen; die Schwellung an der Stirn Navarras war nicht die einzige. Manche Augen verrieten das innere Schaudern, eine Fremdheit der Menschen mit sich selbst; und gewisse Hände schienen verlegen um ein Versteck. Sie wurden über der Mitte des Körpers einigermaßen krampfig vereinigt, ohne deutlichen Grund aber verließ die eine der Hände die andere und fuhr nach dem Sitz des Dolches. Henri lachte mehrere Verstörte einfach aus. »Ich habe schon mal solches Federvieh gesehen« erklärte er. »Ohne so etwas kein Schlachtfeld.«
Jemand, der für sich allein quer durch den Saal ging, sagte: »Ein Schlachtfeld ist nicht dasselbe wie der alte Hof oder Brunnen des Louvre.« Das war Du Bartas; er sah sich nicht um nach seinem Herrn und Freund. Henri rief ihm nach: »Wir beide liegen nicht in dem Brunnenschacht. Darauf kommt alles an nicht darin zu liegen.« Hierbei lachte er - offenbar aus kindischer Unkenntnis der wirklichen Umstände; oder kann Gutmütigkeit so weit gehen? Die Nächsten wendeten sich fort, um nicht zu zeigen, was sie dachten. Nur Du Guast, ein Liebling des Thronfolgers d'Anjou, tat sich frech hervor. »Wie leicht, Sire konnte Ihnen dasselbe zustoßen!« Dann allerdings machte auch er, daß er hinüber und durch einen Ausgang gelangte. Keiner hielt lange am Platze aus, alle bewegten sich, aber fast nie gemeinsam. Wer soeben mit jemand gesprochen hatte, brach ab, verschloß seine Miene und entfernte sich allein. Die beiden Mörder de Nançay und de Caussens hatten mittlerweile veränderte Gesichter; die finstere Ratlosigkeit stand darin; und auf einmal trennten auch sie sich.
Die ganze Länge des großen Saales, mitten hindurch unter den zwanzig Kronleuchtern schritt der Herzog von Guise in voller Pracht und mit reichem Gefolge. Dem stolzen Henri Guise in den Weg trat erstaunlicherweise Henri Navarra - faßte den anderen genau ins Auge und winkte mit der Hand: wer es sah, hielt den Atem an. Indessen geschah, daß Guise zurückgrüßte und sogar auswich. Nachträglich besann er sich und stieß hervor im Ton des Triumphes: »Gruß vom Admiral!« Dies hören, und alles flüchtete. Lothringen trat stark auf, aber sein Schritt verhallte in der Leere.
Henri machte sich, wie die anderen, weniger sichtbar, bis vielleicht nochmals eine Menge zusammenlief. Es konnte nicht ausbleiben, bei der allgemeinen Neugier, dem Mißtrauen, der Unsicherheit. Im Augenblick drückte man sich nur an den Wänden hin, und zu Henri schlich heimlich sein Vetter Condé. »Weißt du?« fragte er.
»Ich bin Gefangener, was weiter? Schwer zu erraten - obwohl ich dem Guise ins Gesicht geblickt habe.«
»Guise hat dem Herrn Admiral, als er tot war, in das Gesicht getreten. Ich sehe dir an: dies wußtest du nicht. Für uns fürchte ich das Schlimmste.«
»Dann hätten wir es verdient. So dumm wie wir darf niemand sein. Wo ist meine Schwester?«
»In meinem Hause.«
»Sag ihr, daß sie recht gehabt hat, aber daß ich entkommen werde.«
»Ich kann ihr nichts ausrichten, denn auch ich darf nicht aus dem Louvre. Die Wachen sind verstärkt, wir werden nicht entkommen.«
»So bleibt uns nichts anderes übrig, als zur Messe zu gehen?« fragte Vetter Navarra. Vetter Condé, der bei dem Wort noch jedesmal gewütet hatte die vorige Nacht, jetzt beugte er den Nacken und seufzte. Dennoch entsetzte ihn der Leichtsinn des Vetters Navarra, denn der rief aus: »Hauptsache, man lebt.«
Dabei blieb er, als wieder mehr Leute sich einstellten. Er sagte: »Herr de Miossens, Sie leben! Ist das nicht die größte Überraschung Ihres Lebens?« Er rief aber auch: »Herr de Goyon, Sie leben« - und dieser lebte gar nicht, er war nicht hier im großen Saal, er lag im Brunnen des Louvre als ein Fraß der Raben. Wer Navarra so sonderbar sprechen hörte, wandte sich fort mit ungleichen Mienen: die einen drückten Besorgnis, Schuld oder Mitleid aus, die anderen nur Verachtung. Henri indessen ließ sich einfallen, sein ewiges »Sie leben!« sogar an den Thronfolger d'Anjou zu richten. Da erkannte man endgültig, daß er auch nach der Bartholomäusnacht ein unbedachter Spaßmacher geblieben war. Man bezeugte es ihm mit einem Lachen der Erleichterung, mißbilligend war es nebenbei. Er unterschied alles, er merkte sich jeden - während sie meinten, er dächte an Witze.
D'Anjou traf gerade ein, und in sehr guter Stimmung: davon wurde es weniger schwül in dem Schloß, das auf einmal höher aufragte zu dem Augustabend. D'Anjou endlich benahm sich wie ein Sieger, heiter und gnädig: »Ob ich lebe! Zum ersten Male lebe ich wirklich; denn mein Haus und Land sind dem größten Unheil entgangen. Navarra, der Admiral war unser Feind, und er betrog dich. Sein Sinn stand nach der Vernichtung des Friedens in Frankreich und der übrigen Welt. Er plante Krieg mit England und verbreitete das Gerücht, die Königin Elisabeth wollte uns Calais wegnehmen. Wahrhaftig, der Admiral mußte sterben. Alles übrige ist davon die leidige Folge, eine Kette von Unglücksfällen, die Auswirkung alter Mißverständnisse und ganz vergeblicher Feindschaften, die wir begraben und zu den Toten legen wollen.«
Die letzten, unglücklich gewählten Worte machten dem empfindlichsten der Hörer etwas übel. Sonst aber erschien die Rede ausgezeichnet durch die Absicht des Besänftigens und wohltuenden Vertuschens. Eben hiernach hatte man sich dringend gesehnt. Andererseits war die Rede lang gewesen; d'Anjou spürte Durst, und auch von einer zu starken Aufmerksamkeit schmachtet man. Als aber Wein gebracht werden sollte, stellte sich heraus, daß der Louvre auch nicht einen Tropfen enthielt. Die Vorräte wurden nur Tag um Tag gekauft. Die gestrigen waren völlig drauf gegangen nach dem Mordgeschäft, und heute? Heut war kein Tag gewesen. Niemand hatte an Wein gedacht, so wenig wie an Fleisch, und nicht einmal die gemeinen Wirtshäuser wagten offenzuhalten. Der Thronfolger und der Hof mußten trockene Kehlen erdulden. »Darum aber brauchen wir doch nicht im Dunkeln umherzuhuschen wie Schatten«, bemerkte d'Anjou und befahl, die zwanzig Lüster zu beleuchten. Merkwürdig, auch das war keinem eingefallen.
Die Haushofmeister schickten Diener aus, die sich laufend entfernten und im Schritt wiederkamen, die Hände meistens leer. Nur stückweise wurden Kerzen aufgefunden - nach der vorigen Nacht, in der alle niedergebrannt waren beim Heulen des Mordgeschreis. Einige Zeit lang wurde es im Saal noch immer dunkler. Auch die Bewegungen der Personen schliefen ein, und die Stimmen sanken. Jeder stand allein, erkannte nur mit scharfem Auge, wer sein Nachbar war, und wartete unbestimmt. Eine Dame schrie hoch auf. Sie wurde hinausgetragen, seitdem aber war offenkundig, daß die wohlgesetzte Rede des königlichen Bruders im Grunde nichts verändert hatte. Henri, der zwischen ihnen hindurchschlich, hörte flüstern. »Wir haben in der Nacht zu viel oder zu wenig getan.«
Auch hörte er antworten: »Der heißt nun einmal König. Hätten wir auch ihn noch mitgenommen, wir bekämen es mit allen Königen der Erde zu tun.« Danach begriff der König von Navarra von seinem Schicksal einiges mehr. Besser als andere, die nur munkelten, erfaßte er in der vorher vernommenen Rede seines Vetters d'Anjou den tiefen Sinn und die eigentliche Herkunft. D'Anjou kam, als er hier eintraf, von seiner Mutter, das war das Geheimnis! Madame Catherine saß im verwahrten Zimmer an ihrem Schreibpult, entwarf mit der eigenen fetten Hand Buchstaben, die so zerfahren waren, wie sie selbst gesetzt schien; und schrieb sie der Protestantin in England, dann war es eben dies: »Der Admiral hat Sie betrogen, liebe Schwester, nur ich allein bin Ihre Freundin.« - ›Alles auf einen Toten schieben - so entzieht man sich der Verantwortung von Greueltaten; und die Welt, die für Greuel nicht gern mitverantwortlich ist, darf sich beruhigen, was sie auch vorzieht. Das alles geht die Toten an. Und mich!‹ dachte Henri. Geschützt von Nacht und Finsternis, ließ er endlich sein Gesicht in die wahren Züge fallen. Sein Mund verzerrte sich, und seine Augen sprühten Haß.
Gleich darauf unterdrückte er alles, nicht nur den Ausdruck, auch das Gefühl: denn es wurde Licht. Diener auf Leitern zündeten endlich einige Kerzen an; die warfen einen schwachen Schein in die Mitte des Saales. Die Menge der Höflinge machte: »Ah!« - wie noch jede Menge gemacht hat nach einem Warten im Dunkeln. Zu Henri Navarra trat sein Vetter d'Alençon. »Henri«, begann er. »So geht das nicht. Wir müssen uns aussprechen.«
»Das sagst du jetzt, da es hell wird?« erwiderte Henri ihm.
»Ich sehe, daß du mich verstehst«, bestätigte ihm der Mann mit den zwei Nasen. Er wollte ganz deutlich machen, daß er nicht dumm wäre. »Verstell dich weiter!« verlangte er ausdrücklich. »Auch ich muß den guten Sohn und Katholiken spielen, insgeheim aber trete ich nächstens zu deiner Religion über. Man ahnt noch nicht, wie viele das tun werden nach allem, was geschehen ist.«
»Ich soll wahrscheinlich im ganzen Louvre der beste Katholik sein«, entgegnete Henri.
»Mein Bruder d'Anjou bläht sich: es ist kaum noch auszuhalten! Held des Tages, hat sein Ziel erreicht, ist heiter und gnädig.«
»Schwärzliche Geister umschweben ihn nicht länger«, ergänzte Henri.
»Der Liebling unserer trefflichen Mutter, jetzt ist für ihn die Bahn frei. Nur unser toller Bruder Karl braucht noch zu sterben. Hast du Lust, Navarra, das mit anzusehen - ohnmächtig knirschend? Ich nicht. Laß uns fliehen und das Land aufrufen! Ohne Zeitverlust!«
»Ich habe allerdings schon einmal versäumt, den Guise zu erdolchen« - dies entfuhr dem Vetter Navarra, bevor er seine aufgebäumte Wut im Zaum hatte. Alsbald besann und faßte er sich. ›Dem Mann mit den zwei Nasen durfte man nicht weit trauen. War er nicht falsch, dann jedenfalls zerfahren wie die Buchstaben seiner Mutter‹, dachte Henri. ›Auf ihn keine Pläne bauen‹, dachte er. ›Ihm mich nicht verraten!‹- »Für dies Versäumnis aber danke ich Gott«, schloß er den angefangenen Satz über die Erdolchung des Guise.
D'Alençon beachtete gar nicht mehr, daß der Vetter es an Offenheit fehlen ließ. Für seinen Teil packte er alles aus: »Du wirst es nicht glauben, aber sie erwarten heute abend die fremden Gesandten. Der päpstliche Legat und der Vertreter Don Philipps von Spanien sollen kommen und ihnen ihre hohe Befriedigung ausdrücken über die gelungene Bartholomäusnacht. Glückliche Verbrecher vergessen immer ganz den Gegenstand ihres Glücks, der doch abstößt. Madame Catherine ist angekleidet und wacht. Ah! Gehen wir ein Stück weiter. Hier herum hat die Wand ein künstliches Echo, man hört es im Zimmer meiner verehrten Mutter. Unser Gespräch könnte sie bedenklich stimmen.«
»Ich habe nichts gesagt«, stellte Henri fest.
»Ich hasse d'Anjou«, war die Antwort des Bruders.
»Was willst du von ihm, Franz? Mich soll er nur leben lassen.« Henri sah absichtlich niemals hinüber; dennoch entging ihm nicht, daß unter dem einzigen brennenden Lüster ein Spieltisch aufgestellt wurde. D'Anjou rief auch schon: »Mein Bruder d'Alençon! Mein Vetter Navarra!«
»Gleich, mein Herr Bruder!« beschied ihn Franz von Alençon. »Wir beide erzählen einander etwas Wichtiges.« Was man so gradheraus sagt, kann unmöglich eine Verschwörung sein! Die Vettern brachten noch einigen Abstand zwischen sich und ihre Umgebung. D'Alençon versah seine Reden mit gewissen schroffen und sinnlosen Bewegungen. Einmal schien er ein Gewehr anzulegen. Einmal griff er nach dem Boden, vielleicht ließ er eine eingebildete Meute von der Koppel. »D'Anjou ist verrückt«, sagte er. »Alle sind verrückt. Nicht nur den Legaten erwarten sie, und auch das Lob, das Don Philipp ihnen spenden soll, genügt ihnen noch nicht. Sie träumen von nichts Geringerem als dem Besuch des Engländers Walsington. Wer bedenkenlos durchgegriffen hat gegen einen Schwächeren, der meint merkwürdigerweise immer, England müßte ihn dafür lieben.«
Henri sagte: »Vetter d'Alençon, wenn du so vieles durchschaust, warum übersiehst du immerfort das Haus Lothringen. Es will euch Valois vom Thron stoßen. Ich bin euer guter kleiner Verwandter und möchte euch warnen. Soll die Bartholomäusnacht eine christliche Tat sein und das Königreich durch Schrecken zusammenhalten, dann vergeßt nicht, daß Paris in Lothringen schon vorher den größeren Katholiken erblickt hat. Wie erst jetzt, da er dem toten Herrn Admiral hat ins Gesicht getreten!« So sprach Henri fast unhörbar, damit er nicht etwa versehentlich aufschrie oder die Stimme ihm bräche.
D'Alençon wiederholte: »Guise hat dem toten Admiral ins Gesicht getreten, und davon bleibt er selbst gezeichnet. Ihn fürcht ich nicht. Der schöne Mann, den Paris auf Händen trägt! Wie bald ist so ein Gesicht entstellt - auch seins. Hoffen wir: von der Pest!«
Alles dieses wurde begleitet von schroffen und sinnlosen Bewegungen.
»Übrigens«, meinte Vetter d'Alençon »wir sind außerhalb des Lichtkreises, und wer nicht recht zu sehen ist, dem hört auch niemand zu - außer den berufenen Spionen meiner Frau Mutter. Sie ist aber heute abend ungewöhnlich beschäftigt und hat sogar vergessen, uns ihre Ehrenfräulein zu schicken.«
Henri schloß: »Ich erlaubte mir nur eine Warnung an Haus Valois. Ich meinte es gut, und meine Achtung vor der Königinmutter ist unbegrenzt.«
Darüber lachte der Vetter, wie über den letzten Witz einer erfreulichen Unterhaltung. »Du hast dich keinen Augenblick verraten, lieber Vetter: ich bezeuge es dir. Ich habe mich in deine Hand begeben und du dich nicht in meine. Indessen kennen wir einander jetzt, und was magst du sonst noch alles gelernt haben heut abend!«
Auch das war richtig. Dieser erstaunliche Irrwisch Franz war indessen verschwunden von der Seite seines Vetters, fortgetragen von einem Schub Höflinge, die nach dem Vorzimmer drängten. Dort entstand schwankendes Fackellicht, große Schatten stürzten über den Weg, und sehr laut wurde alsbald die Stimme der herannahenden Majestät Karls des Neunten. Er grölte und schien nicht übel toll zu sein. Der sich selbst überlassene Navarra bedachte: ›Auch ihn werd ich belügen müssen, und er hat mir doch das Leben gerettet. Das nächste Mal wird selbst er es nicht mehr können. Ich weiß, was mir droht: ich habe dem Guise ins Gesicht geblickt. Ich kenne auch die Miene der alten Mörderin, die sich nicht zeigt, bevor die fremden Gesandten aufwarten - und sie warten nicht auf. Die Bartholomäusnacht war ein Mißerfolg, mich aber haben sie. Das kann nett werden. Was, Madame Catherine und Guise! Alle, alle hab ich studiert heut abend, daß mir der Kopf sich dreht wie von zu vielen Büchern.«
Er bewegte sich von der Stelle, ging durch den vorspringenden Fackelschein dem König von Frankreich entgegen, setzte auch rechtzeitig sein angenehm leichtsinniges Gesicht auf. Heimlich schauernd von Furcht und Haß dachte er: ›In der Kenntnis dieser Menschen ist mein Heil.‹
Karl der Neunte machte keine Umstände, er ließ alle Fackeln an den Kronleuchtern befestigen und Pech auf die weißen Schultern der Damen träufeln. Alles lieber als Finsternis: sogar dies rotflackernde Licht der Unterwelt. Karl und sein Hof waren unzweifelhaft in die Hölle versenkt; der Gedanke kam jedem, und man spähte nach den Fenstern, ob noch die Raben flögen. Das wäre doch ein Zeichen gewesen, daß man oben auf Erden war.
Inmitten vermaß Karl sich wie ein Dämon. Er selbst in eigener Person, heut hatte er geschossen, von dem Balkon seines Hauses, auf fliehende Hugenotten! Er hatte sie absichtlich verfehlt, dessen rühmte er sich nicht. »Ha! Dem Galgen habe ich meinen Besuch abgestattet, daran schaukelt der Herr Admiral. Mein Vater!« brüllte er, wie die Hölle lacht. Einen Augenblick kam er zur Vernunft und wurde leise. »Der Admiral riecht nicht gut«, sagte er - nahm Abstand von allem, was in der Welt schlecht duftet, und bekam den vornehmen Seitenblick wie auf seinen Bildern. So betrachtete er auch Navarra und Condé.
»Ihr Protestanten hattet konspiriert. Uns blieb nur übrig, uns eurer zu erwehren: so habe ich die ganze Sache meinem Parlament erklärt am heutigen Tage - das Blutgericht, das ich abhalten mußte in meinem Königreich; und dies und nichts anderes sollen meine Geschichtsschreiber der Nachwelt überliefern, ob sie es glaubt oder nicht.«
Darauf verlangte er zu trinken, denn sein Tag war überlastet gewesen; und als er hörte, Wein wäre nicht zu haben, warf er den Spieltisch um. Der neue Anfall dauerte, bis dennoch aus einem Winkel der Gesinderäume eine Art von Essig herbeigeschafft war. Karl schlürfte ihn aus dem Pokal von getriebenem Gold; rundum war zu sehen Diana als Jägerin mit ihrem Gefolge, die beiden Henkel aber formten mit ihren Bogen den Leib reizender Sirenen. Sauer schluckend musterte der Tolle seine protestantischen Vettern. Sauer macht lustig. »Da seid ihr«, rief er. »Zwei künftige Kirchenlichter! Mein Wort, ihr sollt Kardinäle werden!« Die Aussicht bereitete ihm unbändiges Vergnügen. Diesmal lachte mit ihm sein ganzer Hof, aufgestellt in einem weiten Kreis um den vereinzelten Spieltisch, darüber hin loderten Fackeln. Karl saß breit dahinter; sein Bruder d'Anjou fürchtete seine Anfälle, er begnügte sich mit der Kante des Stuhles. Was die beiden Ketzer betrifft, sie standen, senkten die Köpfe und erduldeten das Gelächter.
Der fünfte Spieler verlangte: »Anfangen.« Es war Lothringen. »Setzt euch«, befahl er den beiden Opfern. Dann gab er Karten, jedem vier, das Spiel hieß Prime. Die fünf betrachteten ihr Blatt, und auch der Hof im weiten Umkreis versuchte hineinzuschielen. Der Hof, das war Seide in allen Farben, gestreift, mit Wappen bestickt. Das waren kurze Gestalten mit glänzenden Bäuchen, und lange, die auf Stühlen zu stehen schien, so hoch ragten sie aus dem Hintergrund. Die Beine waren unten dünn und oben wie Tonnen, auch die Ärmel blähten sich um die Schultern, und auf den gespreizten Halskrausen lagen Köpfe jeder Gattung zwischen Geier und Schwein. Launisch waren beleuchtet ihre Höcker oder Auswüchse. Sie alle aber starrten angestrengt auf das königliche Spiel.
»Navarra, wo hast du meine dicke Margot?« fragte Karl, während er ausspielte. »Und warum zeigt meine Mutter sich nicht, da sie euch Hugenotten hat mit Leimruten gefangen? Ja - und alle Damen des Hofes?« Plötzlich hatte er bemerkt, daß nur wenig Weiblichkeit verteilt war über den Umkreis seiner Zuschauer.
Sein Bruder d'Anjou flüsterte ihm etwas zu. Karl selbst verschmähte es durchaus, die Stimme abzuschwächen. »Die Königin, meine Mutter, empfängt soeben die fremden Gesandten. Sie sind in ihrem Kabinett erschienen - alle auf einmal. So ist es. Bei mir sich anzumelden, vergaßen die Herren. Übrigens haben wir nichts bemerkt von ihrem Aufzug. Sie sind sehr leise aufgetreten; die Gesandten der großen Mächte kennen auch das große Geheimnis, sich unsichtbar zu machen.« Gelassen warf er seine zweite Karte hin; sein Gehaben sah nach stiller Verachtung aus, es konnte heißen: Ich weiß, was gespielt wird, und nur mit Abstand spiele ich mit.
Lothringen gab vier Karten. Das Spiel hieß Prime, und eine Anzahl Punkte gewann, wer von allen vier Sorten je ein Blatt hatte. Navarra deckte sein Spiel auf und zeigte die vier verschiedenen Blätter. »Henri«, sagte auf einmal der andere Henri aus dem Hause Guise. »Dies wirst du hören wollen. Es steht dermaßen, daß für mich die Gesandten nicht unsichtbar sind. Sie haben ihre Verwunderung ausgesprochen, weil wir gerade dich haben am Leben gelassen.« Eine leere Herausforderung, da dieser Guise der letzte war, mit dem ein Gesandter sich heute hätte blicken lassen. Henri Navarra antwortete damit, daß er schon wieder seine Karten umwendete: von den vier Sorten je ein Blatt.
Als er es gleich darauf zum dritten Male tat, fuhr jemand aus der Haut: d'Anjou. Er erlaubte sich auf den Tisch zu hauen trotz seiner Furcht vor den Anfällen Karls; jetzt hatte er selbst einen. Dahin waren Heiterkeit und Gnade des Siegers. Die Gesandten kamen niemals. In Wirklichkeit wurde Madame Catherine verzehrt von Ungeduld nach ihren Glückwünschen. Ohne eine fremde Anerkennung traute sie sich nicht hervor und ließ auch Margot nicht. Guise an seinem Teil zeigte das unverschämte Gesicht des Volkslieblings und verblüffte die Leute durch die Haltung seiner wuchtigen Gliedmaßen noch mehr als mit seinen Aufschneidereien. Karl der Neunte aber, weit entfernt, dem Burschen eine Lehre zu erteilen, freute sich. ›Der heimliche Hugenott‹ - empfand sein Bruder haßerfüllt. D'Anjou fühlte, daß der Hof die Lage zu begreifen anfing. Das waren Gesichter sorgenvoll: wohin sich wenden, woran sich halten - Gesichter von Verrätern. Zu denken, daß auch die Stadt eingeschüchtert war und die Bartholomäusnacht halbwegs verleugnete wie der Hof! Das herrliche Gefühl des liebsten Sohnes schlug um in eine solche Erbitterung, daß er aufschluchzte. Dies war nun der Lohn kraftvoller Taten. Dafür hatte man die Menschen aus erbärmlichen Zuständen herausführen wollen in erhebende, hatte abgelegt zum erhebenden Zweck sowohl das Gewissen als auch die Menschlichkeit. Hatte sich selbst enthoben den Pflichten des Christen und den Geboten der Wahrheit. Das hatte er getan; er, d'Anjou, erzogen von Priestern und Humanisten im Collegium Navarra, wußte völlig Bescheid über sich. ›Ich bin nicht Guise, der sich vor Stolz auf seine Gliedmaßen nicht kennt. Ich habe mich zum Manne der Bartholomäusnacht gemacht!‹ Das ist verzeihlich nur im Fall des Erfolges. Dies aber wird stündlich mehr zum Mißerfolg.
Die Fackeln waren verbrannt und abgetropft; von Finsternis belagert, saß nur noch die königliche Spielpartie im ungewissen Schein. D'Anjou wollte zum zweitenmal auf den Tisch schlagen, er wollte ihn umwerfen, so gut wie sein Bruder, wenn er Anfälle hatte. Inzwischen gab Lothringen Karten, da blieb die Faust des Thronfolgers in der Luft hängen: Navarra zeigte unabänderlich seine vier verschiedenen Blätter. »Hexerei«, knurrte Karl. Der Hof gab ein langgestrecktes Summen von sich, darin waren zu unterscheiden Wohlgefallen und Wehgefühl. Es ist spannend, einem erstaunlichen Vorgang beizuwohnen. Aber bestimmen, was er bedeutet, kann gefährlich sein.
Dieser Sorge wurde der Hof enthoben. Die königliche Partie war plötzlich vergessen, jeder andere Vorgang setzte aus angesichts eines neuen. Im Vorzimmer erschienen Pagen mit Armleuchtern voll brennender Kerzen - immer mehr Träger von voll besteckten Kandelabern, und die Wachslichte waren auf einmal unzählig in dem Schloß, das vor kurzem kein einziges hatte herausgeben wollen. Der erleichterte Hof drängte zum Ausgang, dort wurden die Edelleute von Wachen zurückgestoßen; indessen, das Ereignis wuchs zusehends und erstreckte sich weiter. Hinter dem Vorzimmer sah man auch das Paradezimmer des Königs besetzt mit Reihen von Knaben. Ihre halblangen Haare schimmerten von Flammen, die sie vor sich hielten, und es glitzerte der Silberstoff auf ihrer Brust. Ja, die jenseitige Tür des Paradezimmers füllte sich gleichfalls mit Helligkeit. Um die Ecke lagen die Gemächer der Königin, man übersah sie nicht; und ein unbekannt nahendes, grenzenlos verstärktes Strahlen wie das des Paradieses und der unbegreiflichen Versprechungen - es erregt Herzklopfen, man äußert sich darüber laut, wenn man so gedrängt steht wie der Hof, im Rücken das erlöschende Flackern des großen Saales. »Herr Ritter, das Herz klopft mir.« - »Selbst mir, Madame. Was geht da vor?«
Gerade so wollte es Madame Catherine: dies war von ihr vorausberechnet. Denn Madame Catherine befand sich zwar in der Unruhe, die auch ihr Sohn d'Anjou bei ihr vermutete, infolge der Abwesenheit der Gesandten. Er konnte gleichwohl wissen, daß Enttäuschungen seine Mutter keineswegs verwirrten oder ihrer Mittel beraubten. Anders als die Mehrzahl wurde sie in Augenblicken der vergeblichen Erwartung nicht erregt, sondern ruhig bis zur Stumpfheit, und zeitweilige Fehlschläge bereicherten sie nur um neue Erfindungen.
Madame Catherine, eigentlich Katharina von Medici, hatte während ihrer Bartholomäusnacht mehrmals beträchtliche Furcht gehabt: es war zu erklären aus der Menschennatur. Lange geplant und achtsam angeordnet, können so besondere Unternehmungen dennoch immer auch anders enden. Genug, Madame Catherine, eigentlich Katharina von Medici, hatte, allerdings am Stock schleichend, zu ihren stämmigen Leibwächtern hinaufgeäugt, um zu ermessen, wie lange diese Schweizer und Deutschen gegebenenfalls ihr Zimmer halten und ihren teuren alten Leib noch schützen könnten gegen eindringende Hugenotten. Aber in ihrem Schrank hatte sie hantiert nicht nur im Hinblick auf ihre Feinde, sondern auch auf ihre Wächter. Ob es nicht gesünder für sie selbst wäre, wenn die rüstigen Männer infolge eines herzhaften Trunkes alle reglos am Boden lägen? Dann ließe sich mit einigen geschickten Stichen und Schnitten ein Gemetzel vortäuschen, und jeder hätte geglaubt, die Königin wäre verschleppt und abgetan. Währenddessen hätte sie in einem ihr allein bekannten Versteck auf ihre Zeit gewartet; und die konnte nicht ausbleiben.
Alle Irrtümer der Menschen wie auch die Fehler der Geschichte rührten daher, daß vergessen wurde, wofür die Welt und auch dies Land bestimmt waren: beherrscht zu werden, unweigerlich und unumstößlich, von Rom und vom Haus Habsburg. Der Florentinerin war es ein für alle Male bekannt. In Lagen, wenn sogar ihre Söhne ihr widerstrebten, drohte sie zurückzukehren in ihre Stadt. Indessen dachte sie daran niemals, sondern erachtete sich als ein wichtiges Werkzeug der Weltmacht, entsandt, um auch Frankreich ihr einzuordnen, zu seinem eigenen Wohl natürlich und besonders, zum Besten des regierenden Geschlechts. Die französischen Protestanten hielten diese Frau in reiferen Jahren für eine höllenhafte Verbrecherin. Sie handelte aber sogar während der Bartholomäusnacht mit bestem Gewissen - nicht wie ihr Sohn d'Anjou, der mit den Humanisten des Collegiums Navarra erst fertig werden mußte in seinem Herzen.
Seine Mutter wußte sich auf dem rechten Wege: das ist der Weg des Erfolges. Noch sehr lange sollte es dauern, bis sie ihrerseits sich überzeugte, daß die Bartholomäusnacht ein Mißerfolg gewesen war. Da lagen ihre Söhne in der Grube, das Königreich brannte, blutete, zerfiel - aber auf dem Anmarsch zum Thron war der Retter, ein kleiner Prinz aus dem Süden. Einst hatte sie ihn eingefangen, Lockvogel war ihre Tochter Margot gewesen.
Hier sitzt er, seht her! Ist seiner Freunde beraubt, seiner Soldaten, ist machtlos und ein Gespött. Sogar seine Glaubensgenossen werden ihn verachten, wenn er ihr Bekenntnis abgeschworen haben wird, und das soll nicht ausbleiben! Der Schwiegersohn der Königin von Frankreich zu sein, ist er auch nicht mehr wert, der arme Narr. Der Hof soll ihn auslachen - beschließt die kluge Frau in reiferen Jahren. Das ist rätlicher, als ihn umzubringen. Die Königin von England hört lieber, daß er komisch, als daß er tot ist. Ich habe ihr berichtet, überzeugend genug: sie wird die Bartholomäusnacht schlucken wie einen Verkehrsunfall - wenn denn die Ketzerin nicht erkennen kann, was für eine reinigende Tat das ist! Zum Teufel mit den Gesandten, die heute ausbleiben. Sie werden sich wegen ihres Zögerns noch entschuldigen. Inzwischen allerdings darf man Zweifel nicht aufkommen lassen. Große Erfolge können zuerst wohl Störungen unterliegen, Schnell, Gegenmaßnahmen! Den Hof in gute Laune versetzt, damit er weiterspricht, welcher Glanz auf das Schloß Louvre fällt von unserem großen Sieg!
Sogleich kommt Leben in Madame Catherine, und sie entsendet Befehle. Vor allem schickt sie nach ihrer Schwiegertochter, der Erzherzogin - einem Ausstattungsstück, das selten vorgeführt und gewöhnlich nur aufbewahrt wird in einem stillen Flügel des Erdgeschosses - eigentlich wären es die Räume der Königinmutter, aber die bewohnt die stattlicheren hier oben. Mit dem Anzug ihrer Töchter Margot beschäftigt sie selbst sich. Alle Perlen, die blonde Perücke und das Diadem, die Kränze und Lilien aus Diamanten - kalter Friedhof der Liebe, darunter soll wandeln die ganz groß dargestellte Schönheit. Nein, nicht das Kleid aus Goldstoff! Gold ist einem anderen Sinnbild zugedacht. Da die Tochter auf ihrem Prunkstück beharrt, fliegt ihr die Mutterhand fest und sicher ins Gesicht; die Wange muß nochmals geschminkt werden. Dann läßt die Alte sich eine Hetzpeitsche bringen - oh! nicht für die Prinzessin, die ist besänftigt. Noch ein besonderes Geschöpf wird benötigt und soll abgerichtet werden. Keine Zeit versäumt, schon sind die beiden Reihen der Pagen mit ihren Armleuchtern vorgeschoben bis gegen den großen Saal. Aber ein feierlicher Strahl der Allerhöchsten Majestät trifft aus unerkennbaren Gegenden den Hof und erschreckt ihn. Seine ältesten Edelleute sind vorbereitet auf abergläubische Begebnisse wie Kinder vom Lande. Dies ist der Augenblick. Musik!
Oh, Klänge der Erhabenheit und thronenden Allmacht! Der Hof weicht auseinander, auch die Kartenpartie mitsamt dem König zieht sich gegen die Wand zurück, und abgegrenzt wird die breite Mitte von Knaben, die aus dem ganzen Königreich die wohlgebildetsten sind. Ihre beiden Fronten verbreiten Licht; andere Knaben, die dazwischen hindurchgehen, dienen dem Wohlklang. Ihr Zusammenspiel rauscht, schwingt sich hinan und lobpreist. Jetzt aber treten Damen auf, nur die prachtvollsten der Edelfrauen und die reizendsten der Ehrenfräulein. Düfte schweben, und hoch oben schwankt ein Baldachin, gehalten von vier Zwergen, rot bekleideten, mit vorgehängten Bärten aus Flachs. Darunter bewegt sich in eigener Person das selten vorgeführte Ausstattungsstück, das kostbare Pfand der Weltmacht beim Hof von Frankreich: Elisabeth, Erzherzogin, des römischen Kaisers eigene Tochter.
Man hatte ihr niemals so nahe ins Gesicht gesehen, obwohl noch jetzt, durch zuviel flirrendes, verwirrendes Licht gesorgt war, daß man nicht zu genau sah. Auch waren es nur Männer, die sie betrachten durften; das Geschlecht, das scharfsichtiger und kühner ist, mußte wohlweislich selbst etwas vorstellen im Zuge. Haus Habsburg nun wurde hier vertreten von einer Neunzehnjährigen, aber wem fielen ihre Jahre ein beim Anblick dieser Maske ohne Alter, starr wie das Gold, darin sie wandelte. Sie wurde diesmal nicht gerollt von spanischen Priestern, die geschwitzt hatten unter Teppichen. Sie setzte selbst die Füße, und diese waren groß. Sie mochte lange und kräftige Beine haben, falls eine so waghalsige Vermutung jemandem beifiel. Durchaus möglich, daß mancher durch den Panzer ihres Namens und Rufes hindurchdrang bis zu ihren Beinen und nicht ohne Ironie das Gewicht dieser seltenen Stücke abschätzte. Auch sie selbst war erfüllt von der Tätigkeit des Gehens. Jeder ihrer Schritte war ein gerade noch aufgehaltener Fall, und wankend trug sie durch die Räume, die grenzenlos erschienen, so weit hinten begann die Dunkelheit - trug wankend die Masse Goldes, die Wucht der Krone, die Steine, die Ketten, die Spangen und Ringe, den Schuh aus schwerem Gold - das Gold um den Kopf, um die Brust, um die Füße, wankend trugen sie seine Wucht und Masse in die entfernte Finsternis.
Ersehnte sie diese? Noch glänzte ihr Rücken auf, und Licht fiel auf den Boden von ihrem metallenen Schritt. Allmählich blitzten nur allein die Geschmeide. Ein Funkeln der Krone war das letzte. Nacht. Vorhang. Das alles war dahin und kam nicht wieder - was sinnbildlich aufgefaßt werden konnte so gut wie die ganze Darbietung. Aber die Veranstalterin dort hinten, unsichtbar und schlau in ihrem stillen Zimmer, rechnet nach Gebühr auf die fehlerlose Wirkung der vorbeigeführten Herrlichkeit. Wen mahnte ihre Verdunkelung gleich auch an ihren Untergang und Ende? Einen sträflich bitteren Geist wie Du Bartas, der die Bartholomäusnacht überlebt hatte und seitdem noch weniger Nachsicht behielt für die Vermessenheit der Menschen, sie könnten Gott gleichen. Du Bartas verwarf, soviel an ihm lag, den Aufzug der Erzherzogin; hörbar sprach er vor sich hin:
»Vor allem, vor der Zeit, dem Stoff, Gestalt und Ort
War Gott in einem alles, trug alles in sich fort:
Unkenntlich und unendlich, mit unbewegten Mienen,
Ganz Geist, ganz Licht, unsterblich, niemandem je erschienen,
Rein, weise, recht und gut -«
Genug, hier erregte Ärgernis ein Christ, der denn auch von allen Seiten unsanft angestoßen und zur Ruhe verwiesen wurde. Nahezu der einzige seinesgleichen nach dem großen Aufräumen, wollte er noch unstatthafte Vergleiche wagen mit seinem Gott, der allerdings nicht in goldenen Schuhen ging. Der Hof von Frankreich dagegen sah seinen Sieg verkörpert durch ein Idol, sah den Sieg wandeln in Glanz, Duft, Wohlklang, und war seitdem gesonnen, ihn auszurufen über Stadt und Land, soviel Katharina nur wünschen konnte.
Wer zweifelte dennoch ernstlich an dem Sieg? Außer den Christen gibt es die Empfindsamen. Der junge d'Elbeuf war geschaffen, je nach der Stunde zu handeln oder einem Gefühl nachzuhängen. Er hatte begriffen, daß Elisabeth neunzehn Jahre zählte so gut wie neunzig. Er betrachtet Karl den Neunten, wie er seiner Frau nachblickte mit dem Ausdruck, den alle zeigten: Unterwürfigkeit, und darin einiger Aberglaube mit einer Spur von Ironie. Elisabeth war dem König und seinem Hof zweimal vorgeführt worden: an der Schwelle des Gemetzels und gleich nachher. Und wenn Elisabeth über dunkle Treppen wieder hinabgestiegen ist in ihre traurigen Gemächer; ›Wer umarmt sie‹, dachte d'Elbeuf, während er neue Ehrenfräulein aufziehen sah. Schwebend erschien nochmals ein Baldachin.
Die Schau setzt sich prunkend fort - nur einer sah nichts, hörte und roch nichts von allem, was noch vorbeizog. Dieser roch Blut, hörte das Mordgeschrei; sah seine Freunde zum Haufen übereinandergeworfen, in Lagen, wie nur Kadaver. Den ganzen Abend hatte er sich beherrscht, hatte beobachtet, mißtraut und sein Heil gewahrt. Das geht nicht unbegrenzt: wir sind kein Philosoph, auch kein Mörder aus Berechnung, und bei uns ist es nicht kalt wie in der Kammer einer alten Frau. Ihm brannten vielmehr die Brust und der Mund; er verschmachtete, das allein empfand er unmittelbar. Sein umherwandernder Blick suchte zuerst einfach etwas zu trinken. Als er nichts fand, überkam ihn Erstaunen, weil es hier eng war, die Menschen ihm zu nahe. Das Gefühl der Bedrängnis durch die Leiber von seinesgleichen, er kannte es noch nicht, umringt hatte er immer gelebt. Auf einmal entdeckte er, was mit ihm vorging. Er haßte. Er erfuhr den Haß - wilder, ungebrochner als sogar in der Mordnacht.
›Fallt alle tot um!‹ fühlte er, schob das Kinn vor und sah umher unter seiner geduckten Stirn, wie er nie vorher getan hatte. ›Und sollte ich mit euch untergehen! Die Lepra - ich will mir die Lepra geholt haben. Noch bemerkt ihr das erste weiße Korn nicht auf meiner Haut, aber ich stecke euch an, bis ihr zerfressen seid zu eiternden Gruben! Alle - mit euren Gliedmaßen, die jetzt strotzen von meinen Toten! Mich habt ihr übriggelassen, damit ich euren Sieg mit ansehn soll, ausführlich, den ganzen Zug und euren Popanz in Gold! In wen schlag ich die Zähne?‹ - dachte er und spähte wählerisch nach dem Opfer. Nicht eins der Gesichter, mit ihrer Unterwürfigkeit, Frechheit, Ironie, genügte seinem Durst. Dein Blut, du mein heißbegehrter Feind!
Die Wange eines Neugierigen, der ihn anblinzelte mit deutlicher Vertraulichkeit: eine besonders schamlose Wange! Sie wurde nicht einmal zurückgezogen, als er schon zuschnappte. Er biß denn auch gehörig hinein. Den einen von zwei kämpfenden Bauern, in seiner Provinz, hatte er einst so zubeißen gesehen - was ihm wieder einfiel in dem Augenblick, als er selbst die Zähne aus der Wange zog. Ihm blieben davon sowohl Ekel als Genugtuung. Der Neugierige aber, er, dem das Blut bis über den weißen Kragen lief: warum schrie er nicht? Er hatte kaum gestöhnt. Jetzt sprach er - vertraulich, leise und immer noch in Atemnähe: »Herr König von Navarra. Sehen Sie wohl mein schwarzes Kleid, und was für ein langes bleiches Gesicht ich habe? Sie haben in einen Narren gebissen, denn ich bin hier der Narr.«
Dies hören, und Henri wich von dem Gebissenen, soweit die Enge es zuließ. Der allerdings rückte nach. Die blutende Wange deckte er zu und sagte hohl, aus rasselndem Innern: »Nicht sehen lassen, was wir zusammen gemacht haben! Ein Narr muß traurig sein, er muß das Unglück kennen und gerade dadurch überaus lächerlich erscheinen. Stimmt es? Dann können Sie füglich in meine Stellung eintreten, Herr König von Navarra, und ich in Ihre. Niemandem wird die Vertauschung auffallen.«
Schon war der Narr untergetaucht. Kein Mensch wußte, daß Henri mit ihm zu tun gehabt hatte. Ihm selbst kamen Zweifel. Er hatte hinter sich einige schrecklich verwirrte Augenblicke. Er nahm sich zusammen, um genau zu unterscheiden, was in der festlichen Wirklichkeit vorging am Hof von Frankreich. ›Oh! das ist Margot.‹
Dem Hof von Frankreich erscheint schwebend nochmals ein Baldachin. Darunter geht die Prinzessin von Valois, Madame Marguerite, unsere Margot. Sie mußte den Hugenotten heiraten; mittlerweile weiß jeder von uns, zu welchem Zweck und Ende es geschah. Ihre Heirat hat sich bewährt und ist gerechtfertigt. Wer zweifeln wollte, sehe die Königin von Navarra nur den Kopf tragen und die Füße setzen. Das ist nicht die zu Gold erstarrte Weltmacht, vor den wir uns hinwerfen sollen. Das ist die Leichtigkeit - als ob es leicht wäre, so schön zu sein. Aber unsere Margot triumphiert offenbar mühelos über sämtliche Fehler, ihre und unsere. ›Heil Ihnen, Madame! Sie verklären auch uns durch alles, was Sie an sich vollbringen, und geben uns viel zurück: das unbeschwerte Gefühl; denn es hatte gelitten durch die vorige Nacht. Man muß gestehen, daß unsere sterbliche Hülle sich einigermaßen voll Blut gesogen hatte. Wir waren hineingefallen und schleppten daran noch. Sie, Madame Marguerite, verwandeln uns in den Schmetterling, flatternd durch reines Licht, schnell vergänglich und doch der unsterblichen Seele gleich. Wir wissen von zwei Göttinnen: Dame Venus und die Allerheiligste Jungfrau. Alle Frauen verdienen daher unseren unterwürfigsten Dank für erwiesene Begnadung und Erlösung. Seien Sie gesegnet!«
Wenn der ganze Hof so empfand, mußte doch ein Höfling der erste sein, es auszudrücken. Dies war ein Herr von Brantôme; er erlaubte sich, die schwebende Hand mit den Lippen zu streifen. Darauf drängten noch andere zwischen die Träger der Armleuchter und berührten die schwebende Hand. Margot als Beglückerin der Menge lächelte über sie hin, nicht ruhmreicher als nötig und eher gerührt. Ihre Füße waren klein, trugen scheinbar leicht, und das Gewicht ihrer Beine wurde von niemand abgeschätzt, obwohl mehrere hätten die eigene Erfahrung zu Hilfe nehmen können. Bevor man sich dessen entsann, wiegte ihr zarter Reifrock sich anderswo. Er war viereckig, schmal über dem Leib, sehr breit an den Seiten. Leise Farben schillerten und zitterten, die helle Hand schwebte hoch darüber - und so wäre auch Margot dort hinten in die Dunkelheit eingegangen. Sie aber dachte nicht daran, sie kehrte um, der ganze Zug mußte mit ihr schwenken: die Geiger, die Bläser, die Edelfrauen, Ehrenfräulein und noch andere Gestalten, sogar ein Affe.
Fast hätte Margot ihren Baldachin verloren, weil sie vorlief und jemand suchte. Den fand sie nicht - unter den Küssen aber, die ihre schwebende Hand erhielt, brannte einer sie auf so sonderbare Art, daß sie kurzweg stehenblieb. Die ganze Schau, die sie nachzog, bekam davon einen Ruck: man trat einander auf die Füße, auch den Affen, und er schrie, Margot stand und wartete. Der Mann mit dem brennenden Mund erhob das Gesicht nicht, obwohl sie ihre Hand darüber hinbewegte und leis einen lockenden Laut wagte. Indessen war sie die öffentliche Beglückerin, die durfte nicht länger verweilen bei einem einzelnen, dem es vielleicht nicht ganz gut erging. ›Weiter, Margot! Vor und hinter dir sind nur Spioninnen deiner Mutter.‹
Aus dem Vorzimmer des Königs, unmittelbar vor ihrem Entschwinden, sah sie noch einmal nach der Stelle. Da hatte ihr voriger Geliebter den Platz gewechselt und war nicht zu entdecken. Enttäuscht bog Margot um die Ecke, lächelte aber schön.
Sobald sie fort war, wurde nichts Gutes aus dem Aufzug, der nur ihretwegen zusammengehalten und sich ehrenvoll benommen hatte. Die Fräulein von leichten Sitten hatten schon beim Vorüberziehen ihre Begleiter für die Nacht erwählt und nahmen sie gleich mit. Eifersüchtige Edelleute zogen ihre Frauen aus der Menge hervor und wurden ausgelacht. Keine feierliche Schau, nur noch ein zuchtloses Gelichter stolperte durch den großen Saal. Die Musiker sprangen beim Aufspielen in die Luft, und die Kerzenträger löschten die Lichte, bevor sie ihnen umgeworfen wurden. Niemand konnte sich später erinnern, auf welche Weise es zu der folgenden Ausschreitung gekommen war und von wem das verhängnisvolle Wort war gerufen worden.
Vor allem war nirgends die aufgeforderte Person zu erblicken. »Wen suchst du dir aus für die Nacht?« Aber auch der Name »Große Bertha« fiel. Demnach handelte es sich um die Zwergin in ihrem Käfig. Große Bertha gehörte Madame Catherine; achtzehn Zoll war sie hoch und wurde, wo Gedränge herrschte, in einem Käfig getragen wie ein Papagei. Der Diener, der auf einer Stange den Käfig mit der Zwergin trug, führte auch den Affen. Schrie der Affe, schrie jedesmal die Zwergin mit, und ihre Stimme war tierischer. Sie hatte einen zu großen Kopf mit übermäßig gewölbter Stirn, ihre Augen standen hervor, und aus dem zahnlosen Mund rann Speichel. Gekleidet war Große Bertha wie eine Dame vom Stande mit Perlen in den dünnen Haaren. »Große Bertha! Wen suchst du dir aus für die Nacht?«
Das Wesen kreischte bei der Frage ganz gräßlich, besonders der Affe erschrak darüber und gab seiner Leine einen Ruck; der Diener, der sie hielt, wäre beinahe umgefallen. Jedenfalls ging die Tür des Käfigs auf; der Weg war frei für die Zwergin. Alles sah hier noch wie Zufall aus. Erst nachträglich fiel das Zusammentreffen der Umstände auf: der Affe, der ungeschickte Diener, der offene Käfig auf der Stange, vor allem aber das Angstgeschrei der Idiotin, als sie ihr Stichwort hörte. Die Hetzpeitsche der alten Königin hatte es ihr beigebracht, und in wildem Entsetzen führte sie aus, was ihr befohlen war. Gerade geriet sie an den König von Navarra - vielmehr, auch dieser Zufall enthüllte sich erst dem näheren Besinnen als vorausberechnet. Jetzt und hier glaubte man noch, daß die Große Bertha den Navarra selbst erwählt hatte, als sie sprang.
Sie hüpfte von oben an seinen Hals, strampelte, immer weiterschreiend, in die Öffnungen seiner Kleider hinein und war nicht loszumachen. Hatte er einen ihrer Füße aus dem Schlitz seines Ärmels gezogen, versanken ihre Hände um so tiefer in seinen Nacken. Bei seinen Bemühungen drehte er sich um sich selbst; sie tanzten! »Den hat sie für die Nacht ausgesucht, und er freut sich!« So war lange nicht gelacht worden am Hof von Frankreich.
Als Henri alles verloren sah, floh er natürlich. Hinter ihm bogen sie sich, stießen einzelne hohe Töne aus inmitten ihres Blökens und Röchelns und sanken entkräftet zu Boden. Er aber jagte über Treppen und Gänge, die Zwergin am Hals. Er versuchte nicht mehr, sich ihrer zu entledigen. Ohnedies hatte sie sich schon naß gemacht, und um ihre Anhänglichkeit zu zeigen, leckte sie ihm die Wange. Dies war ein Lauf durch einen Traum verwegener Art. Niemand kam ihm entgegen, und nicht einmal die Lichte brannten heute in den Laternen aus Leinen. Der Mondschein allein streifte zuweilen das Abenteuer.
Er keuchte hörbar bei seiner Ankunft; der aufmerksame d'Armagnac öffnete sogleich. »Wie sehen Sie nur aus, Sire! Und wie riechen Sie!«
»Dies ist meine kleine Freundin, d'Armagnac. Es gibt davon nicht viele. Und da sie nicht mehr seine Wange leckte, drückte er endlich einen Kuß auf die ihre. »Was aber den Geruch betrifft, d'Armagnac, er ist von allen heut empfangenen Düften und Dünsten der edelste und beste.«
Hierbei bekam er ein bis dahin unbekanntes Gesicht, hart und schrecklich.
Kriegskamerad d'Armagnac erschrak denn auch. Er nahte auf den Zehen, und die Zwergin abzunehmen; sie rutschte schon von selbst vor Müdigkeit. Dann verschwand er mit ihr. Henri betrat sein Zimmer allein. Er schob den Riegel vor.
Jetzt liegt er in dem Bett, um das keine vierzig Edelleute mehr stehen und wachen; aber Gedanken fliegen vorbei. Sie sind nicht klar, hängen nur traumhaft zusammen, es sind auch kaum Gedanken. Es ist eine Flucht unvollendeter Bilder oder Sätze, sie stolpern wie das letzte Stück der Schau, als Margot um die Ecke gebogen war. »Mich haben sie! Gehn wir gradewegs zur Messe? Die Raben. Darauf kommt alles an, nicht in dem Brunnenschacht zu liegen. Wie leicht, Sire, konnte Ihnen dasselbe zustoßen. Gruß vom Admiral. Er hat dem Toten in das Gesicht getreten. Für uns fürchte ich das Schlimmste. Herr de Goyon, Sie leben!« Aber er lebt gar nicht mehr - erkennt der halb Schlafende; denn er sieht Tote, und auch sie sehen ihn an; nur räumen sie gleich wieder Lebenden den Platz. »Ob ich lebe! Elisabeth wollte uns Calais wegnehmen. Nein, der Admiral. Tue, tue! Wir haben in der Nacht zu viel oder zu wenig getan. Verstell dich weiter! Die Wand hat ein Echo. Nur unser toller Bruder Karl braucht noch zu sterben. Ich hasse d'Anjou. Hast du Lust, Navarra, ohnmächtig -? Hast du Lust? Laß uns fliehen! Hast du Lust?«
Das letzte war nicht mehr in der Bewußtlosigkeit gesprochen, und es wurde wiederholt, etwas deutlicher, als einem Schlafenden zukam. Sobald er angefangen hatte, sich darüber Rechenschaft abzulegen, öffnete er die Augen und schloß fest den Mund. Trotzdem hörte er weitersprechen: »Hast du Lust? Laß uns fliehen!«
Unter dem Bilde der Jungfrau, das in einer Ecke stand, schwamm ein Nachtlicht in seinem Öl. Von dem schwachen und unruhigen Schimmer bewegte sich das Bild - und sprach es nicht auch? Ein Unglücklicher, der sein Unglück weder begreift noch vermißt, aber es redet weiter selbst in dem Schlafenden: für ihn könnte wohl auch das Bild der Jungfrau die Stimme erheben. Indessen wurde er hierüber enttäuscht. Unter seinem Bett kroch ein Kopf hervor, der Kopf der Zwergin jedenfalls; sie mußte sich eingeschlichen haben. Er neigte sich aus dem Bett, um den Kopf mit der Hand wieder hinunterzudrücken. Da sagte der Kopf: »Erwachen Sie, Sire!«
Wirklich fühlte Henri sich in diesem Augenblick befreit von seinem Albdruck.
Er hatte die Stimme erkannt und sah jetzt auch das Gesicht Agrippas. »Wo warst du den ganzen Abend?« fragte er.
»Immer in Ihrer Nähe und niemals ausgesetzt den Blicken.«
»Du warst um meinetwillen genötigt, dich zu verstecken, armer Agrippa.«
»Wir selbst haben alles getan, unsere Lage so elend zu machen wie nur möglich.«
Henri kannte den klassischen Spruch und wiederholte ihn mit den Worten des lateinischen Dichters. Dies zu hören, begeisterte Agrippa d'Aubigné, und er begann einen langen Satz, sprach ihn übrigens zu laut für die Stunde und einen solchen Ort. »Sie haben keine Lust, Sire, ohnmächtig abzuwarten, daß die Wut Ihrer Feinde -«
»Pst!« machte Henri. »Einige Wände bergen hier ein geheimes Echo; man weiß nicht, welche. Besser, wir sagen uns alles morgen im Garten unter offenem Himmel.«
»Zu spät«, flüsterte der Kopf, der jetzt mit dem Kinn auf dem Rand des Bettes lag. »Vor Tag müssen wir aus dem Schloß sein. Jetzt oder nie. Was wir nicht sogleich tun, mißlingt uns später. Heute ist das Schloß Louvre noch verwirrt vom Entsetzen der vorigen Nacht. Bis zum nächsten Abend haben sie sich besonnen - vor allem auf uns.«
Sie machten eine Pause, nach stiller Übereinkunft. Henri hatte das Gehörte zu bedenken, Agrippa aber wußte: ›Das Ja, das nicht freiwillig kommt, bevor ich meine Karten aufgedeckt habe - das Ja ist nie mehr nachzuholen.‹ Daher zitterte und schwankte der Kopf auf der Kante. Er ließ endlich verlauten: »Im Unglück lieber gleich den Hals wagen!«
Diesmal erkannte Henri den Vers nicht oder sprach ihn doch nicht nach. Statt dessen murmelte er: »Sie haben mir die Zwergin um den Hals gehängt. Sie sind umgefallen vor Gelächter, während ich, die Zwergin am Hals, dahinjagte durch das leere Schloß Louvre.«
»Das habe ich nicht mehr miterlebt«, raunte der Kopf. »Da war ich schon unter das Bett gekrochen. Indessen verstehe ich, daß Ihnen die Sache mit der Zwergin gefallen hat. Sie wünschen sich noch mehr dergleichen. Daher haben Sie keine Lust zu fliehen.«
»Das Echo!« mahnte Henri.
Hierauf begann der kluge Kopf - wahrhaftig, begann er nicht mit einer ganz anderen Stimme zu sprechen? Eine merkwürdig bekannte Stimme, nur hatte Henri bei früheren Anlässen ihre Natur nicht ganz erfaßt. ›Meine eigene Stimme!‹ wurde ihm plötzlich klar. Sich selbst, zum erstenmal im Leben hörte er außerhalb seiner Person sich selbst sprechen.
»Ich habe keine Lust, ohnmächtig zu warten, bis sie auch mich noch abschlachten. Daher will ich mich ihnen so gründlich unterwerfen, daß alle Protestanten mich verachten sollen und daß ich für niemand mehr eine Gefahr bin. Ich will abschwören, zur Messe gehn, dem Papst einen zerknirschten Brief schreiben -«
»Wenigstens das nicht!« bat Henri - bat sozusagen sich selbst.
»Einen Brief voll erbärmlicher Demut, und lesen wird ihn die ganze Welt«, erwiderte seine eigene Stimme. Agrippa, dieser Schauspieler, mußte lange geübt haben, um sie so täuschend nachzuahmen.
»Nein!« rief Henri unvorsichtig, denn die Worte beängstigten ihn, als hätte er sie schon jetzt mit eigenem Mund gesprochen. Wie lange noch, und er mußte sie wirklich von sich geben - noch mehr: sie ausführen.
»Das Echo!« mahnte der Kopf und fuhr sogleich fort mit der täuschenden, höchst beunruhigenden Stimme. »Oder wage ich im Unglück lieber gleich den Hals?« Dies lateinisch. »Das sind höchstens Ratschläge von Dichtern!« berichtigte die Stimme sich selbst im abweisenden Ton. »Vetter Franz, was willst du? Mich soll man nur leben lassen.«
»Das hast du auch gehört?« fragte der echte Henri. »Einem Irrwisch wie dem - kann ich mich doch nicht in die Hand begeben.«
»Nur er hat sich in die meine begeben«, schloß die nachgeahmte Stimme. »Und er ist nicht der einzige, der mit mir fliehen und das Land aufrufen will. Er schreit umher, daß er nichts gewußt hat von der Bartholomäusnacht. Die anderen schweigen, aber ihre Furcht ist darum nicht geringer. Warum soll ich dem Echo alle nennen, die mir Freundschaft und Beistand angeboten haben. Nur zwei Namen spreche ich aus, denn ihre Träger verdienen keine Schonung.«
»Es sind -« Henri drängte atemlos seine eigene Stimme, weiterzusprechen.
»Es sind«, sagte sie, »die Herren de Nançay und de Caussens. Sie fürchten, die Königinmutter würde sie töten lassen, denn Werkzeuge werden oft beseitigt. Die beiden Schacher sind für mich zu haben, es ist nur eine Frage des Geldes.«
»Spem pretio non emo. Ich kaufe mir keine Hoffnung in bar«, erwiderte der echte Henri; aber auch der falsche hatte eine klassische Antwort bereit. »Die Wahrheit muß einfach und kunstlos reden.« Er erläuterte: »Die verständlichste Sprache für solche Leute führen Geldsäcke, die springen und klingen. Ich war nicht untätig und habe den Betrag zusammen. Vor Tag wird er ausgehändigt auf der Brücke vor dem Tor. Dann öffnet es sich weit, sie lassen mich hindurch. Sie kommen sogar mit mir, und genug andere schließen sich an. Ich werde stark sein, mich hält niemand auf.«
Der echte Henri fühlte durchaus: ›Ich kaufe mir keine Hoffnung in bar.‹
Aber er sah auch: zu vieles war schon unternommen und vorbereitet, zu viele waren eingeweiht.
Er sprach daher »Ja« und »Ich will«, wobei er sich bemühte, damit es weder unsicher noch verspätet klänge.
Dieses nächtliche Vorhaben ging kläglich aus und hatte hauptsächlich zur Folge, daß Henri und sein Freund Agrippa eine Zeitlang einander böse waren. Sie schlichen, als noch Dunkel lag, hinab in den Brunnen des Louvre; dort warteten sie mit anderen vermummten Gestalten, die lieber unerkannt blieben, denn jeder mißtraute dem Nächsten. In der Wache unter dem Torbogen schlummerte rötliches Licht, und mehrmals schlug eine tiefe, summende Glocke, die allen zu gut im Ohr lag noch aus der Mordnacht. Vielleicht rettete diesmal ihr Geläute die wenigen Hugenotten, so daß sie sich nicht zeigten und nicht unter das Gewölbe traten. Hauptmann de Nançay mußte selbst hervorkommen, als es dämmerig wurde im Hof. Sein Genosse de Caussens war mit ihm, und zuerst ließen sie sich von d'Aubigné den Beutel mit Geld zustecken. Dann erklärten sie, die Pferde ständen bereit hinter dem Tor: die Herren möchten ihnen voran auf die Brücke gehen.
Henri wollte trotz allem nicht vor ihnen her unter die enge Wölbung, sie sah ihm nach Hinterhalt aus. Die beiden Verräter mußten sich zuerst in Bewegung setzen: da vertrat ihnen aber einer den Weg. »Meine Herren de Nançay und de Caussens, ich verhafte Sie. Der Augenschein hat bewiesen, daß Sie bestochen sind und die Hugenotten entfliehen lassen wollten.« Sofort entstand ein Handgemenge, ungewiß im schwachen Licht zwischen wem und wem - bis dem König von Navarra jemand in den Arm fiel: d'Elbeuf. Dieser junge Edelmann aus dem Hause Lothringen war es auch, der soeben die Verhaftung ausgesprochen hatte. Den König von Navarra beschwor er: »Denken Sie daran, daß ich Sie einst aus dem Tor ziehen wollte - rechtzeitig.« - ›Allerdings. Die Bartholomäusnacht hätte niemals ausbrechen müssen, wenn ich ihm gefolgt wäre. Diesmal bin ich gewarnt!‹ So bedenkt Henri und glaubt der Freundschaft, obwohl sie ihm angeboten wird von einem Verwandten der Guise. Schiebt den Arm unter den des neuen Freundes. Der Freund Agrippa hinkt nach, denn in dem Handgemenge hat er etwas abbekommen. Henri weist hinter sich. »Das ist der Schlaukopf, der mich in die Falle gelockt hat. Das Geld wird er mit den beiden Schachern geteilt haben. Ich kenne die Hugenotten.«
»Besonders die hugenottischen Fürsten sind treulos und undankbar!« bestätigte der arme Agrippa, von der ungeheuren Verdächtigung getroffen bis ins Innerste. Auf der Stelle blieb er stehen und ließ die beiden weiterziehen.
»Sire«, mahnte d'Elbeuf, während Henri in seinem Arm hing. »Lassen Sie Ihren Zorn nicht siegen über Ihr besseres Wissen. Ihr armer Agrippa hat übereilt gehandelt und war vertrauensvoll. Beides ist künftig verboten, sowohl Ihnen als Ihren Freunden und darum auch mir. Täglich werden wir Unheil abwenden müssen von Ihrem Haupt. Für dieses Mal ist es geglückt. Sonst hätten die beiden Verräter Sie auf der Brücke gefangengenommen unter großem Lärm und Geschrei. Sie haben gehofft, die Königinmutter würde ihnen verzeihen, daß sie so gute Dienste getan haben in der Mordnacht, ja, sie könnten ihr eigenes Leben retten.«
»Es ist wahr«, erkannte Henri. »Jeder im Louvre hat nur die Wahl, wie er sich erhalten will: die Flucht, oder indem er mich ausliefert. Das müssen wir unausgesetzt im Gedächtnis haben.«
»Unausgesetzt«, wiederholte d'Elbeuf.
An diesem Tage bemerkte Henri, daß d'Alençon ihm auswich. Ein mißlungener Fluchtversuch, und unter den Vermummten im Brunnen war sicher auch der Mann mit den zwei Nasen gewesen. Um so irrwischhafter benahm er sich. ›Sehe jeder, wo er bleibe, und nicht auf meine Kosten.‹
Die Herren von Montmorency waren Verwandte des Admirals Coligny, aber Katholiken und daher mächtig genug bei Hof, um noch jetzt die Schonung der Protestanten, ihres Lebens und ihres Glaubens anempfehlen zu können. Gemäß der gegebenen Lage taten sie denn auch das Mögliche. Der Grund, den der Marschall anführte, war immer die Meinung der Welt über die nun einmal stattgehabte Bartholomäusnacht. Diese Rücksicht dauerte notwendig nur so lange, als man ohne Nachricht aus Europa war, und dann allenfalls noch während des ersten Sturmes von Entrüstung. Er bewegte indessen mehr die fernen Länder, wie Polen, und die schwachen: protestantische deutsche Fürstentümer. Elisabeth von England dagegen bewies eine Sachlichkeit, die nicht ohne Verständnis schien. Madame Catherine machte sich ihretwegen schon bald keine Sorgen mehr. Halb ernst und halb im Übermut riet sie der guten Freundin, doch dasselbe Gemetzel zu veranstalten auf ihrer Insel - dort natürlich unter den Katholiken.
Madame Catherine fing demgemäß auch wieder an, sich ihrem ganzen Hof zu zeigen. Ihre Gestalt legte etwas von ihrem Geheimnis ab, sie wurde vertraut. Die Mutter vereinigte um sich die Kinder, alle ohne Ausnahme, wie zu allen Zeiten ihr inniges Bestreben war. »Auch nur einer von euch draußen, und ich wäre nicht mehr ruhig«, sagte sie ihnen in ihrer behäbigen Art; kein Spott war ihr nachzuweisen. Wie natürlich, ja gutmütig musterte sie eines Tages Navarra und Condé, die sie bisher übersehen hatte. Henri erschrak und nahm sich in acht. Sie fragte die beiden, wie es mit ihrem Unterricht in der wahren Lehre stände. »Gut«, erklärte Henri. »Soviel wie mein Lehrer weiß ich auch schon. Der gute Pastor hat sich selbst erst zum katholischen Glauben bekehrt, als er die Bartholomäusnacht kommen fühlte. Glücklich, wer richtig rechnen gelernt hat.«
»Lernen Sie es auch!« meinte Madame Catherine. Sie musterte ihn ganz und sagte: »Zaunkönig!« Dies vor ihrem Hof - und Henri verneigte sich denn auch zuerst vor ihr, dann vor ihrem Hof, der lachte: teils aus Albernheit. Manche aber begriffen schaudernd die Lage Navarras und machten sich nur lustig um ihrer eigenen Haut willen. Madame Catherine verriet sich hier. Sie hielt den »Zaunkönig« heimlich im Auge die ganzen Tage, obwohl sie ihn scheinbar nicht beachtet hatte. Diesmal bewegte sie die Hand, davon zog alles um ihren hohen Sessel her sich zurück, und Henri allein stand vor ihr.
»Sie haben gleich den zweiten Tag einen Fluchtversuch gemacht. Die Herren de Nançay und de Caussens sind für ihre Wachsamkeit von mir belohnt worden.«
»Ich habe keinen Fluchtversuch gemacht, Madame. Aber ich freue mich für die beiden Herren.« Er nickte ihnen zu, denn er entdeckte ihre bös grinsenden Gesichter.
»Sie werden mir noch viel zu schaffen geben. Als Ihre Mutter und gute Freundin warne ich Sie.« Das sagte Madame Catherine wahrhaft mütterlich, wie alle feststellen konnten. Navarra aber schluchzte auf, bevor er herausbrachte: »Nie, Madame, möchte ich mich entfernen aus der Nähe einer Herrscherin, die mich an die größten Frauen der römischen Geschichte erinnert.«
So endete die schöne und treffende Unterredung. Sie hatte das Bild des jungen Navarra um etwas gehoben, ihn umgab im Augenblick weniger Geringschätzung. Indessen ändert sich ein Bild von Tag zu Tag, wenn jemand zu vielen verschiedenen Arten der List muß seine Zuflucht nehmen. Zur Abwechslung stellte er sich folgsam, aber unbegabt. Ihm wurde zugemutet, er sollte einen Brief schreiben nach der protestantischen Festung La Rochelle, an den Bürgermeister und die Schöffen, damit sie weit das Tor öffneten für den Kommandanten, den der König von Frankreich ihnen schickte. Er verfaßte etwas überaus Treuherziges, auf das sie, nach ihrer Kenntnis seiner Natur, unmöglich hineinfallen konnten. Daher kam es denn auch nach einigen Monaten zur Belagerung der protestantischen Festung, und dem ganzen Königreich wurde sichtbar, was die Bartholomäusnacht genützt hatte. »Feinde umlegen ist einfach; aber man muß wissen, ob sie nicht stärker wieder aufstehen.« Dies oder etwas Ähnliches sagte Karl der Neunte - oder stotterte es vor sich hin, bei den schlechten Nachrichten aus dem Lande.
Karl war zum Sterben traurig. Des »Nachts erschienen ihm Geister, er hörte wieder die dumpfe Glocke der Mordnacht, und Gestöhn antwortete vom Fluß her. Seine Amme, eine Protestantin, trocknete ihm den Schweiß, aber dieser war blutig: so wollte man wissen in Schloß Louvre. Den armen König tröstete einzig sein gutgelaunter Vetter Navarra. »Wer wird sich graue Haare wachsen lassen, lieber Bruder. Hier in Schloß Louvre ist etwas Platz geworden letzthin, und wir leben vertrauter. Die sich haben erwischen lassen, waren dumm. Ich hab schon alle vergessen. Deine Schwester setzt mir Hörner auf, wenn mir recht ist; aber ich habe reichlich Gelegenheit, es ihr zu vergelten.« Schnippte mit den Fingern und schwang sich herum auf den Absätzen, die er etwas höher trug als üblich.
Indessen legte er sich selbst zu Bett, mit dem Vorgeben eines starken Unwohlseins, war auch wirklich feucht und hitzig. Die Ärzte, die namens Madame Catherine ihn untersuchten, stellten es fest, obwohl mit Kopfschütteln. Man kann aber das Fieber bekommen, nur weil man nicht zur Messe gehen will - noch nicht, um Gottes willen! ›Wenn es denn einmal sein muß, einen Aufschub doch wenigstens, lieber Gott! Laß mich ernstlich erkranken, schicke auch mit blutigen Schweiß oder sogar Geister! Ich will, daß meine erschlagenen vierzig Edelleute um mein Bett stehen sollen. Lieber das, als zur Messe gehen!‹
Jeder Tag nähert sich dennoch, und plötzlich erhebt sich der gefürchtete. Dann verlassen wir unsere Zuflucht und fühlen auf einmal die Kraft, ihm zu begegnen. Es war der neunundzwanzigste September, geweiht dem heiligen Michael, dessen Ritter ihren Ordensfreund Navarra umringten auf dem Weg zur Kirche. Er hielt die Augen gesenkt und nahm auch in seinem Herzen nicht Kenntnis von der Menge, die umherstand und ihn begaffte, mißachtete, vielleicht beweinte. Verkleidete Hugenotten verfolgten seinen schweren Gang und verbreiteten nachher im Lande die entsetzliche Bedrängnis ihres geliebten Führers. Er selbst dachte die ganze Strecke an seine Mutter und an den Admiral.
Er dachte: ›Meine liebe Mutter, sie setzen mir zu, und nicht lange, so werde ich den Befehl und den Auftrag erteilen müssen in unserem Lande Béarn, daß es deinen Glauben soll abschwören. Vertreiben muß ich deine Pastoren, und das ist, als vertriebe ich mit eigener Hand dich selbst, meine liebe Mutter! Herr Admiral, jetzt sind Ihre Söhne und Neffen geflüchtet unter Verkleidungen. Ihre Gemahlin wird gefangengehalten in Savoyen. Wie lange kann es dauern, bis das Gericht Ihre Güter für verfallen und Ihr Andenken für nichtswürdig erklärt. Glaubt nicht, Herr Admiral und liebe Mutter, daß ich euch verrate, wenn ich jetzt dennoch zur Messe gehe. Ihr wißt: ich habe so viele Tage gewonnen, als irgend möglich war, nämlich siebzehn. Mein Vetter Condé, der anfangs viel wilder tat als ich, ist zur Messe gegangen schon vor siebzehn Tagen. Rechnet mir, bitte, zu meinen Gunsten mein geschicktes Hinhalten an, liebe Mutter und Herr Admiral!‹ So sprach er zu ihnen wie zu Lebenden, was sie gewiß waren, und hörten ihn. Dort, wo sie waren, vernimmt man so innige Gedanken.
Als der feierliche Übertritt zu der andern Religion, das viertemal in seinem Leben, vollzogen war, empfing er viel Umarmungen und Küsse, erwiderte sie auch guten Mutes. Die Königinmutter erwies ihm ihrerseits die Ehre; sie erwartete den Jungen, der jetzt endlich ganz allein stand, denn verloren hatte er sogar die Geister seiner Toten, wie sie meinte, und seinen guten Ruf. Daher empfing sie ihn mit einem belustigten Lächeln, ja, während der Umarmung tastete sie ihn aus lauter Wohlwollen ab wie einen künftigen Braten. Was fühlte sie da? Alle Lustigkeit verging ihr. Unter seinen Kleidern trug er einen Panzer, hatte ihn angehabt, indes er abschwur seine vorige Gemeinschaft. Ein schlimmes Vorzeichen; Madame Catherine wollte sich eilig entfernen an ihrem Stock. Er erlaubte sich aber, sie bei der Hand zurückzuhalten und ihr neckische Kosenamen zu geben. Was tut eine unbeholfene Frau in geschlossenem schwarzem Kleid und mit Witwenhaube, wenn ein gar zu stürmischer junger Herr ihre Nase rühmt, die doch auffallend dick ist. Seine Lippen haschen nach ihr, er will sie auf die Nase küssen. Schließlich trifft sie ihn mit dem Stock: scheinbar nur im Scherz, wegen der Zuschauer. Sofort spielt er den kleinen Hund, springt bellend um sie her auf allen vieren und schnappt nach ihren Beinen. Da flüchtet Madame Catherine. Ihr Oberkörper möchte schneller sein als die Füße. In zwei Teile zerlegt, strebt sie von dannen, auf ihre Kosten lacht der Hof.
Ihre Rache folgte alsbald. Nicht nur den Erlaß wegen der Protestanten in Béarn mußte Henri schreiben, auch an den Papst ging ein Brief; der übertraf alles andere an Selbstverleugnung, und sie ließ ihn verbreiten. Während einer ihrer gegenseitigen Neckereien fiel ihr plötzlich ein, sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. Er war doch ein schwächlicher Junge? Kein rechter Mann, wie? Den Keim eines frühen Todes hatte seine Mutter Jeanne ihm vermacht!
Er öffnete den Mund, um scherzweise zu sagen: »Den Keim haben Sie, Madame, ihr in das Glas geschüttet.« Denn so vertraut standen sie in dieser ersten Zeit, der auf die Leimrute gegangene Vogel und die Besitzerin des Käfigs. Der Haß bringt nahe. Da hörte er sie sprechen: »Ich muß doch meine Tochter nach Ihren Fähigkeiten fragen.« Sofort begriff er, was sie vorhatte: ihn unfähig erklären lassen und in Rom die Trennung der Ehe durchsetzen. Ihn töten, lohnte nicht mehr. Um so eher wünschte sie loszuwerden, was nicht mehr schaden noch nützen konnte - und Margot gewinnbringend wieder zu vergeben. Immer hatte Madame Catherine den Kopf voll von Heiratsplänen für ihre Kinder.
Diesen Abend lag er wieder im Ehebett.
Er kam zu der Tür der Königin von Navarra inmitten vieler Herren, von denen nur wenige ihn verteidigt hätten, wenn die anderen Mörder gewesen wären. Er hatte aber alle diese mitgenommen, damit sie später bezeugen müßten, er wäre zu der Königin gegangen. Er hielt für jeden Fall seinen Dolch in der Faust, mit ihm kratzte er an der Tür - nicht stark, aber sie ging gleich auf. »Ich warte schon, mein Herr und Meister, Sie kommen heute später als sonst«, sagte die Königin.
Er schloß und riegelte von innen. Als er sich umwendete, lag sie auf den Kissen und breitete ihm die Arme hin. Er wußte, was er wollte: ihrer Mutter den boshaften Plan durchkreuzen; und das tat er hiermit, wiederholte es auch und fand überhaupt kein Ende. Die zärtliche Margot mußte ihn bitten, nicht zu vergessen, daß sie wieder vereint wären nach einer langen und schrecklichen Trennung.
»Da ich jetzt einen Sohn von dir haben werde, mein liebes Herz, so sage mir: warum hast du dich nicht schon früher besonnen auf dieses Mittel, alle deine Feinde zu besiegen?«
»Du wirst mir einen Sohn geben?«
»Ich fühle es«, sagte sie. »Ich will es«, verbesserte sie.
»Wie sehr hab ich dich längst herbeigesehnt! An deiner Tür kratzte ich noch gestern abend.«
Er hätte sie in die Arme geschlossen: diesmal um in ihr seinen Sohn zu empfangen. Indessen, sogar noch beim Höherschlagen seines Herzens erinnerte er sich der List als seines Gesetzes. Die List regiert dies Leben. Die Tochter verbringt ihre Tage auf der Truhe im Zimmer der Mutter und ist ihr Werkzeug. Schon einmal war ihr selbst unbewußt geblieben, welcher Verräterei sie diente. Er fragte: »Ist hier nicht ein Mörder versteckt?« - lehnte sich hinaus und griff nach seinem Dolch. Wenn sie die leiseste Bewegung versucht hätte, um ihn festzuhalten! Im Gegenteil, sie erstarrte. Sie flüsterte schreckensvoll und so leise, daß kein Eindringling es gehört hätte: »Ich dachte nicht daran, daß wir Feinde sind.«
»Ich hatte es selbst vergessen«, sagte er. »Alles dies, die Lust und auch den Schmerz, uns sind sie verboten.« Worauf sie ihm schnell ihre Lippen reichte, aber die Zähne schimmerten darin. Er sagte noch atemlos von dem Kuß: »Faciuntque dolorem.« Sogleich hörte er von ihrer schönen Stimme den ganzen Vers und dachte dabei: ›Sie hat mir dennoch die Geheimnisse ihrer furchtbaren Mutter verraten; und heute abend hat sie vor allen den Edelleuten so getan, als empfinge sie mich täglich.« Er ließ es darauf ankommen und fragte: »Meine schöne Königin, willst du mir helfen, mich zu befreien?«
»Ich bewundere Sie, Sire, Sie sind der Gefahr gewachsen wie noch keiner. Auf Sie hat Virgil diesen Vers gemacht: ›Kein Mühe und Gefahr, drin ich nicht Meister war. Wie auch die Hölle um mich streitet, ich bin auf alles vorbereitet.«
»Ist die Übersetzung von Ihnen selbst?« fragte der Liebende. »Sie haben eine hohe Gelehrsamkeit und viel Übung. Aber wie steht es mit meiner Befreiung?«
»Vor allem hüten Sie sich vor meiner Freundin de Sauves!« erwiderte die Liebende. »Ich sehe wohl, daß die Sirene Sie anlockt. Folgen Sie ihr nicht! Sie wären verloren. Ihr Herr und Meister ist der Herzog von Guise.«
»Willst du ihn denn zurückhaben?« fragte er, aus Eifersucht vergaß er die Umschweife. Aber auch sie ließ sich gehen. »Ist es wahr, daß Charlotte Ihnen gefällt?«
»Gar nicht. Sie hat ein spitzes Gesicht, und auch ihr Geist ist spitz. Aber dennoch, welche Frau gefiele mir nicht? Sogar Ihre Mutter, Madame. Und das ist wahr, ich lüge nicht. Ein gefährliches Tier ist eine böse Frau. So freut es mich: beide in einem. Denn von der Natur lieb ich am meisten die Frau und das Tier - und auch die Berge«, setzte er hinzu, »sowie den Ozean. Ich liebe, ich liebe«, stöhnte er und begegnete schon ihrem Körper, der ihn heiß erwartete.
Nach so großer Begeisterung der Leiber, erschöpft und dankbar, entschloß sich Margot, ihrem Geliebten alles zu gestehen, was sie durfte, ja, einiges darüber.
»Mein liebes Herz, du darfst uns nicht entkommen, dich brauchen wir und dich behalten wir.«
Einen Augenblick ließ sie ihn im Zweifel, wofür. Es konnte für ihren Körper sein, aber der ist jedesmal bald gesättigt. Wie dann? Für ihre unstillbare Seele? Nein, die Tochter der bösen Königin sagte hier auf den Kissen: »Sie dürfen nicht zu Ihren Hugenotten entkommen, Sire. Wenn die Sie wiederhätten, würden sie zehnmal stärker werden. Vielmehr wollen wir uns Ihrer Person bedienen gegen unsere Feinde, und Sie sollen beim Heer meines Bruders d'Anjou sein, wenn er La Rochelle belagert. Du mußt wissen«, verriet sie leise und nahe an seinem Gesicht, »daß wir mit den Deinen nicht fertig werden. Sie haben gemerkt, daß du ihnen nicht freiwillig geschrieben hast, sich zu ergeben. Versprich mir, daß du inzwischen keinen Fluchtversuch machst. Du würdest getötet werden. O versprich!« bat sie mit offenbarer Angst, die Stirn auf seiner, den Atem in seinen Atem gemischt. Er wollte aber ihre Augen sehen, zog sich zurück und fragte: »Ist es dir wirklich um mich zu tun?«
Welch ein törichtes Mißtrauen! Auch sie nahm nicht nur Abstand: sie bekam sogar den Ausdruck der Entferntheit.
»Ich bin die Prinzessin von Valois. Ich will nicht, daß Sie mein Haus besiegen und entthronen.«
So endete die Nacht - und daher lag Henri in der nächsten bei Charlotte de Sauves, die ihm noch gar nicht gefiel, das sollte später kommen. Bis jetzt hatte er Margot im Blut, und sie wußte es. Stolz sagte sie zur de Sauves: »Madame, sie haben uns einen großen Gefallen erwiesen, mir und dem König von Navarra. Sie haben der Königin, meiner Mutter, sofort hinterbracht, daß Sie ihn im Bett gehabt haben. Jetzt glaubt die Königin, ihr Ziel wäre erreicht und ich ließe mich scheiden. Daher wird mein lieber Mann vorläufig am Leben bleiben.«
Karl der Neunte erholte sich zeitweilig von seiner schweren Traurigkeit. Die Königin von Navarra wurde von ihrer Mutter gefragt, ob ihr Zaunkönig ihr gezeigt habe, daß er ein Mann sei. Da sie Zuschauer hatte, errötete Margot, sagte nicht nein noch ja, sondern berief sich auf eine Dame des Altertums. »Im übrigen, da meine Frau Mutter mich verheiratet hat, soll es dabei bleiben.« Womit sie eigentlich nur durchkam, weil Madame Catherine vollauf beschäftigt war, ihren Sohn d'Anjou zum König von Polen wählen zu lassen. Sie tat es gegen den Willen des Kaisers: so groß war ihr Ehrgeiz oder ihr Bedürfnis nach Umtrieben. Gleichzeitig verhandelte sie mit England, damit ihr Sohn d'Alençon die Königin Elisabeth zur Frau bekäme. Diese hätte unter Umständen Anspruch erhalten auf den Thron Frankreichs. Elisabeth war indes klüger als Katharina von Medici, von der Jeanne d'Albret gesagt hatte, im Grunde wäre sie dumm. Daher ließ sich die rothaarige Königin auf das zweifelhafte Abenteuer nicht ein, sondern hielt ihre gute Freundin nur hin. Das Heer des Herzogs von Anjou zog vor die protestantische Festung La Rochelle; der König von Navarra und sein Vetter Condé begleiteten es unfreiwillig.
Sie verhielten sich gleichwohl, als wären sie mit Freuden dabei. Henri war immer gutgelaunt, immer bereit, seine Truppen gegen die widerspenstige Stadt zu führen. Die Erstürmung mißlang nur leider jedesmal, vom Februar bis in den Sommer. Es kam auch daher, daß die Stürmenden zu laut schrien vor Eifer: jede Besatzung mußte aufmerksam werden. Der König von Navarra schoß einst mit eigener Hand eine Arkebuse ab. Das sah drinnen ein Gascogner Soldat und rief noch mehr herbei, damit sie ihn bewunderten. »Lou noust Henric!« riefen sie entzückt von der Mauer. Auch er war überaus erfreut und zündete nochmals vor ihren Augen die Lunte an. Es gab einen großen Knall, und die Belagerten schwenkten die Hüte. So erging es aber nicht dem Herzog von Anjou, denn beinahe wäre er getötet worden von einem solchen Arkebusenschuß; das Hemd wurde ihm zerrissen. Navarra stand daneben und hörte seinen Vetter ausrufen: »Ich wollte schon in Polen sein!«
Dies war sein Gefühl schon längst, und nicht nur wegen eigenen Ungemachs, nein, offenkundig wurde vor La Rochelle, wie schlecht es stand um das Königreich. Die Bartholomäusnacht enthüllte sich allen Blicken als der schwerste Fehler: seitdem war wieder Religionskrieg. Der Admiral Coligny hatte gewollt, daß Katholiken und Protestanten vereint gegen Spanien kämpften. Infolge des verdammten Gemetzels zerrissen sie jetzt wieder dies Land, und bis an jede seiner Grenzen eilte die Nachricht von den Hugenotten, die sich hielten in La Rochelle, denn von der See her bekamen sie Zufuhr. Das Heer des Königs von Frankreich dagegen hatte die ganze Umgegend kahl gegessen, und es fing an, sich aufzulösen. Das war noch nicht das Schlimmste. Zu fürchten ist weniger der Hunger als der Gedanke. An den höheren Stellen, geradedort, wo es noch Fleisch gab, saßen die Unzufriedenen, die sich »die Politischen« nannten, und sie wollten den Frieden.
Wenn jemand sagt, daß er den Frieden will, ist immer noch die Frage, weshalb. Im Frieden gedeiht sein Weizen, und man müßte erst wissen, ob er auf alle Fälle friedlich gesonnen ist oder hauptsächlich wegen seines Weizens. Die Frucht, auf die es dem Gemäßigten oder Politischen ankam vor La Rochelle, heißt: Gewissensfreiheit. Sie verlangten endlich bekennen zu dürfen, was sie glaubten, und verbreiten zu dürfen, was ihr Wissen und Wille war. Daher hatten sie Augen für die Verwüstungen im Lande, die äußeren Folgen der Unduldsamkeit. Aber nicht einmal die Vernichtung des Landes hält den Feind der Gewissensfreiheit zurück. Wie denn! Er bemerkt weder Verwüstung noch Vernichtung, wenn er die Menschen zwangsweise gleichmachen kann. Vergewaltigte Gewissen sind für ihn ein blühenderer Anblick als wohlbestellte Felder und der Friede. Er hat auch den Vorteil, daß er seine geringe Meinung vom Frieden so offen bekunden darf wie Madame Catherine oder d'Anjou oder Guise. Wohingegen allen, die einfach frei sein möchten, die undankbare Aufgabe zufällt, Frieden zu predigen.
Dies waren Gedanken eines Gefangenen, der zwar ein Führer des katholischen Heeres genannt wurde, aber ein Gefangener blieb. In Wahrheit fand er solche Gedanken wohl auch allein, und zwar gerade bei seinen heimlichen Zusammenkünften mit den Verschwörern. Da waren die Gedanken aber noch nicht gereinigt und bearbeitet, sozusagen. Dies geschah erst in gewissen Gesprächen am Meeresstrand, mit einer einzelnen Person, einem Edelmann ohne besondere Bedeutung, der im Heer diente.
An den Zusammenkünften der Politischen nahmen unter anderen teil: d'Alençon oder der Mann mit den zwei Nasen sowie ein Vicomte de Turenne. Dieser hatte vom Hof genaue Nachricht über ein neues Gemetzel, das hier im Lager sollte veranstaltet werden unter den Verdächtigen, und das waren eben die Politischen. Diesmal war der König von Navarra bestimmt mit ausersehen. Gerade seinetwegen wurde noch gezögert, denn zuerst sollte seine Frau einen Sohn zur Welt bringen: alsbald folgte das Gemetzel. Ja, schon erhielten seine Edelleute freundschaftliche Warnungen aus dem Quartier des Herzogs von Guise, sie möchten die Zelte Navarras schleunigst verlassen; und Du Guast, den d'Anjou sich als Liebling hielt, wagte offen zu drohen. Wie sollte ein Gefangener, dem es ans Leben geht, nicht für Mäßigung sein!
Die Partei der Politischen versicherte: Wir sind gemäßigt. Überdruß und Ekel haben uns ergriffen angesichts der Zustände: womit wir die Verwaltung, Gerichte und Finanzen des Königreiches meinen. Es ist am Äußersten. Helfen können nur noch die kühnsten Entschlüsse. D'Alençon, Navarra und Condé müssen offen abfallen. Ein Heer der Unzufriedenen ist zu bilden. Wir werden uns der königlichen Flotte bemächtigen. Englische Schiffe bringen uns Hilfstruppen.
Navarra machte hierüber nur Scherze, obwohl er Furcht hatte. Er sagte: »Die Sitte verlangt nun einmal, die Protestanten aus ihren festen Plätzen zu vertreiben. Dann wird verhandelt, und man gibt ihnen ihre festen Plätze zurück, um sie bald wieder daraus zu vertreiben. So setzt die Sitte sich fort.« Er sagte dies, weil er befürchtete, daß sie ernstlich nichts tun würden, und wirklich unternahmen sie nur Versuche, die sofort mißlangen, weil jeder in heller Verwirrung vor sich ging. So handelt der Irrwisch d'Alençon. Was beabsichtigt er denn auch? Seinem Bruder d'Anjou das Leben schwermachen: das ist sein einziges Ziel, sonst hat er keine Überzeugung. Wenn aber Navarra ihn aus der Führung verdrängen wollte, er würde sich sofort gegen Navarra wenden. ›Und ich bin der Bedrohteste!‹ bedachte Henri. ›Mich kann jeder verraten und ausliefern.‹
Daher kam es, daß er am Handeln verzweifelte vor La Rochelle und sich dem Philosophieren ergab. Er tat es in der Gesellschaft und gewissermaßen unter der Führung eines Edelmannes von geringer Bedeutung, aber gebürtig aus dem Süden. Vor kurzem hatte er ein richterliches Amt niedergelegt, um es einmal mit dem Soldatenstand zu versuchen - ohne besondere Auszeichnung auch hier. Er gab selbst zu, daß er keine Begabung habe, weder für Tanz noch Ballspiel noch Ringkampf, auch nicht für Schwimmen, Fechten, Kunstreiten und Springen, überhaupt für nichts. Sogar seine Hände waren ungeschickt, und er konnte nicht leserlich schreiben, wie er freiwillig gestand. Ungebeten setzte er hinzu: nicht einmal einen Brief zumachen könnte er, keine Feder zuschneiden, und andererseits kein Pferd aufzäumen.
Durch alle diese Mängel setzte er Henri mehr in Erstaunen, als wären es ebenso viele Vorzüge gewesen. Verbunden waren sie nämlich mit einem Geist, den Henri, ob er wollte oder nicht, als seinesgleichen erkannte. Ja, sogar der Körper des Edelmannes aus Perigord erinnerte ihn an sich selbst: das kurze Maß, die Gedrungenheit, die Kraft. Allerdings hatte der Vierzigjährige schon ein gerötetes Gesicht und eine Erhöhung auf dem kahlen Schädel. Auch war sein Ausdruck wohl freundlich, aber nachgerade berührt von der Trauer, gelebt und gedacht zu haben. Der neue Freund des jungen Henri hieß Herr Michel de Montaigne.
Er sagte: »Sire, Ihre zeitweilige Lage stellt Sie einem alternden Mann gleich. Wir sind beide besiegt: ich von den Jahren, Sie von Ihren Feinden, was kein endgültiger Sieg ist - wie der Sieg der Jahre«, wiederholte der Vierzigjährige. »Genug, in diesem Augenblick können wir einander verstehn, und Sie begreifen, welche Bewandtnis es hat mit den menschlichen Handlungen. Sie beklagen ihre Wirrheit und Vergeblichkeit. Allerdings geben Sie daran dem Herzog von Alençon die Schuld.«
»Er ist ein Irrwisch. Ich an seiner Stelle könnte der Freiheit zum Siege verhelfen gegen die Gewalt.«
»Das wäre vor allem Ihre eigene Freiheit«, bemerkte de Montaigne, und Henri gab es lachend zu.
»Sie hätten Ihre Freiheit zurück. Übrigens aber würden Ihr Aufstand und die Ankunft der Engländer noch mehr tödliche Verwirrung stiften. Die meisten Handlungen geschehen mit dem Kopf nach unten. Wer handeln sagt, sagt Verwirrung.«
Hier machten sie in ihrem Gespräch eine Pause, solange sie noch zwischen Zelten gingen und gehört werden konnten. Dann hatten sie das Lager hinter sich gelassen. Eine Kanone stak festgefahren und einsam im Sande des Strandes. Seltene Wachen, den Mantel nach dem Meereswind gehängt, verlangten von ihnen das Losungswort, und sie riefen es laut in die Leere: »Sankt Bartholomäus.«
Noch schwiegen sie eine Zeitlang, um sich zu gewöhnen an das wilde Lärmen des Windes und der Wellen. Die belagerte Festung La Rochelle stand grau vor dem aufgerissenen Himmel, dem Meer, das tobend heranrollte aus dem Unendlichen. Welches Heer vermaß sich, diese Festung zu erstürmen, da sie so sichtbar eingesetzt war als ein Vorposten des Unendlichen! Henri und sein Begleiter dachten bei dem Anblick genau dasselbe. Bei Henri war der Antrieb zu denken ein Gefühl; es ging aus von der Mitte des Körpers, aber mit äußerster Schnelligkeit erreichte es die Kehle, die sich krampfte, und die Augen: sie wurden feucht. Solange dies Gefühl in ihm aufstieg, begriff der junge Henri das Unendliche und die Vergeblichkeit alles dessen, was enden muß.
Sein Begleiter sprach von der Wirrsal der Handelnden. »Ein Großer hat den Ruf seiner Religion verletzt, weil er sich eifriger im Glauben zeigen wollte, als ihm zukam.« Wer war das wohl? »Insani sapiens -« sprach er gegen den Wind. Horaz hatte es in Verse gebracht, daß auch Weisheit und Gerechtigkeit zu weit gehen können. Dann war mit dem »Großen« unmöglich d'Anjou gemeint. Der Mann der Bartholomäusnacht und Weisheit und Gerechtigkeit! Der Begleiter meinte ihn aber dennoch und ließ es nur vorsichtig im Ungewissen nach Art der Philosophen. Er zählte noch mehr Beispiele wirren Handelns auf, und da diese dem Altertum entnommen waren, durfte er die Namen nennen. Henri lag mehr daran, seine Meinung über Mitlebende zu hören. Der Begleiter war nicht zu bewegen, hinauszugehen über allgemeine Betrachtungen. Die werden aber erstaunlich greifbar, wenn der Gegenstand jeden so nahe angeht wie sein Leben. Nichts hielt der Begleiter für fremder der Religion, als die Religionskriege: er sagte es, so ungeheuer es klang. Weder hatten die Religionskriege ihren Ursprung im Glauben, noch machten sie die Menschen frommer. Den einen waren sie der Vorwand ihres Ehrgeizes, den anderen die Gelegenheit, sich zu bereichern. Heilige erscheinen wahrhaftig nicht in Religionskriegen. Aber diese schwächen ein Volk und Königreich. Es wird die Beute fremder Begierden.
Kein Name fiel, nicht Madame Catherine oder ihr Sohn d'Anjou noch die Namen von Protestanten. Die Worte waren dennoch die kühnsten, die jemand wagen konnte. Nicht allein die Brandung und der Sturm tobten gegen sie: fast die Gesamtheit der Menschen hätte sie niedergebrüllt. Henri wunderte sich überaus, daß ein gewöhnlicher Edelmann aussprechen mochte, was kein König laut eingestehen durfte. Er selbst hatte zuweilen gezweifelt an den Religionskriegen; um aber ganz an ihnen zu verzweifeln, hätte er gerade die Personen verurteilen müssen, die er doch verehrte: seine Mutter und den Admiral. Die Politischen vor La Rochelle verschworen sich allerdings, nur noch für die Mäßigung wollten sie kämpfen. Das war einfach ein neuer Vorwand für ihren Ehrgeiz, ihre Begierden. Sie, die mit den Engländern zusammen Frankreich anzugreifen dachten, sie wären dem Edelmann aus Perigord nicht freundlich begegnet. Wahrscheinlich hätte d'Alençon ihn trotz aller Mäßigung in den tiefsten Kerker gesetzt und ihn dort auf immer vergessen.
Henri faßte für den Mut dieses Mannes eine Achtung, so groß, daß sie das letzte Mißtrauen verdrängte.
»Welche Religion ist die rechte?« fragte Henri ihn.
»Was weiß ich?« antwortete der Edelmann,
Damit hatte er sich entblößt und ausgeliefert, was niemand tut, es wäre denn, er erkennt seinesgleichen und vertraut ohne Schwanken. So war es, beide hatten einander erkannt und vertraut. Daher nahm Henri die Hand des Edelmannes und drückte sie. »Wir wollen in das verlassene Haus dort eintreten«, beschloß er. »Die Bewohner sind geflohen, aber ihren Wein werden sie gewiß dagelassen haben.«
Das Haus lag nah dem Strand und war von der See aus beschossen worden. Warum? Von wem? Darauf sollte niemals mehr Bescheid gegeben werden, weder von den Tätern noch von den Geflüchteten. Henri und der Edelmann aus Perigord zwängten sich durch den verschütteten Eingang. Drinnen waren Balken von der Decke gefallen, und der Himmel schien durch das Dach. Aber aus dem Kellerloch ragte noch die Leiter, und drunten fand sich der Wein. In der ehemaligen Küche setzten die beiden Gäste sich auf einen herabgestürzten Balken und tranken einander zu.
»So sind wir Gäste«, sagte der Edelmann, »Gäste auf einer Erde, deren Stätten ohne Bestand sind. Ganz vergebens kämpfen wir um sie. Für meinen Teil habe ich niemals versucht, mehr zu erwerben, als mir vom Glück beschieden war, und ich bewohne, während schon das Greisenalter mir seine Züge öffnet, noch immer mein kleines ererbtes Schloß.«
»Es ist Krieg, und Sie könnten es verlieren«, sagte Henri. »Trinken wir!«
»Ich trinke, und noch besser würde es mir schmecken, wenn ich das meine schon verloren hätte und aller Sorge darum enthoben wäre. Es ist mir eigentümlich, immer das Schlimmste zu befürchten, und tritt es dann wirklich ein, mich ihm in Geduld zu bequemen. Dagegen ertrage ich nur schwer die Unsicherheit und den Zweifel. Ich bin wahrhaftig kein Zweifler«, versicherte der Edelmann.
»Was weiß ich?« wiederholte Henri. Dies hatte der Edelmann vorhin gesagt: jetzt wußte er es nicht mehr.
»Trinken wir!« verlangte er statt dessen. »An der Schwelle des Alters sollte man in jeder Beziehung vorsichtig sein; manchmal aber verstehe ich einer Bekannten meiner Bekannten, der sich, schon ein wenig älter, seine Frau aussuchte an einem Ort, wo jeder sie für Geld bekommt. Damit hatte er die unterste Stufe erreicht, und die ist die sicherste.«
»Trinken wir!« rief Henri und lachte. »Sie sind ein tapferer Mann!« rief er und war ernst. Er meinte das Bekenntnis des Edelmannes über die Religion Der Edelmann aber verstand es anders.
»Ja, auch ich bin Soldat geworden. Ich wollte meine Männlichkeit erproben, Erkenne dich selbst! Allein die Selbsterkenntnis ist wert, uns zu beschäftigen. Wer versteht denn auch nur seinen Körper? Ich bin müßig, träge und habe schwere Hände; aber ich weiß Bescheid über meine Organe und daher auch über meine Seele, die frei ist und niemandem untersteht. Trinken wir!«
Das taten sie noch eine ganze Weile. Henri stimmte mit ein, als sein Begleiter, den Becher hoch, einen Vers des Horaz sang.
»An Kraft, an Aussehn und an Witz,
An Tugend, Herkunft und Besitz:
Die Ersten mögen mich als Letzten zählen,
Wenn nur die Letzten mich zum Ersten wählen!«
Damit standen sie auf, halfen einander, über das Geröll zu kriechen, und im Freien hielt immer noch einer den anderen beim Arm. Die Geister des Weines verflogen nur allmählich. Henri sagte, wieder in Sturm und Braus: »Aber ich bin und bleibe ein Gefangener!«
»Die Gewalt ist stark«, erklärte sein Begleiter. »Stärker ist die Güte. Nihil est tam populare quam bonitas.«
Dies vergaß Henri nie wieder, weil er es gehört hatte, als es sein ganzer Trost war. Gutsein ist volkstümlich, nichts ist so volkstümlich wie Gutsein. Voll Vertrauen fragte er seinen Begleiter:
»Geschehen wirklich alle Handlungen mit dem Kopf nach unten, und wer Handeln sagt, der sagt Verwirrung?«
Beim Klang der Worte, einst von ihm selbst geäußert am Anfang dieses Gespräches, das auf viel unverhoffte Wendungen zurückblickte - bei ihrem Klang besann sich Herr Michel de Montaigne. Er besann sich, wessen Arm er hielt, und ließ ihn los. Er wendete Brust und Gesicht dem Ozean entgegen.
»Unser großer Herr im Himmel«, sprach er und trennte jede Silbe ab, »unser Herr würdigt uns selten, fromm zu handeln.«
»Was ist frommes Handeln?« fragte Henri, auch auf das Meer hinaus.
De Montaigne hob sich auf die Zehenspitzen, um auszusprechen, was er ausnahmsweise nicht durch Versenkung in sich selbst erkundete. Ein großer Atem fuhr in ihn und machte ihn redend.
»Nehmen Sie an: ein Heer, ein ganzes Heer kniet hin, und anstatt anzugreifen, betet es. So überzeugt ist es von seiner Bestimmung, zu siegen.«
Auch dies bewahrte Henri bei sich bis zu einem gewissen Tage.
Es war das Ende des Gespräches. Wachen, die ein Offizier anführte, holten sie ins Lager zurück. Sie waren gesucht worden. Man fürchtete schon, der König von Navarra wäre entflohen.
Paris inzwischen hatte sich angefüllt mit Herren in seltenen Pelzen und von einem fremdartigen Glanz des Auftretens. Es waren die Polen, die ihren König zu holen kamen, denn wahrhaftig war d'Anjou gewählt worden inmitten ungeheuren Jubels des polnischen Volkes, das sich hierfür auf einem Felde versammelt hatte. Der neue König hätte eilen sollen, was erwartete er noch von der undankbaren Festung, die sich nicht einnehmen ließ. Die Wahrheit, wenn er sie hätte aussprechen dürfen, war, daß er den Tod seines Bruders Karl erwartete. Man ist lieber König von Frankreich als von Polen. Karl, der dies genau wußte, schickte ihm nach La Rochelle einen Boten über den anderen, damit er sich entschlösse. Man wird leichter gesund, wenn niemand mehr da ist, der täglich und stündlich hofft, daß uns das Blut aus den Poren bricht.
Madame Catherine wurde beiden Söhnen gerecht. Ihren Liebling drängte sie zur Abreise, damit der Kranke sich beruhigte. Gleichzeitig sorgte sie vor, damit eintretendenfalls die Rechte des Lieblings gesichert blieben. Der polnische Erfolg, die Sorge um die Nachfolge Karls und dazu ihre Absichten auf Elisabeth von England, der sie verschönte Bildnisse des Mannes mit den zwei Nasen überreichen ließ: alles dies nahm Madame Catherine übermäßig in Anspruch. Sie wußte nicht mehr jeden Augenblick, wo jeder stand und ging. Dies ist aber, wie gerade ihr am besten bekannt war, das Wichtigste, um zu herrschen und andere niederzuhalten. Hätte Madame Catherine den Kopf frei gehabt, das Folgende alles wäre schwerlich geschehen.
Schon die Reise an die Grenze hatte etwas von Unordnung. Der König von Polen mußte unbedingt inmitten des ganzen Hofes bis an die Grenze geleitet werden; aber ein Hof reist beschwerlich, sogar unter gewöhnlichen Umständen. Wie erst, wenn die Gelegenheit erfordert, großartig einherzukommen, und überdies wird von den mitreisenden Polen berichtet werden in Warschau. So viele Kutschen, Reiter, Läufer, die Tiere mit Gepäck, die Lastwagen voll von Lebensmitteln, und dies alles, umgeben von Soldaten, verfolgt von Neugierigen und Bettlern, bewegt sich quer durch das Land, es rattert oder trabt auf Wegen, die tiefe Fahrrinnen haben. Aber solche Dämme getrockneten Lehm, zerfließen beim Regen. Wenn es regnet, werden die Kutschen umhüllt, die Reiter verschwinden in ihren Mänteln. Alles hastet, flucht, kriecht in sich zusammen. Kein Volk läuft mehr herbei, um die Mäuler aufzusperren oder in die Knie zu brechen. Weite ungeschützte Ebenen, auf die es niederschüttet, und nur vereinzelte Bauern kommen von den Feldern hoch, mißbilligen den umherziehenden Hof und bücken sich wieder, unter dem Sack, der sie bedeckt. Ehrliche Leute sitzen zu Hause, oder sie arbeiten unter dem Sack. Der Hof zieht umher im Regen wie eine Zigeunerbande.
Jetzt aber zeigt sich die Sonne, und heran naht eine Stadt: da nimmt der Hof sein großes Aussehen an. Die Schutzdecken werden von den Karossen entfernt, die Vergoldungen erscheinen, die aufgeschraubten Kronen blinken, um sie her nicken Federn. Samt und Seide, Glück und Glanz, man hält sich kühn, man lächelt streng oder gnädig. Man zieht ein. Großartig nimmt man entgegen, was geboten wird an Ehrfurcht, gekrümmten Rücken. Glockengeläut. Salz und Brot werden dargereicht von den Schöffen, und auch die geschuldeten Abgaben bezahlen sie unter den Augen der Bewaffneten. Karl der Neunte muß zum Willkommen einen Humpen leeren.
Es bekam ihm nicht gut; der arme König vertrug auf dieser Reise nicht mehr die inhaltsreichen Gefäße, auch nicht das Stoßen der Räder, so wenig wie den Lärm und die Berührung der Menge. Er vertrug vor allem nicht seine Erinnerungen, und sie verließen ihn nicht: sie reisten mit, so weit es fortging von Schloß Louvre. Daher schwieg er zu den feierlichen Anreden. Er blickte mißtrauisch aus den Winkeln auf alles, was noch herandrängen wollte; denn von jetzt bis an das Ende mußte er allein sein.
Sie schleiften ihn mit, über Wege und Stege, durch vielerlei Gedränge, obwohl er ihrer aller überdrüssig war und sie seiner. Abgemagert und wieder bleich von Angesicht, fühlte er gegenüber allem, was vorkam, denselben Abstand wie einst als blasser hochmütiger Knabe und wie auf seinen Bildern.
Er gelangte nicht mehr an die Grenze seines Königreiches. An einem Ort namens Vitry mußten sie ihn zurücklassen. Sie hatten ihn mißbraucht, um ihre Bartholomäusnacht zu machen. Sie ließen ihn krank in Vitry, sie geleiteten weiter seinen Bruder d'Anjou. Nur sein Vetter Navarra blieb bei ihm zurück, der aber hatte seine Gründe: Karl erriet, welche. Er wollte natürlich entweichen. Er nahm wohl an, daß um dieses Krankenbett nicht mehr die Spione schlichen. Die Wagen mit den Ehrenfräulein waren abgefahren, die alte Königin paßte gerade nicht auf ihn auf. Warum entfloh er nicht nach dem Süden? Er hatte größere Pläne, vielmehr sinnlose. Er hatte sich bestimmen lassen, mit Vetter Franz nach Deutschland auszurücken. Die protestantischen Fürsten warteten doch nur auf diese beiden. Mit ihnen zusammen wollten die Vettern einfallen in das Königreich, und Vetter Franz sollte den Thron besteigen, bevor sein Bruder d'Anjou zurück sein konnte aus dem fernen Polen. Mit Karl rechneten sie schon lange nicht mehr. Zwischen Soissons und Compiègne geschah es: da wollten d'Alençon samt Navarra durchgehn und wurden gefaßt.
Madame Catherine begriff plötzlich, daß ihre äußeren Staatsangelegenheiten sie abgelenkt hatten von der häuslichen Überwachung. Zu ihrem kranken Sohn sagte sie: »Du warst die ganze Zeit, während ich an die Grenze reisen mußte, mit dem Zaunkönig allein und hast nichts bemerkt. Du wirst niemals der Herr!« Denn wozu jetzt noch Schonung; seine Tage waren gezählt.
Karl lag aufgestützt, den Kopf in der Hand. Er betrachtete auch seine Mutter nur aus dem Winkel, und eine Antwort gab er nicht. Er hätte sagen können: Ich wußte es. Aber er hatte, anders als die Reisenden, die Grenze erreicht, und dort schwieg er.
Madame Catherine wendete sich nicht mehr an ihn, sie sprach zu sich selbst. »Im letzten Augenblick konnte ich die bösen Ausreißer einfangen, weil endlich jemand mit der Sprache herausrückte.« Wer das war, sagte sie nicht. Soeben wurde an die Tür geklopft, und draußen verlangte Navarra, als wäre nichts geschehen, zum König vorgelassen zu werden. Statt dessen hörte er die Königinmutter den Befehl geben, man sollte ihm ausrichten, daß der König schliefe. Sie sprach laut, durchaus nicht wie im Zimmer eines Schlafenden. Eine große Anzahl von Edelleuten waren zugegen bei dieser offenen Demütigung. Man sah Navarra mit gesenkter Stirn ganz schnell nach seinem Zimmer gehen. Dort aber waren Schloß und Riegel entfernt; Offiziere konnten jederzeit eintreten und unter die Betten sehen. Sie taten dies sowohl bei dem König von Navarra wie bei dem Herzog von Alençon; und diese Leute gehörten zu den hauptsächlichen Ausführern der Bartholomäusnacht. So war damals in Soissons die Lage.
D'Armagnac, der bei seinem Herrn im Zimmer schlief, mußte sich durchsuchen lassen, sooft er zurückkam. Aber nicht nur er - die Königin von Navarra wurde angehalten, als sie zu ihrem Gemahl wollte. Zuletzt bekam sie die Erlaubnis, bei offener Tür mit ihm zu sprechen. Wegen der Horcher sprach sie leise und überdies lateinisch.
»Mein lieber Herr, Sie haben mich tief gekränkt«, sagte sie sanft und traurig. »Ich, die ich so viel getan habe, um Sie zu retten! Sogar die Ärzte glaubten mir, daß ich schwanger wäre! Ach! ich war es nicht, und mir ahnt, daß ich es niemals sein werde. Als es mir an der Zeit schien, trug ich sogar einen dicken Bauch. Meine Mutter indessen ist nicht so leicht zu betrügen wie die Ärzte, und ich will nicht davon reden, was mir zustieß. Während ich aber einzig und allein auf Ihr Wohl bedacht war, was planten Sie?«
»Gar nichts«, versicherte Henri leichthin. »Was sollte ich geplant haben? Siehst du nicht, daß deine liebe Mutter nur einen Vorwand sucht, mich zu töten?«
»Mit Recht«, entschied Margot - eine andere Margot, die Prinzessin vor Valois. »Denn Sie sind ein Feind unseres Hauses, das Sie stürzen wollen.« Die andere Margot war erzürnt durch seine Unaufrichtigkeit und hatte eine harte Stimme.
Um so leichter blieb Henri. »Ah! Du glaubst an diese Verschwörung? Den dicken Nassau sollte ich ins Land gerufen haben!« Er blies die Backen auf und ahmte auch sonst auf das täuschendste einen beleibten Mann nach. Sie lachte darüber nicht, ihre schönen Augen weinten.
»Sogar mich belügst du, noch jetzt!« brachte sie hervor.
Er leugnete weiter, er scherzte dreist, bis sie ganz die Geduld verlor. Wütend rief sie und diesmal in der Volkssprache: »Dumm bist du, nichts als dumm! Läßt dich mit meinem Bruder d'Alençon ein und denkst, er würde dein Geheimnis bewahren.«
»Er hat es streng bewahrt«, behauptete Henri, nur um sie in Versuchung zu führen. Sie verlor denn auch ganz die Haltung, warf den Oberkörper nach vorn und schrie: »Verraten hat er dich!« Darauf reizte er sie noch mehr.
»Höchstens einer einzigen Person - die ich kenne.« Margot schnell und unbedacht: »Dummkopf, ich kenne sie besser. Sie hat sich nicht lange besonnen und alles ihrer Mutter hinterbracht.«
Das war ihr Geständnis. Sie selbst war die Angeberin. Nach dieser Preisgabe wurde ihr angst und bange, sie zog sich gegen die Tür zurück. Er aber, kein Gedanke, daß er sich an ihr vergriffen hätte. Wohlgelaunt rief er hinüber: »Jetzt weiß ich's wirklich! Du hast es von La Mole.«
Dieser La Mole gehörte zu den schönen Männern, die auf ihre Gliedmaßen stolz sind, wie Guise. Margot hatte für ihn eine Schwäche, immer sollte sie zu der gleichen Art von Männern zurückkehren. Das begriff Henri, darum nannte er La Mole - als wäre Margot schon jetzt mit ihm eng genug verbunden, daß er sie hätte einweihen können in das Geheimnis seines Mitverschworenen d'Alençon, womit sie dann ungesäumt zu ihrer Mutter gelaufen wäre. So klang es, und dies alles warf er ihr lachend an den Kopf, als er zu ihr hinüberrief: »Du hast es von La Mole!«
Sie biß sich in die Lippen; sie dachte: ›Du hast es gewollt, du wirst ein Hahnrei werden.‹ Dies einmal beschlossen, bekam sie ihre Sanftmut wieder. Ging hin, beugte ein Knie und bat: »Mein lieber Herr, es möge nichts zurückbleiben zwischen uns beiden von diesem unbedeutenden Mißverständnis.«
Sie ging. Er sah ihr nach und dachte an seine Rache wie sie an die ihre.
Eile! Eile! Die Verschwörungen folgten einander unaufhaltsam, wie die Tage des Schlosses Louvre, wie die Monate, und bald sind es Jahre. Ein großer Schlag ist vorbereitet für einen Morgen im Februar, der Hof hält sich gerade in Saint-Germain auf. Henri und sein Vetter Condé reiten zur Jagd und werden nicht mehr zurückkehren. Das Königreich wird aufstehen, alle »Gemäßigten« warten schon, Katholiken wie Protestanten. Gouverneure von Provinzen machen mit, eine Garnison ist gewonnen. Die Prinzen brauchen nur hinzureiten mit fünfzig Pferden und sind in Sicherheit. Anstatt dessen: Verhaftung, Zusammenbruch, die notgedrungene armselige Absage Navarras an alle Unternehmungen wie diese, und der Schwur, künftig anderen Empörern nicht mehr beizustehen, wenn sie die Ruhe stören wollen; im Gegenteil soll er in Treue fest gegen sie vorgehen. Das alles unterschreibt Henri und glaubt es nicht einmal so lange, als er die Feder hält. Ebensowenig glaubt Madame Catherine es ihm. Der Zaunkönig ist nun einmal ein unruhiger Kopf und fast so verrückt wie ihr Sohn d'Alençon, der am entscheidenden Tage nicht mit zur Jagd reitet, sondern im Bett liegt. Verlaß ist nur auf die Uneinigkeit der Verschworenen, und dann auf den Verräter, der nie ausbleibt. Immer findet sich einer, der alles anzeigt. In Saint-Germain ist es La Mole, der Mann mit den schönen Gliedmaßen, durch den der König von Navarra jetzt glücklich ein Hahnrei geworden ist. Was La Mole verschweigt, enthüllt der Mann mit den zwei Nasen, damit er nur aus der Sache kommt.
Madame Catherine verzieh ihm dann wirklich: er war ihr Sohn und überdies nicht ernst zu nehmen. Schonend aus Geringschätzung behandelte sie auch den Prinzen von Condé, ließ ihn abziehen, damit er die Provinz Picardie für den König regierte. Er statt dessen entwich nach Deutschland: das war ihr einerlei. Nein, Madame Catherine mißtraute in Wahrheit nur einem einzigen, den sie mit scheinbarer Verachtung den Zaunkönig nannte. Ein Zaunkönig ist ein kleines Vögelchen, ihr aber war er noch immer nicht klein genug. Auf die Trennung seiner Ehe hatte sie verzichtet, seitdem ihre Tochter ihn betrog. Das sollten seine frommen Hugenotten nur erfahren, gewiß stieg er in ihrer Schätzung! Was sie wohl von ihm hielten oder hofften? Um sein Leben zu retten, war er wieder einmal katholisch geworden. Den Rest seines guten Rufes verausgabte er in kopflosen Unternehmungen und schwor sie ab, eine nach der anderen, sooft sie mißlangen. Die tiefste Stufe erreichte Navarra, als er, um den König zu verraten, zusammenging mit dem Geliebten seiner Frau.
Der Hof lag damals in Vincennes; der Raum, sich zu bewegen, war hier noch geringer für alle, auf die Madame Catherine ein Auge hatte. Trotzdem ließen sie sich in neue Pläne ein, vielmehr in dieselben wie immer: Flucht, Aufstand, die Hilfe deutscher Truppen - diesmal aber ging das Unternehmen sogar von dem Verräter selbst aus. Derselbe La Mole, der sie erst kürzlich ausgeliefert hatte - ihm überließen sie sich. In Saint-Germain hatten sie ihn kennengelernt, in Vincennes war es schon vergessen. Was ist das? Mag d'Alençon verrückt sein und Henri erbittert, weil er demütigende Erklärungen hat abgeben müssen. Gleichviel, so handelt niemand im wachen Zustand, an einem Hof, wo jeder sich unter Aufsicht weiß, besonders aber Navarra und Vetter Franz - davon nicht erst zu reden, daß sie auch einander nicht trauen. Aber es gibt nun einmal einen leeren Trieb des Handelns, der ganz wie ein unruhiger Schlaf ist. Beide jungen Leute sind darüber belehrt, wer La Mole ist: ein Verräter von Natur, und noch dazu der Freund der Prinzessin, die immer im Banne ihrer furchtbaren Mutter stehn und ihr alles hinterbringen wird. Hat Margot ihren Liebhaber vielleicht sogar angestiftet, und zwar auf Befehl ihrer Mutter? Madame Catherine will endlich wissen, wer alles bereit ist, zu verraten, und wie der Verein und die Tat ihrer Feinde aussehen, wenn sie ihnen erlaubt, heranzureifen bis zum blutigen Ende und Strafgericht.
Der Verein sah aber so aus: zwei junge Prinzen, die aus verschiedenen Gründen Kopf standen und auf den Händen liefen, wobei man das Blut in den Augen hat und nichts sieht. Dazu mehrere große Herren, von der Art, die sich für besonders vernünftig, maßvoll und treu hält. Wollen mehr verstehen als eine kluge alte Königin und beweisen es dadurch, daß sie in demselben Verein sitzen mit Abenteurern, einem Alchimisten, einem Astrologen, einem Spion. Dieser letzte unterrichtet Madame Catherine von Tag zu Tag, und das waren Tage, wie Madame Catherine sie liebte: voll geistiger Spannung und der glücklichen Überlegenheit einer Katze, die unsichtbar über das Vögelchen wacht. Endlich hat es lange genug sinnlos gehüpft und will die Flucht antreten: da schlägt die Tatze zu.
Der Herzog von Montmorency, ein Verwandter des seligen Admirals, sowie Marschall Cossé verschwanden in der Bastille. Hingerichtet in aller Öffentlichkeit auf dem Grèveplatz wurden die beiden Rädelsführer, ein italienischer Verschwörer, und mit ihm, besonders erheiternd für eine Kennerin wie Madame Catherine, dieser La Mole, ihr eigenes Werkzeug, ohne daß er es gemerkt hatte. War auch das Freundchen ihrer verliebten Tochter gewesen, und die gab an, als sein Kopf fiel! Zumindest erinnerte sie an eine Witwe aus Morgenland. Margot holte sich den abgeschlagenen Kopf, ließ ihm Einspritzungen machen, damit er erhalten blieb in all seiner männlichen Schönheit; setzte ihm auch Edelsteine ein; und so führte sie ihn überall mit sich, so lange bis ein neuer Mann sie rührte und hinriß. Da hatte sie den Kopf vorsorglich begraben in einem Kasten aus Blei.
Was die anderen Verschworenen, betraf, sind Astrologen geeignet, das Firmament nach den Geschicken der Großen zu durchforschen; Alchimisten ihrerseits sollen die Zukunft bestimmen aus den Dämpfen der Metalle. Madame Catherine gewann es nicht über das Herz, zwei so sehr Eingeweihte zu töten. Sie nahm ohne weiteres an, daß die Weisen ihre Mitverschworenen zwar getäuscht hatten, ihr selbst aber würden sie verläßlich wahrsagen.
Anders verfuhr sie mit ihrem Schwiegersohn Navarra. Gut, auch ihr alberner Sohn d'Alençon mußte beschämende Verhöre erdulden und den Gefangenen vorstellen. Ihren Zaunkönig aber nahm die alte Frau zu sich in ihre Kutsche. Behaglich liebevoll das Aug auf ihm, in Stunden heiteren Genusses fuhr sie ihn zurück nach Paris und in das Schloß Louvre. Er hatte vermeint, es nicht so bald wieder zu betreten. Jetzt fand er die Fenster seines Zimmers vergittert - und wem, wem wurde seine Person eigens anempfohlen? Seinem guten Freund, dem Hauptmann de Nançay. Der Gefangene war wohl aufgehoben.
Er erkannte es und besann sich. Dies war der Ruck des jähen Aufenthaltes nach zu viel ungeordneter Bewegung. Ein Zittern der Trostlosigkeit befällt nachträglich die Glieder, und der Kopf ist müde wie noch nie.
»Sire!« riet d'Armagnac. »Liegen Sie nicht zu viel auf dem Bett! Tanzen Sie, und vor allem zeigen Sie sich! Wer sich abschließt, erweckt Mißtrauen, und davon trifft Sie schon genug.«
Henri erwiderte: »Mit mir ist es aus.«
»Es hat für Sie noch nicht einmal angefangen«, verbesserte der Erste Kammerdiener.
»Man kann nicht tiefer sinken«, klagte der Unglückliche. »Ich habe die unterste Stufe erreicht - und die ist die sicherste«, setzte er merkwürdigerweise hinzu. Sein d'Armagnac fand die Rede unzusammenhängend. Henri fragte ihn tatsächlich: »War ich denn geistesgestört? - Warum«, fragte er weiter, »habe ich das alles getan? Ich wußte doch, wie es ausgehen muß.«
»Vorher weiß es niemand«, wandte d'Armagnac ein. »Der Zufall entscheidet.«
Henri sagte: »Es sollte aber entscheiden mein Verstand, und wo hatte ich ihn? Unsere Umtriebe verwirren uns den Geist, je tiefer wir uns in sie einlassen. Das kommt, weil andere mit drin sind, und die sind ungewiß. Sogar ich selbst werde davon ungewiß. Glaube mir, d'Armagnac, die meisten Handlungen geschehen mit dem Kopf nach unten.«
Sehr verwundert bemerkte d'Armagnac: »Das ist nicht Ihre Sprache, Sire.«
»Ich habe es von meinem Edelmann, den ich kannte vor La Rochelle: Seine Worte hatten mich zuinnerst getroffen, und das Unbegreifliche ist grade: kaum gehört, vergaß ich sie und stürzte mich in Handlungen, die das Bewußtsein trüben.«
»Denken Sie nicht mehr daran«, riet der Erste Kammerdiener.
»Im Gegenteil, ich will es nie vergessen.« Henri verließ das Bett, er stand und sprach gradeaus: »Keine gleichen Befehlshaber neben mir! Künftig werde ich selbst mein eigener General sein.«
Damit zog er allerdings einen höchst eigenen Schluß aus dem Satz, daß die meisten Handlungen mit dem Kopf nach unten geschehen. Der Edelmann von La Rochelle hätte für seine Person nicht so gefolgert. Indessen war gerade ihm bewußt, daß alle Wahrheiten doppelt sind, und Beispiele des Altertums vermittelten ihm die Geistesart eines Zwanzigjährigen, der keine schweren Hände hat. Der greift Gedanken wie Bälle, der springt, der kann ein Pferd satteln. »Ich - am Anfang des Alters, er - das Urbild der Jugend, die ich zurücklasse und wenig gekannt habe: so dachte Michel de Montaigne dort hinten in seiner Provinz, denn auch er hatte nichts vergessen von dem Gespräch am Meeresstrand.
Karl der Neunte wäre nächsten Monat vierundzwanzig geworden; aber diesen einunddreißigsten Mai 1574 lag er und mußte sterben. Es geschah in Vincennes.
Alle waren darüber unterrichtet, daher erbebte das Schloß von Unruhe, und öfter artete sie in Lärm aus. Die Parteigänger des Königs von Polen behaupteten, er würde schnell genug eintreffen hier im Lande, um alle Verräter zu bestrafen; und so nannten sie die Anhänger des Mannes mit den zwei Nasen. Daher erhobene Stimmen und das Klirren von Waffen, aber das war nicht alles. Unter den Gewölben wurde laut kommandiert, alle Ausgänge waren besetzt und besonders hallten die schweren Schritte der Wachen vor den beiden Türen, die Madame Catherine am strengsten beaufsichtigte. Diese verbargen ihren Sohn d'Alençon und den Zaunkönig - die wohl daran taten, drinnen zu bleiben und sich bewachen zu lassen. Einmal hervorgetreten, wäre keiner von ihnen weit gelangt. Jeder aufrührerische Zuruf ihrer Freunde hätte sie augenblicklich in Gefahr gebracht. Heute regierte der Tod, denn der König starb. Seine Mutter hatte ihn zuletzt noch bis Vincennes geschleppt. Dies Schloß war übersichtlicher als der Louvre. Weder ein unberechenbares Volk noch die Gegner ihres Lieblings d'Anjou konnten hier dazwischenkommen, wenn sie ihn ausrufen ließ. König! - schon der dritte Sohn. Heute starb der zweite, an der Reihe war der dritte, und noch einen vierten hatte sie im Rückhalt. Wenn jeder nur etwas vorhielt, konnte Madame Catherine ihnen weiter die Sorgen des Reiches abnehmen und konnte bleiben, die sie war - auf immer, meinte sie. Denn für Tatkräftige ist alles Gegenwart; das Künftige wie das Gewesene verschwinden darin. Karl der Neunte zum Beispiel hat nie gelebt, da er ja sterben muß. Seine Mutter war die letzte, sich um ihn noch zu kümmern. Er lag allein.
Der Arzt war gegangen, nachdem er den Sterbenden eingewickelt hatte in Tücher, die bestrichen waren mit Balsam, zur Stillung der Blutungen. Karl hatte aber begriffen, daß der Arzt nicht im geringsten mehr hoffte, das Versickern könnte aufhören. Nur den Kranken wollte er verschonen mit dem Anblick, wie auf seiner Haut überall die roten Lachen sich bildeten - und er sollte sich selbst auch nicht riechen. Der Duft des Balsams verdeckte den Blutgeruch - eine Zeitlang nur, dachte Karl, und selbst während sein Verband noch frisch war, schnupperte Karl und verlor nie aus dem Sinn, wie sein letztes Stündlein roch. Er war ein starker junger Mann gewesen. Zum Sterben blieb ihm die ganze Kraft, die das Leben von ihm nicht mehr empfangen wollte: die Kraft des Erkennens, die Kraft der Haltung.
Er dachte: ›Ambroise Paré, mein Arzt, hat einst den Admiral verbunden. Mit dem Admiral wäre auch der Arzt umgekommen, er entkam nur über das Dach. Wer noch über das Dach entkommen könnte! Ich weiß, ich weiß; und soviel wüßte ich keineswegs, wäre nicht durch meine Schuld der Admiral getötet worden. Ich weiß, warum draußen Lärm ist. Warum ich unter großen Schmerzen hierher gefahren worden bin. Warum ich jetzt allein liege und niemand mehr nach mir fragt.‹ - »Ich muß sterben«, sagte er hörbar.
»Das ist wahr, Sire«, antwortete seine Amme. Sie saß auf einer Truhe und strickte. Als ihr Pflegling die Augen öffnete und sprach, stand sie auf; sie wischte ihm das Gesicht ab. Das Tuch ließ sie ihn nicht sehen.
»Es ist gut, Amme, daß du nicht redest wie der Arzt und mich täuschen willst. Ich weiß, und ich stimme zu: sonst habe ich nichts mehr, mich zu bewähren. Ich will nicht sein wie andere, die zuletzt noch aus dem Bett springen, schreien und zu entlaufen versuchen. Wohin wohl, und warum denn? Obwohl ich sicherlich Kraft genug hätte, aufzustehen, den Hof und meine Mutter zu überraschen in meinem weißen Linnen, mit meiner blutigen Stirn, und alle in die Flucht zu jagen.«
»Du bist der König!« erinnerte sie ihn freudig, voll unbedachter Hoffnung. Denn sie allein fiel von ihm nicht ab. Vierundzwanzig Jahre weniger einen Monat war sie durch ihn eine Person von Rang gewesen. Hatte auch Land genug ankaufen können, daß sie für ihre Zukunft versorgt war; und sie stand erst in den vierziger Jahren, eine schöne und derbe Frau. Aber dir stirbt nicht dein König, ohne daß du, Amme, ihn ein Stück begleitest in das Dunkel. Ja, seine letzten Bewegungen und seine Abschiedslaute schließen sich an sein erstes Tasten und Eingangsweinen. Damals hieltest du ihn auf deinen Schenkeln, die sich stolz spannten, und an deinem vollen Busen. So meinst du, Amme, ihn zuletzt wieder zu tragen.
Nicht schreien noch entlaufen, hatte er beschlossen, statt dessen aber seufzte er, stöhnte und äußerte Schrecken. Sah er doch Geister, jetzt schon am hellen Tag, und hörte wilde Stimmen, die nicht von Lebenden waren. »Ach, Amme! Wie viel Blut, wer alles gemordet ist! Ich war schlecht beraten. Daß Gott mir verzeih und barmherzig sei!«
»König! Hast du uns Protestanten gehaßt? Nein; denn du hast unseren Glauben eingesogen mit meiner Milch. Sire, alles Blut der Gemordeten kommt über jene, die sie gehaßt haben. Du warst ein unschuldiges Kind, dir rechnet Gott nichts an.«
»Was hat man aus deinem unschuldigen Kind gemacht!« klagte dagegen er. »Ist es zu verstehen? Ich - nichts, was, ich getan habe, gehört eigentlich mir, und nichts Gewesenes kann ich mitnehmen. Vor Gott, wenn er mich dann fragt nach der Bartholomäusnacht, werde ich hilflos antworten: Herr! Ich verschlief sie wohl.«
Seine Stimme sank herab zum Geflüster, der Kranke schlummerte ein. Die Amme trocknet ihn mit einem frischen Tuch, und jetzt breitet sie es aus. Sein Gesicht war blutig darin abgedrückt.
Da er tief und hörbar atmete, zog sie ihm unter dem Kopf das Kissen fort, so daß er flach in ganzer Länge lag, und hierauf tat sie etwas, das er ebensowenig hätte bemerken dürfen wie das blutige Tuch: sie nahm ihm Maß. Mit höchster Sorgfalt maß sie den Körper ihres Königs, den ich nach ihrem Amt und Vorrecht sollte in den Sarg betten, wie zu Beginn in die Wiege. Ihr fiel eins nicht schwerer als das andere: sie war eine kräftige Frau. Er dagegen wog jetzt wieder leicht. Lange Zeit hatte sie ihn immer nur zunehmen gesehen an Umfang und Gewicht. Vorübergehend war er hochrot von Farbe gewesen, seine Bewegungen luden aus, seine Stimme dröhnte. Sie betrachtete ihn, der jetzt wieder schmal und bleich, bald auch ganz still war. Zwischen Anfang und Ende hatte er das Blut, vieler Menschen vergossen, das seine aber war langsam aus ihm getreten. Sie fühlte: beides war geschehen unaufhaltsam, für unerkennbare Zwecke. Übrig bleibt: Ich Amme leg ihn in die Truhe. Sie billigte, alles, wie es war, sie behielt die Augen trocken.
Der Abend hatte sich niedergelassen, der Abend vor Pfingsten: da erwachte Karl. Die Amme erkannte es an seinem Atem allein. Sie machte Licht und siehe sein Bluten hatte aufgehört. Dafür war er jetzt überaus schwach, mit Anstrengung erhob er die Hand, um ihr zu bedeuten, was er wollte. Sie verstand nicht, obwohl sie ihn aufsetzte und das Ohr an seine Lippen legte. »Navarra« hauchte er, und sie erriet es.
Sie rief den Befehl des Königs zur Tür hinaus, die Wachen gaben ihn weiter und jemand lief, ihn zu überbringen. Nicht zu Henri eilte der Offizier, sondern natürlich zu Madame Catherine. Sie war denn auch die erste, die anlangte bei ihrem sterbenden Sohn. Die Amme hatte ihm das Gesicht gewaschen; es schien weiß wie Stein und unsäglich abweisend gegen jede Zudringlichkeit der Lebenden. Madame Catherine, mit der blutwarmen Natur einer Mörderin, stößt auf Fremdes, gar nicht Geheures. So sterben die sonst nicht. Zu vornehm! Kenn ich nicht. Ist nie aus meinem Schoß gekrochen! Nur gut, daß noch jemand hier erwartet wird.
Henri Navarra indessen ging einen Weg der Ängste - durch enge gewölbte Gänge, starrend von Bewaffneten. Ihm wurde kalt bei all dem entblößten Eisen, den Arkebusen, Hellebarden, Partisanen. Er erkannte den Tod, nicht anders als Karl selbst - hatte aber dabei all sein Blut, sowie die Füße zum Entlaufen. Wirklich stockte er und wäre umgekehrt. Kam dennoch an, trat ein und ließ sich auf die Knie. Von der Tür bis an den Fuß des Bettes ging Henri auf den Knien. Hier vernahm er, was Karl hauchte. »Mein Bruder, jetzt verlieren Sie mich, aber Sie selbst wären längst nicht mehr am Leben. Ich allein habe den anderen abgeschlagen, was sie vorhatten. Dafür wollen Sie sich künftig meiner Frau und meines Kindes annehmen. Künftig«, wiederholte er - und so leise er sprach, das Wort hallte. ›Er weiß, daß ich soll König von Frankreich sein! Wer stirbt, sieht in die Zukunft.‹
So ist es, daher ein großes Unbehagen bei Madame Catherine. Horoskope und Dämpfe der Metalle stehen allerdings gegen das Wort des Sterbenden. Gleichwohl sind solche Worte folgenschwer, darum aufgepaßt! Karl ringt, um Henri noch eins zu hinterlassen. Es soll eine Warnung sein, das ist ihm anzusehen. »Trau nicht meinem -« beginnt er, da fährt sie schon hinein. »Sag das nicht!« Weil nun Karl endgültig erschöpft war und zurück auf das Kissen fiel, blieb unentschieden, wen Henri mehr zu fürchten hatte, ob d'Anjou, der ihn haßte, oder d'Alençon, seinen eigenen unsicheren Gefährten. Er beschloß, sich vor beiden zu hüten.
Madame Catherine verließ das Sterbezimmer, als sie sich überzeugt hatte, daß Karl nicht mehr sprechen würde; Henri harrte, immer kniend, solange aus, bis der Todeskampf begonnen hatte.
Bei ihrem Pflegling blieb schließlich allein zurück die Amme. Über ihn geneigt, fing sie seine Seufzer auf - nicht als hätte sie gefühlt mit dem, der selbst nicht mehr fühlte, sondern einfach, damit sie genau feststellte, wann der letzte abbräche. Sie wußte wohl: In diesem vergehenden Geist gespensterte nur noch das Früheste, lang Vergessene, niemandem bekannt als ihnen beiden. Ihr fiel es wieder ein zugleich mit ihm, und dem Entschlafenden zur Seite kehrte sie in alte Tage zurück. Nur seine kurzen Seufzer bewegten seine Lippen, dennoch verstand sie »Wald«, dennoch verstand sie »Nacht«, und »müde«. Das Kind hat sich verirrt im Wald von Fontainebleau, jetzt fürchtet es sich im Dunkeln. Vorzeiten geschah dies, und geschieht zuletzt nochmals. Sie summt statt seiner die Worte. Eintönig wiederholte Worte fügen sich ungewollt aneinander, und sie summt:
»Mein Kind, es ist schon kalt,
Es wird schon Nacht, du Kind,
Es ist schon Nacht im Wald,
Es ist schon kalt im Wind.«
Summt es lange, schläfert auch sich damit ein.
»So klein, findst keinen Weg -«
Hier merkt sie insgeheim: etwas ist eingetreten.
»So müd und keine Ruhe -«
Bei Gott, es war der letzte, war sein letzter Seufzer. Sogleich richtet sie sich auf, und seine Lider schließend spricht sie stark:
»Ich Amme aber leg
Dich in die sichere Truhe.«
Le malheur peut apporter une chance inespérée d'apprendre la vie. Un prince si bien né ne semblait pas destiné à être comblé par l'adversité. Intrépide, dédaignant les avertissements, il est tombé dans la misère comme dans un traquenard. Impossible de s'en tirer: alors il va profiter de sa nouvelle Situation. Désormais la vie lui offre d'autres aspects que les seuls aspects accessibles aux heureux de ce monde. Les leçons qu'elle lui octroie sont sévères, mais combien plus émouvantes aussi que tout ce qui l'occupait du temps de sa joyeuse ignorance. Il apprend à craindre et à dissimuler. Cela peut toujours servir, comme, d'autre part, on ne perd jamais rien à essuyer des humiliations, et à ressentir la haine, et à voir l'amour se mourir à force d'être maltraité. Avec du talent, on approfondit tout cela jusqu'à en faire des connaissances morales bien acquises. Un peu plus, ce sera le chemin du doute; et d'avoir pratiqué la condition des opprimés un jeune seigneur qui, autrefois, ne doutait de rien, se trouvera changé en un homme averti, sceptique, indulgent autant par bonté que par mépris et qui saura se juger tout en agissant.
Ayant beaucoup remué sans rime ni raison il n'agira plus, à l'avenir, qu' à bon escient et en se méfiant des impulsions trop promptes. Si alors on peut dire de lui que, par son intelligence, il est au dessus de ses passions ce sera grâce à cette ancienne captivité où il les avait pénétrées. Cest vrai qu'il fallait être merveilleusement équilibré pour ne pas déchoir pendant cette longue épreuve. Seule une nature tempérée et moyenne pouvait impunément s'adonner aux mœurs relâchées de cette cour. Seule aussi eile pouvait se risquer au fond d'une pensée tourmentée tout en restant apte à reprendre cette sáránitá d'âme dans laquelle s'accomplissent les grandes actions généreuses, et même les simples réalisations commandées par le bon sens.