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Zuerst erschienen in »Die Bösen«, Insel-Verlag, Leipzig, 1908
Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band
Die junge Sängerin verließ das Klavier und ging der dahinten noch lauschenden Gesellschaft entgegen. Ganz allein ging sie zwischen den Säulen, den Büsten mit pomphaft zurückgeworfenen Perückenköpfen über den weiten, spiegelnden Steinboden. Sie streckte sich sehr gerade, sah senkrecht vor sich hin; und die Arme ausgebreitet, hielt sie zwei blasse Fingerspitzen an ihrem großen, runden Rock, der sich rings um sie her am Estrich zerdrückte, wie sie vor der Prinzessin das Knie bog. Die Prinzessin bot ihr gnädig die Bonbonniere. »Welch einen Engel diese Kleine in der Kehle hat!« Die alten Frauen bewegten befriedigt die Fächer und lächelten ihren alten Galans zu, die sich räusperten und von Erinnerungen anfingen. Die jungen Männer zogen die Köpfe in die hohen Kragen ihrer braunen Röcke, ließen ihre Lorgnons gesenkt und preßten bleich die Lippen aufeinander. Eins der jungen Mädchen, das begehrteste von Rom, stand plötzlich auf – die gestickten Kränze ihres Saumes schaukelten über ihren kleinen Schuhen – und warf die Arme um die Branzilla.
»Wie Ihr glücklich sein müßt!« flüsterte sie am Halse der Sängerin. »Alle Liebe gehört Euch. In Eurer Stimme ist alle Liebe der Welt.«
Aber sie verwirrte sich unter dem harten und traurigen Blick aus den Augen der anderen. Sie trat zurück; die Branzilla stand wieder allein: ihr klares Vogelprofil gegen den Haufen gerichtet, den sie bewegt hatte.
Hinter ihr seufzte es. Einer ihres Alters, einer in schwarzer Seide, richtete Schwärmeraugen auf sie.
»Fräulein Adelaïde!«
»Exzellenz, Eure Dienerin.«
»Ihr dient niemandem«, sagte seine bedeckte Stimme, »auch nicht der Kunst. Die Kunst dient Euch. Sie kniet vor Euch: sie, unser aller Mutter. Und auch ich, dem die Kunst doch alles war, will nur noch vor Euch knien.«
»Das ist bequem.«
Und sie ging an ihren Platz. Er folgte sanft.
»Mein Haus, Adelaïde, erwartet Euch. Die Fenster blicken nach Euch aus, die alten Bilder sind erwacht und sind neugierig auf Euch. Meine Diener gehören Euch und wissen es. Die ersten Lehrer Italiens stehen bereit, Euch zu vollenden. Wann kommt Ihr? Die Hecken im Garten sind höher gewachsen, um vor den Weihelosen Euer Bild zu hüten. Die Mauern umtürmen eifersüchtig Eure einzigen Töne.«
Sie tat kleine harte Fächerschläge. Mit kalter Unterwürfigkeit:
»Ich stehe zu Diensten, Exzellenz. Meine Tante und ich, wir nehmen Eure Einladung an.«
*
Sie kamen; – und wie die Branzilla zwischen ihren neuen Atlaswänden aus zerrissenen Schachteln ihre Kleiderfetzen nahm, war Dario Rupa es, der sie ihr vom Arm hob.
»Wir sind so arm, Exzellenz, daß wir unsere Wohnung nicht länger bezahlen konnten. Hätten wir Euch sonst belästigt?«
»Ich werde Euch durch dies Haus führen, das Eures ist.«
»Habt die Gnade, mich in das Musikzimmer zu führen … Habt die Gnade, mir zu erlauben, daß ich hier bleibe und studiere … Ihr wollt mich schon hinausweisen? Nur mir zuhören? Das wäre Eurer Exzellenz nicht würdig. Ihr müßt Besseres zu tun haben … Nein, ich esse nicht; Eure Exzellenz möge mich entschuldigen. Ein rohes Ei, einen Fenchel, und es ist genug. Keinen Wein. Ich bin Eure Dienerin.«
»Niemand sah Euch, Adelaïde, auf dem Korso, unter den Müßigen ohne Schicksal. Wäret Ihr nicht auch heute in geschlossener Karosse draußen bei den großen Ruinen? Allem Großen wißt Ihr Euch nahe; mühelos verkehrt Ihr mit der Größe und wachst an ihr. In den Denkmälern der Alten öffnet sich Euch die geisterhafte Pforte Eurer Kunst. Ihr selbst werdet groß werden.«
»Ich werde nichts lernen als heulen, wenn ich mit Euch schwatze.«
»Verzeiht mir! Ich gehe und lasse Euch Eurer Arbeit, die Euch so reich macht. Wie ich mich meiner ärmlichen Muße schäme!«
»Auch als er Eure Exzellenz erschuf, wird Gott gewußt haben, wozu.«
Sie dachte: ›Zu meinem Nutzen.‹
›... Da steht sie am Fenster, weiß umflossen. Ich habe im Dunkeln das Knie auf einen Stuhl gesetzt, recke den Hals nach ihrer Welt, atme ein wenig von ihrer Luft. Weiß sie von mir? Sie singt! Fünf Jahre schon höre ich sie singen, so nahe bei mir, und schweige. Schweige ich? Ist nicht ihr Gesang meine Seele, die endlich fliegen lernte und klingen? Ich breite die Arme aus; ich bin frei … Schwärmer! Sie singt: du bist stumm. Nur sie hat die geklärte, gleichmäßige Flamme: deine wälzt sich plump zum Himmel auf und fällt zurück in düsteres Schwelen. Du weißt deine Leidenschaft nicht zu ordnen; du stammelst, machst dich trunken und versagst wieder. Sieh ihre nüchterne Begeisterung, nüchtern wie die Ewigen, Himmlischen! Und vergeh! Nein: leben in ihr! Wenn es sein könnte: sie immer im Schauer des Mondes, ich immer dunkel zu ihren Füßen; und unsere Seelen fliegen auf, meine in ihrer, getragen von ihrer! Sie darf nicht fort, ich kann nicht hier unten allein zurückbleiben! … Adelaïde!‹
»Was hat Eure Exzellenz?«
»Verzeiht meinem verwirrten Sinn! Ich sah Euch mit dem Mondlicht das Fenster hinaufschweben, in den blauen Garten, schon fort, schon fort …«
»Das Fenster ist geschlossen, Exzellenz. Auch kann ich nicht fliegen.«
»Ich bin ein wenig erregt, vielleicht ein wenig in Angst, ich gestehe es, denke ich daran, daß Ihr nur noch einen Monat in diesem Hause weilen werdet.«
»Allzulange habe ich die Güte Eurer Exzellenz mißbraucht. Es wird Zeit, daß ich meine Schuld abtrage, indem ich durch meine Kunst, wenn es sein kann, den Ruhm Eurer Exzellenz erhöhe.«
»Adelaïde! Verstehe mich! Wolle mich verstehen! Ich bin ein eifersüchtiger Narr; ich würde leiden, wenn die andern dich hörten. Ach, nicht das ist's, was hatte ich zu sagen? Ich werde ohne dich ins Elend fallen, Adelaïde; ich werde sterben.«
»Ich bitte Eure Exzellenz, sich zu erheben. Vergißt sie denn den großen Abstand zwischen ihr und ihrer Dienerin? Es ist unmöglich, daß Ihr noch länger Eure Arme um meine Knie preßt!«
»Was tun? Welche Worte finden, die bis an dein Herz dringen? Ich liebe dich, du darfst nur mir singen! Ich will es!«
»Eure Exzellenz ist hart und erschreckt mich.«
»Verzeih! O verzeih! Nimm die Hände von den Augen. Ich könnte es keine Minute länger ertragen, daß du deine Augen gegen mich schützest! … Was hast du vor? Sprich mir mein Urteil!«
»Ich werde nach einem Monat im Teatro Argentino auftreten, Eure Exzellenz hat es versprochen! und werde, wenn Gott mir hilft, Eurer Exzellenz Ehre machen. Wer weiß, vielleicht bald werde ich Eurer Exzellenz das an mich gewendete Geld zurückzahlen können und Eure nicht mehr ganz so unwürdige Dienerin sein. Befehlt Ihr, daß ich die Arie beende?«
Er wankte ins Dunkel zurück.
›Nun singt sie wieder, wie Liebe selbst singt – und sie hätte kein Herz? Dies wäre nur der Schein eines Herzens, seine erdachte Nachahmung? Oder ist, was sie singt, ein Gebet an sie selbst? Die einzige, zu der sie betet? Die sie liebt? … Das also muß man sein, um groß zu sein? Oh, jetzt ist es an mir, meine Augen zu verhüllen …‹
»Welch ein Lärm? Ich kann nicht mehr singen. Mir scheint es gar, man schießt im Garten … Auf der Straße, glaubst du, Tante Barbara? Aber was hat man vor diesem Hause zu schießen? Weiß man nicht, daß ich heute abend auftreten soll? Daß heute abend alles sich entscheidet? Wer darf da lärmen? Ich begreife nicht, daß Seine Exzellenz es duldet. Wo steckt er? Er, der immer an meinen Röcken hängt. Suche ihn!«
»... Was kehrst du allein zurück, läufst und schreist? Und nun schießt man sogar im Hause, daß es hallt? Und Schritte, die durcheinanderrennen, und wilde Stimmen? Sage ihnen, daß ich singen will! … Geh doch! – daß ich singen will! … Aber du versteckst dich wohl? Du bist ganz weiß. Was stammelst du? Ich verstehe nicht, deine Lippen zittern zu sehr … Wie? Sie machen Revolution? Sie verjagen den Heiligen Vater? Aber das ist unmöglich! Sage doch, daß es nicht wahr ist! Du hast Angst, und du liebst den Klatsch, du Alte. Sie schießen: Was wird's sein? Irgendein Mord. Dieser Palast steht in einer Straße voll übel Lebender. Auch begegne ich schon seit Wochen Fremden auf den Treppen. Sie drängen sich an Seine Exzellenz und machen sich Freund mit ihm. Ich habe ihnen mißtraut … Gleichviel: mögen sie hier schießen; drüben beim Theater werden sie's nicht wagen. Dort werden die Soldaten des Heiligen Vaters dafür sorgen, daß ich singen kann … Zwar, heute früh sind mir zwei Pfeile aus den Haaren gefallen und als Kreuz am Boden gelegen … Und du? Du bist einer Buckligen begegnet und hast nicht ausgespien? Weil du den Mund voll von Süßem hattest? Und heute abend soll ich singen! Möge jene Bucklige dir die ganze Hölle schicken! Dir: nicht mir! Ich muß singen!«
»... Wie sie schießen, wie sie schreien! Auf dem Flur, vielleicht schon im ersten Vorzimmer! Und wo ist Seine Exzellenz, die mich schützen sollte? Hat er sich versteckt, wie du, Alte? Haben sie ihn gemordet? Ist er's, der hier gemordet wird? Aber ich brauche ihn noch! Noch bin ich nicht aufgetreten. Er soll zum heiligen Vater, ihn bitten, daß er das Theater bewachen lasse. Ich selbst will ihn begleiten, der Heilige Vater wird mich segnen, und ich werde gut singen … Wo also steckt Seine Exzellenz? Dieser Hund muß hervor, ich will ihn suchen, bis in den Keller. Wie oft hast du denn den Schlüssel umgedreht, Verdammte, die du bist? Und schon schlagen sie gegen die Tür. Ich öffne! Ihr sollt sehen, daß ich öffne. Wo habt ihr Seine Exzellenz? Ah!«
Die Branzilla schrak zurück: sie erblickte Dario Rupa in den Armen zweier Sbirren, bleich und mit geschlossenen Lidern, über die Blut rann.
»Was habt ihr da um Gottes willen getan? Dieser war der unschuldigste Mensch, der nichts weiter konnte als im Winkel hocken und meinem Singen zuhören! Nie hat er daran gedacht, unsern Herrn Papst zu verjagen.«
»Wir werden sehen, mein Liebchen, ob nicht du selbst ein wenig daran gedacht hast!« – und der Hauptmann der Sbirren lächelte sie frech an aus seinen schmutzig gelben Falten, mit seinen schleichenden Augen, deren Klugheit einen entsetzte.
»Nicht umsonst ist dies Haus voll Waffen, voll Menschen …«
Klirren und Kolbenstöße. Junge Leute wurden hereingetrieben. Ihre Kleider waren aufgerissen, in ihre Haare hatten Fäuste gegriffen, ihre feinen Gelenke schnürten Ketten. Sie sahen niemand an. Einer spie dem Polizeisoldaten, der ihn herzerrte, ins Gesicht und bekam einen Säbelstreich über seins.
»Spielt nicht zu eifrig, Kinder«, sagte der Hauptmann. »Bald werdet ihr vom Heiligen Vater zu Bett gebracht werden … Und was Euren Liebsten angeht, meine Schöne, so denke ich mir in meiner Einfalt, daß er Euch so viel hat singen lassen, damit man die Flinten nicht klappern höre. Wie, wenn Ihr aus Begeisterung für die Freiheit so laut gesungen hättet?«
Die Branzilla entwand sich einem Häscher.
»Ihr lügt! Wißt Ihr denn nicht? Heute abend trete ich im Argentino auf. Eure Sachen verstehe ich nicht. Ein paar von jenen da sah ich wohl auf den Treppen schleichen, ich leugne es nicht. Aber mir ist fremd, wozu sie kamen. Exzellenz, erwacht doch! Sagt ihm, daß ich nichts weiß!«
Der Ohnmächtige öffnete die Augen und suchte.
»Ihre Stimme war's … Wie! Ihr schämt euch nicht, Schurken, an ihr euch zu vergreifen, an ihr? Erst jetzt seid ihr Schurken!«
»Eure Exzellenz«, sagte der Hauptmann, »vergißt, daß Ihr Euch schonen müßt. Ihr verschwendetet Eure Kraft und zöget Euch nutzlose Wunden zu, da Ihr Euch der Gewalt der Regierung widersetztet. Ich heiße nicht Rupa und komme von Natur Eurer Exzellenz nicht gleich. Dennoch bin ich nun durch Gottes Fügung und die Macht unseres Herrn Eurer Exzellenz so sehr überlegen, daß ich sie, als einen bei bewaffnetem Aufruhr Ergriffenen, an jeder Straßenecke, die mir beliebt, erschießen lassen kann.«
Der Hauptmann machte zu seinem schamlosen Lächeln eine demütige Handbewegung.
»Aber Eure Exzellenz wird uns gewiß nicht gleich zum Schlimmsten nötigen, sie wird sich in Güte von uns verhören lassen, gleichwie ihre schöne Freundin. Wie manches Interessante mögen wir durch Euer Wohlwollen erfahren, und durch die Gefälligkeit des Fräuleins! Kommt, ich bitte Euch, verweilen wir nicht länger!«
Die Sbirren packten zu. Die Branzilla arbeitete sich ab in ihren Armen. Aus den Gefangenen sprach eine zornige, klare Stimme:
»Wir haben sein Haus gebraucht, ohne daß er es wußte. Er glaubte, wir kämen, die Branzilla singen zu hören. Er war blind und taub vor Liebe, wie der Auerhahn. Er ist unschuldig.«
»Ich bin unschuldig!« rief die Branzilla. »Könnt Ihr nicht mehr reden, Exzellenz? Immer wäret Ihr zu schönen Worten bereit. Ihr habt mir versprochen, daß ich singen soll; keine Stunde ist's bis dahin; und da laßt Ihr Euch und mich in die Hände dieser Schweine fallen! Ihr laßt zu, daß ich nicht singen soll! Ihr seid feige! Habt Ihr keine Diener mehr, diese davonzujagen? Was wollen sie? Sagt ihnen doch, daß ihr Papst und ihre Freiheit mich nicht schiert und daß ich singen muß!«
Die Polizisten lachten; ihr Hauptmann feixte verächtlich. Dario Rupa sah ihn an. Die Hand am Hals, in letzter Not und hastend:
»Ich biete Euch alles, was ich besitze, laßt Ihr sie los. Nehmt mich, tötet mich, ich bitte Euch, und laßt sie frei!«
»Was haltet Ihr mich auf! Alles wartet auf mich. Die Zeit ist erfüllt. Alles wartet: Gott selbst wartet!«
Sie bekreuzte sich. Die Sbirren lachten roher. Sie begriff nicht und starrte wirr in die unheilvollen Gesichter. Der Geruch machte ihr bange: dieser Geruch von Pulver und schweißigem Leder, der ihr der jäh eingedrungene Geruch des Unglücks schien. Sie haßte diese Menschen, die Lachenden und die Wutbleichen, die Gefesselten wie ihre Häscher: alle. Und jenes machtlose, blutende Gesicht, das sich ihr darbrachte, erbitterte sie wild. ›Geh zum Teufel!‹ sagte sie ihm mit den Augen. ›Du bist mir zu nichts mehr nutz!‹ Sie fuhr auf.
»Aber hört, ihr alle! Ich werde euch zeigen, wer ich bin. Ihr werdet es bereuen, euch an mir vergriffen zu haben. Es gibt Mächtige, die mich heute abend zu hören wünschen. Seine Exzellenz hat einem Herrn Kämmerer von mir gesprochen, und Seine Heiligkeit weiß von mir. Der Kardinal Aldobrandini will ins Theater kommen. Hütet euch, einer Eminenz ihr Vergnügen wegzunehmen. Es könnte euch alle verderben!«
Der Hauptmann winkte den Soldaten, nicht zu lachen.
»Es ist wahr« – und seinem Blick hielt ihre Scham nicht stand; »Ihr könnt noch vielen Vergnügen machen. Es wäre schade um Euer zartes Fleisch, käme es auf die Folter …«
Plötzlich befahl er, alle abzuführen. Dario Rupa, den sie stießen, wandte sich nach ihr um; sie sah auf seinen Lippen ein Lebewohl, in seinen Augen einen letzten sehnsüchtigen Zuruf: »Werde groß!«
Und allein stand sie vor dem Hauptmann.
»Gesteh mir ein, daß du sein Werkzeug warst, und ich laß dich singen.«
»Was soll ich gestehen?«
»Er ist dein Liebhaber, und es ist peinlich, gegen einen Liebhaber auszusagen. Bedenke aber, daß er ohnedies verloren ist. Sein Haus hat Verschwörern gedient. Du schadest ihm kaum, und uns machst du dich beliebt. Anstatt daß ihr beide das Verhör erleidet, werde ich ihn sogleich erschießen lassen. Du aber bist frei … Sprichst du?«
Sie hatte es gewollt, nur war ihr der Ton versiegt; und sie haßte sich selbst, weil sie noch nicht hervorgebracht hatte, was sie frei machen sollte.
Der Hauptmann sagte:
»Du bist jung; auch heißt es, du seist eine Künstlerin. Wer weiß, zu welchen Triumphen du bestimmt bist. Der Amati haben sie neulich eine Pforte aus Rosen gebaut. Viele werden dich lieben. Halte dich nicht bei dem einen auf, der verloren ist. Ein Verlorener kann nicht länger dein Liebhaber sein.«
Es war sehr schattig geworden im Saal. Von den verschränkten Armen des Hauptmanns fiel sein Mantel in weiten, dunkeln Flügeln. Sie hatte seine Worte im Kopf, ohne daß seine Stimme darin nachklang. Es war, als sei sie reglos, ohne Laut mit sich allein. Da warf sie sich herum.
»Er ist nicht mein Liebhaber. Er wollte mich singen hören. Liebte er mich? Ich liebe ihn nicht. Was geht er mich an?« Sie sprach hinter sich, als habe sie jemand zu beschwichtigen, der dort im Dunkeln versteckt läge: vielleicht ihre Tante Barbara, vielleicht etwas anderes, Namenloses. »Er hat mich aus dem Elend gezogen, sagst du? Andere hatten mich singen gehört und mich dennoch darin gelassen? – Aber, habe ich ihn darum gebeten? Versprach ich ihm Dank? Ich soll singen; Gott gab ihm den Befehl, es mich lehren zu lassen! … Was sagst du? Niemand lebe so mit meiner Stimme, gehöre ihr so? … Aber ich fürchte mich nicht, allein zu bleiben! … Er will mich groß? Daß er verschwinde, werde mir Unglück bringen? … Es gibt kein Unglück, fühle ich, das mich nicht nährt. Für mich sind Gott und Teufel nur eins.«
Sooft von hinten eine neue Frage kam, schnellte sie herum nach dem Hauptmann, und in seinen Augen, die sie mitten im Schatten deutlich erkannte, war schon die Antwort entschieden. Seine Klugheit gab ihr Grauen und Trost. »Und endlich verlangt er selbst nichts Besseres. Wie könnte ich ihn glücklicher machen, als wenn ich ihn sterben heiße! … Herr Hauptmann, ich will gestehen.«
Sie mußte hinunterschlucken. Aber hinter ihren zugedrückten Lidern entstand das hell wogende Festhaus; auf tausend Zetteln, tausend Zungen war ihr Name; auf der Bühne warteten ihrer die Abenteuer eines ganzen Himmels; schon gingen Geigen- und Harfenklänge ihrer Stimme voraus, als der Königin; und da sie ausblieb, erhob sich irgendein Wirbeln und Tosen: nach ihr lärmte ein Volk … Sie riß die Augen auf.
»Er war mitverschworen. Ich hörte ihn mit den andern von Mord sprechen. Sie machten Kugeln, indes ich sang …«
Sogleich sprangen beide Türflügel auf. Der Wächter im Vorzimmer trat beiseite. Eine Fackel sprengte große Schatten durcheinander … Die Branzilla wagte sich hinaus; ihre Hände preßten ihr Herz. Sie eilte verzweifelt; ihr schien's, ihr Fuß bleibe stecken, der Hauptmann hinter ihr werde zufassen … Da überschritt sie die letzte Schwelle. Die Treppe war wirr von Lichtern und Menschen. Neugierige quollen herauf, zwischen die Soldaten, die Diener. Sie mußte haltmachen. Der Hauptmann hinter ihr sagte:
»Adelaïde Branzilla, Ihr seid genötigt worden, in diesem Hause zu singen, damit man nicht merke, daß Staatsverbrechen darin geschehen. Gebt Ihr zu, im Dienste des Dario Rupa gestanden zu haben? … Sprecht laut!«
»Ja.«
Die Menge sah sich an und wich. Elegante Abbati verbeugten sich vor der Branzilla, sagten ihr, das Theater warte, und geleiteten sie hinab. Vor dem Tor stand, inmitten alles Volkes, ein Wagen. Wie sie den Fuß hineinhob, fuhr sie zusammen. Die Stimme des Hauptmanns hatte sich nochmals geregt.
»Dario Rupa hat sich gegen das Leben und die Regierung seiner Heiligkeit verschworen? Ihr bezeugt es, Adelaïde Branzilla?«
Sie stand inmitten alles Volkes und zitterte. Der Zweifel lähmte sie, wenn sie sich umwende, werde der Hauptmann verschwunden sein; alles werde nicht wahr und sie werde gerettet sein. Sie riß sich empor.
»Ich bezeuge es.«
Sie saß im Wagen, wild ging es von dannen. Die Gasse war schwarz; entsetzt klapperte das Echo von den Mauern; die Branzilla litt Furcht und Reue … Aber Lichter kamen, Wagen, Menschen: und sie richtete sich auf.
»Sollte ich denn sterben seinetwegen: sterben, bevor ich gesungen habe? Nicht sein Verdienst ist's, daß ich erwählt bin: es ist Gottes Sache. Seine Wege sind die eines Fremden; er muß sie sich selbst suchen; und sind sie schlimm, kann ich's nicht ändern. Nicht für ihn habe ich mich kasteit die vielen Jahre. Denn ich lebte fern von den Freuden der Welt, hatte keinen Teil an den flüchtigen Lüsten der Menschen und arbeitete in der Zucht des Herrn für die Ewigkeit. Ich bin seine Nonne: nun will er mich in seine Gnade aufnehmen, ich soll seinen Glanz sehen. Der Himmel wartet, und ein Mensch will mich zurückhalten? Ich hasse ihn, mag er sterben! Jetzt weiß ich's, nicht der Hauptmann war der Teufel, der mich versuchte: der andere war's! Ich bin ihm entronnen, ich habe ihn besiegt; nun kommt die Seligkeit!«
Sie war gekommen. Die Branzilla sang. In ihr spielte die Kraft, die dem Himmel gleichkommt. Sie erreichte ihn, schwelgte in ihm und in der Herrschaft über alle jene, die tief dort unten verstummt waren … Aber sie wagten zu atmen? Nicht für immer waren sie unterworfen? Sie murrten; sie riefen ihr einen Namen zu, einen schon vergessenen Namen, der nach Rache verlangte? Ein Dolch flog auf die Bühne und blieb vor ihr in der Diele stecken? Der Vorhang fiel krachend zu?
... Sie stand, die Stirn gegen eine dunkle Kulisse, und betete. Als sie zurückkehrte, war ihre Stimme der Engel, der, vom Himmel entsandt, mit dem Ungeheuer ringt, mit den Sünden der Welt. Sie hielt es unter sich; es rauchte, spie und würgte. Es zuckte erlahmend, seine grausamen Augen sahen verschwimmend auf sie, die sich von neuem erhob und plante in Herrlichkeit. Von fern erlebte sie, wie schon Anbetung die Herzen weitete, in denen Haß kaum erst schmolz.
»Du siehst recht wohl, daß ich in diesem Kleide nicht auftreten kann. Die Ärmel sind zu lang, und am Rock sitzen die Falten schief. Aber wie sollte es anders sein, da du noch gestern abend dich mit deinem Liebhaber den Leuten zeigtest! Ich sah euch vom Fenster. Ich arbeitete an meiner Rolle, indes du dich vergnügtest.«
»Mein Geliebter bat mich verlassen, Signora. Vor Verzweiflung lag ich krank, die Nacht und den ganzen Tag. Die Signora möge verzeihen, wenn ich nicht aufmerksam war.«
»Ich verzeihe nichts. Würden sie mir verzeihen, wenn ich schlecht sänge? Niemand würde fragen, ob ich krank war. Ich singe nur die Tullia. Die Lukrezia gehört der Amati, die so viel größer ist als ich, so viel schöner, liebenswerter, kunstreicher. Ich bescheide mich und bin ihre Dienerin. Aber auch die Dienerin will ich ganz sein. Ich übe meine Cavatine Tag und Nacht, ich küsse hundertmal den Saum meiner Herrin, die mein Geist vor sich sieht. Meinst du, ich fürchtete jene, die pfeifen möchten? Arme Unwissende! Mich ängstigt nur der göttliche Wille in mir. Darf ich denn ruhen, solange irgendein Mensch meine Rolle besser machen könnte? Sie müssen sich beugen: nicht vor mir, ich bin nichts; doch vor dem Vollkommenen. Sie widerstreben, ich weiß es wohl, dem Vollkommenen. Es ist stolz, es demütigt sie. Sie fühlen sich wohler bei den Hübschen, die es sich und ihnen leicht machen … Ah! Sturbanotte. Nur herein! Ihr könnt davon reden. Ihr seid ein Buckliger, und Ihr singt herrlich gut. Seid Ihr schon einmal an einem Theater zum erstenmal aufgetreten, ohne daß sie Euch ausgelacht hätten? Immer mußtet Ihr Euch zuerst vor die Rampe stellen und ihnen versichern, Ihr seiet nicht gekommen, Euch sehen, sondern Euch hören zu lassen. Nun also: das Vollkommene erscheint ihnen immer bucklig. Es stößt sie ab und muß sie überwältigen … Ich spreche nur zu Euch, Sturbanotte – da Ihr mir die Ehre erweist, in meine Garderobe zu kommen, die von Männern leer ist: nur zu Euch. Ihr allein versteht mich. Ihr denkt doch nicht, ich redete zu jenem albernen Mädchen, das aus unglücklicher Liebe krank wird? Sie hätte ein Kleid machen sollen. Ein vollkommen gemachtes Kleid würde ihr dummes kleines Dasein gerechtfertigt haben. Was tut sie? Sie ißt, trinkt, liebelt, sie zerstreut sich, bis sie ganz verschwindet. So machen es alle. Hat Euch schon einer einen Schuh oder einen Bart gefertigt um anderes, als das bißchen Geld? Habt Ihr schon einen singen gehört, dem's nicht bloß um den Beifall war? Wie wohlfeil alle sich nehmen! Wie ich alle verachte!«
»Ich verstehe: auch die Amati.«
»Das könnt Ihr nicht glauben. Eine so große Künstlerin! Sie ist berühmt, und wie viele lieben sie! Ich bin ihre Dienerin.«
»Ihr spielt ihre Dienerin, es ist wahr. Auch genießt sie noch große Anbetung. Nicht mehr lange, sagen die Ärzte. Der arme Ritter Rosaspina! Wie er sie liebt! Aus seinem Blut würde er ihr ein Elixier pressen! Sie schwindet dahin. Ihre Stimme war gestern so schwach, daß im Theater mehrere weinten. Ein Mittel gegen das böse Feuer, das sie verzehrt! Ein Gegengift!«
»Ein Gegengift? Signor Sturbanotte, Euer Grinsen ist entsetzlich. Nie sah ich so sehr, daß Ihr ein Buckliger seid, ein boshafter Buckliger. In Eurer roten Kappe, mit Eurem langen Schwert! Was für einen schrecklichen Schatten Ihr werft! Verlaßt mich! Was ängstigt Ihr mich! Kein guter Mensch wird glauben, eine so liebenswerte Künstlerin könne vergiftet werden.«
»Ihr mißversteht mich, Signora. Ich sprach von einem bösen Feuer in ihr. Seht doch ihre Augen an! Ihr Blut verzehrt sich selbst. Es ist ein äußerst trauriger Anblick, wie sie daliegt und Schwäche und Angst erleidet und sich nicht begreift. Ihre Garderobe ist wie ein Sarg, worin die Liebhaber sich mit ihr verschlossen haben. Unterirdisch still ist's darin. Das Lachen derer, die zu lachen wagen, klingt ohne Widerhall und als drückten fünf Fuß Erde darauf. Das Schluchzen des Ritters Rosaspina bricht sich an den Füßen der Amati. Wollt Ihr das nicht sehen? Bliebet Ihr fern, man würde glauben, daß Ihr der Amati nicht wohlwollt …«
»Ich komme. Kein Wort mehr! Denkt Ihr denn, ich wäre nicht längst schon bei ihr, hätte nicht die ungeschickte Schneiderin mich aufgehalten?«
»Oh, Signora! Laßt zu, daß ich Eure Füße umfasse! Ritter, Ihr müßt mir diese Minute gönnen: ich bin die Dienerin Eurer Herrin. Wie wohl Ihr ausseht, Signora! Wie es hier lustig ist! Die Herren ersticken wohl ihr Gelächter in den Taschentüchern. Ihr seid wiederhergestellt, nicht wahr, Signora? Ihr werdet es keinen Tag hinausschieben, die Lukrezia zu singen. Eure Tullia bittet Euch.«
»Ihr selbst, Signora Branzilla, werdet vielleicht die Lukrezia singen. Vielleicht werde ich tot sein.«
»Was habt Ihr! Mein Gott! … Sie antwortet nicht. Sie hat sich verfärbt und die Augen geschlossen. Welche Gesichter ringsum! Signora! Kommt zu Euch!«
»Ich weiß nicht, was mir geschieht … Ja, Ihr sollt die Lukrezia singen. Eine Stimme verlangt, daß ich sie Euch auftrage, sie Euch hinterlasse. Ihr seid größer als ich. Wehrt nicht ab! Ich liebe Euch nicht, verzeiht! Aber Ihr seid größer; und Festeres, Stolzeres werden sie Euch errichten, als eine Rosenpforte. Mich sahen sie gern. Mein Gesicht machte sie ein wenig glücklicher. Sie fühlten Wohllaut in meinen Wendungen. Wenn ich lächelte, verziehen sie mir meine Stimme, die so wenig vermochte. Ich hatte nichts gelernt, ich gestehe es Euch. Man ließ mich nie, und mein Herz ließ mich nie. Ihr seht, daß ich noch erröte. Und soll doch bald ganz erblassen. Ritter, näher zu mir! … Ihr aber, Signora Branzilla, seid eine große Künstlerin. Ihr werdet herrschen, wo ich nur Vergnügen machte. Ich lasse Euch die Lukrezia. Hier habt Ihr die Rolle! Morgen sollte ich sie ihnen singen. Singt sie ihnen morgen, damit Eure große Kunst sie rascher mich vergessen macht. Nicht den Ruhm ja liebte ich. Meinen Schatten tröstet das Gedächtnis eines einzigen. Nehmt, Ritter!«
»Wollt Ihr Eure Hand nicht auch mir verstatten? Verzeiht, daß ich sie mit Tränen befeuchte! Ihr macht mir Schmerz und Scham. Ich habe Euch zu sehr bewundert: wie darf ich leiden, daß Ihr Euch vor mir demütigt! Laßt mich Euch bedienen! Wollt Ihr trinken? Ich muß Euch zuerst ins Ohr sagen: schickt von Eurem Lager den Buckligen fort! Er ist voll arger Gedanken und wird Euch Unglück bringen. Legt Eure Lippen an das Glas; das Cordiale ist hineingemischt … Ich durfte nicht zu Euch aufsehen, Ihr wurdet so viel geliebt. Ich selbst fand Euch liebenswert – und ich habe es so schwer, zu gefallen. Mit ein wenig Gesang? Ein wenig klingender Luft? Sagt selbst, was das bedeutet, wenn man eckige Glieder und eine ungefällige Miene hat. Nein, Signora, ich bleibe Tullia, Eure Dienerin. Laßt mich immerhin für morgen die Lukrezia erlernen: darum weiß ich doch, daß ich sie, beschämt und erleichtert, Euch, der Genesenen, zurückgeben werde. Aber was ist Euch? Kommt Euch denn schon wieder Ohnmacht an? Helft doch, ihr Herren! Wie? Ihr Herz –? Signora! O Himmel!«
*
»Wir sind allein, Signora, denn die Tote zählt nicht. Für Euch zählen doch keine Toten? Den Ritter haben seine Freunde hinausgebracht. Jetzt seid Ihr Lukrezia – und was immer Ihr wollt.«
»Ich will ihr Gewand ordnen. Findet Ihr sie nicht noch schöner als im Leben?«
»Ich weiß nicht. Einen Buckligen kümmert das nicht.«
»Sie wird doch einmal aufhören, zu gefallen? Sie muß doch werden wie die andern Leichen?«
»Habt Ihr Furcht, sie möchte Euch noch mit geschlossenen Augen überstrahlen?«
»Ich fürchte niemand, Signor Sturbanotte. Seht, wie ich ihre Augen auf- und zuklappe! Mit diesen Wimpern wird sie keine Liebe herbeiwinken.«
»So furchtlos als geschickt! Wie Ihr zu spielen versteht, noch an einem Sterbebett! Wie trefflich Ihr ein Cordiale mischt! Ihr müßt Übung darin haben.«
»Was tragt Ihr da im Ärmel, Signor Sturbanotte? Ei, seht: ein rundes flaches Fläschchen mit einer wasserhellen Flüssigkeit darin! Wäre das gar das übel berufene Tofanawasser? Das müßt Ihr häufig angewendet haben, Sturbanotte. Seit Monaten hat sie's bekommen: jetzt begreife ich das seltsame Feuer, an dem sie starb, und das nur Ihr erkanntet! Aber welche furchtbare Rachsucht, buckliger Sturbanotte. Weil sie Euer Liebeswerben abwies! Ihr seid ein schrecklicher Mann, ich werde allen gegen Euch zur Vorsicht raten … Ach nein, ich scherzte: Ihr braucht nicht zu erbleichen. Das Wasser, sag ich Euch ins Ohr, trugt nicht Ihr im Ärmel. Ich habe Euch nur zeigen wollen, daß ich noch geschickter bin, als Ihr meintet – und Euch warnen … Und nun wißt, daß ich niemand zu scheuen habe. Denn ich tat recht. Gott selbst trug es mir auf. Er ließ mich träumen und zeigte mir die Amati in der Hölle und in der Pein. Sie hatte keine Nase mehr, und die Teufel zwickten ihr die Brustwarzen ab. Aber hoch darüber, gleich unter Gottes Thron, auf Wolken stand ich selbst und sang! … Das ist Gerechtigkeit, Sturbanotte. Denn sie schändete die Kunst. Sie gab vor, eine Sängerin zu sein, und war eine Dirne. Mit ihrem Dirnengesicht, ihren Dirnengliedern betäubte sie das Volk, daß es nicht merkte, wie die Kunst verdarb. Die Kunst war in mir, und niemand hörte sie. Gott war verlassen, er schrie nach Rache. Ich folgte ihm und tötete sie und lernte, indes ich sie tötete, seit Monaten ihre Rolle. Wäre ich nicht Gott gefolgt, noch immer würde das Volk nur das Fleisch lieben. Jetzt hab ich es erlöst. Jetzt kann ich ganz die Flügel ausbreiten, und zwischen Himmel und Erde hindert nichts mehr meinen schönen Flug. Sie werden sehen, daß ich schöner bin als die Amati. Sie werden mich nicht lieben, weil ich süß bin, mich zerflattern lasse und Mitleid verdiene. Sie werden mich lieben, weil ich stark bin, mit Leidenschaft bei mir bin und ihnen Reue über ihre verlorenen Leben mache! … Was murmelt Ihr, Sturbanotte?«
»Daß ich alt bin und obendrein bucklig. Sonst bliebe ich keine Nacht mehr in Rom.«
»Auch Ihr versteht mich nicht, Sturbanotte.«
»Sind die Leute schon fort?« fragte die Branzilla.
»Laßt uns sehen! Zieht doch den Vorhang auf, ihr Kleinen! Wenn auch nur drei Personen im Saal geblieben sind, werde ich noch etwas singen: ihr sollt staunen. Nie war ich so in Stimmung: in Paris nicht, in London nicht.«
»Zu viel Ehre, Signora! Ihr habt uns sehr glücklich gemacht. Mindestens acht Tage lang werden wir alle zu essen haben.«
»Kein Mensch mehr da? Nun, gleichviel, ich bin zufrieden. Es war ein guter Gedanke, daß ich die Postpferde abbestellte und in eure Schmiere zu Gast kam.«
»Ein sehr guter Gedanke!« – und die armen Komödianten umdrängten sie gebückt. Die alte Königin wischte mit ihrem Purpur den einzigen Stuhl ab.
»Er war ein Baumstumpf«, sagte die Branzilla. »Das grüne Tuch dort hinten will sagen, daß wir in einem Walde sind. Warum nicht? Die Leute haben es uns geglaubt. Welch gierige Gesichter aus den zerbrochenen Bänken zu uns herauf atmeten und funkelten! Ach, ihr Geruch ist noch da: Knoblauch und Rauch, der Geruch der Armen. Lange schmeckte ich ihn nicht mehr … Auch ich war arm. Auch ich saß, ganz jung, auf den Bänken wackliger Vorstadttheater und starrte durch den Tabakrauch auf den Götterglanz hier oben: euren Götterglanz, liebe Freunde! Es war schön … Vielleicht saß auch heute abend solch ein junges Mädchen drunten? Eins, das einmal groß sein wird? Oh, sehr reizend sind, die noch alles vor sich haben. Und sehr schrecklich!«
Die Branzilla sprang auf. In ihrem Samt und ihren Spitzen fuhr sie hin und her vor der elenden Schar. Plötzlich entschloß sie sich.
»Euer Tenor – wie nennt ihr ihn? – ist nicht übel. Ich möchte sagen, daß er etwas taugt. Ich kann sogar zugeben, daß er große Mittel hat. Was wollt ihr noch mehr von mir? Soll ich gestehen, ich erkennte ihn an? Schließlich hat er ein wenig Übung: und wer weiß von ihm, wo gilt er? Gleichviel: ich habe ihn gehört und werde ihn nicht verleugnen. Sagt, wo steckt er? Er ist der einzige von euch, der davonläuft, wenn euch die Branzilla beehrt. Übrigens hat er auch vom Beifall vorhin zu viel für sich genommen … Nun, sagt ihm, daß ich ihm Glück wünsche, und lebt wohl!«
Aber in den Kulissen machte sie kehrt.
»Ja, was tun: Die Nacht ist noch lang. Du bist ein hübsches Kind. Erstaunlich viele Kinder habt ihr hier; aber du bist das hübscheste. Soll ich dir etwas schenken? Willst du den Ring? Es heißt, die Branzilla sei geizig. Nicht immer ist sie's. Verlier ihn nicht! Deine Mutter bekommt hundertundsechzig Taler dafür. Wer ist deine Mutter?«
Mehrere grelle Frauenstimmen antworteten: »Sie liegt schon wieder im Kindbett. Diesmal hat sie es von Ulisse.«
»Wer, Ulisse?«
»Cavazzaro, der Tenor.«
»Ach du –« und die Branzilla stieß das Kind von sich. »Gib den Ring wieder her! Deine Mutter hat es mit jenem Ulisse gehalten. Welche Schamlose!«
Sie wandte sich ab, tief errötet.
»Nichts begreife ich so wenig, wie solche Frauen … Und er! Er ist bei ihr! Rasch, sagt mir, ob er nicht bei ihr ist. Was denn? Bei einem Liebchen in der Stadt soll er sein? Er soll viele Frauen haben, überall, und Kinder zu Haufen? Seid ihr verrückt? Er ist ein Künstler, ja, ihr sollt die Wahrheit wissen: ein großer Künstler. Wie könnte er sich also vergessen? Sich zu euch herablassen, ihr Weiber? Ihr verleumdet ihn! Ich kenne euch. Du lange Blonde, du bist eifersüchtig, du hast ihn vergebens begehrt. Nimm diesen Backenstreich! Und geht! Geht alle zum Teufel!«
In der staubigen Garderobe schrie sie ihre Kammerfrau an, stieß sie hinaus, schleuderte einen silbernen Schminknapf zu Boden und untersuchte, ernüchtert, ob er beschädigt sei. Es klopfte; sie schlich zur Tür.
»Ach, Ihr! Geht nur wieder fort! Ich mag keine Taugenichtse.«
»Ihr habt von mir gesprochen, Signora, Ihr wünschtet mich zu sehen.«
Er nahm, um zu reden, einen Nelkenstengel aus den Zähnen und lächelte, schmeichlerisch und lässig. Die Branzilla senkte die Lider und gab die Schwelle frei.
»Ihr seid ein Künstler, ich leugne es nicht. Aber glaubt mir: ein Leben wie das Eure führt kein der Größe Bestimmter. Haltet Ihr mich für eine große Sängerin?«
»Ihr seid die einzige. Wer Euch hört, vergißt, daß es vor Euch eine Kunst des Gesanges gab. Ich liege zu Euren Füßen, Signora.«
»Laßt die Redensarten!«
Aber ihrer bösen Miene entrang sich ein ungeschicktes Lächeln. Er sah sie an; er schob, und wendete sich dabei halb in den Hüften, die Nelke wieder in den Mund.
»Wann seid Ihr zuerst aufgetreten? Siebenundvierzig? Das ist mein Jahr! Ihr habt mein Jahr und seid der einzige, der mir je –. Ihr erschreckt mich! Bringt Ihr mir Glück oder Unglück? … Aber vergeßt nicht, daß Ihr noch nichts seid, noch gar nichts. Was schaden mir Eure Gaben, solange Ihr an armseligen Orten ein unordentliches Leben führt! Ihr habt wenig gelernt, und Ihr wagt, an Größe zu denken? Wollt Ihr meinen Rat? Geht in ein Kloster! Schließt Euch ein, acht Jahre lang, und lernt singen! Dann werden wir sehen, dann werden wir uns wieder sprechen. Vorher hofft nichts! Geht!«
Er prüfte sie aus den Winkeln und drehte sich zögernd von dannen. Sie atmete stockend. Plötzlich, auffahrend:
»Nein! Nein! Ich darf nicht, darf Euch nicht untergehen lassen. Ihr seid der einzige, der mir je gleichkam. Und wie geschieht es, daß ich Euch auffand: ich, die Branzilla, die nur an der Scala, an San Carlo, am Argentino singt und eines Abends sich herbeiläßt, auf Euer Gerüst zu steigen? Als man mir im Gasthaus sagte, in diesem schwarzen Loch werden Opern gesungen: wie doch kam mir die Lust, allen Glanz meiner Kunst zwischen euch zu tragen, unberechenbar gnädig, wie Gott? War's nicht vielleicht Gott, der durch mich handelte? Seine Hand nach Euch ausstreckte, Cavazzaro? Es wäre besser, er hätte mich Euch nicht kennen lassen. Da ich aber nun weiß, daß Ihr lebt, darf ich Euch nicht verleugnen. Kommt mit mir! Ich will Euch groß machen.«
»Signora! Eure Hand!«
»Berührt mich nicht! … Ach, laßt, ich will Euch trotzdem wohl. Warum nennen wir uns nicht du, wie alle Komödianten? Sage also: kannst du Strenge üben gegen dich und dich frei machen? Von allem, was nicht du selbst bist? Niemand mehr lieben? Keine Frauen; denn sie schaden dir. Hörst du: keine Frauen mehr!«
»Auch du bist eine Frau.«
»Euer Du ist schamlos. Vergeßt nicht, wer ich bin!«
Sie warf sich zurück, sie sah ihm mit Tränen des Zornes in die Augen. Er fragte weich:
»Habt Ihr nie geliebt, Signora Branzilla? Wie könntet Ihr sonst singen?«
»Ich habe alle Leidenschaften, und ich mache Kunst daraus. Nichts bleibt übrig, für euch alle nichts. Wer von euch wäre da« Herz der Branzilla wert? Nur Gott verdient es.«
»Ich, Signorina, denke, indes ich singe, an schöne Frauen: an solche, die ich hatte, und an solche, die ich haben werde. Manchmal denke ich nur an die Kneipe.«
»Es ist wahr, Ihr riecht nach Wein.«
Er sah sie abgestoßen. Seine Augen baten, unschuldig und schmelzend. Zwei zaghafte Schritte: und er ließ sich sanft vor ihr auf ein Knie.
»Ich spreche zu Euch, Signora, wie ein Kind: wie ein Bettelkind, das Ihr in Euren Palast aufnehmen wollt und das Euch noch von seinen Lumpen und seiner schlechten Kost erzählt. Verzeiht! Ihr wißt gleichwohl, daß ich künftig nur Euch zu Ehren singen werde. Wie wäre ich würdig, die Kunst zu üben, wenn ich, Eure Töne noch im Ohr, an andere Frauen zu denken vermöchte!«
»Hört, Cavazzaro! Ich rede im Ernst. Ich werde Euch neben mich stellen, weil ich muß: weil Ihr schon neben mir steht. Ihr sollt groß werden, Ruhm und Reichtum sollen Euch zufallen.«
Er setzte auch das andere Knie auf den Boden.
»Ich werde mit Euch zusammen singen? Ich begehre nichts weiter, Signora. Ich liebe Euch.«
Sie entriß ihm hastig, daß es zerriß, ihr Kleid.
»Belügt mich nicht! Ich bin nicht liebenswert. Die Masse der Schwachen, Schicksallosen liebte mich oft. Was ging mich's an. Ich liebte nur mich. Niemand sonst, nie! … Haltet Ihr mich für schlecht? Seht: ich fand noch nie meinesgleichen. Immer war es mein Los, zu verachten. Zuzeiten, ich gestehe es, trug ich schwer daran. Heute besinne ich mich darauf wie auf das größte Glück: als ich noch verachtete. Wollte Gott, ich könnte auch Euch verachten!«
»Signora, ich liebe Euch.«
»Immer nur: ich liebe Euch. Ihr wißt nichts weiter. Kein Grauen schlägt Euch entgegen aus dem Unheimlichen, das hier geschieht. Ich bin allein. Ich möchte nicht länger allein sein!«
Ihre Schultern zuckten, ihr Atem schwoll an. Ihr Körper zitterte ganz, und ihre Blicke jagten umher, als ränge sie gegen hundert Fangarme, nach allen Seiten. Er sah hell und sicher darein, wie sie, böse und von Angst gebändigt, sich abarbeitete. Auf einmal breitete er, staunend ergriffen, die Arme aus. Denn ein Glanz aus Tiefen besiegte in ihrem Gesicht alle Härte, alle Qual, und verwandelte sie. Die Branzilla ward schön. Den ganzen Himmel in ihrer Stimme, sagte sie:
»Ich liebe dich.«
»Du hast getrunken. Laß doch endlich das Trinken! Es ist deiner nicht würdig, und es wird dich zerstören.«
»Höre auf, mich zu quälen! Ich trinke, weil es mir schmeckt.«
»Weil es dir schmeckt. Und wenn es nun deiner Kunst nicht schmeckt? Wer ist wichtiger: deine Kunst oder du?«
»Ich … Und dann, meine Kunst tut, was ich will. Ich trinke, und sie läßt mich singen. Du hast eine andere Art, um gut zu singen. Du kasteist dich, du fliehst die Menschen, du bist schlechter Laune. Jeder treibt es, wie er vermag.«
»Nur eine Art gibt es, der Kunst zu dienen. Wählst du eine falsche, wird sie dich strafen. Ich werde dich noch gestraft sehen. Wehe dir!«
»Du sprichst, als wünschtest du es. Du bist eifersüchtig, weil ich genieße.«
»Eifersüchtig auf Genüsse, die ich verachte?«
»Dir tut das Trinken nicht gut, mich aber begeistert es.«
»Begeisterung aus einem Faß! Sich selbst einen Feind in den Leib gießen!«
»Zum Glück fühle ich mich gesund, meine Stimme ist größer geworden, ich bin sehr beliebt.«
»Auch ich; und seit kurzem sind wir es beide noch mehr als sonst. Du, der du eine Geliebte in der großen Welt hattest, bist es so sehr wie ich, die in die Loge deiner Geliebten hinaufschoß. Wie wagst du davon zu sprechen, im Augenblick, da wir von der Kunst reden?«
»Verzeih – und entschuldige mich; ich gehe zu Freunden. Morgen abend bin ich Theseus – und du Ariadne. Lege dich also ins Dunkel und bete! Ich gehe zu Freunden.«
»Nicht zu Freunden: zu Weibern! Ich will dir deine Schande ins Gesicht schreien. Morgen abend sollst du an Götter streifen, und heute nacht willst du bei Dirnen liegen. Du bist der Gatte der Branzilla und hast nicht Stolz genug. ihr treu zu sein. Wie du mich herabgezerrt hast! In welchen Schmutz du mich gestürzt hast! Du bist verächtlich wie die andern und kein Künstler. Blind war ich, als ich mich mit dir belud!«
»Ich verdanke dir viel, das ist wahr, und bin deiner wohl nicht würdig. Aber ein Künstler bin ich, und du weißt es. Vielleicht hab ich dich sogar überholt. Deine Clelia gestern war ein wenig matt. Und doch kam ich betrunken auf die Bühne, und du hattest gefastet. Rege dich nicht auf! Es würde dich ermatten. Ich wünsche von Herzen, daß du morgen eine sehr gute Ariadne seist. Ich bin nicht eifersüchtig, ich nicht.«
»Du bist morgen ein kraftloser Theseus. Seine Kraft wird in Schenken und bei Weibern geblieben sein.«
»Ich bin, noch wenn ich auf der Bühne stehe und singe, immer mitten im Leben: heraus aus den Brettern, in denen du dich einsargst.«
»Einen Sarg nennst du die Bühne! Dies Heiligtum, worin wir uns selbst haben!«
»Mir ist es zu heilig. Deine Kunst scheint mir so heilig wie der Tod. Ich singe den Leuten; mir ist, als sänge ich auf der Straße; meine Stimme sei eine unter vielen und verwehe in sonniger Luft.«
»Du singst auf der Straße!«
»Ich singe, wo man will. Ich darf freigebig sein: was kostet's mich! Da, in meiner Kehle, nimmt das Kapital nie ab. Heute auf dem Pincio winkte mich der Fürst Torlonia an seinen Wagen und wünschte drei Takte aus ›Ihr Sterne, ihr Tränen‹ zu hören. Drei Takte: dann wisse er selbst weiter. Ich sang, ihm gefällig zu sein, das Ganze vor allen Spaziergängern: – und hier ist der Beutel, den er mir dafür gab. Willst du ein freundliches Gesicht machen? Du bekommst die Hälfte.«
»Gib her! Die Dukaten werden nicht vom Torlonia sein, sondern von einer Frau. Gib immerhin her! Ich will sie aufheben, für die Zeit, da du dich zugrunde gerichtet hast, und ich dich erhalten muß.«
*
Sie hatte hinter ihm die Tür verriegelt, gierig das Geld gezählt und es in die Truhe gesenkt. Sie lag im Zimmer, worin kein Licht mehr brannte, und zog sich angestrengt ganz auf ihr Innerstes zusammen. ›Morgen bin ich Ariadne, welche Wichtigkeit hat alles andere? Morgen werde ich leben. Es wäre falsch, zu sagen, daß ich gut singen werde. Ich werde einfach aus diesem Tode aufwachen in meinem eigenen Himmel. Jetzt ist Dunkel und Tod: plötzlich entbrennen alle Lichter. Ich werde leben! … Nun bin ich ruhig und gefeit. Nun will ich arbeiten. Ich will in meinem Geist das Gebäude von Tönen errichten; will lautlos singen …‹
Aber sie fühlte alles mißlingen und eine geheime Zerstreuung ihrer Kraft.
›Es ist nichts; es ist nur der Körper. Er ist krank, er sträubt sich. Ich habe ihn noch immer besiegt. Ruhe! Ich bin eine Schülerin und habe singen zu lernen. Denn der Geist erwächst aus der Technik.‹
Sie stand auf und machte sich an Übungen.
›Alle Kraft muß in der Lippe sein, der Hals ganz weich, wie tot …‹
In der verstreichenden Nacht versteifte sie sich und hielt kaum noch stand. Dieser Druck um die Mitte des Rumpfes begann, der sie niederzog; diese Angst des Herzens. Sie lag, das erschlaffte Gesicht in den Händen, über dem Flügel und betete. Draußen entstand ein Poltern; etwas Weiches fiel gegen die Tür. Sie öffnete und empfing den taumelnden Körper des Trunkenen schwer gegen ihre Brust. Heftig warf sie ihn hin. Nun stand sie über ihm, atmete kurz und schüttelte die Hände.
»Mich ekelt's, ihn anzufassen, und ich habe mit ihm geschlafen; und habe ein Kind von ihm! Rom weiß es. Jetzt kommt er von anderen Weibern; Rom weiß auch das. Unser beider Unehre ist der Welt geläufig, wie unser gemeinsames Vergnügen. Und ich bin die Branzilla! Wie ich ihnen fern war, einst! Wie ich bei mir selbst war, allein und rein! Das soll nie wieder kommen? Allein und rein sein! … Du möchtest trinken, Lieber? Da, ich mische dir etwas: es wird dich für immer zufriedenstellen. Nimm! … Nein! Gib her! Ich kann nicht. Gott will nicht, daß ich's tue. Ich verstehe Gott nicht.«
Das Glas, das sie hinsetzte, funkelte böse im Mondlicht. Sie raffte einen Vorhang über ihr Gesicht. Grabdunkel war's und still. Nur der sorglose Atem des Schläfers. ›Ihm ist wohl. Ihm war wohl, als er trank, als er Frauen umarmte; ihm wird wohl sein, wenn er morgen den Theseus singt – den er nicht gelernt hat. Mich sprengt das Klopfen dieses Herzens, das der Kampf um Ariadne toll und ohnmächtig gemacht hat. Ich habe Martern gehabt, indes er Vergnügen hatte. Und er soll mich auch noch einholen, mir vorauskommen? Ich war matt als Clelia. Ich werde eine kranke Ariadne sein. Wer anders als er macht mich krank! Lauter Unwürdiges legt er mir auf, hundert weltliche Gedanken, die mich dem Heiligen entfremden und mich verbrauchen. Meine Ermüdungen nähren ihn. Er fühlt sich schwellen, je blasser ich neben ihm werde. Nach meinem Untergang wird er ins Unermeßliche wachsen. Das ist nicht zu ertragen! Er, den ich zu mir heraufzog! In dessen Hände ich meine Einsamkeit abdankte! Dem ich meine erarbeiteten Schätze verriet! Er, mein Geschöpf! Nie ward einem menschlichen Wesen so Schlimmes erdacht. Nicht von dir, mein Gott: von deinem Widersacher! Du wolltest mich groß; du befiehlst mir, zu verderben, was mich anficht!‹
Sie legte das Glas an den Spalt in den Lippen des Schläfers.
›... Er ist ein Künstler. Ich töte einen Künstler. Nicht ein Geschöpf, das dem Vollkommenen feind ist, wie jene Amati; keins, das Gott aufhält: nein, den Freund des Vollkommenen, den Gott höher vielleicht weihte als mich. Ich diene, töte ich ihn, nicht mehr Gott: nur einem Götzen, nur mir. Dann verwirft er mich, dann ist's aus mit mir, und nie mehr ersing ich mir den Himmel.‹
Es dämmerte; schaudernd schob sie das erblindende Glas fort.
»Also nichts. Ich vermag gegen ihn nichts. Ich muß ansehen, daß er das Leben hat und die Kunst obendrein – der ich mich opfere; daß er spielt, wo ich mich zerquäle, und dennoch groß wird. Wie ich ihn hasse! Wie ich ihn zerstören, ihn in mich hineinraffen möchte, daß ich all seins zu meinem hinzu hätte! Das wäre Reichtum: mein innerer Herd und das, was diesem die Welt gibt. Nun aber muß er vom Leben, dem ich nicht gewachsen bin, immer reicher werden, und ich muß in mir selbst verkohlen und langsam erkalten. Gott, ich beuge mich. Du, ich bitte dir ab. Ich bin nicht groß genug, dich zu verachten: ich beneide dich nur. Ich sehne mich aus meiner Heiligkeit nach deinem gemeinen Wandel, nach deiner Gutherzigkeit und Niedrigkeit, nach deinem Schmutz, nach deinem gewöhnlichen Schmutz. Ich liebe dich! Immer liebte ich dich aus Sehnsucht nach Erniedrigung, guter, warmer Erniedrigung!«
Sie ließ, die Arme in die Luft gebreitet, ihr Gesicht auf seines sinken, vermischte ihre Lippen mit seinem Fleisch, und in seinen Mund, der das Gift hatte empfangen sollen, flossen ihre Tränen.
»Ich liebe dich! Ich will dir dienen, ich danke ab, ich bin nicht mehr die Branzilla! Hörst du mich? Küsse mich! Ein Kuß von dir ist mehr als alle Herrschaft, alle Himmel!«
Da gingen seine Lider auf; sie riß sich zurück. Sie wich, und bekreuzte sich, bis an die Wand, erwartete atemlos, daß er wieder schlafe – und brach in die Knie und schlug die Stirn gegen den Fußboden.
»Nun verstehe ich dich, Herr. Du hast mich versucht und schwach gefunden. Ich war dir zu hoch gestiegen, da schicktest du mir diesen. Ich muß ihn lieben, er verdirbt mich und ist unantastbar. Dein Wille geschehe.«
Aber sie schnellte auf aus dem Staube.
»Gib mir ein Zeichen, daß die Prüfung nicht immer dauern soll! Daß ich des Feindes Herr werden soll! Wo nicht, laß mich sterben! Auch du, Herr –«
Sie ging auf den Knien bis unter den Kruzifixus.
»– auch du ersehntest das Ende deiner Marter. Und von deinen Wunden hast du keine mehr vor mir voraus. Sage, daß du ihn zu deiner Zeit schlagen wirst und verderben und mich erhöhen! Gib mir das Zeichen!«
Fahler Morgen traf sie in die Augen; sie schloß sie. Ihre Stirn war kalt vom Schweiß. Ihr Mund krümmte sich zuckend nach unten. Ihre erhobenen Hände waren ineinandergekrampft und zitterten. Plötzlich ein Schrei: gellend, entsetzensvoll.
»Du hast mich geküßt! Mit meiner Stirn habe ich deine Leichenlippen gefühlt!«
Und sie sank zusammen und weinte.
»Neigt Euer Ohr, Vater! Ja, ich komme spät; dahinten im dämmerigen Schiff kniet höchstens noch ein Bettler; aber wir können nicht leise genug flüstern. Wißt Ihr, von welcher Sünde Ihr mich freisprechen sollt? Von derselben, die Sankt Petrus an unserm Herrn beging. An seinem Vertreter auf Erden begehe nun ich sie; ja, ich will unsern Herrn Papst verraten! Ich will vor seinem Henker, dem König, die Aïda singen … Ich dürfe es nicht, sagt Ihr? Um meiner selbst willen nicht; denn alle Ehre in Rom komme mir von Seiner Heiligkeit, die mich so oft in ihrem Vorzimmer singen läßt, die mir Gnadengeschenke und Orden gibt, ja, die mit ihrer heiligen Person mein Haus beglückt? Das ist noch nicht alles, Vater; Ihr wißt nicht alles. Ehre habe ich auch draußen, wo nicht Seine Heiligkeit befiehlt. Ich bin die Branzilla, auch draußen. Aber ich habe einen Schwur auf mir, einen Glauben, eine Pflicht. Hört mich! Dies ist eine Sache um Leben und Tod.
Ihr seid nicht jünger als ich. Ihr werdet wissen, daß an dem Tage, als die Branzilla zum erstenmal vor Rom hintrat, Rom in Revolution war. Die Liberalen wollten mich hindern, zu singen. Ich glaube, daß Gott die Revolution nur darum zugelassen hat, daß mein Weg dorniger, meine Ankunft glänzender und ihm gefälliger sei. Sie hatten verbreitet, daß ich im Hause des Fürsten Rupa meine Stimme erhebe, um ihre Verschwörung zu übertönen. Ich war in höchster Gefahr, in den Kerker geworfen zu werden, an eben dem Abend, da ich zuerst mich hören lassen sollte! Aber ich entging ihren Netzen und ließ sie statt meiner den Rupa fangen. Wie sie dann im Theater gewütet haben! Wie ich kämpfen mußte, sie zu erobern, ihnen ihre Kraft zu nehmen, diesen tausend Geliebten! Denn ja, ich liebte sie, wie Dalila den Simson! … Damals, Vater, während jenes Ringens, habe ich mich für immer der Partei des Papstes versprochen. Ihr seid wenige, und ihr liebt die Menschen nicht. Aber auch ich liebe sie nicht und will nicht ihre Gemeinschaft. Ich war euer, ich war des Papstes. Ich hatte das Glück, ihm nützen zu können. An den Höfen da und dort konnte ich einige Worte sprechen, die sein Geschäft besorgten; konnte mehrere schwärmerische Seelen zu seinem Vorteil stimmen. Und jedesmal nachher sang ich besser. Immer, wenn Seine Heiligkeit oben war, fühlte auch ich mich oben. Ich zitterte, sang ich in London, um den Kirchenstaat, und daß die Italiener, noch ehe mein Gastspiel zu Ende sei, in Rom einbrächen … Nun sind sie eingebrochen. Ihr versteht mich kaum, so widerlich gellen draußen die Hörner ihrer Bersaglieri … Sie sind vorbeigelaufen mit ihren Fahnen, mit dem dummen Jubel des Volkes. Was nun, Vater? Ich hatte alles auf die Sache des Papstes gesetzt, und er ist geschlagen. Ich werde also vor seinem Sieger singen. Sprecht mich frei!
Ihr wollt nicht? Ihr sagt, mein Verrat sei Todsünde? Unser Herr Papst habe die Seinen nie nötiger gehabt, als jetzt? Laßt! Ich weiß, wieviel ich wage, und wie leicht mich dies in die Hölle führen kann. Ihr wäret nicht dabei, als ich kämpfte! Es ist furchtbar, daß diese Brut unsern Herrn überwältigen mußte. Aber ich habe – neigt Euer Ohr! – den Verdacht, daß Gott hiermit eine große Versuchung für mich plant … Hört, eine andere Versuchung, nicht weniger schrecklich, hat er soeben beendet. Ihr wißt, daß mein Mann, der Cavazzaro, die Stimme verloren hat. Endlich ist er bestraft dafür, daß er sich selbst und die Kunst verließ und unheilig lebte. Wildes Glück packte mich, als es offenbar ward. Aber ich bezwang es. Denn sorgsam mußte zuvor erprobt werden, ob Gott mir wirklich den Sieg bestimmte. Und ich schickte Ulisse nach Paris, daß sie ihm eine künstliche Stimme machten, wie sie's dort können. Nun ist er zurückgekehrt und krächzt. Gott hat's gewollt. Der, an den ich meine Kunst hätte abdanken wollen; der, den ich gern vergiftet hätte; der, den ich lieben mußte; nun liegt er darnieder. Ich aber singe, wie mit zwanzig Jahren. Alle Versuchungen, zu denen er mir geschickt war, sind gebrochen; ich habe sie überstanden. Jetzt muß ich singen, vor wem immer, muß singen und triumphieren. Wozu hätte ich gelebt, wenn ich jetzt nicht sänge? Soll ich's bezahlen, wie Ihr sagt, Vater; gut denn, ich bezahle. Mit dem ewigen Feuer, sagt Ihr? Es sei, mit dem ewigen Feuer. Immerhin: ich flüsterte Euch von meinem Verdacht, daß auch dies nur eine große Versuchung sei, die allergefährlichste, und daß Gott wissen wolle, ob ich so heilig sei, daß ich auch noch der Hölle und all ihren Ängsten trotze, wenn es zu singen gilt. Wer weiß, vielleicht werde ich vor Gottes und unseres Herrn Papstes Feind singen und dafür maßlos erhöht werden …
Ihr glaubt es nicht? Ich lästere, sagt Ihr? Ich sei verworfen? Ihr könnt mich nicht frei machen? So bitte ich Euch nur noch: betet für mich, denn ich werde singen. Ich werde vor dem Feinde Gottes, vor dem Schänder seiner Stadt singen und dabei wissen, daß ich auf meinen Tönen nicht mehr zum Himmel, sondern in die Hölle steige. Aber die Kunst, die Gott selbst ist, will es. Er will, daß ich die Verdammnis verdiene, und ich gehorche ihm. Ihr hört, wie mir die Zähne aufeinanderschlagen. Ich bin in kalter Hitze. Die Gedanken verwirren sich mir. Gelbe Flammen schießen vor mir auf. Die Hölle! Die Hölle! Rettet mich! Ihr rettet mich nicht? Dann muß ich in den Flammen stehn und singen!«
»Wer sagt, daß wir alt sind! Du, ja, du bist's! Da keine Frau dich mehr gebrauchen kann und du zum Wein kein Geld mehr hast! Ich bin noch immer die Branzilla; und sing ich nicht mehr alle Abende, so singe ich immer noch jeden Monat einmal oder doch einmal die Saison. Niemand geht es an, wie ich inzwischen lebe. Du brauchst es mir nicht zu sagen; oft verwirrt sich mein Kopf. Mag sein, daß ich die Menschen oft gequält habe: meine Tochter und auch dich; daß ich mich mit Wirtinnen herumzanke, nicht bezahlen mag, und daß es Städte gibt, in denen kein Haus mehr mich aufnimmt. Wo bleiben all diese Miseren, wenn ich singe, noch einmal singe. Ich habe vier Wochen lang im Dunkeln gelegen, habe gefastet, mich gereinigt und meine Kraft von Gott zurückerbeten. Nun aber trete ich hervor. Für eine Nacht, für drei Stunden: gleichviel, da stehe ich noch einmal im Glanz und höre das Volk zu meinen Füßen atmen. Ich singe; mein Herz hat wieder die Gewalt eines zwanzigjährigen Herzens; meine Glieder spannen sich; meine Lippen sind fest und jung. Fragt nicht, mit welchen Qualen ich meine Auferstehung bezahle. Klatscht! Schreit! Seht hier den Schatten größerer Zeiten durch eine eurer Nächte streichen! Ihr fühltet nie diese Leidenschaft. Keiner von euch erfuhr, wie das Leben heilig ist. Faßt, bevor euer Scheindasein schwindet, einmal doch Bewunderung für die, der von Gott die volle Wirklichkeit ward! Ja, eine Siebzigjährige, und noch immer die Branzilla!«
»Ich muß wohl gehen? Meine blinden Augen sehen dich nicht; aber deine Stimme klang sehr erregt. Du wirst nun für den Rest des Tages krank sein und nicht wollen, daß wir essen? … Du antwortest mir nicht. Ich gestehe dir, daß ich Hunger habe.«
»So geh und mäste dich!«
»Ich habe kein Geld, um zu essen.«
»Ach, kein Geld. Und die zehn Soldi, die ich dir am Dienstag gab? Wir haben erst Freitag.«
»Ein wenig Tabak, einen kleinen Kuchen für die Kinder, die so gut zu mir sind und mich armen Blinden über die Straße führen.«
»Jaja, alle sind gut zu dir. Du bist so sympathisch: ein milder Greis mit einem bleichen, edeln Antlitz in ehrwürdiger Locken Zier, der das Augenlicht verlor. Dich bemitleiden sie und nahen dir gern, trösten und helfen gern. Mir sehen sie mißtrauisch und feindlich entgegen. Sie verstehen nicht, warum diese alte Frau so grade vorbeigeht und niemand anspricht. Mein Gesicht finden sie böse. Um mein Leiden sorgen sie sich nicht. Seine Herkunft ist freilich seltener und dunkler als die Herkunft des deinen. Du hast leicht gelebt und wirst leicht sterben.«
»Auch ich habe wohl manches ertragen müssen. Meinst du, es sei eine Kleinigkeit gewesen, als ich die Stimme verlor? Vorher saß ich bei den Großen zu Tisch. Ohne dich kränken zu wollen, darf ich sagen, daß vornehme Damen mir ihre Gunst anboten. Wie schön war's, wenn ich in einem Garten stand und den Frauen sang, die um mich her auf dem Rasen saßen. Wieviel Sonne auf ihnen! Weh mir! Die Sonne ging mir unter, noch vor dem Tode. Keine Stimme, keine Augen, mir ist nichts übrig.«
»Nichts. Denn du kannst dir nicht denken, wie jemand ohne Stimme, in ewigem Dunkel einen Palast aus Tönen bewohnt. So Großes ahnte dir in deinem Glanze nie; wie sollte es dir als verbrauchtem Lustigmacher noch einfallen! Alle Tage ward bei dir ein Heiliger gefeiert. Nun ist das Deine verputzt; Narr, der du einst vom unerschöpflichen Kapital in deiner Kehle prahltest! Nun bekommst du bei mir ein wenig geringeres Essen als ehedem von den Reichen. Und darum wagst du es, mir von deinem Leiden zu flennen? Mir, deren ganzes Leben einsame Marter war? Ach, laß dich von den Leuten liebhaben, jetzt wie früher. Behalte jeden deiner Freunde und die Erinnerung all deiner Genüsse – aber mache mich nicht rasend dadurch, daß du vom Leiden sprichst! Dein Mund ist des Wortes nicht würdig. Er ist zu edel und wohllautend, dein Mund. Ach, ach, du! Du hattest am Ende nur Wert, weil du zu meiner Qual beitragen solltest: zu meinem Schicksal.«
»Was habe ich dir getan?«
»Jaja! Nichts. Du tatest nichts; du warst da. An dir erlebte ich, daß meine ganze qualvolle Größe vergeblich ward. Du hattest ja das Abbild davon. Nichts brauchtest du zu erarbeiten, nichts zu erleiden, und hattest doch noch das genaue Abbild. Kein Zweifel, du warst ein Künstler. Es war schrecklich. Zum Glück sind wir darüber hinaus. Es war so schrecklich, weil ich selbst dich habe ans Licht ziehen müssen, dich abrichten und herausstaffieren. Was hattest du je, Elender, das dir nicht von mir kam? Zeige mir ein Lorbeerblatt oder einen Dukaten, die nicht eigentlich mir gebührten!«
»Ich war doch ein Künstler! Du beleidigst mich alten Mann, du machst mich krank. Ich war doch ein Künstler! Millionen sind durch diese Hände geflossen. Ich möchte schwören, daß ich mehr verdient habe als du.«
»Aber du ziehst mir mein Geld aus der Tasche!«
»Seit drei Tagen gabst du mir zehn Soldi.«
»Ich mäste dich; und anstatt zu sterben und mich von dir zu befreien, ehe mein Geld zu Ende ist, machst du mir Auftritte!«
»Ich bitte dich, ich bitte dich …«
»Ach, er weint. Tränen entquellen seinen blinden Augen. Wenn das die Leute sähen, wie sympathisch du ihnen wärest! Aber du hast wohl vergessen, daß du mich, als ich die Celimena sang im Pagliano zu Florenz, um den ganzen Erfolg betrogen hast? Nicht immer warst du so voll Güte und Sanftmut wie heute. Ich singe die Celimena, ich erschöpfe meine Kunst, diese faulen Bäuche zu bewegen, und auf einmal hör ich sie lachen. Ja, sie lachen, weil hinter mir du stehst und deine Fratzen machst. Sie sehen deinem stummen Spiel zu, und ich singe vergebens.«
»Ich mußte spielen. Der Pandolfo, du weißt es wohl, trägt den Spiegel herbei. Er fängt den Nacken der Celimena darin auf und küßt ihn. Er hat sich mit anmutiger und etwas possierlicher Traurigkeit zu benehmen.«
»Auch wenn die Branzilla singt? Du bist neidisch und tückisch. Am Abend der Celimena hat man mich vor dir gewarnt. Ich würde dir sagen, wer, wenn ich nicht für ihn, der mir wohlwill, deine Rache fürchtete. Du selbst warst als Pandolfo durch Trunk unfähig, zu singen.«
»Das ist nicht wahr! Du befleckst meine Vergangenheit. Ich war ein Pandolfo, von dem der Dichter Rasi sagte, er habe das göttliche Lächeln. Hörst du, das göttliche Lächeln!«
»Das göttliche Lächeln! Da hebst du die Arme und bist außer dir. Alle Milde des blinden Greises ist dahin, nun man an seine Eitelkeit rührt.«
»Ich habe nichts als zehn Jahre der Erinnerungen: in siebzig Jahren weiter nichts. Ich lebte so rasch. Greifst du meine Erinnerungen an, dann bin ich verloren, dann weiß ich nicht, was geschieht!«
»Ich will nicht, daß du Erinnerungen habest! Wollten doch endlich auch deines Geistes Augen erlöschen! Du warst ein Intrigant, der mir den Weg verstellte. Warst du überhaupt ein Künstler? Ich zweifle, ob ich mich nicht narren ließ.«
»Du bist grauenhaft! Der Teufel erfindet nichts Schwärzeres! Wer rettet mich vor dir!«
Die Branzilla sah, knochig aufgereckt, aus Geieraugen ihrem blinden Gatten nach. Er stieß an die Möbel; seine Hände schwankten klagend über seinem Kopfe; da flog die Tür auf.
»Was schreit ihr schon wieder? Keiner der Tage, die ich hier bin, ist ohne Geschrei vergangen. Die Nachbarn treten auf die Treppen hinaus, so laut schreit ihr. Mama, hast du ihn wieder gequält?«
Die Branzilla sagte mit flötender Stimme:
»Beunruhige dich nicht, Töchterchen! Wir unterhielten uns von der Celimena. Dein Vater hat an dem Abend nicht gehandelt, wie er es mir schuldete.«
»Ich hatte das göttliche Lächeln, sagte der Dichter Rasi!«
»Er hat mir die Rolle verdorben; ich sagte ihm nichts als die Wahrheit.«
»Sie übertrifft den Teufel! Daß du es weißt, Kind, wenn ich nicht mehr leben werde; der Teufel kommt ihr nicht gleich.«
»Werdet ihr mir erklären, um was ihr euch streitet?«
»Um Celimena, Töchterchen, die berühmte Oper des Maestro Tiberini.«
»Ich hörte nie von ihr.«
»Ich war der erste Pandolfo ganz Italiens!«
»Wann war die Aufführung, von der ihr sprecht?«
»Laß mich denken, … neunundfünfzig.«
»Das sind vierzig Jahre! Ihr streitet euch in eurem Alter; du bringst Papa von Sinnen; ihr schreit, daß draußen ein Auflauf entsteht: und alles um Dinge, die vor vierzig Jahren waren! Von denen keiner außer euch mehr weiß! Die Hände, die euch damals Beifall klatschten, sind bald alle vermodert; wollt ihr nun nicht Ruhe geben? Wahrhaftig: etwas Liebenswertes ist's um die Kunst!«
Die Tochter nahm den Alten beim Arm.
»Draußen stehen deine alten Freunde, Papa. Sie getrauen sich nicht herein, aus Furcht vor Mama. Geh mit ihnen ins Wirtshaus; da ist Geld – und bleibe nur dort, bis ich dich zurückhole. Wenn ich dich zurückhole, armer Alter, wird der Wein dich lustig gemacht haben.«
»Ich fürchte, Tochter, daß kein Wein mehr mich lustig macht.«
Die Tochter kehrte zurück, die Hände auf den Hüften. Die Branzilla erwartete sie scheu.
»Schön hast du ihn zugerichtet! Hexe! Von deiner Bosheit wird man länger reden als von deiner Kunst. Jetzt duckst du dich, denn ich bin breit und rot. Den schwachen Alten aber wirst du noch zu Tode quälen. Oh! Menschlichkeit hast du nie gekannt. Was tatest du mit mir, als ich jung war; wie verdarbst du elend mein Leben! Ich liebte, und ich ward geliebt. Heute könnte ich glücklich sein. Ich könnte Kinder haben. Nun aber lebe ich allein, in Gasthauszimmern, unter Fremden. Das ist dein Werk. Ich sollte nicht heiraten, du wolltest mich nicht wie die anderen Mädchen. Als ein Monstrum wolltest du mich, als ein singendes Monstrum. Ich hasse die Kunst, die du mich lehrtest!«
»Undankbares Töchterchen! Und sie ist die berühmteste Konzertsängerin Europas!«
»Mit vierzig Jahren bin ich's endlich geworden; und ich finde nicht, daß mir mit fünftausend Francs für den Abend meine Entbehrungen bezahlt sind.«
»Mein Kind, ich sterbe zufrieden, da ich dich groß hinterlasse. Mein Name wird, mit deinem verschmolzen, länger dauern.«
»Das ist's nicht. Eifersüchtig warst du, das ist's.«
»Ich habe große Laster«, sagte die Branzilla und senkte schief den Kopf. »Ich werde wohl auch dieses haben. Aber glaubst du, Tochter, daß ich böse bin, weil es mir gut geht? Es geht mir nicht gut; es ist mir niemals gut gegangen; und auch mir sind meine Entbehrungen nicht bezahlt worden. Ich denke jetzt manchmal des Fürsten Dario Rupa, eines jungen Mannes, der, als ich selbst ganz jung war, für mich starb. Richtiger wär's vielleicht, zu sagen, daß ich ihn tötete. Soll ich dir etwas Schreckliches gestehen? Ich wünsche mir jetzt oft, ich hätte ihm damals nicht dem Hauptmann verraten, ich wäre mit ihm in den Kerker gegangen … Glaubst du, daß ich ihm noch gefallen könnte? Ich habe noch meine Stimme. Nächsten Monat werde ich im Palazzo Doria die Gioconda singen. Wird nicht der Russe dort sein, der dich am Dienstag besuchte? Er gefiel mir; und er behandelte mich, als ob ich ihm gefiele. Wir wollen ausgehen, Töchterchen; ich möchte seidene Strümpfe kaufen.«
Da die Tochter ihr den Rücken gewandt hatte:
»Willst du nicht ›Meine süße Liebe‹ üben, für dein Konzert? Niemand versteht es zu singen wie du.«
»Gut! Gut!« rief sie dazwischen; und nach der letzten Note:
»Wir mögen böse sein, darben und uns quälen, so haben wir doch die Kunst. Ich habe dafür gesorgt, daß du sie erwarbest, und ich tat wohl daran. Du wirst die letzte sein, die von der Kunst des bel canto weiß. Wir dienten um sie acht Jahre lang. Die Heutigen lernen zwei – und nach anderen zwei sind sie kaputt. Du wirst, wie ich, noch mit siebzig singen … Gut, gut!« rief sie wieder, mit falscher Stimme. Denn sie meinte die Tochter dabei zu überraschen, daß ihr die Töne in den Hals rutschten. Die Branzilla dachte:
›Sie ist nicht mehr wie früher. Auch mit ihr geht's also zu Ende. Ich aber habe noch meine Stimme, ich allein.‹
»... Nimm mich mit! Auch ich will ausgehn.«
Aber die Tochter stürzte wieder herein: bleich, nach vorn geworfen, mit schlotternden Fäusten. Sie erzwang sich Atem.
»Er hängt dort. Papa hängt dort. Er hat sich erhängt.«
Sie schlich über die Schwelle und nebenan die Wand entlang. Die Branzilla schloß die Tür. Sie begann im Zickzack umherzuhasten: aufgescheucht, in die Enge getrieben, mit Blicken wie nach Verfolgern … Plötzlich hielt sie an, hob die Schultern und zog sie, ausatmend, heftig herunter. Sie horchte; dann holte sie einen metallenen Kasten heraus und setzte sich davor …
Die Tochter fuhr ins Zimmer.
»Ich habe ihn abgeschnitten; er ist tot. Du hast ihn getötet! Ach, wäre das deine letzte Tat. Ich werde nicht zufrieden sein, bevor ich dich im Irrenhaus weiß. Zu allem Segen, den deine große Kunst uns allen gebracht hat, möchte sie dich nun noch ins Irrenhaus führen!«
Die Branzilla zählte das Geld in dem Kasten.
»Ich habe nicht genug, ihn zu begraben. Warum hat er sich erhängt? Es war ihm nur ein neues Mittel, mir zur Last zu fallen.«
»Hexe! Mörderin! Ich werde dich in eine Anstalt sperren!«
»Nächsten Monat singe ich im Palazzo Doria. Ich werde in keine Anstalt gehen. Ich werde nicht durch Aufregung meiner Stimme schaden. Nächsten Monat singe ich im Palazzo Doria.«