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Dreizehntes Kapitel

Gabriele hielt das Gesicht gesenkt, sie sah nur das helle, geblümte Muster des waschbaren Stoffes, der das Sofa bedeckte. ›Wie lange sitze ich schon hier? Bald nach dem zweiten Frühstück schickte ich das Kind spazieren, seitdem träume ich ... So möchte ich wohl, daß es gewesen wäre‹, setzte sie hinzu.

Sie fragte vor allem: ›Ist Jürgen hinter dem Vorhang?‹

Aber sie sah nicht nach.

›Pidohn hatte ihn gesehn. Als ich lange vorher Pidohn dadurch zähmte, daß ich ihn mit dem Vorhang erschreckte, war es wohl eigentlich von mir nicht List, sondern bloß Vorgefühl? Stand Jürgen damals schon dort? Nachher hat Pidohn ihn gesehn. Aber die ganze Zwischenzeit! Was hat er in Wirklichkeit alles mit angehört?‹

Sie fröstelte trotz der Schwüle.

›Ich gehe nicht hin, um nachzusehn, weil ich jetzt ohnehin krank werden und sterben soll. Er wird mir die Hand halten und weinen, ganz gleich, wie sonst alles war.‹

Auf einmal fiel ihr ein:

›Was habe ich getan! Jetzt wird bestimmt nie mehr geschaukelt, nie mehr gelacht.‹

Ohne daß sie den Kopf erhob, konnte sie auf einem Gegenstand, dessen Form und Sinn ihr nicht bewußt ward, die Sonne blitzen sehn. ›Noch immer?‹ dachte sie erstaunt.

Inzwischen war vieles andere verdunkelt und beendet. Aus einem großartigen Unglück, dem sie waghalsig entgegengezittert hatte, war Beschämung geworden, war Entsetzen sowohl wie Scham geworden. Die Sonne aber blitzte in den Dingen, der Tag war noch nicht um.

Pidohn erwies sich zuletzt als Schurke und sogar als bescheidener. Wenn man ihm beispielsweise einen Laden einrichtete, gab er sich zufrieden und blieb bis an sein Ende in der Straße wohnen. Mit dem da hatte sie Schicksale bestehn gewollt! Welche? Sie hätte es fast vergessen. Mit großem Skandal davonlaufen. Statt dessen kam jetzt ein Skandal gewöhnlichen Umfanges und ihr bürgerlicher Zusammenbruch. Sie und die Ihren sollten arm werden.

›Warum?‹ fragte sie. Dem folgte ihr längstes Grübeln.

Ward man arm, weil eines Tages nicht lange vor Dämmerung ein sonst nie viel beachteter Mann in den Garten trat und sonderbare Reden führte über das Unglück, über heilige Frauen? Sie war begierig geworden auf die Ferne und Fremde in seinen Worten. Von ihrer Neugier kam es dann, daß auch ihr Mann dem Versucher nachgab.

Ja, in diesem Augenblick erfuhr sie, daß ohne sie, ohne ihren Leichtsinn und ihre böse Lust ihr armer Jürgen seine lebensgefährlichen Geschäfte nie angefangen hätte. ›Ich trage die Schuld, ich muß sie büßen‹, dies ergab das Ende.

Es war das Ende eines romantischen Lebenslaufes. Ihr Geist ließ eine Dame dahinwandeln mit dem gebauschten, wippenden Kleid aus Falbeln und Spitzen, jenem bebänderten Blumenhut, und den kleinen Schirm setzte sie umgekehrt vor sich her. Gabriele kannte doch die unschuldige Linie der Wange? Jetzt bemerkte sie, was unschuldig hieß, denn sie war es nicht mehr.

›Ich muß nun büßen‹, sagte sie, im Grunde wenig dazu entschlossen.

Zum erstenmal seit ihrer neuen Lage sah sie sich im Zimmer um. Pidohn war natürlich fort, nach hinten davongeschlichen, wahrscheinlich sogar durch die Hecke gekrochen und in sein Haus geflüchtet. Stand aber Jürgen noch immer hinter dem Vorhang? Dann verhielt er sich still, sehr still. Die um Gabriele entstandene Stille wurde drückend fühlbar.

›Wird es so bleiben? Wie ist wohl die Armut? Man läuft über keinen Rasen mehr, es ist dunkel im Zimmer. Ich werde kochen müssen, und es ist nichts da. Was noch?‹ Sie zuckte ungeduldig die Schultern.

Ihr kam der Einfall, daß sie mit Pidohn, wären sie wirklich zusammen geflüchtet, vielleicht sogar unter Dieben gelebt hätte – ›möglichenfalls aber auch‹, ergänzte sie, ›in der glänzendsten Gesellschaft der großen Welt, reich, mit falschem Namen – und er hätte den Bart seines Napoleon getragen‹, dachte sie kindisch.

Hierauf seufzte sie. ›Ich bin jetzt endlich erwachsen. Ich muß es mir merken. Dies ist längst nicht mehr so träumerisch, wie es noch anfing, heute nach Tisch. Alles ist wahr geworden im Ernst. Wenn ich Jürgen nun sagte: ich will bescheiden werden. Keine Gesellschaft wieder, keine Offiziere. Denke nicht mehr an die Gabriele, die mit Herrn Pidohn nach Suturp fuhr! ... Aber das weiß er noch nicht einmal‹, sah sie plötzlich.

Verzweiflung meldete sich.

›Er weiß nicht, daß ich in Suturp war. Er weiß nicht, daß ich das Kind damals in der Antonschen Wirtschaft zurückließ. Er kennt nichts von allen meinen Gedanken, Vorsätzen und was ich sah, sah – bei Heines, und ich glaube, auch noch während ich auf unserer Terrasse in Ohnmacht fiel.‹

Die Verzweiflung ward laut.

›Aber alles wird er wissen wollen. Keine Ruhe bei Tag und Nacht. Kein aufrichtiger Blick auch nur. Schon längst war alles Lug und Trug. Wenn ich jetzt nicht fliehen soll, ich kann auch nicht bleiben. Er war mein Herr!‹ rief sie in ihrem Herzen. ›Mein lieber Herr! Damit ist es aus, wenn er von mir nichts mehr wissen darf.‹

Im Grunde fühlte sie, dann werde es aus sein auch mit der Liebe selbst, mit der Liebe zwischen ihrem Jürgen und ihr, mit ihrer beider ganzer Liebe. Alles andere, ja selbst ihr Vorsatz, mit einem Fremden in die Welt hinauszugehn, hatte sich noch nie an der Liebe vergriffen. Jürgen, sie und die Liebe blieben in allem, was vorging, geheimnisvoll aufrecht. Jetzt endlich drohten sie gemeinsam umzusinken, und dies, erst dies war das Zeichen für Gabriele, den Kopf zu verlieren.

Sie sprang auf, die Augen vom Schrecken weit offen. Ein Lichtfunke traf hinein, er kam genau dorther, wo schon vorhin ein Gegenstand sie angeblitzt hatte. Jetzt erkannte sie auch den Gegenstand. Sie hatte darüber hingesehn. Jetzt war er willkommen, da erkannte sie ihn.

›Hättest du dein gutes englisches Rasiermesser nicht grade heute offen liegen lassen‹, sagte sie erschreckt lächelnd, dennoch sanft, zu dem abwesenden Geliebten. Er sollte es nicht für einen Vorwurf halten. Aber wenn Gabriele jetzt in das Bad hinunterstieg, Wasser einlaufen ließ und durch ihr Handgelenk, ihr von ihm oft geküßtes, einen tiefen Schnitt zog –.

Sie dachte, daß sie damit ihr Andenken rette. Jürgen liebte sie dann wie je. Sie machte auf diese Weise auch ihrem Kind keine Schande, dachte sie nebenher und mehr aus Pflichtgefühl. Was sie nur ganz im stillen unhörbar zugab: sie entging ihrer ungeheuren Beschämung, und niemals mußte sie arm sein. Starb sie, war es so gut, als wäre sie keinem Pidohn begegnet, nie mit ihm nach Suturp gefahren, und die Szene heute, die beschämend endete, hatte nirgends gespielt.

Eine wohlhabende, verwöhnte Dame ging ab, verließ die Gesellschaft. ›Wir sind nicht reich, aber sehr wohlhabend.‹ Ging ab, und dann war alles gut. Gabriele einmal fort und die Tür hinter ihr geschlossen, folgte nichts mehr nach, weder Unglück noch Glück. Daher war es gut.

Hinter den beiden Betten lag im Fußboden eine braun polierte Platte. Man bückte sich, hob sie auf, man stieg hinab. Die Villa hatte noch kein Badezimmer gehabt, erst Konsul West war der Mann, sie, so gut es ging, damit zu versehn. Gabriele bückte sich, sie setzte den Fuß noch zögernd auf die erste Stufe. Allmählich ging sie zuversichtlicher. Als auch ihr Kopf sich unter die Fläche des bewohnten Zimmers senkte, empfand sie Genugtuung.

 

In demselben Augenblick fuhr Konsul West von dem Gartenstuhl auf, einem mit Erde beschmutzten Stuhl, der hinkte und ausgesondert drunten neben der Terrasse stand. Ihn hatte er gewählt, um ungesehn darauf zusammensinken zu können. Als er jemand kommen hörte, nahm er schnell die Stirn aus der Hand und ging voll Pflichtgefühl wohlgelaunt dem Gast entgegen. Es war aber Professor von Heines.

Was hatte Konsul West? Er verlor die gesellschaftliche Selbstbeherrschung – gab sie vielleicht auf, denn sonst tat sie von selbst ihren Dienst. Sein Gesicht verschloß sich, als hätte der Anblick Heines' ihn an sein übel angewendetes Vertrauen erinnert und vorsichtig gemacht. Ein schlechter Schuldner läuft Gefahr, so empfangen zu werden.

Den alten Dichter verließ auch sogleich seine Sicherheit. Er begriff ohne weiteres, um was es sich handelte, und bekannte sich schuldig; denn er hielt unschlüssig an, bevor er da war. Sichtlich wäre er lieber umgekehrt. Seine Miene war verlegene Teilnahme.

»Geht nicht alles nach Wunsch?« fragte er, während beide einander die Hand nur schlaff entgegenstreckten.

»Mir?« fragte der Konsul. »Das ist eine Sache für sich. Aber was Sie vorhatten, Herr Professor, ist Ihnen gelungen. Ich bezeuge es Ihnen, und ich kann es wissen.«

»Was können Sie wissen?« murmelte der Greis.

»Nur kommen Sie zu spät zur Probe. Die Probe ist vorbei. Letzte Szene, ich hörte noch grade die Hauptsache.«

»Sie haben falsch gehört!«

»Plötzlich sah ich sogar einem richtigen Kaiser Napoleon ins Gesicht. Anstatt daß ich erstaunt gewesen wäre, erschrak er vor mir.«

Konsul West blies wohl höhnisch durch die Nase, schon aber hatte er mehrfach die Augen schließen müssen. Die Gedanken blieben ihm weg, auch die Knie zitterten ihm.

Der alte Dichter überwand seine Verlegenheit, er ergriff die letzte Möglichkeit, noch ehrlich zu sein mit dem Mann. Es war unbequem, aber er brachte das Opfer.

»Ihre Frau war bei mir, sie hat mir alles gestanden.«

»Das erzählen Sie so ruhig«, sagte der Mann und stöhnte. Heines fürchtete, Schweigen wäre doch besser gewesen.

»Sie gestand es nicht mit Worten«, erklärte er dem Mann. »Ich merkte es ihrem Wesen an, ihrem tiefen, ja, unerlaubt tiefen Wissen um die Rolle, die ich ihr zudachte. Zum Überfluß verriet sie sich noch durch einen Anfall.«

»Ist sie denn ganz von Sinnen?« fragte der Unglückliche.

»Sie sagen es: von Sinnen«, wiederholte der alte Dichter, »aber von Sinnen in einer Art, die nicht den Arzt, sondern mich angeht. So kam sie mit Recht zu mir, Sie müssen es ihr verzeihn. Noch mehr, verzeihn Sie ihr auch die heutige Probe, mag es für Sie selbst auch die ernsteste gewesen sein.«

»Das wird sich finden«, erklärte der Konsul einigermaßen herausfordernd.

»Sehn Sie sich den Herrn an, dem heute Ihr Haß und all Ihr Jammer gilt. Sollten Sie nicht froh sein, daß er so und nicht anders aussieht? Er wäre andernfalls vielleicht jung, hübsch und trüge Uniform.«

»Ich habe schon mehrfach bemerkt, daß ältere Leute gern frivol sind«, sagte der Konsul.

»Und erst alte Dichter!« bestätigte Professor von Heines. »Die gehn bis zum Zynismus, wenn sie glauben, daß er hilft. Ich bin nicht weise. Einzig die schmerzlichen Prüfungen meines Gefühls haben mich allmählich belehrt. Aus schwärmender Betrachtung, die ich töricht genug der Welt verkündete, haben meine Prüfungen Lehren gemacht, die härter sind und über die ich dezentes Schweigen bewahre. Ihre Frau, Konsul West, würde Sie betrogen haben.«

»Danke.«

Der Konsul war scharf.

»Ich danke Ihnen gleich auch, falls sie es noch tut. Sie haben gewissenhaft gearbeitet, das muß ich zugeben. Sie haben ihr Wort für Wort die Rolle angefertigt, die ihrer Natur entgegenkam. Haben ihr den Ehebruch mundgerecht gemacht, soviel noch fehlte. Freuten Sie sich gehörig, als Ihre Heldin den Anfall hatte? Das war das sicherste Zeichen Ihres Erfolges. Ich gratuliere Ihnen.«

Er wandte sich schroff ab, er ging schnell auf sein Haus zu. Fiel ihm ein, wie es drinnen für ihn stand? Er kehrte ebenso schnell zurück. Der Alte hatte gewartet.

»Ich bedaure, daß ich grade Ihnen, Herr Professor, solche Worte sagen mußte, und ich hätte es nie gedacht, als ich begeistert schon als Junge Ihre Gedichte las.«

Der Konsul sprach mit knapper Höflichkeit. Die Selbstachtung hatte verlangt, dies zu sagen. Nur Heines wurde unvermutet warm. Er streckte seine beiden Hände hin, – die nicht genommen wurden, aber er ließ sie weiter schweben. Sie schwebten, während er sprach, auf und nieder.

»Sie machen mich glücklich, Konsul West. Sie leiden, aber werden genesen. Lassen Sie sich sagen, daß Sie verdient haben, zu leiden. Dafür prophezeie ich, Ihr Dichter, Ihnen, daß Sie nie wieder so unglücklich sein werden wie in dieser Stunde. Wissen Sie nicht mehr, daß dieses Ihr Haus nach dem Unglück laut und vernehmlich rief? Was für Einfälle suchten uns doch heim beim Léoville an jenem ersten Abend. Auf welche heimlichen Wünsche brachte Sie selbst der Anblick Ihrer Frau und eines so nichtsahnenden Glückes?«

Er wartete nicht länger, daß seine Hände genommen wurden, er ergriff die beiden anderen.

»Getrost, mein Lieber! Von dieser Stunde an geht es aufwärts.«

Der Konsul, aller Sorgen voll, hatte dafür nicht das leiseste Verständnis.

»Meine Erinnerung weicht von der Ihren ab, Herr Professor. Ich glaube zu wissen, daß Sie auf das ehrenfeste Bürgerhaus Ihr Glas leerten und das Glück für unsere gerechte Forderung an das Dasein hielten. Wollten Sie meiner armen Frau eine Lehre erteilen, dann muß ich gestehn, daß sie drastisch ist.«

Schon hatte er seine Hände schroff losgemacht, obwohl der Alte ihm versicherte:

»Sie werden eines Tages von selbst meine Hand drücken wollen in diesem gleichen Garten.«

Übrigens zeigten sich neue Gesichter, Kusine Emmy, umrahmt von zwei Leutnants.

In dem Konsul klang nach: meine arme Frau, und klang wie Mitleid. Nur des einen Wortes hatte es bedurft, und Jürgen West ward schwach. Um so entschlossener gab er sich Haltung.

Der eine der Leutnants blieb einen Schritt zurück. Emmy trat herbei mit dem anderen, der sich ungewöhnlich formvoll verneigte. Was kam jetzt? Sie stellte ihn als ihren Verlobten vor.

»Ich beglückwünsche Sie, Herr von Kessel. Auch dich, liebe Emmy, beglückwünsche ich. Ich glaube, daß du in die richtige Umgebung kommst. Ihnen, Herr Leutnant, kann ich bezeugen, daß Sie eine Frau mit den besten Eigenschaften wählen. Sie wird Ihr Vermögen nicht in Gefahr bringen, seien Sie unbesorgt. Sie wird nicht spielen, mit Ihnen und Ihrer Stellung nicht, und mit dem Leben nicht. Sie ist zuverlässig, denn sie hat Kopf; – und mag man von der liebenswürdigen Naivität unserer Damen halten, was man will, so wird es meistens doch der Kopf sein, der allzu schwere Wechselfälle unseres Daseins ausschließt.«

Leutnant von Kessel verbeugte sich während der Rede noch mehrmals. Sein unbeteiligter Kamerad von Kühn dachte:

›Er glaubt, er rede in der Bürgervertretung.‹

Emmy betrachtete ihn, wie er sprach, immer genauer. Er war außerordentlich bleich. Die Haarbüschel an seinen Schläfen wirkten daher dunkler, der ausgezogene Schnurrbart durchschnitt die Blässe stark gezeichnet. Emmy fühlte: ›Ich werde ihn immer lieben. Und jetzt ist es soweit, er weiß, daß sie ihn betrügt.‹

Trotz schrecklicher Genugtuung, der sie sich nicht erwehren konnte, erschütterte es sie. Auch seine Haltung riß sie hin, die völlige Sicherheit des Tones. Nie vorher war eine solche Einheit von Leichtigkeit und Würde erreicht worden.

›In diesem Augenblick mußte ich mich verloben!‹ fühlte Emmy. ›Gut. Jetzt begreife ich erst ganz, welchen Entschluß ich fasse – und halten muß.‹

Hier sagte Professor von Heines:

»Herr Leutnant von Kessel, Sie tragen den Arm in der Binde.«

Die bewegten Umstände hatten noch nicht erlaubt, darauf zu achten. Heines selbst war bisher abseits in das Erkennen seines eigenen Erlebnisses vertieft gewesen.

›Ich habe gehandelt. Habe ich recht gehandelt? Ich weiß nur, daß es notwendig war, ungezwungen kam und daß es gut enden muß. Ich fühle meine glückliche Hand‹, dachte er ungewohnt erhoben. Höchstens seine ersten Gedichte, in früher Zeit, hatten ihn so erhoben.

›Hier denkt niemand daran, mich zu verehren‹, dachte er. ›Das vergessen sie, wenn sie an ihrem Leibe spüren, daß ich da bin. Das ist die Wirklichkeit! Ich bin nicht bloß ein Gegenstand der Verehrung! Der Mann haßt mich, noch haßt er mich. Eines Tages wird er mir von selbst die Hand schütteln – hier im Garten, diesem selben Garten.‹ Er sah ihn sich an, mit allen, die darin waren. Dann trat er vor und sagte:

»Sie tragen den Arm in der Binde?«

Leutnant von Kessel erwiderte:

»Lassen Sie mich nur, ich tue es, um mich meiner Braut interessant zu machen. Oder nehmen wir an, ich täte es im Sinne meiner Rolle, Herr Professor. Sie geben mir einen Verschwörer und Duellanten zu spielen, kann der immer heil davongekommen sein?«

Man lachte und verzichtete auf die Wahrheit.

»Sollen wir aber noch probieren, wo bleibt dann unsere Eugénie?«

»Das frage ich mich schon längst«, gestand der Konsul.

Es war der erste falsche Ton. Seine künstliche Sicherheit beleidigte hier das Gefühl Emmys. Sie erkannte doch seine Angst, die starre Erwartung in seinen blauen, verdunkelten Augen.

»Sieh nach ihr!« sagte sie vertraut und tödlich ernst.

 

Die hölzerne Treppe führte Gabriele in das getünchte Badezimmer selbst. Sie fand den Ofen seit dem Morgen noch lau. Ihr war es lieber, sich zum Sterben in ein kühles Wasser zu legen. Warmes würde sie eingeschläfert haben, sie aber hatte noch zu denken.

Sie wollte an Gott denken und was er in diesem Augenblick zu ihr und ihrem Treiben etwa sagte. Er fiel ihr ein, wie ein alter Bekannter, der ihr aus den Augen gekommen war.

Sie entkleidete sich, legte zuerst sorgfältig das gute englische Messer auf den Stuhl neben die Wanne. Dann stieg sie hinein.

Er war kein Bekannter gewöhnlicher Art. Nicht ohne Beunruhigung dachte man an ihn zurück. ›Zu Hause sah ich ihn oft über die Straßen gehn in einem goldenen Gefäß. Mir schauderte, und war ich grade glücklich, mußte ich bei seinem Anblick doch weinen.‹

Ihre Erinnerungen wurden lebhafter.

›Ich wollte ihn durchaus für gut, vielleicht sogar für gefühlvoll halten. Aber ich weiß noch – oh, wie gut ich es weiß, das mit dem Vorhang! In unserer Pfarrkirche, ein Vorhang war gleich hinter dem Altar, während der Messe bewegte er sich. Ich mußte es nur wollen, dann bewegten seine Falten sich wie in einem Gesicht. Dahinter war er! Ich dachte als Kind: Er krabbelt dort hinten herum, und hatte nur Angst. Natürlich mußte ich ihn lieben, sonst wäre die Angst unerträglich gewesen.‹

Zugleich mit jenem alten Vorhang erinnerte sie sich dessen, hinter den noch soeben Pidohn geblickt hatte. Auch was dort zu sehn gewesen war, hatte Schrecken verbreitet. ›Deshalb bin ich nun hier unten‹, dachte sie unbestimmt. ›Hinter einem Vorhang sind sie, und man muß sterben, wenn sie zusehn. Ich hatte schon immer die Angst.‹

Sie merkte, daß ihr Kopf nachließ.

›Mein armer Jürgen! Er, und mich hinunterschicken mit diesem Messer! Wenn er jetzt einträte, er würde furchtbar erschrecken. Auch Gott erschräke wahrscheinlich, er hat mich ganz anders gekannt. Wir sind auseinander gekommen, seit ich protestantisch wurde, aber seitdem hatte ich Jürgen. Jetzt niemand mehr, jetzt niemand mehr zu haben!‹

Hier entstand Geschrei nebenan: die Mauer war dick, aber sie hörte wohl, daß die Mädchen schalten, und wer schmerzlicher schrie, war ihr Kind. Sie fuhr auf, sie wollte hin. Sie mußte sich erst besinnen, daß es dafür zu spät sei. ›Eine Frau, die getan hat, was ich tat –‹

Sie warf sich nach der Wand herum, nicht einmal dies letzte trübe Zimmer wollte sie sehn.

›Sie verdient kein Kind, und wodurch verdiente es mich! Es wird auch nicht lange an mich denken. Solange ich da war, habe ich es daran nicht gewöhnt. Das ist anders mit Jürgen. Er hat mich lieb gehabt, ob ich es ihm leicht machte oder nicht. Er wird um mich trauern, wie noch nie ein Mann um eine Frau.‹

Sie legte sich wieder auf den Rücken, ihr Blick erhob sich zur Decke. Sie fühlte verklärt die Wirkung ihres Todes. Jürgen kniete an ihrem Sarge, schon war er ganz in Schwarz. Sie war versucht, ihre Hand unter den vielen Blumen hervorzuziehn, um seinen geliebten runden Kopf zu betasten. Er stand aber auf und machte, obwohl schluchzend und so blaß wie sie selbst, die stolzeste Figur der Trauergesellschaft. Alle neigten sich vor ihm ... Da fiel ihr wieder ein, daß er verarmt war.

›Ich vergesse alles. Ich träume, träume und vergesse von einer Minute zur anderen, was ich angestellt habe. Meinen Jürgen betrogen und ruiniert. Ich muß allen sagen, daß ich die Schuld habe. Ich allein trage die Verantwortung, ihn aber sollen sie bleiben lassen, was er war, in seinen Ehrenstellen und Geschäften. Dann verspreche ich, daß ich gehe und büße. Dir, mein Gott, verspreche ich es. Denn ich glaube‹, sagte sie glücklich nach oben, ›ich glaube, du siehst her, siehst wieder her, und was ich jetzt denke, bist du.‹

Droben rief aber Jürgen.

»Gabriele!«

Dringlicher rief er:

»Wo bist du? Gabriele!«

Sie horchte noch immer gespannt, was weiter käme. Es war aufregend, sich suchen zu lassen. Erst als sie fürchtete, er könnte wieder fortgehn, sagte sie, nicht besonders laut:

»Ich bin unten.«

Er hatte aber schon gesehn, daß die Falltür offen stand. Den Atem angehalten, beugte er sich über die Tiefe, aus der kein Laut kam. Als sie endlich sprach, griff er sich an das Herz.

Er kam drunten an, da stand sie im Bademantel. Die halbe Minute vorher hatte sie das vergessene Messer erblickt und es unter die Wäsche geschoben.

»Mir war heiß, ich habe kühl gebadet«, sagte sie in dem Ton, worin sie Vorwürfen begegnete.

»Meinetwegen«, sagte er unzufrieden, aber gleichgültig. Dabei ward ihm noch das Atmen schwer nach seinem Schrecken. »Komm jetzt nur hinauf, man wartet.«

Sie fragte nicht, wer. Sie betrachtete unschlüssig ihre Sachen, dann ihn. Da nahm er das Hemd, um es ihr eigenhändig überzuwerfen, – als ob sie krank und hilflos gewesen wäre. Hiervon wollten ihr Tränen kommen, sie schluckte sie aber hinunter. Jetzt langte er nach dem Spitzenrock. Das Messer lag darunter, um jeden Preis mußte sie es verschwinden lassen. Sie warf den Stuhl um und stieß es mit dem Fuß unter die Wanne. Hatte er es doch noch gesehn?

Er band ihr die Schuhe, – dies hatte er im ganzen zweimal bis heute getan. Sie wußte genau, wann. Dann sagte er mit verzogener Braue ärgerlich: »Verlieren wir, bitte, keine Zeit mehr!« und trieb sie über die Treppe vor sich her.

So verließ sie dennoch die getünchte Zelle. Als ihr Kopf droben hervortauchte, mußte sie denken: ›Drunten warst du glücklicher.‹ Sie erinnerte sich noch, daß sie geglaubt hatte, zu ihr spreche Gott, und mit welcher verklärten Innigkeit sie als Tote für ihren Jürgen fühlte. Wie kam es, daß zwischen ihnen schon wieder alles von selbst, sie mochten beide gesinnt sein wie immer, nach außen unaufrichtig und kühl war. Einen kurzen Augenblick hatte sie die dunkle Ahnung von der Herkunft aller unserer Strafen.

Auf der Schwelle zur Terrasse blieb sie stehn. Im Garten bewegten sich vier Fremde. ›So bewegen sie sich überall, und es ist hell. Ich hätte es leicht versäumen können.‹

Hierüber erst erschrak sie. Gern wäre sie kraftlos gegen den Türpfosten gefallen. Nur um Jürgen nicht noch einmal zu ängstigen, lehnte sie sich ruhig hin. Er war zwei oder drei Schritte hinter ihr. Während er durch diesen kurzen Abstand ging, erkannte sie endlich ganz, was sie hatte tun wollen. Sie hätte es nie von sich geglaubt. ›Ich – ich?‹ Sie hörte jemand hell auflachen, es schien ein Lachen früherer Tage zu sein. ›Meines nie, nie mehr? Jetzt bin ich erwachsen. Wer dies hat tun wollen! ... Aber wollte ich es wirklich tun?‹ fragte sie.

Im tiefsten Innern nicht! Auf einmal stand es fest. Eine tiefinnere Heiterkeit behauptete ihr Dasein und erklärte sich Unternehmungen dieser Art lebenslänglich fremd. Warum dann Gabriele es doch versucht hatte? Vielleicht nicht sie, vielleicht hatte eine andere in ihr es wagen gewollt – eine noch ungeborene, eine Natur mit schon verblaßter Heiterkeit? Die sonderbarste Ahnung flüsterte:

›Wenn ich eine Tochter hätte?‹

Da war Jürgen bei ihr angelangt, sogleich vergaß sie für immer alles Geahnte.

Emmy ward Gabrieles ansichtig. Sie gingen einander entgegen, aber nicht zu schnell, durchaus nicht, als wäre etwas vorgefallen. Emmy zeigte auf ihren Verlobten, worauf Gabriele ohne Überraschung dem Leutnant zunickte. Ihre Kusine aber ward von ihr umarmt.

»Ich freue mich«, sagte sie – nicht lustig, nicht traurig, mit genau soviel Teilnahme, wie alle von ihr erwarten konnten. Befangen und getrübt war der Blick des armen Kessel. Die Augen Gabrieles verweilten in aller Ruhe auf ihm.

Ihr fiel es leicht, sich gute Haltung zu geben, weil sie darin einig mit Jürgen war. Er bewährte sich. Seine Sicherheit und Beherrschung verteidigten auch sie mit. Die Wärme der Errettung durchströmte sie endlich.

Dabei behielt sie vor Augen, daß es mit ihm alles andere als gut stand. Aber ihr Glück wollte, daß er zurückstellte, was ihn zur Verzweiflung getrieben hätte, das mit ihr, das mit seinen Geschäften. Sicher hätte er lieber getobt und sich den Kopf gehalten, blieb aber verbindlich und stark. ›Ich hab dich lieb, ich hab dich lieb‹, fühlte sie unaufhaltsam.

Plötzlich wußte sie bestimmt: ›Der Tag kommt, da wir glücklich sind.‹ In diesem Augenblick erschien Pidohn.

Er hatte es richtig gefunden, sich hier zu zeigen. Man war mit ihm verabredet, und nach seinem ersten, nicht öffentlichen Stelldichein mußte das öffentliche auf alle Fälle eingehalten werden. Was Konsul West anging, hatten sie einander wohl hinter dem Vorhang merkwürdig betroffen, aber es war lange her – für Männer in ihrer geschäftlichen Lage. Es konnte sogar schon wieder vergessen sein. Die Frage war, ob Konsul West jetzt noch darauf bestand, ihn gesehn zu haben. Nach näherer Überlegung fand Pidohn seinen Geschäftsfreund dringend gehalten, über alles im Schlafzimmer Belauschte schweigend hinwegzugleiten, solange sie beide unter der gleichen geschäftlichen Drohung lebten. War sie erst überstanden, konnte man sich beliebig gehn lassen und Lärm schlagen. Jetzt aber Würde gewahrt und der Pflicht gehorcht!

Trotz geheimer Beklemmung war daher Pidohn erhobenen Hauptes zur Stelle. Er sah auch sogleich, daß er recht gehabt hatte. Konsul West erinnerte sich so wenig wie er selbst. West war bleich, empfing aber seinen Freund in der wohlgelungenen Maske dessen, dem unter keiner Bedingung etwas geschehen kann. Auch die Frau, alle Achtung! Man war hier bleich, war nervös, aber nur Pidohn unterschied es genau. Wer hatte auch seine Übung hinsichtlich solcher Lagen. Im ganzen war er mit seinen Teilhabern zufrieden.

Frau Konsul West wandte sich an Professor von Heines. Er betrachtete schon längst nur sie.

»Müssen wir noch probieren?« fragte sie.

»Nein«, entschied der Dichter. »Denn Sie, mein Kind, beherrschen Ihre Rolle, und Sie sind die Hauptperson.«

Sie rief:

»Dann feiern wir die Verlobung meiner Kusine Emmy mit Fritz von Kessel.«


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