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Die andern folgten bis an das Gartengitter, sie verharrten dort eine Weile schweigend. Was war geschehen?
»Siehst du, man darf nicht zitieren«, erklärte die Konsulin, als wäre ihr dies von jeher bekannt gewesen.
»Das Stück wird er uns jetzt wohl nicht mehr schreiben«, vermutete Emmy Nissen.
Leutnant von Kühn sagte zuversichtlich: »Dann machen wir es selbst.«
»Schade doch.« Gabriele senkte den Kopf. Wer ihre Traurigkeit am schwersten mit ansah, war Leutnant von Kessel.
»Ich gehe zu Herrn Professor von Heines«, versprach er ohne Besinnen. »Ich erweiche ihn.«
Er zögerte, entschloß sich aber:
»Befehlen Sie, Frau Konsul, daß ich auch Herrn Pidohn bitte?«
»Um was?« fragte Gabriele hart. Er verlor sofort die Fassung.
»Daß er den Napoleon spielt –?« sagte er zweifelnd.
»Davon war nie die Rede.« Gabriele sah ihm in die Augen, wie weit er gehen werde. Ach, der Arme stammelte nur noch.
»Mir schien, es ward an ihn gedacht.«
Schon stockte Kessel. Gabriele ließ ihn stehn.
Die Kusine wies darauf hin, daß es wetterleuchte.
»Bei drohendem Gewitter sind alle Meinungsverschiedenheiten erklärt«, sagte sie zum Zweck der Versöhnung, worauf sie heimging im Schutz ihrer Herren. Das Ehepaar blieb allein.
Der Konsul gähnte. Seine Frau fühlte zu gut, daß die Müdigkeit Maske, Jürgen aber unzufrieden war. Gleich beim Betreten des Hauses fing er an. Er blieb plötzlich stehen und sagte:
»Das soll nun der Gipfel von allem sein?«
»Was?« fragte die Frau, schon auf ihrer Hut.
»Ein alter Mann«, – der Konsul blies durch die Nase, »erzählt Intimitäten von Leuten, die er nicht näher gekannt hat, macht aus ihnen etwas, das sie selbst nicht mehr verstehen würden, – und führt sich dabei auf wie verrückt.«
»Du ärgerst dich, weil du ihn verstimmt hast«, antwortete die Frau, und sie betraten das Schlafzimmer.
»Darf er, dessen ganze Tätigkeit taktlos ist, selbst so reizbar sein? Nun gut, er ist, was er ist. Wir sind nicht undankbar. Mag sein, als Fünfzehnjähriger –«. Er lauschte in die Luft. Durch seinen Kopf ging, schon vor Zeiten empfangen, eine überaus süße Wortmelodie.
»Siehst du«, entschied Gabriele, nur damit er auch von allem übrigen, das noch kommen sollte, still sei, »Kessel kann aus seiner Elektra wenigstens zehn Seiten auswendig, es ist sogar langweilig.«
Dies hätte sie nicht sagen dürfen. Der Mann bekam auf einmal freie Bahn.
»Um die zweihundert Verse aufzusagen, muß er länger bei dir sitzen, als ich für richtig hielte.« Er sprach sehr höflich, dennoch belehrend, sogar strafend, den Ton ertrug sie nie.
»Du kannst mir nichts vorwerfen. Du weißt, daß ich mich langweile, und du läßt mich allein. Mach mir wenigstens das Kleid auf!«
Er tat es, dabei war er in keiner Stellung mehr, die große Strenge erlaubte. Die Kerzen zu beiden Seiten des Ankleidespiegels brannten, ihr Licht floß weich wie je über den zarten Rücken Gabrieles. Es hätte ihn auch diesmal bezaubert. Sie sagte aber nicht ohne Härte:
»Mir immer meine Geselligkeit vorzuwerfen! Du hast gewußt, woher ich komme, was ich gewohnt bin.«
»Gut, mein Kind« – schon ließ er sie los und trat fort. »Du bist es so gewöhnt, denn ihr lebtet auf einem großen Fuß. Daher hat dein Vater auch seine Geschäfte verkleinern müssen. Erlaube mir, dir zu sagen, daß ich es soweit nicht kommen lassen will.«
Sie wußte keine Antwort, stampfte aber auf. Nur deshalb ward er noch schärfer, denn im Grunde bereute er, was er sagte, im voraus.
»Du läßt dich von mir nicht lenken und hältst es für ein Verdienst; aber bei uns fällst du auf. Man spricht über dich.«
Hier erbleichte sie, lachte aber.
»Lache nicht!« befahl er. »Ich will nicht im Munde der Leute sein.«
Jetzt erschrak sie ernstlich. Ihm schaden, das hatte sie nicht bedacht. Er war ehrgeizig, er wünschte seinen Mitbürgern zu gefallen. Es waren Züge, die sie begriff. Sie fürchtete, sich ihm verhaßt zu machen. Sie suchte seinen Blick, er aber bewegte sich schnell im ganzen Zimmer, er sah sie nicht. Um so stiller setzte sie sich in den Lehnstuhl neben dem Bett. Sie bedeckte sich sogar mit dem Kleide, das sie ausgezogen hatte, so sehr fühlte sie sich von ihm getrennt. Aber wohin er sich wendete, blickte sie ihm nach.
Er stieß hervor:
»Wenn es auch mich einmal träfe –. Eine geschäftliche Krise ist immer möglich. In diesen Zeiten, wo für so viele die Schwierigkeiten anfangen, – ich bin nicht gefeit. Willst du es wissen? Mir drohen Verluste, nur darum war ich beinahe versucht, auf Pidohn zu hören.«
Er zitterte – doch nicht im Gedanken an Pidohn? Er fragte es sich.
Hatte sie geantwortet, sogar gelacht? Er sah sich nach ihrem aus Ängstlichkeit zart lächelnden Gesicht mit Empörung um.
»Wenn ich einmal allein stände, ich weiß niemand –«
Schon wieder brach er ab, schluckte, sagte noch:
»Vom Unglück darf hier nicht einmal die Rede sein.« Jetzt wußte er es: Heines war es. Heines und seine Erfindungen zitterten in ihm nach.
Sie wäre jetzt aufgestanden und in das andere Zimmer gegangen, vielleicht sogar hinauf zum Kinde – nur fort. Sie war verstört, als werde eine neue, verhängnisvolle Hingabe von ihr verlangt. Sie fühlte: das geht nicht. Ich will es nicht. Das ist meine Sache nicht, dem bin ich nicht gewachsen.
Er sah sie an, wieviel sah er? – und sagte: »Du hast im Kopf nur deine Maskerade. Wenn du aber glaubst, daß du noch lange mit Geld umherwirfst und dir den Hof machen läßt –. Geh lieber gleich zu dem Tor hinaus, durch das du in die Stadt gekommen bist.«
Sie sprang auf. »Schäme dich!«
Es klang hart, obwohl leise.
»Du kannst nur immer verhindern und mich abschließen. So seid ihr wohl hier. Das sollte bei uns ein Gatte wagen! Aber was willst du, im Grunde ärgerst du dich über dich selbst, denn jetzt wird aus unserer Aufführung nichts, du hast Heines beleidigt.«
Er drehte sich heftig weg, stieß die Tür zu der hinteren Veranda auf und war schon verschwunden. Sie lachte höhnisch hinterher, sie schlug mit den Armen großartig durch die Luft. Darauf glitt sie im Gegenteil ganz still ins Bett. Sie löschte ihre Kerze, zündete sie aber wieder an. Ihr war das Herz schwer. Sie fand das Leben empörend. Dann kamen ihr jedesmal Bilder von früher, – als hätte es ihr damals noch nichts versagt, nichts in den Weg gelegt.
Sie sah den Salon im Hause ihrer Eltern am Cours de Gourgue zu Bordeaux. Die Möbel waren grüner Rips und mit Bronze beschlagen. Ihre Freundinnen ergingen sich dazwischen. Mehrere hatten Brüder mitgebracht, es ergab Paare, die sich mit den Augen suchten, indes alle, wohlerzogen und leicht, ihre Spiele miteinander trieben. Es war Sommer, in den Bildern Gabrieles war unverwandt Sommer. Die Läden blieben halb geschlossen, die Gesichtsfarbe der kaum erwachsenen Knaben war von edler gelber Blässe. Dem, der auch singen konnte, fiel eine glänzend schwarze Locke über das linke Auge.
Ja, er stand neben dem Flügel, den ihre Freundin anschlug, sang die Romanze vom Friedhof, dem Gespenst, und fand, während beiden süß schauderte, die Augen Gabrieles.
›Habe ich nicht doch ihn, nur ihn geliebt?‹
Gleich darauf vergaß sie ihn, denn ihre Mutter trat ein, sie selbst mit dem Tablett. Gabriele lief hin, sie nahm es ihr ab. Gabriele allein hier in ihrem Bett hatte ihre Mutter zurück, wußte nicht mehr, daß sie tot war, nahm ihr einfach das Tablett mit den Erfrischungen ab.
Schon sah sie auch die Mutter nicht mehr. Sie stand als Kind neben der Magd bei einem Brunnen, aus dem sie beide Wasser holten. Es war ein Brunnen mit einer großen, steinernen Frau, die auf einem Knie ruhte, und mit Türen aus Schmiedeeisen. Man kam dorthin durch eine enge Gasse. Einst, als die Magd bei anderen schwatzte, ging Gabriele, das Kind, allein davon. Es war das erstemal, sie gelangte zuerst auf jene weite Terrasse, wo über dem Hafen die beiden Säulen ragen. Schiffsschnäbel stehen aus ihnen vor und die Plattform einer jeden behauptet ein stolzer Römer, – als führe er schwelgerisch droben durch den Himmel, der Meeresbläue hat. Es ist im Traum nicht schöner, als es damals war.
Wäre das Kind nur nicht weitergelaufen bis auf die große Garonne-Brücke, die kein Ende nimmt. Die Weite ängstet es, und daß alle Menschen taub bleiben, obwohl es schreit. »Mama! Mama!« ruft die schlafende Gabriele ... Ach! Die Kathedrale. Plötzlich findet das Kind sich im Umkreis der großen Kirche, Gabriele in ihrem Bett sieht das Licht und den Schatten. Eine Straße dringt vom Dom her schmal in die Tiefen der Stadt, die Schatten fallen über die Häuser treppenförmig und so schroff, daß eine hellgebliebene Mauer sie blendet.
Gabriele in ihrem Bett ist innen geblendet. Sie sucht auf den Vorsprüngen der Kathedrale ihre alten Bekannten, die steinernen Tiere. Vergebens blinzelt sie nach den launischen Gebilden, die schon ihre Kinderaugen erlernten. Fledermäuse, Katzen, dort hockt ihr, zeigt euch! Nein? So seid ihr. Ihr versteckt euch. In den vielen bemoosten Winkeln der alten Kirchenmauer verstecke ich mich selbst, Mama soll mich finden. »Mama!« Gabriele ruft es auch hier wieder. Aber es ist nur noch ein Hauch. Sie atmet langsamer und tiefer. Frau Konsul West ist eingeschlafen, sie hat den Streit mit ihrem Mann für den Augenblick vergessen.
Konsul West draußen auf der hölzernen Veranda rauchte Zigaretten. Er hielt sich vor, daß er der Klügere sei und die Dinge in Ruhe ansehen müsse, indes die Frau sie aber nur noch in der Stille des Traumes betrachtete. Wie dumm fand er jetzt sein Wort von dem Tor, durch das sie gekommen sei und wieder gehn könne! In Wirklichkeit war er stolzer auf ihr fremdes Gesicht, als auf alle seine gefüllten Speicher.
Ihre Leichtigkeit, diese schmalen Augen, die groß und sonnig wurden bei allem, was sie bestaunte, und das war viel: ja, schon der kupferne Schimmer auf ihrem noch immer nachdunkelnden Haar zeichnete sie in jeder Gesellschaft als einzig und nur sein. Er war da, er stand für sie ein. Sie war sein sichtbar gewordenes Glück. Sie beide waren im Munde der Leute? Viel schlimmer, wenn sie es nicht gewesen wären!
Gewiß blieb dies Wesen immer so unschuldig, daß er ihr mit dem heraufziehenden Ernst der Dinge nie kommen durfte. Auch dies war, wie er es wollte. Nur ward es nachgerade gewagt in diesen Tagen der sich nähernden Zusammenbrüche. Sie erreichten ihn schon manchmal, wie die Flut den Fuß. Er verlor schon, weil andere die Zahlungen einstellten.
Ihn selbst machte der Zustand unsicher, daher seine Fehler, dieser Streit. Die Wahrheit war ihm schließlich entfahren im Streit, wie sollte die Frau sie fassen. Unsicherheit hatte ihn auch bei den Zumutungen Pidohns befallen. Warum? Stand es mit ihm nicht mehr so fest und klar, wie er es dem Professor von Heines noch ausgemalt hatte? Blieb er von der Spekulation in seiner wahren Natur so unberührt nicht, wie seine strengeren, weil unversuchteren Väter? Wozu dann heucheln, sich sperren.
Pidohn spekulierte glücklich, er war im Begriff, der große Mann zu werden, den die ganze Stadt grüßt. Sogar Heines blieb unbeachtet, wo Pidohn auftrat. Den Augenblick nützen! Die Geschäftsverbindung nicht von der Hand weisen! So stand es nicht, daß man das durfte.
›Wie kam ich eigentlich dazu, seine Annäherungsversuche auszuschlagen?‹ fragte Konsul West sich unwillig erstaunt. ›Ein unüberlegtes Wort von mir war nicht die richtige Antwort auf die wohlerwogenen Vorschläge des Mannes. Er kennt unsere Chancen beiderseits, nicht umsonst kommt er grade zu mir. Ich vertrete, wenn wir zusammengehen, die Solidität und Vertrauenswürdigkeit.‹
Ja, Konsul West berechnete schon, daß in seinem Gefolge die Leute leichter ihr Geld wagen würden als wegen Pidohn. Er bemerkte selbst, bis wohin seine Gedanken führten. ›Wird das Wagnis zu groß‹, so beschloß er, ›ziehe ich mich rechtzeitig heraus und warne alle anderen.‹
Die Gelegenheit durfte nicht endgültig versäumt sein. Pidohn mußte herangeholt werden. Nach dem Geschehenen war es nicht mehr leicht. Seinesgleichen will eine Rolle spielen. Gut, er sollte sie in dem Stück des alten Heines spielen, so beschloß der Konsul. Auch der Dichter war deshalb zu versöhnen. Abgemacht? Er antwortete: »Abgemacht«, – womit er schon die Tür ins Schlafzimmer öffnete.
Die Kerze brannte, er erklärte sofort:
»Das Stück wird aufgeführt, und zwar auf der hinteren Veranda. Ich habe mich überzeugt, sie ist durchaus geeignet. Die Zuschauer werden im Garten sitzen, wir laden alles ein. Bist du zufrieden?« schloß er leicht und beugte sich über das Bett.
Schlief sie? Ihr Gesicht lag in den verschränkten Armen. Die zarten Arme waren naß von Tränen. Er horchte; nein, sie schlief nicht.
Sie war erwacht. Sie hatte lange, lange in einem äußeren Mauerwinkel der Kathedrale von Bordeaux auf ihre Mutter gewartet, die sie abholen sollte. Ihre Mutter war nicht gekommen. Angst hatte sie befallen, und mit Angst war sie erwacht. Was sie vorfand, war schlimm: die Mutter tot, ihr Mann im Zorn von ihr gegangen. Wen auf der ganzen Welt hatte Gabriele?
Dies grade fühlte, über sie gebeugt, auch der Konsul. Er fühlte: ›Sie ist weit her, eine kleine Fremde. Sie hat hier keine Verwandten, die mitzählen; und wenn sie auch vor den Leuten aus der Stadt so spricht, als gehörte sie zu ihnen, wer bleibt ihr, falls es ernst wird? Nur ich ... Ich ganz allein‹, fühlte er innig und küßte ihr Gesicht, den Streifen der Wange, der freilag.
Sie rührte sich nicht, obwohl sie jetzt gern bei ihm geweint, gern seinen Trost genommen hätte. Aber es war auch gut, ihn bitten zu lassen.
›Er kommt schon wieder‹, dachte ihr in die Arme gewühltes Köpfchen, indes die Kerze den warmen blonden Schein darüber spielte. ›Er muß merken, daß man sich so nicht benimmt. Das hat man davon.‹
Hiermit meinte sie nicht mehr nur ihren Mann, auch alle anderen Menschen, ja, das Leben. Es hatte keineswegs das Recht auf Unebenheiten oder Verfehlungen. Es mußte glatt und folgsam sein, sonst strafte dies Köpfchen es mit Verachtung.
Es war schwer genug, Gabriele mit der Aufführung des Heines'schen Stückes jetzt noch zu befreunden. Der Konsul nannte es eine Aufführung und sah darin eine Ehrung des Dichters. Für seine Frau gehörte es einfach zu den Maskeraden, von denen sie nach allen seinen Vorwürfen nichts mehr hören wollte. Er wußte natürlich, daß sie tief unglücklich gewesen wäre, hätte er ihr nachgegeben. Er hütete sich, er ließ nicht ab.
Sie machte immer neue Schwierigkeiten. Leutnant von Kessel sei vielleicht schon bei Professor von Heines gewesen, wenigstens habe er sich dazu erboten. Mit seiner Unerfahrenheit war er imstande, ihn noch mehr zu reizen; wer konnte wissen, ob er nicht alles endgültig verdorben hatte. Den Leutnant mußte sie vor allem zu sich bescheiden. Es geschah eines Tages, aber Kessel hatte nichts unternommen.
Zum ersten Male kam er in die Westsche Villa ohne seinen Freund Kühn, ja, am Vormittag zwischen zwei dienstlichen Pflichten. Gabriele war allein; der kleine Jürgen, der sie hätte schützen können, blieb unauffindbar. Sie empfing Leutnant von Kessel im vorderen Garten, von der Straße durfte jeder ihnen zusehn. Aber beobachtete man sie nicht vielleicht auch aus den Fenstern drüben? Hinter den dichtbelaubten Bäumen wohnten ältere Damen, die den harmlosesten Anblick zu interessant gefunden hätten. Sie ging mit Kessel ins Haus.
Ihre Besorgnisse wegen Professor von Heines hatte er mit einem Wort zerstreut, um so schwerer fiel ihr auf das Herz der Gang zu Pidohn. Sie sprach davon mit Überwindung. Der Leutnant erschrak.
»Sie, Frau Konsul, zu Herrn Pidohn!«
Sie klagte:
»Ich muß alles allein tun. Die Herren haben die Ausrede, daß sie beschäftigt sind. Liebhabertheater ist keinem wichtig genug.«
»Mir!« behauptete Kessel. Denn ihre Wünsche seien ihm wichtiger als alles. Jetzt vermaß er sich ernstlich, sowohl den Dichter als den Hauptdarsteller herbeizuschaffen. Sofort bekam sie ihren ganzen Hochmut zurück.
»Glauben Sie denn wirklich, daß ich bei dem Dichter noch jemand brauche? Ein Mensch, der den Kopf voll angeblich schöner Griechinnen hat! ... Nur ihre Schneiderin kennt er nicht!« sprach sie beiseite.
Der Offizier bewunderte im Gegenteil grade ihr Kleid, das weite, blütengleiche Gebilde aus Spitzen. Es bedeckte ausgebreitet den ganzen großen Sessel, aber viele ersehnte Schönheiten ließ es heimlich ahnen, verriet sie fast. Ein heißer Morgen endete, auch ihre Sorgen erschlafften die junge Frau, ihre Formen blieben unbewachter als üblich. Er war im Zweifel, ob unter dem Kleid ihre Füße sich nicht kreuzten und aneinanderschmiegten. Dieser von der Schwüle mattweiße Vorderarm jedenfalls hing aus zurückgefallenem Ärmel über der ovalen Lehne. Der Hals, die Schultern zeigten sich frei, der junge Mann wagte nicht hinzusehn. Aber sogar hinter geschlossenen Lidern hätte er deutlich jede der leichten Rundungen samt ihrem genauen Schimmer erkannt.
Er hörte sie wieder Pidohn nennen. Er habe wohl recht, sie wage sich nicht in das eigene Haus Pidohns. Was aber sonst? Sie wisse es nicht, sie müsse es finden, es koste was immer. Sie sprach wie in Verwirrung, die abergläubischste Furcht hatte sie sichtlich befallen.
Der junge Leutnant entrüstete sich innerlich über Konsul West, der seine zarte Frau solchen Qualen aussetzte. Er selbst betonte sogleich seine Ritterpflicht.
»Frau Konsul, mir ganz allein obliegt es, jenen Herrn wieder umzustimmen, wie ich und mein Kamerad ihn zuerst auch verstimmt haben. Das kann nicht Aufgabe einer Dame sein.«
»Möglich«, erwiderte sie nur. »Aber ich muß selbst mit ihm sprechen.«
Er sah, daß ihre Augen weiter wurden, sie schien sogar zu zittern. Dies gab seiner eigenen Person ein nie dagewesenes Gewicht. Er stand auf.
»Ich erlaube es nicht«, sagte er. »Ist jener Herr überhaupt unerläßlich? Mag doch der Dichter in Person die Rolle ausüben.«
»Wohin denken Sie?« fragte Gabriele. Plötzlich lächelte sie. »Er mit seinem Plaid!«
Ihn enttäuschte es, daß sie scherzte. Ihre Eindrücke wechselten rasch; zu fürchten war, sie möchte sogleich von etwas anderem anfangen. Dem jungen Mann lag viel daran, sie festzuhalten bei dem spannenden und ergiebigen Gegenstand.
»Ich selbst«, rief er, »würde sogar die größte Rolle des Stückes nicht eintauschen wollen für meinen Bravo. Sie entsinnen sich doch?« fragte er eindringlich. »Ich spiele Ihren Begleiter, ich bin der treueste aller Treuen und schrecke auch nicht davor zurück, Ihnen jeden Feind zu opfern.«
Ihr fiel doch auf, wie betont, ja dringlich der arme Knabe dies vorbrachte. Flüchtig bedachte sie wohl, in welchem ungewöhnlichen Zustand er sein müsse. Gleich darauf sah er in ihrem Blick, der nicht mehr hier war, daß sie jetzt wieder einzig bei dem Feinde Pidohn weilte. Nur an den Feind hatte er sie erinnern können, anstatt an sich selbst!
Vor Ärger trat er zurück, stellte sich hinter sie und sprach nicht mehr. Aber auch sie schwieg; es dauerte zu lange. Ihr unbedeckter Nacken lag zu lange reglos und selbstvergessen unter seinen Augen, die nicht mehr den Mut fanden, ihn zu fliehen. Das schwere, blond erfüllte Haarnetz küßte den Nacken. Plötzlich machte Leutnant von Kessel eine Bewegung, die er nicht gewollt, nicht vorhergesehen, unter keinen Umständen sich zugetraut hatte. Schon war sie aufgesprungen.
»Das – das –« stammelte sie, »haben Sie getan?«
Die Tränen des Zornes funkelten, der Leutnant war erstarrt, er atmete nicht.
»Sie können es nie wieder gutmachen. Nie will ich Sie wiedersehn.«
Leidenschaftlich aufgerichtet ging sie, kam aber nur bis zu dem Vorhang, der die Tür ins Schlafzimmer bedeckte. Hier fiel ihr ein:
»Sie haben es an Achtung gegen mich fehlen lassen. Sehen Sie zu, ob es Ihnen je gelingt, sich zu rechtfertigen!«
Das war die Zurücknahme des Verbannungsurteils, um so härter sprach sie die Worte. Auch schien sie zu schwanken und griff in den Vorhang.
»Alles, was Sie wollen«, versuchte er noch zu rufen, der dunkle Samt war über ihr schon zugefallen. Die Tür klappte.
Etwas später öffnete Gabriele lautlos einen Spalt. Leutnant von Kessel bot ein Bild des Jammers. Er schien am Fleck versunken, zumindest kleiner geworden und so gut wie gelähmt. Befriedigt wartete sie. Er nahm geistesabwesend, ja, mit wackelndem Kopf seine Sachen an sich, hängte den Degen ein, setzte den Helm auf, – jetzt erst ward sein Rücken wieder grade. Er gab sich einen sichtbaren Ruck und schnellte aus der Gartentür. Sie sah ihn fortmarschieren über die Terrasse.