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Auferstehung

Zuerst erschienen in »Die Rückkehr vom Hades«, Insel-Verlag, Leipzig, 1911

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band

 

I

Kaum daß man inmitten einer angstvollen Stille den Galopp von Hufen gehört hatte, und Don Rocco Ascani stürzte schon selbst in den Gartensaal. Donna Carla schrie auf, wie sie ihn sah. Er brachte hervor:

»Es ist aus. Der Herzog hat unterzeichnet. Die Sbirren sind unterwegs.«

Die Freunde riefen durcheinander. Donna Carla aber drückte ihren Gatten in einen Sessel, sie umarmte seinen Kopf, trocknete ihm die Stirn und sagte bebend:

»Wie ich dich liebe!«

Da durchsonnten sich auf einmal seine blauen Augen, er warf aus seiner klaren Stirn die Locken.

»Die Liebe wird siegen!« rief er mit einer Stimme wie ein Knabe.

»Was hilft's, wir werden nicht dasein«, murrte Pompeo Balbi; und der alte Renzi:

»Die ganze Brücke über den Sumpf hin werden unsre Galgen stehen.«

Aber Don Rocco, aus dem Fenster die Hand schüttelnd:

»Noch am Galgen werden wir um unsern Sieg wissen. Unsre Feinde werden nichts wissen, sie werden ganz tot sein. Nur die Guten leben weiter.«

»Siehst du sie kommen?« fragte Paolo Ufrani dumpf aus dem Winkel.

Alle lauschten.

»Die Brücke ist leer. Auf dem Sumpf kein Fischer. Und wie tief die Wolken!«

»Ist denn keine Hoffnung mehr?« murmelte jemand.

»Bonaparte steht in Pavia.«

»Daß sie es wagen! Sie, die verurteilt sind. Jede Stunde kann den Befreier bringen. Sie sind so wenige, wir sind das Volk, sind die Menschheit.«

»Dieser Herzog! Man hat nie gewußt, ob er leben könne. Zwanzig Jahre alt, und ich habe ihn nach Atem ringen sehen. Nur der Anblick seines Goldes verschaffte ihm Luft.«

»Und sein halb schon abgestorbener Arm langt über den Sumpf, nach uns, die wir leben.«

Don Rocco sagte:

»Er hat mich geküßt heute früh. Seine geschminkten Lippen waren kalt. Ich fühlte sogleich, dieser Kuß sei das Zeichen. Im Vorzimmer wichen, wie ich hindurchging, alle auseinander. Claudio Pilati rannte mich auf der Treppe an mit einem mörderischen Blick, aber unter dem Mantel steckte er mir einen Schlüssel zu. Ich stieg bis unter das Wasser hinab und entkam aus dem Schlosse. Jacopo am Markt hatte sein Pferd bereit, ich erreichte das Tor, bevor die Wache benachrichtigt war. Bei Villa Cappello jagten Reiter aus den Büschen hervor. Am Kopf der Brücke blieben sie zurück. Da sind sie wieder.«

»Bonaparte«, sagte Pompeo Balbi, »verliert in Pavia die Zeit durch jenen Aufstand. Aus Furcht vor dem Gott der Mönche schlagen sie die Göttin der Freiheit vom Thron. Für welches Volk sterben wir?«

Don Rocco breitete vor dem weiten Himmel die Arme aus.

»Du fragst? Für das Volk, das wir in uns tragen. Wer wären wir, wenn wir's nicht schüfen?«

»Daß das Volk von Lagoscuro nicht aus der Stadt bricht!«

Mehrere sprachen durcheinander.

»Daß die Brücke nicht wimmelt! Sind wir denn allein auf Erden? Ist Rosalino Lanza nicht bis zu Bonaparte gelangt? Keine Botschaft – und den Manetti hat beim Überschreiten der Grenze eine Kugel getroffen. Ein Käfig! Dies Herzogtum ist ein Käfig. Wir sterben wie Sklaven.«

Da flog die Tür auf. Sie hatten nichts gehört als ihre Verzweiflung; aber auf der Schwelle stampfte und klirrte ein Trupp Bewaffneter um Donna Carla, die eine Flinte hielt.

»Unsre Diener«, sagte sie mit ihrer schwebenden Stimme, »sind unsre Kameraden. Da, seht unsre Bauern, und es kommen mehr. Alle haben gewartet, daß man kämpfe.«

Don Rocco lief ihr entgegen, er küßte das Gewehr in ihrer Hand.

»Donna Carla«, riefen, die Freunde, »wir haben Euch erwartet, um zu siegen!«

Paolo Ufrani kam bleich aus dem Winkel und verneigte sich vor ihr.

»Wir sind allein und abgeschnitten, das Volk ist feige; wir werden sterben, und es ist unnütz. Ich sterbe nicht gern. Doch will ich nicht klagen, da ich nun sagen darf, daß ich Euch, Donna Carla, geliebt habe.«

Don Rocco gab ihm die Hand.

»Cipriano, die Waffen!« rief er, und der Haushofmeister öffnete die Verstecke. Inmitten des Gedränges sagte Don Rocco:

»O meine Carla, du hast mir so viele glückliche Stunden gegeben, aber von allen die glücklichste ist diese!«

Er sah, noch immer schwindelnd wie am ersten Tage, in ihr kühnes weißes Gesicht.

Dem Gewimmel der Leute entwand sich plötzlich ein von Staub schwarzer Junge und hielt Donna Carla einen Brief hin.

»Von Rosalino Lanza«, sagte sie. »Bonaparte ist auf dem Marsch, in diesem Augenblick überschreitet er die Grenze.«

Don Rocco griff nach dem Brief, aber rasch gab sie ihn dem alten Renzi, der ihn weiterreichte.

»Wir sind gerettet!« riefen mehrere.

»Wir siegen!« riefen viele, und alle, hinausdrängend:

»Tod dem Tyrannen!«

Don Rocco stand im Saal allein mit Donna Carla; er hob, ohne seine seligen Augen zu senken, ihre Hand bis zu seinen Lippen.

»So wirst du denn belohnt. Was war ich, bevor du mich die Menschen lieben lehrtest! Was aber war die Menschheit, bevor du kamst!«

Sie erwiderte:

»Ich habe dich der Freiheit gewonnen, seitdem lebst du.«

Und er:

»Ich lebe, seitdem du mich liebst.«

Draußen fielen Schüsse, Geschrei schwoll an. Wie sie den Park hinabeilten, sahen sie den Kopf der Brücke von den Ihren besetzt. Jenseits, ganz klein vor der großen schwarzen Wolke, sprengten herzogliche Reiter umher.

»Wagt euch herüber!« schrien die Bauern.

Pompeo Balbi sagte:

»Er wird seine Schweizer schicken. Wer wird früher dasein, sie oder Bonaparte?«

Aus dem Waldweg neben dem Park stürzte ein atemloser Mann.

»Er kommt! Er ist vorbei am Forte Principe!«

Die Bauern schrien gegen den Wind:

»Ihr seid besiegt! Er hat das Fort genommen!«

Und als hätte man es drüben verstanden, brach das Glöckchen von San Leone in stürmisches Wimmern aus. Die Reiter des Herzogs teilten sich, sie ließen eine rote goldene Kalesche hindurch, der Minister Vampa stieg aus. Man sah, nun er an die Brücke trat, seine schwarze Seide schillern und einen Blitz seines großen Sternes. Vor Villa Ascani brüllte es auf, und auf einmal war's leichenstill; ein schmächtiger Körper schnellte aus dem Haufen der Leute auf die Brücke. Er glitt am Boden hin, unter dem Geländer, den grauen Postamenten der Heiligen, kroch und glitt, unsichtbar wie ein Tier, lautlos wie ein Wolkenschatten. Die vor Villa Ascani warfen sich jäh und einmütig zurück gegen den Waldweg, sie fuchtelten hinein, sie schwenkten die Hüte. Der Minister Vampa beschattete die Augen: da sprang's ihm schon an die Brust und riß ihn um. Wie alle zum Ufer stürzten, sahen sie Paolo Ufrani, der zurücklief über die Brücke. Er lief, die Arme leicht ausgebreitet und ohne Hast. Ein Knall – er fiel auf die Brust.

»Es lebe der Ufrani!« rief noch das Volk.

»Vielleicht wird er leben?« sagte Pompeo Balbi zu Don Rocco, der das Gesicht bedeckte. »Vielleicht ist die Tat, an der er starb, schöner als seine schönen Gedichte, durch die er zu leben dachte?«

Don Rocco sagte:

»Länger als uns wird dieses Land dem Lanza danken. Welch Geist! Er hat uns die Philosophie Frankreichs gebracht. Er hat um uns her Menschen geschaffen, er allein. Und welch Freund! Als ich, vor der Hinrichtung des Raimondi, im Schloß das Pulver anzünden wollte – wir waren verraten, die Wache drang ein –, da entreißt mir in der äußersten Sekunde der Lanza die Lunte, er zwingt mich, ihn zu verhaften. Der Herzog nennt mich seinen einzigen Freund; er spielt Komödie, aber ich bin gerettet. Meine Carla, du schuldest mich unserm Rosalino.«

Da Donna Carla schwieg:

»Wie aber, wenn er damals nicht entkommen wäre? Ich müßte mich schämen, noch am Leben zu sein.«

Donna Carla schwieg.

»Die Schweizer!« rief man, und durch das Tor San Leone drang ein Trupp.

»Unsre Freunde!« rief donnernd der alte Renzi und führte zwei kleine fremde Soldaten an der Hand aus dem Waldweg hervor. Sie waren abgerissen und bestaubt, und rote Mützen hingen ihnen vom Hinterkopf.

Alles wich zurück. Dann schoben die Bauern einander vor und betrachteten sie.

»Es sind die, die in Mailand waren. Sie haben alle jene Könige besiegt … Und doch sieht dieser aus wie mein Nino. Willst du zu trinken? Wo ist euer General?«

Man spähte in die Pineta. Jemand legte das Ohr auf den Boden; aber schon waren bis vor Villa Ascani Schritte zu hören: lang rauschende Wogen, die Schritte waren, solche Unendlichkeit von Schritten, als erhöbe sich hinter dem Walde das Meer.

»Dies ist mein Posten«, sagte Don Rocco, bleich und ohne den Kopf zu wenden. »Und ich weiß nicht, was das größere Glück wäre: hier an meinem Tor den Befreier zu empfangen oder vorher noch von jenen dort eine Kugel zu bekommen. Tötet mich! Dies Land könnt ihr nicht mehr töten. Die Menschheit wird leben.«

»Du bist schön«, sagte Donna Carla, »dein Herz ist schön.«

Und Pompeo Balbi:

»Wenn Paolo Ufrani Euch hören kann, Donna Carla, dann weiß er jetzt, warum er in der letzten Stunde der Nacht und eben, als die Sonne aufging, sich den Tod nahm.«

Sie wurden gegen die Mauer gedrängt, so schnell fuhren die Franzosen aus dem Walde. Eilig vorbei – und gleich hinter den ersten die Generäle. Da war er! Da waren seine langen schwarzen Haare. Wie mager! Und welch düstere Flamme! Er sah geradeaus, über die Brücke nach San Leone, in den Feind. Und war es nicht, als sollte unter diesem Blick alles zusammenstürzen und neu aufstehen?

»General! Ich bin Don Rocco Ascani; ich begrüße Sie im Namen dieses Volkes.«

Er lenkte sogleich sein Pferd zum Tor der Villa; seine Truppen marschierten, marschierten.

»Sie sind mir bekannt, Marquis, als der erste Bürger dieses Staates.«

»Dies ist Donna Carla Bonacima, meine Frau.«

Donna Carla fühlte einen schweren und stürmischen Blick, und gleich darauf sah sie sich vergessen.

Indes das Volk ringsum sich reckte und die Truppen haltmachten, sprach Don Rocco:

»General Bonaparte, Ihren Sieg bei Lodi bestaunt noch die Welt, Ihr triumphierender Einzug in Mailand ist noch im Schritt Ihres Pferdes zu sehen. Dies ist eine kleine Stadt, die sich Ihnen öffnet, aber während dies Volk Ihnen seine Liebe zuruft, hat es die Stimme der ganzen Menschheit. Überall auf Ihrem Wege, dem Wege des Befreiers durch Staub und Blut, werden um Ihr leuchtendes Haupt, zusammen mit den Kugeln, die Liebesschreie der Menschen sausen. Sie sind bestimmt, über die Erde den römischen Frieden zu breiten.«

Bonaparte erwiderte:

»Sie haben eine sehr hübsche Frau, Marquis. Ihre Gesinnung ist vortrefflich.«

Über die Schulter zu seinem Stabe, halblaut:

»Wenn dieser Mann ein Bild von Correggio wäre, ich würde ihn nach Paris schicken.

Und Sie sprechen gut«, sagte Bonaparte noch, da sah er jemand sich Bahn brechen. »Ah, der Advokat Lanza! Der hat mir geholfen, er war in Pavia!«

Don Rocco breitete die Arme aus; aber Rosalino sah ihn noch nicht. Er sah auch den General Bonaparte noch nicht, er sah nur Donna Carla. Sie war erbleicht und tastete nach der Mauer.

Eine Sekunde, dann küßte Don Rocco den Freund wieder auf dieses dunkle tapfere Gesicht – sogar die Pockennarben liebte er darin; und dann faßte der General den Lanza beim Arm, schob ihn an die Seite von Donna Carla und ritt weiter. Don Rocco ward durch Offiziere von ihnen getrennt. Er hörte sagen:

»Es ist die Frau des Marquis Ascani. Er ist ein Schwätzer, man wird ihn als Dekoration verwenden. Augenscheinlich betrügt sie ihn.«

Er wollte vorstürzen, jenem ins Genick; aber er hielt an, denn auf einmal hatte er begriffen, was der General Bonaparte gesagt hatte: Der war in Pavia.

›Ich war nicht dort‹, dachte Don Rocco und senkte, verloren in der Menge, die Stirn und die gekrampften Fäuste. ›Der Mann ist Rosalino; was Wunder, daß er auch ihr Mann ist. Hat es mich nicht bis heute in Staunen erhalten, daß sie mein sein sollte? Warum mein? Was habe ich getan? Wer bin ich?‹

Der General Bonaparte ließ vor der Brücke Kanonen aufstellen und sie gegen die Kapelle Leone richten.

»Es ist unnötig, zu erlauben, daß man aus der Baracke dort auf uns schießt.«

Er lenkte sein Pferd bis in die Menge.

»Ihr habt euch zu beklagen?« fragte er. »Worüber?«

Sie hielten ganz still, sie hatten scheue Gesichter. Der General neigte sich und ergriff einen Alten bei der Schulter:

»Ist dir Unrecht geschehen?«

»Die Regierung hat mir die Kuh genommen«, sagte der Alte; und ein andrer Mann: »Die Priester nahmen mir die Tochter.«

Ein Wind strich durch das Volk, die Arme flogen auf. Eine Frau schrie:

»O du, der du ein Held bist, da, sieh diese Kinder, die hungern, denn ihr Vater sitzt im Kerker!«

Der General sah durch alle hin, ein wenig vorgebeugt, mit herabgezogenen Mundwinkeln und der tiefen Falte zwischen den Augen, die düster forschten. Da lösten sich weich seine Lippen: er lächelte. Er lächelte, und alle fühlten sich umfangen, sie bebten lange. Der General sagte:

»Die Republik schickt euch die Gerechtigkeit. Ihr werdet frei sein und zu essen haben.«

›Die Dinge sind zu groß‹, dachte Don Rocco. ›Dies alles wird weiterleben, nun ich zermalmt bin. O Paolo Ufrani, du wähltest dir die rechte Stunde, um zu sterben!‹

Da krachten die Kanonen, der Glockenstuhl von Sankt Leone fiel schollernd herab, man sah die Mauer bersten und im dicken Staub eine Wirrnis Stürzender und Flüchtender. Das Volk schrie auf; war es Jubel oder Klage? Don Rocco sah um sich, er hatte plötzlich eine Blutwelle in der Stirn. Mit welchem Recht schossen diese Fremden San Leone in Trümmer? ›Ist das Gerechtigkeit, was mit Zerstörung beginnt? Weil diese gekommen sind, soll ich nie wieder den kleinen Raum betreten, wo der Sarg meiner Mutter stand?‹

Ganz vorn, bei der Brücke, erschienen ihm nebeneinander, ins Licht gewendet und beglänzt vom selben entschlossenen Glück, die Gesichter von Donna Carla und Rosalino Lanza. Er zitterte.

›Bin ich da, ihr Glück zu bezahlen? Ich hatte eine Heimat, man zerstört sie. Ich habe geliebt und bin betrogen. Braucht die Menschheit, um zu leben, die Gewalt und die Lüge? Mag sie also sterben!‹

Er stürzte vor, er brach hindurch, die Faust erhoben, er wußte nicht, gegen wen. In diesem Augenblick stand der General Bonaparte, und sein Pferd setzte den ersten Huf auf die Brücke, in den Steigbügeln auf. Er streckte den Degen aus, über den Sumpf, gegen die dunklen Türme dahinten, die Eingänge der engen Gassen, die Zinnen des Palastes, gegen die braune kleine Stadt, deren Sohn Don Rocco war, und diesen schwerbewölkten Himmel, den er geatmet hatte sein Leben lang. Der General rief:

»Wenn ich diese Brücke hinter mir habe, hat das Herzogtum Lagoscuro aufgehört zu existieren!«

Das Volk klatschte. Gleich darauf kreischte es, denn es ward gestoßen von den Truppen, die sich in Bewegung setzten. Eine Gewehrsalve – und Don Rocco in Brausen und Rauch, der den Mund aufriß: »Elende, die ihr seid! Narren und Verräter! Ah! Alter Renzi, wie du sah ein Kuppler aus, der, um die Treulosen zu schützen, den Brief des Lanza in der Menge der guten Freunde verschwinden ließ. Umgeben von schwarzen Herzen! Genarrt mit dem Gedanken an Güte und Freiheit, um zum Sklaven einer schlechten Frau zu werden!«

»Sie werden gebeten«, sagte ein französischer Offizier, »dieses Pferd zu besteigen. Der General möchte Sie beim Einzuge neben sich haben.«

Und Don Rocco sah, daß die menschliche Brandung ihn fortgetragen hatte his über den Sumpf, durch den Feuer lief vom Widerschein der brennenden Kapelle. Er saß auf; der General winkte. Unter dem Tor sagte Bonaparte zu dem Kommandanten der Wache:

»Hüten Sie sich, diesen Pöbel in die Stadt zu lassen! Wenn nötig, schießen Sie!«

Don Rocco sah ihn an, erstarrt vor Verachtung.

»Ihr werdet frei sein und zu essen haben«, wiederholte er. »Und ihr werdet Blei zwischen die Rippen bekommen, sobald ihr es unternehmt, unsre ehrgeizigen Lügen wahr zu machen.«

Aus dem Dunkel des Tores blickte er zurück, in zahllose Gesichter, von Feuer umflossen, zerrissen von plötzlichen Schatten; blickte in den großen Ansturm des Rausches, und das Herz hob sich ihm auf vor Ekel und Mitleid. Zu Pferd aber nebeneinander, auf dem zuckenden Himmel standen wieder die beiden Gestalten, die tödlicher waren als all dies Leben. Sie wollten ihn in die schwarzen Gruben ihrer Augen schlingen. Sie waren die Abgesandten dieser schweren, furchtbaren und trostlosen Erde. Don Rocco rang nach Atem; in der Frau dort gingen Liebe unter und Menschheit.

»Carla!«

Niemand hörte es. Das Land sank zurück ins Chaos, die Menge verblich. Alles stumm und schwarz; er hatte vor sich, grell und ewig, nur noch das eine Gesicht; es war das ganze Leben gewesen. Sein Herz zuckte auf vor dem Erlöschen. Nun war es kalt, denn jenes Gesicht trug der Tod.

 

II

Die Straßen waren voll bunter Lampen und jubelnden Volkes. Die Sieger gingen auf Rosen. Bonaparte senkte seinen Blick, der nun hell und offen war, in all die Fenster, worin Frauen über Teppichen lagen. Er flüsterte seinem Adjutanten ins Ohr, dann begann er leise zu singen. Er brach ab und wandte sich um.

»Marquis Ascani, ich habe die Absicht, den Herzog noch auf dem Thron zu lassen. Er ist unschädlich, und seine Regierung soll uns nützen, indem sie für uns die Kontribution erhebt. Wieviel kann dies Land leisten? Fünf Millionen?«

»Wenn Sie wollen«, sagte Don Rocco, »beschaffe ich acht.«

Bonaparte sah ihn an.

»Sie sind mein Mann.«

Er fing eine Blume auf, die aus dem Fenster dort kam.

An der Brücke über den Schloßgraben keine Wache, das Tor weit offen, und Volk war eingedrungen. Der General hieß es hinaustreiben. Einen Gardisten schrie er an:

»Wo ist dein Herzog? Ist das deine beschworene Treue? Wenn ihm etwas geschehen ist, stirbst du.«

Fünf Minuten später ließ er den Marquis Ascani rufen. Er ging im Audienzsaal hastig hin und her.

»Man hat Ihren Herzog unter seinem Bett hervorgezogen. Als er heraus war, drohte er mir mit Gott und dem Hause Österreich: mir, einem Republikaner, der ich beide verachte.«

Er blieb stehen.

»Das sind lächerliche Dinge. Es handelt sich jetzt um das Geld: Sie werden es also beschaffen. Ich habe Ihre Fähigkeiten erkannt, Marquis, ich übergebe Ihnen die Verwaltung des Landes. Sie werden es im Namen des Herzogs regieren! Sie sind der Kommandant des Schlosses.«

Er trat nahe an Don Rocco hin.

»Heute früh dachte er Sie zu verhaften. Wollen Sie ihn jetzt sehen?«

Don Rocco nickte. Bonaparte tat drei schnelle Schritte und riß die Tür des Kabinetts auf. Der Herzog lag auf der Chaiselongue, steif ausgestreckt, mit fest geschlossenen Augen. Er fuhr heftig zusammen, sprang auf und setzte, auf einmal gelenkig wie ein Knabe, über die Chaiselongue weg. Sein junges, müdes Gesicht lächelte ganz zart.

»Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, General, wie willkommen Sie mir sind: Der Himmel schickt Sie. Sie werden mich vor meinem Volk schützen und mein Volk vor sich selbst.«

Bonaparte erwiderte:

»Ich habe damit den Marquis Ascani beauftragt, Ihren Freund.«

Der Herzog lächelte weiter. Er ging auf Don Rocco zu und dachte an nichts andres, als daß seine Füße nicht schleppen möchten. Denn sie schleppten, wenn man ihm zusah. Da fühlte er die kalte Hand des andern und besann sich.

»Sie sind mir doch nicht böse?«

Und sein Lächeln war leicht und spielerisch. Er flüsterte: »Wenn wir die Dinge denn aussprechen wollen: Ich habe manche Ihrer Freunde getötet, und auch Sie wären fast –. Jetzt werden Sie vielleicht mich töten wollen. Nicht? Es ist seltsam: Ich habe Furcht, und doch nehme ich das alles nicht ernst.«

Er erschrak; draußen fielen Schüsse. Der General Bonaparte sagte über die Schulter:

»Aber es ist das Leben.«

Dann rief er aus dem Fenster Befehle.

Der Herzog zwinkerte, die Mundwinkel herabgezogen, scheu nach dem Rücken des Siegers.

»Das Leben, was ist das?«

Plötzlich aber zitterte er ganz. Er haschte nach Don Roccos beiden Händen, preßte sie mit fieberhafter Kraft, er wisperte, und sein Blick flog bleich hin und her:

»Mein Geld! Ich weiß wohl, jener will mein Geld. Es handelt sich immer nur um das Geld. Retten Sie es mir!«

Mit trockener Kehle und nahe vor den verschlossenen Lippen des andern:

»Soll ich Ihnen beweisen, daß ich keine Hintergedanken mehr habe? Mich Ihnen ganz preisgeben? So sage ich Ihnen denn, wo es ist.«

Er lauschte, eine äußerste Sekunde. Dann drückte er die Augen zu.

»Im Saal der Bogenschützen, hinter der ›Flucht nach Ägypten‹.«

Und die Augen aufgerissen, verzerrt:

»Jetzt haben Sie mich. Retten Sie mein Geld! Sie sind der Großmeister vom Orden des heiligen Mauritius. Sie sind mein Vetter. Was noch? Die Prinzessin, meine Schwester, ist schön: Sie sollen Sie besitzen.«

Der General hatte sich unerwartet umgewandt und warf einen düstern Blick auf beide.

»Marquis Ascani, Sie haben drei Tage, mir das Geld zu beschaffen.«

Der Herzog mußte sich an die Wand lehnen. Don Rocco verneigte sich wortlos vor ihm, dann vor dem General, und ging. Er beantwortete in den Vorzimmern mit sicherem Maß die Grüße und Glückwünsche, stieg langsam zwischen den Wachen hinab, ließ unter den weiten Gewölben der Halle Kanonen auffahren, Pulverfässer in den Saal der Bogenschützen legen und das Portal schließen.

»Befehle des Generals; er ist schlafen gegangen.«

An der Tür des Saales der Bogenschützen nahm er dem französischen Grenadier die Fackel ab und schickte alle fort. Er stand gelassen da, die Fackel erhoben. Die Schritte verhallten – da warf er sich in den Saal, er keuchte plötzlich, er lachte erstickt. Er legte die Fackel auf die Fliesen, er kroch hin zu den Pulverfässern, betastete sie, drückte an eins die Stirn. Er sagte:

»Ich bin ein wilderes Tier als ihr alle. Und ihr habt geglaubt, mich zu betrügen!«

Ein Geräusch; er stürzte sich auf die Fackel. Wie er sie aufnahm, sah er in dem Spiegel drüben seine Augen flackern und hielt jäh an. Aber was nahte, waren diese Schritte, die er unter Hunderten erkannt hätte. Er sprang, hängte die Fackel in den Kamin und kauerte schon wieder dahinten.

Kein Spalt in den Läden, das Dunkel wie aus Stein. Und doch sah er die beiden ihre Schritte tun, verschränkt, umeinandergewunden; fühlte die Hüften übereinandergleiten und den Schlag der Schläfen, die sich trafen. Er hielt den Atem an, und er hörte den ihren, der schwach und kurz war.

Der Mann sagte:

»Nicht dort hinein; es ist das Zimmer, wo die Herzogin Isotta von ihrem Gemahl erdrosselt wurde.«

Die Frau erwiderte:

»Sie war glücklicher als ich.«

Die Tür knarrte. Drinnen sagte der Mann:

»Lieben wir uns nicht? Ach, laß, ich weiß selbst, dies ist nicht das Glück! Wir haben einem ganzen Lande die Freiheit erobert, und wir selbst sind unfrei, wir müssen lügen.«

»Wir müssen den belügen«, sagte die Frau, »den wir den Glauben an Wahrheit und Güte gelehrt haben, und ohne den wir nicht hätten siegen können.«

»Der Sieg! Enthält denn immer sein Glanz solchen Wurm? Hat je ein Reiner gesiegt?«

»Dennoch liebe ich auch ihn!« Und die Stimme der Frau flehte. »Ich liebe ihn, wie man ein armes Kind liebt, und dennoch mit Ehrfurcht.«

»Daß ich dich nicht ganz habe! Ich gestehe dir etwas Schreckliches: dieser Sieg, der dich ihm fester verbindet, ist mir verhaßt.«

»Und ich: heute abend, als wir in die Stadt zogen: für alle war es der höchste Tag, der Anfang des Menschenglücks; ich aber mußte denken, es sei das Ende. Gut hatten wir's nur in der Verborgenheit, im Hause meines Vaters, der so hart war – du ein armer Unterdrückter, ich ein Mädchen, das nichts vermochte. Warum mußte ich jenen Mächtigen heiraten!«

»Warum mußte ich Gedanken kennen, die nicht als Ziel dein Herz hatten!«

Und beide zusammen, mit derselben Stimme und gedämpft, als lägen ihre Lippen aufeinander:

»Knechtschaft, Schande und dein Herz!«

Sie hielten an; sie hörten ein Aufheulen, als führe im Saal ein Windstoß durch den Kamin. Don Rocco dahinten kniete, die Hände vor die Brust gepreßt, die arbeitete, als sei sie lebendig begraben, und seine Lippen flüsterten die Worte, die er hörte, mit, grausend, wie die von Phantomen.

»Laß mich dein Gesicht mit den Händen erkennen.«

»Und deinen Mund mit meinem Mund.«

»So dunkel es ist, ich sehe deine Augen.«

»Könnte dies Dunkel immer dauern! Die Welt kennt uns nicht, wir sind allein.«

»Wir müssen fliehen, uns verbergen, müssen gestorben sein.«

»Deine Hüften! Dein Atem!«

Sie keuchten; und Don Rocco wand sich, gleich einem Erstickenden. Auch er hatte, wie oft, da er noch zu leben glaubte, solche Worte gesprochen, und dieselbe Frau hatte sie erwidert. Er bog die Arme, als schließe er sie noch einmal um diese Frau, um ihr Fleisch, um ihre Seele. Seine Arme waren leer gewesen, auch damals, jede Nacht. Welch Haß auf alle Glücklichen, auf alle Sieger, auf jenen großen Eroberer! Aber aufspringen? Zuschlagen? Sich rächen? Ach! Auch der Verräter dort hielt, und wußte es nicht, nur ein Phantom. Worte klangen, Worte. Man sah auf: dieses weiße Gesicht hatte sie schon vergessen. Sie log jenem wie ihm. Beide lallten Lügen, jeder allein und ringsum Nacht. ›Wo ist Liebe? Habe ich selbst denn geliebt? Sterben vor der Entdeckung, daß auch der Held, der den Menschen die Liebe bringt, nur ein Räuber und Tyrann ist; sterben wie Paolo Ufrani: nur das hätte mich retten können. Ich will mich erbarmen und sie töten, alle. Sie sollen es gut haben, ihr Herz soll Frieden haben, bevor sie erfahren, was ich weiß. Diese, die zu lieben glauben, sollen nicht den Haß kennen; jener, der sich für den Befreier hält, soll nicht werden wie der Tyrann. Ich töte den Haß, denn ich töte die Liebe. Ich töte uns alle: den Tyrannen, den Befreier, die Liebenden und mich.‹

Er stand auf, beschwingt und sicher, nahm aus dem Kamin die Fackel, und er ging, Schritt vor Schritt und die Brust immer weiter, durch diese großen Schatten, auseinandergesprengt von seinem hohen Feuer. Er hob einen Hammer auf und schwang ihn gegen ein Pulverfaß. Es dröhnte, es hallte; ihm war, als stürze selig und erlöst der weite Himmel ein. Da, der Aufschrei einer Frau und Arme, die ihn umspannten.

»Laß mich«, stammelte er. »Ich tu's, weil ich dich liebe … Auch dich«, sagte er noch, da er in die Augen des Freundes sah. Gleich darauf verzerrte sich sein Gesicht, er holte aus mit dem Hammer, der andre riß ihn aus seiner Hand, die Fackel fiel hin, sie stürzten aufeinander. Sie traten auf die Fackel, die erlosch; sie rangen im Dunkeln. Don Rocco keuchte:

»Da sind wir, da habe ich dich, Verräter, da habe ich dich, Lügner! Soviel Begeisterung, soviel hohe Dinge, um einem Mann die Frau zu nehmen. Du bist die Hölle! … Und ich soll dein Blut nicht sehen in dieser Finsternis. Aber sogleich fühle ich's, ich fühle es!«

Und er hatte sein Messer gezogen, blind stieß er zu.

»Ach, ich traf mich selbst! So ist's: was dich treffen soll, trifft mich, denn ich habe dich geliebt.«

Er hielt ein, das Gesicht überschwemmt von Tränen. Er ließ geschehen, daß man ihn fesselte. Durch die Gefängnisse, unter dem Wasser, auf demselben Wege, der ihn heute früh in die Freiheit gerettet hatte, ward er aus dem Schloß geschafft, gebunden auf einen Wagen gelegt und hörte hinter sich das Pflaster erklingen. Nun schlugen die Hufe dumpf auf Landwege, und weite feuchte Luft drang bis zu seinen Augen, die er stöhnend ins Polster drückte. Der Morgen kam, Don Rocco sah sich am Fuß von Bergen: da stand vor ihm Rosalino Lanza.

»Jetzt töte mich!« sagte Rosalino. »Du wagst nichts damit, wir sind im Lande des Feindes, mein Tod ist frei.«

»Nimm deinen Degen!«

Sie fochten. Don Rocco ward getroffen, plötzlich brach Nacht herein, und er durfte sich sinken lassen – welche Erlösung! –, sich für immer sinken lassen in leere Nacht.

 

III

Aber er genas – und was kam, war das ruhelose Leben des Ungläubigen: die Arbeiten ins Leere, das Vergnügen ins Nichts, das Dasein um der Zeit willen, die vergeht. Er lebte für Frauen, die er nicht liebte, für Intrigen, die ihm nicht heiß machten, für gewollte Erniedrigungen, Triumphe, dazu da, um Sieg und Glück zu verhöhnen, lebte fürs Spiel und für den Schlaf. Wenn er aber an das Ende dachte, fand er, daß es einst sich leichter starb, und daß heute der Tod ihm nicht geringeres Grauen machte als das Leben.

Eines Abends im Theater zur Scala – er war mit der Pamela Reichmann – sah er in der Nebenloge zwei dreißigjährige Männer sich mit ihm beschäftigen. Da die Pamela hinüberkokettierte, hörte er zu.

»Der Ascani? Es wäre sein Gesicht; aber es ist ein Spielhalter, den ich in Paris gesehen habe. Ich erkenne diese harten Augen wieder, und er hat Kopfbewegungen, als suchte er höflich nach Opfern. Der Ascani abenteuert wer weiß wo.«

»Welch rätselhafter Untergang! Er, einer der Helden, auf die wir als Jünglinge schwuren.«

»Es sind vierzehn Jahre, seit er verschwand, im Augenblick, als Bonaparte ihn zum Regenten des Herzogtums bestimmte. Die Marchesa hat sich mit jenem Lanza getröstet.«

»Er soll gefallen sein, irgendwo in Deutschland.«

»In jedem Fall ist der Ascani ein Feind des Kaisers. Man hat damals von einem Anschlag gemunkelt, und wenn die englischen Agenten reden wollten –«

»Aber auch die Reaktionäre erklären ihn für einen Spion. Vielleicht dient er beiden. Vielleicht benutzt er andre, nicht weniger anstößige Hilfsmittel. Voriges Jahr hat er die Galloni dem König Murat vorgestellt und zehntausend Francs dafür genommen, was für einen Edelmann zu billig ist.«

»Auch waren es sechzehntausend«, sagte Don Rocco und betrat die Loge. »Das ist immer noch wenig; aber ich hatte gespielt. Dem Kaiser bin ich bekannt. Vor langer Zeit hatte ich einen Handel mit ihm. Aber Seine Majestät ist groß genug, einen Mann von Talent zu verwenden, trotz seinen Irrtümern. Nicht von meinem Ehrgefühl wird Napoleon erwarten, daß ich nur ihm diene, aber von meinem Verständnis der menschlichen Tatsachen. Er kennt die Erlebnisse, die mich meine Schwärmerei für die Menschheit gekostet haben, und nur er kennt sie. Sie, meine Herren, dürfen erzählen, was Sie wollen. Aber Sie haben gesagt, die Marchesa Ascani habe einen Geliebten, und dafür werden Sie mir Genugtuung geben.«

Die beiden standen auf.

»Ich bin Leone Balbi, mein Vater war Ihr Freund. Dies ist Niccolo Renzi, der Sohn eines Mannes, den Sie kannten. Don Rocco, wir hatten gehofft, Sie niemals wiederzusehen, denn wir haben Sie zu sehr geliebt, als wir Knaben waren.«

Der andre murmelte:

»Wie ein Mann Ihres Wertes so weit kommen konnte, das begreifen wir nicht.«

Don Rocco sagte:

»Da entweder Sie oder ich selbst morgen früh nicht mehr leben werden, darf ich Ihnen antworten. Und zuerst sagen Sie mir, ob Ihr Traum vom Glück des Menschengeschlechts erfüllt ist, seit der Kaiser Napoleon sich zum König von Italien gemacht hat. Die Orden auf Ihrer Brust versichern mich, daß Sie wissen, was das Leben von uns verlangt: unsre Seele preiszugeben, sie den Vorübergehenden hinzulegen, sie schänden zu lassen. Mein Unglück will, daß ich es vergebens tue.[*] Meine einzige Bemühung auf Erden ist, so viel Selbstverachtung zu erwerben, daß ich ohne Verzweiflung sterben kann. Aber der sich abarbeitet, bin, scheint mir, nicht ich. Vielleicht ist es jener Spielhalter, den Sie in Paris gesehen haben, und den ich nicht kenne. Ich selbst muß in irgendeinem Augenblick meines Daseins am Wege liegengeblieben sein. Auf Wiedersehn, ihr Herren, noch heute nacht, auf der Straße nach Monza.«

Die Reichmann sagte, als Don Rocco zurückkehrte:

»Wie lieb von Ihnen, Sie schlagen sich für mich. Fühlen Sie doch, wie mein Herz klopft.«

Als er tags darauf ihr Toilettezimmer betrat, fragte sie erstaunt:

»Ihr Arm ist verbunden? Sie haben jene Leute nicht getötet?«

»Nur einen. Der andre hat mich kampfunfähig gemacht.«

»Da, sehen Sie, Lucien«, rief sie in ihren Spiegel hinein, »der Marquis Ascani schlägt sich für mich, indes Sie mich quälen mit Ihrer sinnlosen Eifersucht. Denn ich soll mich schon wieder mit einem Liebhaber verabredet haben.«

Der junge Lanfrey trat atemlos auf Don Rocco zu.

»Sie beugte sich im Dom weit über ihren Sessel vor. Jener Mensch beugte sich rückwärts. Ihre beiden Gesichter lagen aufeinander, sage ich Ihnen.«

»Sie werden toll«, sagte die Reichmann.

»Ich habe euch sprechen gehört.«

»Welche Beleidigung! Der Mensch war nicht einmal elegant.«

Der junge Mann warf sich herum.

»Das sollte dich abhalten? Dich?«

»Ich antworte Ihnen nicht mehr. Höher die Locken, Félicie.«

»Herr von Lanfrey«, sagte Don Rocco, »warum bewundern Sie nicht lieber, daß diese Frau imstande ist, mit Verachtung von einem Mann zu sprechen, der sie vielleicht innerhalb der nächsten zwei Stunden umarmen soll. Bewundern Sie doch soviel Selbstzucht!«

»Hetzen Sie!« rief Pamela. »Er braucht es. Lanfrey, Sie haben noch mein Rouge.«

Lanfrey sagte:

»Ich habe nicht Ihre Philosophie. Sie sind der einzige Mann, den ich bei ihr geduldet habe. Aber es wäre an Ihnen gewesen, mich zu entfernen. Sie waren früher da.«

»Ich hatte mich der Pamela wegen viermal geschlagen; ich hatte nicht nötig, auch Sie noch zu töten.«

»Ich kam Ihnen gelegen. Sie wollten sie los sein.«

»Ich wollte von ihr verraten werden«, sagte Don Rocco.

Pamela sagte unaufmerksam, denn sie pinselte an ihren Brauen:

»Da streiten sie sich; und beide zusammen kaufen mir noch nicht die Puderdose, die ich nötiger habe als euch.«

Lanfrey lächelte bitter.

»Sie haben sich in die Teilung gefunden, weil Sie ebenso schwach sind wie ich; weil Sie ihr verschrieben sind.«

Don Rocco erwiderte:

»Nein, sondern weil sie mir, der ich einst töricht war, beweisen sollte, wie wenig das ist: verraten werden.«

»Sie scherzen.«

»Sie ist schön, nicht wahr? Dies freche weiße Königinnengesicht und darin die grellen Lippen, die feuchtschwarzen Augen, die mehr versprechen, als Natur halten kann … Noch mehr Schwarz auf die Lider, Pamela! Die Locken, das künstliche Kap dieser hellen Locken, das leicht und starr den Hinterkopf überragt und mit seinem Glanz den Goldreif verdunkelt, der es überbrückt …«

»Don Rocco, ich liebe Sie«, sagte Pamela. »Kaufen Sie mir die Puderdose, die Dose für den rosa Puder. Ich habe alles aus Gold und mit meinem Buchstaben, so viele Bürsten, so viele Geräte. Hier ist die Nagelschminke, hier der weiße Puder. Aber der rosa? Er ist in einer Schachtel, und ich kann so nicht länger leben. Sie haben zwanzigtausend Francs ausgegeben, und Sie haben keine fünfhundert mehr? Das heißt, daß Sie mich nicht mehr lieben.«

Lanfrey schlug die Hände um die Schläfen, er beugte sich über die Schulter der Frau.

»Stehlen! Ich werde stehlen müssen.«

»Sie sind nicht ernst«, und sie schob ihn fort.

Don Rocco sagte wieder:

»Diese Schultern, all dieser durchblutete Marmor, die bunt beringten, duftenden Weiberhände: wir leben im Atem dieser Dinge, wir beide.«

»Und wir krepieren darin«, sagte Lanfrey durch die Zähne.

»Warum? Stirbt man an Illusionen? Bei Frauen wie dieser werden die Dinge, die uns einst das Leben kosten wollten, zu nichts, zum Hauch auf einem Spiegelbild. Kannte ich nicht Kurtisanen, die mir in zehn Minuten eine Liebe gespielt haben, vom Erschrecken des ersten Blicks bis zur zuckenden Trennung? Gehen Sie, Lanfrey, der Verrat einer anständigen Frau ist plump und anspruchsvoll, er will ernst genommen werden wie ihre Liebe. Nehmen Sie von unsrer Pamela die Illusion des Verrats entgegen und lieben Sie sie wie das Bild einer Toten.«

Lanfrey starrte aus der Ecke die Frau an, die sich Fett auf die Nase rieb.

»Ich verstehe Sie nicht. Aber ich leide wie ein Tier.«

Don Rocco sagte:

»Sie suchen Stürme, eine Weide Ihrer Leidenschaft, suchen alle Fallstricke des Todes. Ich sage Ihnen, die Kurtisanen sind die Zuflucht des Vielerfahrenen, der die Wirklichkeiten bezweifelt; sie sind die natürlichen Gefährtinnen des Weisen.«

Pamela sandte ihm einen raschen schwarzen Blick.

»Nehmen Sie sich in acht! Man ist für mich gestorben.«

»Und Sie glauben«, erwiderte Don Rocco, »der Tod habe mehr Wirklichkeit als das übrige?«

Plötzlich packte Lanfrey ihn beim Arm, er flüsterte fliegend:

»Helfen Sie mir, den Menschen zu finden, mit dem sie im Dom gesprochen hat. Ich sage Ihnen, daß sie uns heute abend fortschicken wird … Sie sehen mich an: ja, ich bin krank vor Angst. Ich gestehe Ihnen, daß ich nicht mehr allein in der Straße gehen kann, ohne daß Angst nach ihr mich befällt.«

Er sah dem andern wie blind ins Gesicht.

Pamela warf ihren Stuhl um.

»Ihr habt beide nichts mehr. Ich muß mich nach einem umsehen, der mir die Puderdose bezahlt.«

Don Rocco sagte:

»Der Kaiser kommt nach Mailand.«

»Warum nicht er?« Und Pamela warf den Kopf zurück.

»Tatsächlich, warum nicht er? Existenzen wie Ihre, Pamela, verschlingen in Monaten eine Million, um endlich an einer fehlenden Puderdose zu scheitern, falls nicht ein Kaiser hilft. Sie können nichts dagegen haben, Herr von Lanfrey, daß Ihr Kaiser für Sie einspringt.«

Der junge Mann fuhr auf:

»Ziehen Sie nicht seinen Namen unter diese Dinge; er ist zu groß, er ist heilig. Trüge die Erde nicht ihn, ich hätte mich längst von ihr geflüchtet.«

Und da Don Rocco ansetzte:

»Kein Wort, oder ich spreche Tatsachen aus, die Sie vernichten.«

»Welche?«

Don Rocco lächelte traurig.

»Ihr Kaiser ist ein kleinbürgerlicher Streber, ein Generalpächter. Der ihn umbrächte, hätte nicht viel getan; er hätte einen der Sklaven des Zufalls beseitigt –«

»Spion! Kuppler!«

Die Reichmann schrie auf. Don Rocco schlug die erhobene Hand des andern fort.

»– die der Menschheit gebührende Verachtung ihrer selbst beibringen sollen, dadurch, daß sie sie beherrschen. Ich hätte ihn fast getötet, und ich bereue es. Sie aber, Herr von Lanfrey« – und sein Lächeln ward böse –, »Sie werden ihn töten.«

Die Reichmann zuckte die Achseln.

»Lassen Sie den Narren und sagen Sie mir lieber, was ich tun muß, um den Kaiser zu bekommen.«

»Der Kaiser nimmt eine Frau nur einmal.«

»Mich! Einmal! Das werden wir sehen.«

»Ich fordere Sie!« rief Lanfrey hinüber.

Don Rocco antwortete:

»Ich bin kampfunfähig, wie Sie sehen. Aber ich stehe Ihnen zur Verfügung, sobald die gnädige Frau aus Turin zurück ist. Der Kaiser ist in Turin.«

»Heute nacht reise ich nach Turin«, sagte die Reichmann.

Lanfrey stürzte sich, das Gesicht verzerrt, auf ihre beiden Handgelenke.

»Ich töte ihn, wenn du reist.«

»Feigling! Er tut mir weh.«

Und da er nicht losließ:

»Du mißgönnst mir also meine Puderdose? Böser Mann! Nein, nicht stoßen! Meine Frisur! Don Rocco, helfen Sie mir! Lassen Sie, er beruhigt sich schon. Ich werde ihn beim Kaiser in ein schlechtes Licht setzen, er wird sehen … Nein, mein Kleiner, weine nicht. Ich werde dich ihm empfehlen, du wirst Fürst und Exzellenz.«

Sie stützte den Arm auf seine Schulter und bewegte ihn unter seinem Gesicht hin und her.

»Denn ich liebe nur dich.«

Er schlug die Hände vors Gesicht und wankte schluchzend durch das Zimmer.

»Don Rocco, helfen Sie mir. Ich muß ihn töten.«

Don Rocco umfaßte seine Schulter, er sagte warm:

»Sie können sich nicht besinnen? Es ist wahr, daß sie schön ist.«

»Du machst dich lächerlich«, sagte die Reichmann. »Félicie, wir müssen von vorn anfangen.«

»Den Kaiser töten –«, und Lanfrey sah irr um sich. »Sagen Sie, was sonst übrigbleibt. Zuerst ihn, dann mich. Um Gottes willen, sagen Sie ein Wort!«

Don Rocco sagte:

»Sie wollen Ihren Kaiser zum Herrn über ganz Europa, ausgenommen eine Frau. Diese Frau lieben Sie nicht weniger als Ihren Kaiser, und wer sie Ihnen nimmt, muß sterben, sogar er. Wäre der Fall nicht eingetreten, Ihr Leben wäre ein unerschöpftes Spiel. Jetzt klagen Sie noch; aber Sie werden sterben wie einer, der sein Tagewerk vollbracht hat.«

»Helfen Sie mir!«

»Ich rate Ihnen, sich als Frau zu verkleiden. Sie sind hübsch, Sie werden unsrer Freundin bei Seiner Majestät zuvorkommen. Vergessen Sie den Dolch nicht.«

Die Reichmann lachte auf – da tat Lanfrey, die Fäuste geschwungen, einen Satz. Sie kreischte.

»Don Rocco! Félicie! Haltet ihn! Ah! Ich habe genug. Hinaus mit ihm!«

Mit einem Blick, vor dem er zusammensank:

»Wirst du gehen?«

Er ging mit hängenden Händen und kopfschüttelnd ganz langsam zur Tür. Von der Schwelle sandte er noch einen Blick voll der Angst einer solchen Verlassenheit, als käme es aus einer andern Welt.

Die Reichmann fächelte sich. Sie schickte die Zofe hin und her, und dazwischen fragte sie das Mädchen:

»Haben Sie gesehen? Eine Frau anrühren! Solchen Mann könnte ich niemals lieben.«

Don Rocco sah noch immer in den Garten. Endlich wandte er sich um.

»Sie reisen?«

»Sofort. Den Wagen!«

»Ich bestelle ihn.«

Er kehrte zurück und sagte:

»Er ist schon fort.«

»Lucien? Er ist toll, ich wußte es. Was wird geschehen? Sagen Sie mir, was geschehen wird!«

Don Rocco saß am Tisch und schrieb.

»Leihen Sie mir Ihr Siegel?«

Er klingelte und schickte den Brief fort.

»Was gibt's? Was haben Sie getan?«

Er nahm das Löschblatt und hielt es vor den Spiegel.

»An den Polizeipräfekten? Was heißt das? Werden Sie mir erklären –«

»Nichts. Ich mache den Präfekten auf einen Herrn von Lanfrey aufmerksam, der nach Turin reist.«

Die Reichmann stand starr; plötzlich warf sie die Arme.

»Scheusal! Hinterdrein!«

Sie flog zur Tür.

»Rettet ihn!«

»Sehen Sie nicht, daß ich ihn rette?« sagte Don Rocco und holte sie sanft zurück.

»Verräter! Ich werde sagen, welche seltsame Industrie Sie in Wien mit jenen Polen getrieben haben.«

Sie sah ihm in die Augen.

»Warum taten Sie das alles? Warum haben Sie ihn da hineingehetzt? Ach! Lassen Sie, Sie haben zuviel Geist. Ich sage es Ihnen: Sie waren eifersüchtig. Aber erfahren Sie, daß ich immer nur ihn geliebt habe!«

»Vielleicht hätte ich eifersüchtig sein wollen« – und Don Rocco hob die Schultern. »Komödie!«

Sie setzte sich. Auf einmal lächelte sie.

»Und ich hätte mir soeben fast vorgemacht, ich liebte ihn. Aber er ist dumm und ein Schwächling.«

Sie legte die Schläfe in die Hand, und sie maß ihn lächelnd.

»Sie sind soviel klüger und stärker. Warum haben nicht Sie mich geliebt?«

»Und warum Sie mich nicht?«

Sie sah in ihren Schoß. Die Lider aufschlagend:

»Vielleicht fürchtete ich mich.«

Don Rocco sagte:

»Wir haben Zeit, uns zu lieben, bis Ihr Wagen kommt. Löschen wir die Kerzen, lassen wir einen Strahl Mondlicht herein.«

Er beugte sich über ihre Lehne, er sprach in ihre leicht offenen Lippen.

»Im kalten Mondlicht lieben sich unsre kalten Herzen. Wir sind erfahren und vorsichtig wie eine Kurtisane und wie ein Toter. Ich habe eine geisterhafte Liebe zu dir, o Carla!«

»Ich heiße Pamela. Und Ihre Stimme, mein Herr, zittert ein wenig.«

Er murmelte:

»Erinnern wir uns nicht, nun wir unsre ruhigen Hände halten, einer Zeit, da sich glauben und fühlen ließ? Der Zeit, als wir lebten? Wie feucht Ihre Augen blinken! Welche Kunst! Wie? Sie schluchzen?«

Er ließ sie in seine Arme gleiten. Sie blieben ganz still.

Eine Scheibe klirrte; sie richtete sich auf. Er sah sie unruhig sinnen. Dann machte sie ihren Blick verführerisch.

»Ich werde nicht mehr reisen. Aber ich habe eine Bitte. Mein Mann ist hier, versöhnen Sie mich mit ihm.«

Da er aufstand:

»Ich schwöre Ihnen, daß ich es Ihnen ewig danken werde. Er hat wieder Geld. Sie wissen, daß es so nicht weitergeht.«

Don Rocco lachte lautlos.

»Sie haben recht. Sie haben sich früher zurückgehabt – und haben den Grad ermessen, bis zu dem ich Ihnen ergeben wäre. Warum nicht. Was Sie verlangen, würde jeden Mann beschämen. Ich aber darf demütig sein. Demütig darf sein, wer erkannt hat. Wir erröten nicht, wir Toten.«

Er küßte ihr die Hand.

»Ich gehe, Sie mit Ihrem Mann zu versöhnen.«

 

IV

Der Wagen des Ministers verließ die Villa Ascani. Gleich vor dem Parktor schlossen die Reiter ihn ein, mit gelockerten Pistolen. Wie er die Brücke über den Sumpf befuhr, bog drüben hinter der Kapelle von San Leone eine Prozession hervor. Die Mönche sangen; viel Volk ging mit; Wagen und Reiter mußten am Geländer halten. Der Minister lehnte sich in den Hintergrund; da schrak er auf: das Glöckchen von San Leone schlug ein dünnes, scharfes Wimmern an. Er legte die Hand an die Tür, aber der Jäger öffnete sie schon.

»Es ist der Sommavilla, Eure Exzellenz, mit dem Henker.«

Und der Minister, ausgestiegen, ließ zwischen Mönchen und schwarzen Gerichtspersonen einen Mann herbeikommen, der barhäuptig war und in den Himmel sah. Er hatte wirren Bart in den bleichen Gruben der Wangen, ließ leer die Hände hängen und machte ungleiche Schritte, unbesorgt, wohin er gelange. Das Kreuz aus Eisen schwankte vor ihm her. Der Minister tat einen Schritt, um dahinterzuspähen, in das Gesicht des Verurteilten. Der senkte den Blick und sah fest in die Augen des alten Mannes. Der Minister nahm den Hut ab; sein langes weißes Haar flatterte auf; er stand da, weit vorgereckt.

Das Volk murrte:

»Vampir! Weidest du dich an deinem Opfer?«

»Du wirst uns nicht mehr lange morden«, sagte jemand, kaum unterdrückt, »der General Garibaldi wird kommen.«

Und viele:

»Garibaldi!«

Die Garden trieben plötzlich ihre Pferde in die Menge, trennten sie von den Mönchen und jagten sie zurück über die Brücke.

Der Verurteilte war vorüber, aber er hielt noch immer, den Hals gewendet, seinen Blick in dem des Ministers. Auf einmal richtete er ihn, wie von dem Letzten, das er auf Erden begriffen hätte, zurück in die Luft. Der Minister stand noch, über seinen Stock gebeugt; er sah ihm nicht nach, er sah geradeaus, über den wüsten Sumpf, und seine Augen hatten nun in dem grauen steinernen Gesicht einen Glanz, als träfe sie schwere, verschleierte Sonne.

Die Litanei verscholl; er stieg ein; der Wagen erreichte das Stadttor. Drinnen aber lag schon wieder eine drohende Rotte: »Mörder! Die Unsrigen sind da! Wir werden dich am Galgen sehen!« Und wich nur Schritt um Schritt. Frauen öffneten die Läden und riefen Verwünschungen herab. Ein Messer flog durch das Fenster des Wagens. Die Reiter schossen, sie sprengten in die Fliehenden. Durch verlassene Gassen stürzte das Gefährt bis vor das Schloß, polterte über den Graben und hielt jäh an im Hof. Das Tor schlug zu, es hallte aus allen Ecken wider. Der Minister erstieg die bröckelnde Treppe, er ging durch verödete Säle. Erst im Vorzimmer merkte er, daß er allein war, und führte um sich her ein verächtliches Lächeln.

Der Diener riß die Tür auf. Der Herzog lag auf der Chaiselongue, steif ausgestreckt, mit fest geschlossenen Augen. Er fuhr heftig zusammen, sprang auf und lief, auf einmal gelenkig wie ein Knabe, dem Minister entgegen. War sein Haar weiß oder blond, sein Gesicht alt oder nur müde?

»Mein lieber Don Rocco. Sie wenigstens halten mich noch nicht für tot.«

»Weniger als je, Hoheit. Dieser Garibaldi mag kommen. Haben wir nicht das alles schon einmal erlebt?«

»Sie freilich erlebten es« – der Herzog lächelte zart – »auf der andern Seite.«

Der Minister sagte:

»Ich fühle tiefes Mitleid mit denen auf der andern Seite.«

Das Gesicht des Herzogs erbebte, er drückte krampfig des andern Hand.

»Wo steht er? Schon diesseits des Po? Schon in Busonte? Noch heute also, mein Gott, noch heute!«

Er lief bis drüben zum Kamin, er sagte zu der »Anbetung der Könige« hinauf:

»Ich wußte, einmal würden sie kommen. Aber ich glaubte nicht, daß ich noch dasein würde.«

Zurückkehrend:

»Ist in Forte Principe alles geschehen, was ich befohlen habe?«

»Alles, was Eure Hoheit befohlen haben«, sagte der Minister.

Der Herzog fragte mit schiefem Blick:

»Dann können wir sie ruhig erwarten?«

Da der Minister zögerte:

»Wir haben ein Regiment Deutsche: das hatten wir nicht, als jener andre kam, und wir haben neue Kanonen.«

Der Minister legte die Hand auf die Brust und verneigte sich.

»Hoheit, Forte Principe wird auch diesen nicht zurückhalten. Wir sind ein kleines Land, und rings um uns ist die Revolution.«

Der Herzog strich durch die Luft, als sagte er, seine Zuversicht sei nicht sehr fest gewesen. Plötzlich fuhr er sich an die Ohren.

»Dies Glöckchen soll schweigen! Ich liege den ganzen Morgen da wie ein Verurteilter und höre nur das Glöckchen.«

Da schwieg es. Aber vom Platz drunten stiegen drohende Rufe. Der Herzog sank auf einem Stuhl zusammen.

»Es ist geschehen. Ich hätte ihn begnadigen sollen. Marquis Ascani, Sie haben mich getötet. Das letzte Todesurteil, das Sie mich haben unterschreiben lassen, war auch mein eignes.«

»Eure Hoheit erlaube mir zu erwidern, daß Sie ungerecht sind und irren.«

»Ich bin verloren.«

»Nein«, sagte Don Rocco. »Der Fürst ist niemals verloren. Die Autorität, von der die Menschen leben, hängt nicht ab von der Widerstandskraft einer Festung. Wir stehen nicht auf eigner Weisheit, sondern – darum sind wir stark – auf der der Dinge. Die menschliche Vernunft, die uns töten will, ist frech und unwissend. Ihr Sieg, und daß zuweilen die Welt ins Chaos zurückzustürzen scheint: Gott will es, um die Ordnung neu zu bestätigen, die wir sind. Wir kehren wieder.«

»Was nicht hindert« – und der Herzog blinzelte –, »daß es uns im Exil nicht gut ergangen ist.«

»Und wären wir sogar gestorben, wie wir im nächsten wohl sterben werden: was zählt, ist unsre Nachfolge, sind die Jahrhunderte, die langwährende Unterworfenheit und Ergebung, womit die Geschlechter im Zuge der Zeiten gehen. Erhaltung ist alles. Das Glück des Augenblicks? Ein Irrtum. Der Mensch hat nur ein Ziel: die Ewigkeit. Sein Geist? Welche Überhebung! Er weihe Begeisterung und Rausch, die nicht ihm und nicht dieser schweren, furchtbaren und trostlosen Erde gehören, der Ewigkeit, die erhofft.«

Der Herzog sah Don Rocco nicht an. Endlich sagte er beklommen:

»Sie sind gläubig. Sie waren es immer, Don Rocco. Ich, ich habe große Furcht vor der Ewigkeit und hoffe sehr, es gibt keine, denn auch dort würde ich wieder ganz allein sein.«

»Eure Hoheit haben ein Leben geführt, das ich verehre.«

»Mein Leben?«

Der Herzog errötete. Er legte die Hand an die Brauen.

»Ich war stolz darauf – und um so stolzer, je schlimmer es war, für die andern und für mich. Zuweilen aber schien es mir nur kindisch.«

Er stand auf, er murmelte:

»Was sage ich Ihnen, was tun wir? Dies Schloß ist verlassen, und der Feind rüttelt am Tor.«

Er kehrte zurück, er stützte die Hand auf den Tisch zwischen den Pfeilern.

»Don Rocco, wir sind durch vieles miteinander verbunden. Wir waren gemeinsam jung, und Sie haben mich zweimal töten wollen. Dann wurden Sie im selben Augenblick aus Ihren Träumen gerissen, in dem ich die Macht verlor. Sie sind umgetrieben, Sie haben entbehrt und erfahren; Sie haben die Nichtigkeit der Empörung erlebt. Sie würden, sagte ich mir, die andern mit Strenge davor hüten. So habe ich vergessen, daß Sie mein Feind waren, und Sie, als ich zurückkehrte, zu mir gerufen. Dreißig Jahre und länger haben Sie in meinem Namen dies Land beherrscht. Jetzt sagen Sie mir, Don Rocco, wann war's besser zu leben, heute oder damals, wie Sie im Unglück waren, und wie niemand Sie haßte?«

Don Rocco sagte:

»Nie habe ich so sehr unter Feinden gelebt wie damals, nach meinem Sturz von der Höhe jenes Schwärmerglaubens. Ich habe, in Verzweiflung, den Gewalthabern gedient und ihren Gegnern, habe verraten, verdorben, wen ich konnte, bin, so tief es ging, in Sünden gestiegen. Da ich die Welt nicht zu zerstören vermochte, zerstörte ich mich.«

»Ich habe mich immer nur erhalten. Ich saß dahinten auf einem andern Schloß und wartete, daß ich in dieses zurückkehren könne. Hier habe ich dann wieder vernichtet, die mich vernichten wollten. Ich bin durchgekommen: das ist alles. Sie aber« – und der Herzog lugte von unten, seine Stimme ward gepreßt –, »Sie haben gesündigt? Sie haben sich gemein gemacht? Sagen Sie mir das Schlimmste! Das Schlimmste!«

»Ich weiß es nicht. Jede Stunde war schlimm, denn sie war kalt. Jeder Lebende war ein Feind, denn ich hatte ihn zu sehr geliebt. Und so, Hoheit, wird man zum Herrn der Lebenden. Wer an der Welt verzweifelt hat, ist nicht mehr fern davon, sie zu vergewaltigen. Wer die Menschheit hätte in die Luft sprengen wollen, wird eines Tages reif sein, sie als Tyrann zu beherrschen. Ich war, als ich dies erfuhr, ein Falschspieler.«

Da der Herzog zusammenzuckte:

»Dies Schloß ist verlassen, Hoheit, und der Feind rüttelt am Tor. Auch sind wir sehr alt.«

Der Herzog beschrieb eine unsichere Geste. Don Rocco sprach an ihm vorbei:

»Ich war das Haupt einer Bande, die an allen Spielorten mit falschem Geld arbeitete. Einer meiner Leute floh, er bestahl die Gesellschaft und verwertete unsre Kunstgriffe. Ich verfolgte ihn, ohne ihn fassen zu können. Überall war er unter glänzenden Namen eingeführt und würde, wenn ich Hand auf ihn legte, mich selbst entlarvt haben. Ich aber ertrug es nicht, daß er mir entgehen sollte. Verbrecher er und ich: und ich fieberte auf unsrer Hetzjagd durch Europa nur danach, ihn unter mein Gesetz zu zwingen.«

Don Rocco bekam starre Augen. Der Herzog sah ihm aus gesenkten Lidern zu.

»Endlich hatte ich ihn. Ich hatte in einem Spielsaal die meisten Tische mit meinen Leuten besetzt. Er hielt die Bank, und sie gewannen gegen ihn. Er sah sich betrogen, fühlte sich bedroht, verlor den Kopf und fing an, falsches Geld auszugeben. Man fiel über ihn her, ich ließ mich mit ihm in ein Seitenzimmer drängen. Wir waren allein; er warf sich sogleich vor mir nieder. Er war ein Levantiner, weich, treulos, schön – und in diesem Augenblick merkte ich, daß ich ihn liebte; daß ich ihn hätte an Ketten legen wollen und dabei küssen wie eine Frau; daß dieser wahnsinnige Drang, ihn zu unterwerfen und zu beherrschen, Liebe gewesen war. Wieder sah ich mich mitten in den Schrecken der Liebe, die die Schrecken des Lebens sind.«

Don Rocco schwieg. Dann sagte er noch:

»Was wissen die, die uns grausam und Feinde der Menschen nennen!«

Der Herzog regte sich nicht. Endlich ganz leise:

»Don Rocco, Sie hatten eine Frau, die Sie liebten?«

Da entstand draußen Lärm, in der Tür erschienen die Adjutanten des Herzogs. Er stellte sich ihnen entgegen.

»Ihr seid zurück von Forte Principe? … Wie? Der Feind hat uns umgangen? Er überschreitet nicht die Grenze? Wir wären gerettet? Marquis Ascani, hören Sie doch: wir sind gerettet!«

Don Rocco holte seinen starren Greisenblick aus der Ferne zurück.

»Ich glaube es nicht«, sagte er. »Garibaldi wird Verstärkungen sammeln.«

Der Herzog schloß die Tür.

»Meinen Sie denn, daß ich's glaube? Halten Sie mich nicht für unwissend. Ich war des Bodens nie sicher, auf dem ich stand. Wer siebzig Jahre lang von einer Lebenskraft zehren mußte, die schon versagte, als er zwanzig war, der hat den Sinn für das Sterbende. Dies ist der Augenblick, sage ich Ihnen, und ich fürchte ihn.«

Seine Miene flog, sein Blick flatterte. Er zog den Rock fest um sich und hastete durch das Zimmer, mit seinem nachschleppenden Fuß, seinem schmalen, hohlen Rücken, und an den Fenstern drückte er sich vorbei, feig und anmutig wie ein kranker Knabe. Don Rocco stand schwer über seinen Stock gebückt. Der Herzog umklammerte plötzlich seine Schultern; er flüsterte atemlos:

»Retten Sie mich! Helfen Sie mir zu fliehen! Ich habe nur Sie, Sie sind der einzige, den das Volk noch mehr haßt als mich. Sie werden reich sein, mein Geld ist in England. Ah, ich erwartete diese Leute, diesmal werden sie nichts finden. Aber retten Sie mich!«

Don Rocco strich ihm den Arm, er ließ ihn in den Sessel nieder.

»Eure Hoheit erinnere sich, daß im Norden der Feind steht und überall sonst die Empörung. Wir sind auf einer Insel; nichts bleibt uns, als mit Würde zu enden. In einem andern Schloß erwarten Sie den Beginn Ihrer dritten Regierungszeit.«

»Nie! Nie!« – der Herzog kreischte, er riß sich los. »Denn sie werden mich töten. Diesmal sind es Italiener. Verstehen Sie nicht? Das erstemal: jene Fremden wußten nicht, wer ich war. Diese kennen mich.«

Er stürzte zu der Tapetentür, mit Händen und Füßen stieß er sie ein, er war schon fort. Don Rocco folgte ihm in die dunkle, staubige Ruine des alten Theaters, er zog ihn hinter einer Loge hervor und führte ihn zurück.

»Ich will dort drinnen verhungern«, jammerte der Herzog. »Sie sollen nicht Hand an mich legen.«

»Niemand wird es wagen, Hoheit. Und was könnten sie uns nehmen. Haben wir nicht gelebt?«

Aber er wich zurück; der Herzog lachte auf.

»Mein Leben!«

Und er fiel mit dem Gesicht über die Chaiselongue, Schluchzen erstickte ihn. Don Rocco sah zu Boden und wartete. Nun richtete der Herzog sich auf, er sagte schwach und strich sich über die Stirn:

»Sie haben recht, ich habe gelebt. In diesem Zimmer hier habe ich die langen Jahre den Tod erwartet, immer nur ihn; aber seine Erwartung brachte mir Aufregungen, seltsame Begierden, Genüsse, die euch unbekannt sind. Zuweilen triumphierte ich, weil ich mich erhielt wider Natur, und verachtete die Menschen, die mit mir nicht fertig wurden. Andre Male, das war süß, ließ ich mich fallen und gönnte denen, die heranschlichen, sie möchten mich treffen. Bonaparte, glauben Sie mir's, hat mich nicht überrascht, er war mir nicht fremd. Was er tat, hatte im Traum ich selbst schon vollbracht.«

Er machte leise und entrückte Schritte.

»Befreier! Eroberer! Held! Und dann abdanken: das geeinte Land seinem Glück lassen und verschwinden.«

Er hielt an, die Arme ausgebreitet. Auf einmal ließ er sie fallen, er setzte sich auf eine Armlehne und lugte unter seiner dick gefalteten Stirn hervor.

»Aber ich hütete mich, es zu tun. Ich kannte die Menschen, sie hätten mich verachtet, und ich hätte sie knechten müssen. Ich wußte alles voraus, ich war viel klüger als der Bonaparte. Als er dann der Herr der Welt war und sie ihn anbetete, da ekelte er mich. Die Starken sind ekelhaft. Vor mehr als fünfzig Jahren war er in diesem Zimmer. Wollen Sie glauben, daß ich« – der Herzog führte das Tuch an die Lippen – »ihn manchmal noch rieche?«

Er sprang von der Lehne, er kicherte.

»Jetzt freilich wird er noch schlechter riechen. Ah! er ist tot, er und so viele, die von Leben strotzten. Ich aber bin da. Auch meine ›Anbetung der Könige‹ ist wieder da. Sie war von Correggio, darum mußte er sie nach Paris schleppen; aber ich bin sicher, daß er niemals ihre Schönheit gefühlt hat. Ich, ich fühle sie.«

Er stand unter dem Bilde.

»Bonaparte –«, sagte langsam Don Rocco, »es gab eine Zeit, da ich glaubte, er heuchle; ich glaube es nicht mehr. Als er anfing, hielt er sich für den Befreier, der den Menschen die Liebe brächte. Auch ihn hat Liebe zur Tyrannei geführt. Auch seine Liebe enthielt den Sündenfall. Wer von der Ordnung, dieser kalten Weisheit der Dinge, weicht, ist bestimmt, in Bitternis zu enden. Ich sah ihn nach Waterloo; englische Soldaten wollten ihn totschlagen. Er hastete auf ein Pferd; ein Prinz von Preußen erlaubte sich zu sagen: ›Laßt den Elenden sein Leben retten!‹ Und er rettete es zitternd. Einst hatte er die Welt retten wollen.«

Seufzend wandte der Herzog sich um.

»Don Rocco, liebten Sie nicht sehr die Marchesa? Sagen Sie mir, ob man heftig leidet, wenn man liebt und verraten wird. Sie sind erniedrigt worden durch Ihre Frau, wie? Denn sie war eine Abenteurerin, sie hatte Männer ohne Zahl, und Sie haßten sie?«

»Ich bemitleidete sie«, sagte Don Rocco, »und ich wünsche ihr, daß sie nicht mehr lebt. Auch die Schwärmer, die aus Liebe zur Menschheit Empörung verbreiten, ich hasse sie nicht. Wenn ich sie sterben lasse, bevor sie enttäuscht wurden, schenke ich ihnen ein leichteres Geschick, als meins war.«

Der Herzog sah in den Winkel.

»Ich«, sagte er, »bin nie enttäuscht noch verraten worden, denn ich habe nie geliebt, habe keine Frau je besessen. Ich rechne nicht die Erzherzogin, die zwölf Jahre dort drüben gewohnt hat, und von der ich keinen Erben habe. Als sie starb, sagte sie mir ins Ohr, das ich hinhielt: ›Ich habe alle meine Pflichten gegen die Religion erfüllt, ich habe Sie nie betrogen. Aber ich hätte es wohl gemocht.‹ Und das war alles. Keine Frau mehr, nie ein menschliches Wesen in diesen Armen gehalten, und dabei« – flüsternd – »etwas Fürchterliches, eine Sehnsucht, die mich hinabzog, nach den Gemeinen, auf die Gasse sogar. Dort unten gehen des Nachts die Dirnen; und so« – er wickelte sich am Fenster in den roten Vorhang; umsichtig führte er, aus den Falten heraus, das Gesicht bis vor die Scheibe – »habe ich gestanden.«

Er hielt still und drückte die Stirn ans Glas. Vom Platz stieg Geschrei auf. Der Herzog fuhr zurück.

»Wie sie mich hassen!«

Er lehnte den Kopf in den Nacken, er lächelte rein.

»Ich habe ihren Haß ertragen und daß sie mich nicht kannten. Ich habe die Liebe verschmerzt, habe mich mit den Menschen, die mich von ihrer bequemen Herzlichkeit ausschlossen, nie gemein gemacht; ich war stark, auch ich! Denn leichter wär's gewesen, mich ins warme Gedränge hinabgleiten zu lassen.«

Aber seine Miene zog sich zusammen.

»War ich nicht doch ein Narr? Habe ich mich nicht vergebens geopfert, einem Schicksal, dem kein Gott zusieht? Mein Leben, dies feierliche, bedrohte, böse und einsame Leben, ganz im Grunde nehme ich's nicht ernst; ich spiele es mir, ich bin ein Komödiant – wie? Und wer weiß, ob ich nicht auch ein andres hätte spielen können?«

Er beugte sich über sich.

»Noch immer diese Reue. Es ist so lange her, so lange. Sie kam, mich zu töten. Als sie sah, wer ich war, wollte sie mich lieben. Sie verstand mich. Ich habe nie so viel mit einem Menschen gesprochen wie mit ihr – bevor ich sie zum Tode schickte.«

Er richtete sich auf.

»Dennoch ist es gut. Man hat sich bewahrt, und vielleicht, daß man höherer Liebe fähig war als alle. Man war wie diese Könige«, und er neigte die Stirn nach der Anbetung. »Auch sie sind durch die Wüste gezogen, und das Kind, vor dem sie niederknieten, war ihr Traum. O Gott! Wer sein Leben nur geträumt hat, sollte der es schwer haben, zu sterben?«

Ein Kanonenschuß; der Herzog fuhr zusammen.

»Forte Principe. Sie sind da, ich wußte es.«

Tobender Jubel auf dem Platz. Der Herzog und Don Rocco sahen sich lauschend an. Noch ein Schuß, und in langem Abstand noch einer. Sie warteten: keiner mehr.

»Es ist vorbei«, sagte Don Rocco. »In weniger als einer Stunde ist er hier, dieser Garibaldi.«

Im Vorzimmer gingen plötzlich viele Stimmen durcheinander, die Tür ward aufgerissen.

»Wir sind verloren, das Volk stürmt das Schloß! Hoheit, retten Sie sich!«

»Ich bleibe«, sagte der Herzog. »Tut eure Pflicht, verteidigt mich! Geht!«

Sie gingen ab durch die Säle. Aus dem Hofe kam der Hall von Gewehrfeuer; er schlug wider, kreuz und quer von den Treppengewölben, den hohen Decken. Das Aufbrüllen des Volkes, sein fliehendes Getrappel; – und in dem einsamen Zimmer, die Tür offen auf weite, verödete Räume, saßen die beiden Greise einander gegenüber. Sie schwiegen lange. Der Herzog hielt die Lippe, die zuckte, mit den Zähnen fest.

»Ist es denn so schwer, zu sterben?«

Und Don Rocco, lange wägend und mit verlorenem Blick:

»Ich habe den Tod oft geschmeckt, er ist tröstlich. Für ihn haben wir gearbeitet, wir leben für ihn. Am Rande der Ewigkeit wachsen uns Flügel. In ihren Herd dürfen wir endlich unser Feuer schütten.«

»Wir sollen es bald erfahren«, murmelte der Herzog.

Don Rocco sagte:

»Ich verstehe mich mit denen, die sterben sollen. Heute, als ich herkam, hatte ich eine Begegnung. Ich sah in die Augen jenes Sommavilla auf seinem Gang zur Richtstätte. Er sah in meine. Er hat gesehen, daß ich, der ich ihm zu sterben befahl, sein Bruder war. Der Weg, den er ging, schon vor fünfzig Jahren war er mein, und in diesem Menschen ging ich ihn auch heute.«

Sie schwiegen wieder. Schon nahte der Klang von Hörnern, durchbrochen von Freudenschreien; und im Takt des Laufschritts, der anschwoll, stieg Gesang auf, leicht, kühn und feierlich. Eine Salve, noch eine, und der Platz tönte fort von der Hymne einer kriegerischen Liebe.

Es stürmte die Treppe heran. Die beiden Greise erhoben sich; der Herzog reckte sich, er sagte:

»Ich glaube an keine Ewigkeit und an die himmlische Liebe sowenig wie an die irdische. Aber man sehe, daß ich Mut habe.«

Die Säle waren voll und lärmten. Es toste ins Vorzimmer, es quoll über die Schwelle – und auf einmal verstummte es. Männer in roten Blusen: Don Rocco sah ihnen entgegen; er stellte sich vor den Herzog. Sie zögerten noch. Ein kleiner Alter in langem Mantel trat vor und sagte:

»Dies ist der Marquis Ascani.«

Darauf erklärte ein Offizier:

»Marquis, Sie sind verhaftet.«

Don Rocco sah sich um. Aber schon hatte das Gedränge ihn abgeschnitten vom Herzog, er ward hinausgeschoben und hinab, im Hofe stand sein Wagen, man stieß ihn hinein. Er lehnte sich tief zurück. Der Wagen rollte durchs Tor, und wild brüllte der Platz auf. Der Wagen stürzte polternd davon; Don Rocco schloß die Augen, der Kugel gewärtig, die hereinflog.

 

V

›Man wird mich außer Landes bringen‹, dachte er, ›in, ich weiß nicht, welchen Kerker.‹ Aber plötzlich hielt der Wagen, Don Rocco sah sich hinter dem Tor seiner Villa. Der Offizier sagte:

»Sie werden in dem Zimmer dort die Befehle des Generals erwarten.«

Auch der kleine Alte von vorhin war wieder da; er nahm den Offizier beiseite, Don Rocco hörte ihn sagen:

»Ich bürge dir …«

Er sah die Eingänge des Hauses von roten Blusen besetzt; die Freischärler lagerten im Park. Langsam ging er nach dem Gartenzimmer. Der kleine Alte trat mit ihm ein.

»Don Rocco«, sagte er, »Sie haben das Recht, sich in Haus und Garten frei zu bewegen. Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie die Villa nicht verlassen werden.«

Er erwiderte:

»Ich habe Ihnen kein Wort zu geben, ich kenne Sie nicht.«

Da schlug der Fremde seinen langen Mantel auseinander: es war eine Frau. Sie sagte mit zitternder Stimme:

»Doch, Don Rocco, Sie kennen mich.«

Er wich zurück, und er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Rasch nahm er sie wieder fort.

»Ich verstehe. Sie kommen, um mein Unglück vollendet zu sehen, da Ihnen ja seine Anfänge nicht fremd sind.«

»Es sind auch die Anfänge des meinen«, erwiderte sie.

Er sagte kalt:

»Ich hoffe es. Die ewige Gerechtigkeit wäre betrogen, wenn Sie nicht als die elende Abenteurerin vor mir ständen, die Sie sind. Gut, daß Sie kamen; ich mußte Sie nochmals sehen.«

»Sie irren sich«, – leise und schmerzlich. Er sah betroffen weg.

»Nein, ich wollte sagen, daß ich mir gewünscht habe, Sie seien nicht mehr und Ihnen sei verziehen.«

Sie stammelte:

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen. Aber ich habe ein gutes Leben gehabt; ich wäre glücklich gewesen ohne den Gedanken an Sie. Denn in diesem langen Leben« – ihre Stimme verlor den Klang, kaum verstand er sie – »war kein Tag, an dem ich nicht Ihrer gedacht hätte.«

»Wenn ich dasselbe sagte, würden Sie mir's glauben?«

»Ja.«

»Und obwohl Sie also wußten, was Sie mir zufügten, taten Sie es.«

Er strich sich über die Stirn.

»Wovon reden wir? Diese Dinge sind alt wie Legenden. Wenn wir noch handelten wie die, die mit dem Leben rechnen, würde ich Sie wohl bitten, zu gehen. Da wir sterbend sind, mögen Sie bleiben.«

Er wies auf einen Stuhl, und er setzte sich weit davon, zwischen den Fenstern. Er sah hinaus; ein neuer Trupp Freischärler marschierte den Park hinan. Er wandte sich ab, er sagte in die Luft:

»Das alles haben wir schon einmal gesehen. Was ist davon übrig?«

»Wir.«

Er sah sie an und nickte schwer.

»Wir sind noch da, um zu büßen.«

»Nein«, erwiderte sie sanft. »Sondern um zu sehen, daß das Werk unsrer jungen Begeisterung nicht verloren ist; daß nicht einmal wir selbst es zerstören konnten.«

Er sagte:

»Die Traurigkeit dieses Lebens will, daß immer neue Herzen geprüft, betört und bestraft werden sollen. Ich habe sie nicht behüten können; zerrissen oder versteinert werden sie enden. Möge wenigstens uns die Ewigkeit bereit finden.«

»Wir haben für sie gearbeitet«, und sie legte die verschränkten Hände auf die Brust, »wenn wir die Wesen unsrer Gattung ein wenig weiter vom Tier gelöst, sie der Freiheit und Gerechtigkeit um einen Schritt nähergeführt haben.«

»Sie waren niemals weiter von ihnen entfernt als in den verbrecherischen Wirrnissen unsrer Jugendzeit. Millionen Toter, der Fluch der Menschheit und die Tyrannei eines einzigen, das war unsre Frucht.«

»Der Weg ist ungewiß, voller Gefahren und wird noch oft durchkreuzt werden. Dennoch aber muß er zur Liebe führen; denn es war Liebe, die ihn beschritt.«

Er richtete die Hand gegen sie auf.

»Ich werde das Blut keiner neuer Schlachten riechen, ich werde keinen Galgen mehr aufzustellen haben, und kein Usurpator wird vor meinen Augen Eure Liebe in Verrat und Gewalt verwandeln. Dank sei dem Tode, der mir's erspart.«

»Gewalt und sogar noch Verrat«, sagte sie, und er sah sie erröten, »können Gestalten sein, die die Liebe annimmt. In dem Kaiser, den wir beklagen, war, so sehr er vereinsamt und schuldig schien, immer noch der liebende Drang der ganzen Menschheit. Ihr schlug er seine Schlachten. Seine Erhöhung war die ihre. Aus seinem Grabe wird sie auferstehen.«

Sie senkte die Stimme.

»Auch er trug für uns das Kreuz. Auf der Höhe seiner Macht habe ich ihn bemitleidet. Ich und Rosalino, wir sind bei ihm geblieben, weil wir uns nicht trennen wollten von den Irrtümern und Leiden des Menschen.«

»Und er hat euch belohnt. Ihr habt euren Anteil gehabt an der Beute des blutigen Karnevals.«

»Zuweilen hat er uns reich gemacht. Aber es gab so viele Wunden zu lindern, die er schlug. Wie viele seiner Feinde haben wir ihm zurückgewonnen! Denn wir kannten sie alle; wir dienten seiner persönlichen Sicherheit.«

»Ihr gehörtet zur kaiserlichen Polizei?«

Er lachte trocken auf.

»Aus weniger fragwürdigen Beschäftigungen habe ich eine heilsame Selbstverachtung geschöpft. Ihr waret befähigt, Schurkereien zu begehen als reine Seelen … Aber Bonaparte fiel, trotz eurer Stütze.«

»Da war ich allein; denn bei einem der Attentate auf den Kaiser, die er verhinderte, fand Rosalino den Tod. Sehr arm habe ich seither in Paris gelebt, der Arbeit für das junge Italien. Mazzini rief mich mehrmals in die Heimat. Sonst war mein Leben dunkel, voll Mühe und von schwankender Hoffnung. Dennoch sehen nun meine Augen den Sieg.«

»Wie?«

Er stand auf.

»Sie haben noch immer geglaubt? Da Sie allein waren: wer gab Ihnen Mut?«

»Die Menschheit, die ich liebte.«

Er griff sich an die Stirn, er ging rasch die Fenster entlang.

»Sie haben keinen Mann mehr geliebt? Sie waren nicht die Abenteurerin, die ich durch die Welt fahren sah? Sie waren arm, Sie alterten, und Sie sind dieselbe geblieben?«

Traurig lächelnd sah sie ihm nach.

»Und Sie, den dies überrascht, haben sich also inzwischen so sehr ertötet, daß Sie alle Liebe für tot hielten? Dort draußen hat sie weitergelebt.«

Er murmelte:

»Sie waren allein. Sie haben gedarbt. Sie liebten eine Idee und hatten keinen Menschen. Sie sind eine Frau, und Sie waren immer allein.«

Er ging zu ihr hin, sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter.

»Arme alte Frau!«

Sie sah zu ihm hinan, ihre Lippe zitterte.

»Warum habe ich nicht Sie gehabt?«

Er zog die Hand weg.

»Sie hatten gewählt. Sie hatten mich verraten.« Sie griff nach seinem Arm.

»Nein! … Wie soll ich Ihnen erklären, wie Sie fühlen lassen. Wir sind so alt, und ich suche nach den Stürmen, die einst unsre Herzen schüttelten. Ich habe Sie immer geliebt. Glauben Sie mir doch! Was hülfe lügen, dort, wo wir sind.«

»Und jener andre, dem Sie gefolgt sind, für den Sie gelebt haben?«

»Für Sie habe ich gelebt, für Sie! Jener kam, als ich kaum erwachsen war, er schenkte mir den Glauben, der mein Leben ward; ich gehörte ihm dafür, ich kam nicht mehr von ihm los. Sie aber: ich liebte Sie, um Ihnen zu geben, um Sie groß und reich zu machen. Sie waren mein Kind, waren der Geliebte meiner Seele; und noch, wenn ich mich Ihnen hingab, waren Sie mein Traum.«

Er wandte sich ab:

»Das ist zuwenig.«

Sie sprang auf, sie zog ihn herum.

»Das ist alles. Ich bin einsam geblieben dies lange Leben, um Ihretwillen. Ich liebte die Menschheit, und sie trug Ihre Züge. Den Sieg meines Glaubens, ich ersehnte ihn, ich arbeitete für ihn, nur um Sie wiederzusehen und Sie zu erwecken. Noch mit diesem alten Herzen liebe ich Sie.«

Er ließ den Kopf sinken.

»Warum haben Sie, um mir dies zu sagen, gewartet bis heute?«

»Weil Sie mir nicht geglaubt haben würden.«

»Nie, solange jener lebte; aber nachher vielleicht hätte ich Ihnen verzeihen können.«

»Sollte ich widerrufen, was wir gewesen waren? Nein, sondern Sie selbst unsrer Vergangenheit zurückgewinnen: das nur galt es. Ich durfte nicht anders zurückkehren als siegreich. Der Sieg war meine Buße. Ach! wir mußten im Kampf gegeneinander alt geworden sein, bevor wir uns wieder die Hände reichen konnten.«

Sie hielt sie ihm hin, und er nahm sie.

»Wäre es nicht anders gegangen?« sagte er. »Auch ich will nicht bereuen; ich bin zur Weisheit geführt worden. Aber die Weisheit, ich gestehe es Ihnen, ist tödlich.«

Sie streichelte seine Hand.

»Ich weiß, Sie hatten es noch schwerer; ich habe Ihnen zugesehen. Nie war ich im Vaterlande, ohne mich in Ihren Gesichtskreis zu schleichen. Ich habe vor diesem Tor gewartet, bis Ihr Wagen es verließ.«

»Sie waren da?« murmelte er. »Sie waren da?«

»Der Dolch der Unsrigen ist an Ihnen vorübergegangen, denn ich sagte ihnen, wer Sie waren. Ich konnte es. Ich wußte, daß Sie die Familien derer, die Sie hatten einkerkern müssen, in der Fremde vor der Not schützten. Wie sind die Freunde des Sommavilla seinem Schicksal entronnen? Ich habe die Spuren der Warner verfolgt, und sie endeten bei Ihnen. Oh, leugnen Sie nicht, es ist unnütz! Ich weiß, im geheimen gehörte uns dennoch Ihr Herz. Auch in Ihnen glomm noch die Liebe.«

»Die Liebe ist nur der unwissenden Jugend erlaubt und vielleicht uns Greisen, über deren Augen schon die Schleier sinken. Dazwischen das sehende Leben kennt sie nicht; es dient der harten Weisheit Gottes.«

»Blicken Sie doch hinaus in dies große Tageslicht!« – und sie führte ihn über die Schwelle, sie wies auf den Park und die lagernden Freischärler.

»Alle diese Männer sind gekommen um der Liebe der Ihren willen. Sie erobern dies Land nicht, wie sonst Soldaten tun, als eine Beute, als ein Tier, das man zähmt: nein, wie sie ihre eignen Frauen und Kinder aus Verbannung und Knechtschaft zurückholen würden.«

»So waren wir«, sagte er. »So werden noch viele sein. Mir graut, und dennoch klopft mir das Herz.«

»Und sie werden die Freiheit fester halten, als wir es vermochten. Keiner aus ihrer Mitte wird sie ihnen abkaufen für Ruhm und Macht. Garibaldi ist ein reinerer Held, als Bonaparte war. Auch sie, ich weiß, werden enttäuscht werden; und wenn sie erlangt haben, was sie Freiheit nannten, werden sie die Menschheit in tausend ungeahnten Fesseln sehen. Die Unzulänglichkeit der Natur wird Geschlecht um Geschlecht, das die Stirn bis in den Himmel trug, zur Erde beugen. Gleichviel, wir werden kämpfen, und wir werden endlich siegen über die Natur und ihre Ungerechtigkeit, Stumpfheit und Härte. Die Letzten unsrer Gattung werden in Wahrheit Menschen sein. Der Traum, der die Menschheit von ihrer Wiege hierher geleitet hat, in der Stunde ihres Todes wird er erfüllt sein, und sie ist frei.«

Er sah sie schmerzlich an.

»So wird all ihr Kampf dem Tode gedient haben. Das ist's, was ich erfuhr: wir leben dem Tode.«

»Nein, der Liebe!«

Und sie drückte seine Hand.

Aus den Kamelienbüschen stieg die Treppe zu den Wohnzimmern, an dem vorgeschobenen Trakt des Hauses, der über den Hügel sah. Er merkte, wie ihr Schritt schleppend ward; er wandte sich um: Sie blickte dort hinauf, und sie hatte die Augen voll Tränen. Da sah er zum erstenmal deutlich das verbrauchte Wollkleid um ihre eingesunkenen Schultern, die Schuhe, die den Staub weiter Straßen trugen. Er nahm ihre Hand; sie war überzart wie alte Seide und zeigte dennoch die Spuren der Arbeit; und er schob sie unter seinen Arm. Der alte Haushofmeister trat aus der Tür.

»Cipriano, die Frau Marchesa ist von der Reise zurückgekehrt, öffne die Fenster, rufe die Nella.«

Zu ihr sagte er:

»Ihre Zimmer sind, wie Sie sie verlassen haben. Sie werden die Kleider finden, die Sie am letzten Tage trugen.«

»Sie haben noch dasselbe Herz«, sagte sie. »Aber ich möchte wohl den Garten wiedersehen.«

Sie gingen um das Haus.

»Die Schlucht ist noch dichter überwachsen. Wieviel Dornen! Damals gab es mehr Blüten.«

Sie murmelte:

»Oder wir selbst waren voll Blüten.«

Nach diesem Wort sah er in ihr Gesicht; sie sah in seins. Sie schwiegen; und jeder erkannte in des andern Augen, wie er unter Falten, verwischten Zügen und müdem Fleisch den Gefährten seiner Jugend hervorsuchte.

Sie stiegen hinunter zum Teich; er schien ihr kleiner, so verwildert war sein Ufer, so voll Pflanzen sein Spiegel; und wo war der Kahn? Ganz hinten, wo es schon ins Feld hinausging, am Ende der Laube, oh! die Nymphe!

»Mnais! Sie wenigstens ist jung geblieben!« – und die alte Frau liebkoste den Stein. »Sie lächelt mit ihrem zweitausendjährigen Mund über unser kurzes Leben und alle unsre Kämpfe.«

»Auch sie«, sagte er, »die nun Stein ist, wird ein Leben zu bereuen haben. Wie habe ich gelebt!«

In seiner Miene arbeitete es angstvoll, seine Augen gingen, auf dem Rückweg zum Haus, umher wie nach Hilfe.

»Es war nicht nötig, scheint mir's jetzt, zu denken, der Ewigkeit zu denken und Qual zu leiden. In diesem Garten wir beide, unbekümmert um die großen Geschicke, der Süßigkeit des Daseins hingegeben, des Atmens: wir beide.«

Sie umfaßte seine Schultern, die zuckten; sie barg seinen durchschüttelten Körper sich an der Brust, und sie flüsterte:

»Ist dir's denn nicht, als sei es so gewesen? Wir haben uns nie verlassen. Still, Lieber! Lägen auch zwischen damals und heute viele Leben; mußten auch Gräber sich schließen und wieder öffnen: der Frühling, den wir einst hier im Garten zurückließen, hat verzaubert darin verweilt und uns erwartet.«

Er schloß die Augen an ihrem Hals, er stöhnte schwer.

»Ich sehe uns, wie wir dort unten am Tor den General Bonaparte empfingen. Welche Helligkeit! Welche Weite! Was hätte sein können! Carla!«

Mit erstickter Stimme:

»Ich war ein Schwärmer, du brauchtest einen Mann. Das Leben brauchte ihn.«

Und, die Hände erhoben:

»Ach! alt zu sein und auf einmal die Jugend wiederzuerkennen!«

Sie griff erschrocken nach seinem Arm: er wankte.

»Vergiß nicht, auch du hast gelebt, und dein Leben war tief. Durch deine Brust, Lieber, ist das Leiden des Menschen so breit hindurchgeflutet wie durch irgendeine. Ach, nun öffne sie dem Glück!«

»Ist noch Zeit?« sagte er. »Wo ist es?«

»Das sind unsre Söhne!«

Sie wies hinab in den Hof, auf die Freischärler, die sangen.

»Unsre Liebe ist fruchtbar gewesen. Um das ganze Land schlingt sie sich nun.«

Sie führte ihn über die Treppen.

»Die Marchesa!« riefen die jungen Leute, und sie erhoben die Gläser. »Es lebe die Marchesa Carla!«

Eine Stille; sie befragten sich; da rief einer:

»Der Ascani! Das ist der Ascani, der große Taten getan hat zur Zeit des Generals Bonaparte. Es lebe Don Rocco Ascani!«

Ein Hornsignal: sie fuhren auseinander, vom Garten stürzten alle herein.

»Der General!«

Der Hof war leer, die beiden Alten standen allein. Don Rocco sagte:

»Ich bin würdig, der Eure zu sein, da an meiner Seite du gehst, o Carla! Ich liebe dich und bin erlöst.«

Er hastete vorwärts.

»Ich will ans Tor. An meinem Tor will ich ihn empfangen, den General Garibaldi.«

Sie führte ihn von rückwärts in das Gartenzimmer, am Tisch ließ sie ihn nieder. Sie sah sein Gesicht sich plötzlich röten und in seinen Augen einen Taumel von Schrecken und Freude.

»Am Tor«, murmelte er. »Ich empfange ihn.«

Und er fiel über den Tisch, das Gesicht auf die Arme.

Draußen marschierende Schritte, Kommandorufe, der Schall von Hörnern. Im Zimmer hielt sie seine Hand.

Nun verstummte alles; Pferdehufe nahten. Die alte Frau trat hinaus. Der General saß ab; durch das rote Spalier seiner Schar schritt er herbei, die Sonne auf seinem blond herabfallenden Haar und seinem milden Löwengesicht. Er verbeugte sich tief vor der alten Frau; sie sprach leise, leise; sie berührte seinen Arm: da folgte er ihr. Don Rocco saß da wie ein Übermüdeter, den die große Stunde schlafend fände. Garibaldi, auf der Schwelle, entblößte den Kopf.

*


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