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Langsam nur schlossen sich Karlhans' Wunden an den Händen und Armen. Er litt große Schmerzen, doch kein Wort, kein Ton der Klage kam über seine Lippen.
»Ein tapferer Junge,« lobte der Arzt, wenn Karlhans wohl zusammenzuckte, doch nicht klagte, wenn die Verbände erneuert wurden.
Lotte und Eddy verließen das Krankenzimmer nur, um die Schule zu besuchen. Der Februar brachte schönes sonniges Wetter, man fühlte, ein früher Lenz rüstete sich, seinen Einzug in deutsche Lande zu nehmen, doch selbst der hellste Sonnenschein lockte weder Lotte noch Eddy heraus.
Die neuen Stahlschuhe Lottes hingen vergessen im Schranke, sie hatte kein einziges Mal wieder die Eisbahn besucht, sie leistete dem Bruder Gesellschaft, und Eddy brachte sein neues Bismarckbuch und las »Aus dem Leben« des großen Staatsmannes seinen Gespielen vor.
Die Schule konnte Karlhans noch lange nicht besuchen, da seine rechte Hand, die am meisten gelitten, noch täglich verbunden werden mußte, allein dem Unterricht beim Geistlichen durfte er beiwohnen. Ostern fiel dieses Jahr ziemlich früh, und Karlhans wünschte seine Einsegnung herbei, um dann als Lehrling bei seinem Vater einzutreten.
Aenny war rascher hergestellt. Ihre Brandwunden waren erheblich geringerer Art gewesen, nur ihr neues Kostüm war vollständig verbrannt. Allein das ließ sich bald ersetzen, besonders da Aennys Vater einer der reichsten Leute in der Stadt war.
Eines Nachmittags war Aenny, von Hilde begleitet, in der Schmiede erschienen. Aenny brachte Karlhans einen Strauß Maiblumen. Das hübsche Gesicht leicht gesenkt, trat sie bei Karlhans ein.
»Ich komme, um dir zu danken,« begann Aenny etwas stockend. »Du, du allein hattest den Mut, mir beizustehen,« fuhr sie langsam fort. Als sagte sie ein auswendig gelerntes Sprüchlein auf, so mechanisch fiel Wort nach Wort von ihren Lippen.
Karlhans schüttelte den Kopf.
»Mir hast du nichts zu danken, ich hätte es doch bei jedem anderen Mädchen auch getan, aber –«
»Aber du hast dich doch für mich in Gefahr begeben, deine Rechte ist noch immer verbunden, und der Doktor sagt, du habest in Lebensgefahr geschwebt.«
»Ach geh, so schlimm war es nicht,« lehnte er alles Lob ab.
»Vater und Muttchen schicken mich her, ich soll dir danken und hier, bitte, nimm die Blümchen, ich weiß wohl, ich kann dir niemals genug danken, doch als kleines Zeichen meiner Dankbarkeit nimm sie an.«
Karlhans machte ein verlegenes Gesicht. Was sollte er antworten, er hatte wohl Mut, mit Knaben zu raufen, aber mit Mädchen zu reden, nein, dazu war er doch nicht geschickt genug. Wenn nur Lotte käme, sie hülfe ihm am besten aus der Verlegenheit.
So nahm er den Strauß mit der linken Hand und hielt ihn fest vor sein Gesicht. Am Ende kam Lotte, oder die Mädchen empfahlen sich.
Eine ziemliche Weile blieb es still, dann faßte sich Hilde zuerst.
»Ihr wohnt sehr hübsch hier, ich hatte gar nicht gedacht, daß in –« Sie stockte mitten in ihrer Rede, sie konnte doch nicht sagen, daß sie sich wunderte, in der rußigen Schmiede solch nette Zimmer zu finden. Karlhans schien Hildes Gedankengang zu erkennen.
»Sprich dich nur aus, Hilde, hast es Lotte doch so oft ins Gesicht gesagt, daß wir in einer rußigen Schmiede hausen; aber glaube mir, ich tausche mit keinem anderen Hause. Unsere Schmiede ist mir gerade recht.«
In diesem Augenblicke erschien Karlhans' Mutter. Mit einigen netten Worten dankte sie Aenny und Hilde für ihren lieben Besuch und ihre Aufmerksamkeit, Karlhans die schönen Blumen zu bringen. »Sie sollen sofort ins Wasser gestellt werden,« schloß sie ihre Worte.
Nicht nur Karlhans, auch die beiden Mädchen waren heilfroh, aus ihrer Verlegenheit gerissen zu sein. Sie empfahlen sich bald, nachdem Aenny nochmals ihren Dank für Karlhans' so kräftige Hilfe in der Not ausgedrückt hatte.
Als sich die Tür hinter den Freundinnen geschlossen hatte, atmete Karlhans wie befreit auf.
»Uff, das war schlimmer als auf dem Eise. Mir ist ganz heiß geworden, ich mag nun einmal die Mädchen nicht.«
»Aber dein Leben schlägst du in die Schanze, um sie vor dem Feuertode zu erretten?« fragte die wieder eingetretene Mutter.
»Das ist was ganz anderes, Mütterchen. Wenn ein Menschenleben in Gefahr schwebt, dann soll man nicht lange fragen oder wägen, dann heißt es ›feste zugreifen‹, und weißt du, Muttchen, an diesem Gedanken werde ich Zeit meines Lebens festhalten.«
Frau Hildebrandt umarmte ihren Sohn. Karlhans war wohl manchmal wild und schroff, doch das Herz war weich bei ihm, und sein Sinn war schon jetzt mannhaft und menschenfreundlich.
Die Blumen standen noch lange auf Karlhans' Schreibtisch, der sich an ihrem feinen Duft ergötzte.
Und nun war Karlhans wieder hergestellt. Am Donnerstag vor Ostern sollte er eingesegnet werden.
Die Woche vor Ostern brachte sehr mildes, schönes Wetter. An den Bäumen und Sträuchern bemerkte man schon das Schwellen der Knospen. Ja an dem Zaun zwischen den Nachbargärten lugten schon die schneeweißen Blüten des Schwarzdornes hervor. Sie sind ja mit den Schneeglöckchen alljährlich die ersten Blüten, die der neue Frühling hervorbringt.
Lotte hatte das Wohnzimmer zu Ehren ihres Bruders festlich geschmückt. Sie selbst prangte in einem neuen Kleide, während Karlhans in seinem schwarzen Anzug fast feierlich aussah.
»Ganz fremd erscheinst du mir heute,« bemerkte Lotte, als sie dem Bruder ein kleines Sträußchen ins Knopfloch steckte.
»Morgen bin ich wieder der alte lustige Finke,« entgegnete Karlhans; unter behaglichem Lächeln betrachtete er sich im Spiegel. »Wirklich pikfein,« fuhr er fort, den steifen Hut, es war sein erster, auf das kurz geschorene Haar drückend. »Du, Lotte, sehe ich nicht nobel, wie ein richtiger Herr aus?«
Lotte lachte, doch dann erwiderte sie todernst:
»Siehst wirklich fein aus, Karlhans, aber Eddy schaut in seinem neuen Anzug auch nobel aus. Du bist zwar größer, doch Eddy dafür viel eleganter.«
»Weil er stets elegantere Anzüge trägt. Nun, das muß wohl so sein. Ich werde Lehrling in der Schmiede, Eddy kommt nach Schulpforta auf die Fürstenschule!«
»Und ich, wo bleibe ich, wenn das lustige Kleeblatt gesprengt ist?« fragte Lotte, sichtlich betrübt.
»Mädchen bleiben im Hause,« belehrte der Bruder sie.
»Falsch geraten, mein Sohnemann. Ich fliege auch fort. Morgen kommt Tante Eva zur Feier deiner Einsegnung aus Weimar zum Besuch. Schon lange hat sie Mutter den Vorschlag gemacht, ich soll mit ihr nach Weimar gehen, nicht nur auf einen kurzen Besuch, nein, ich soll dort das Oberlyzeum von Tantes Jugendfreundin besuchen, um dann später mein Examen als Lehrerin an einem Seminar zumachen. Aetsch, du denkst wohl, nur Jungen allein dürfen etwas lernen, nein, dafür leben wir in der neuen Zeit, in der haben die Mädchen auch ein Recht zum Studieren und sich einen Beruf zu suchen.«
»Und du willst solch ein Blaustrumpf werden?« fragte Karlhans.
»Will ich und werde ich,« erwiderte Lotte voller Ernst.
»Du, Lotte, laß die Hände davon weg, bleibe bei den Eltern. Ich –«
»Nein, Muttchen ist einverstanden mit diesem Plan der Tante Eva – glaube mir,« setzte Lotte nach kurzem Besinnen hinzu, »man kann niemals zuviel lernen. Dein Freund Jatko sagte es noch gestern, und auf deinen Freund Jatko schwörst du doch.«
»Freilich, wenn es Jatko sagt, dann – aber, Lotte, du wirst mir fehlen, wenn du so weit fortgehst. Eddy verläßt mich auch, dann bin ich ganz verlassen.«
»Klage nicht, wozu gibt es Ferienwochen, dann sind wir recht glücklich zusammen und erzählen uns, was wir inzwischen erlebt, gelernt und gesehen haben,« schloß Lotte.
»Ich will jetzt gehen, leb wohl, Lotte, ich will mich bei Hoffmanns als Konfirmand vorstellen.«
»So geh und bringe Eddy dann mit.«
Tante Eva war früh morgens angekommen. Sie hatte Karlhans einen kostbaren Ring zur Erinnerung an seine Einsegnung mitgebracht.
Natürlich war Karlhans hoch beglückt, doch auf Wunsch seines Vaters legte er das blitzende Ding in das Sammetetui zurück, als man sich später zum Kirchgang rüstete.
»Heute soll deine Seele sich nur mit Heilsdingen beschäftigen, morgen tue dann, was du nicht lassen kannst.«
Die alte liebe Kirche war mit Tannengrün und Blumen geschmückt.
Vorn, vor dem Altar, saßen die Mädchen und Knaben, die heute eingesegnet wurden und zum ersten Male das Abendmahl erhalten sollten.
Eine eigene Weihe, eine stille Ergriffenheit lagerte auf den jungen Gesichtern, sie fühlten wohl alle die Wichtigkeit dieser Stunde.
Im großen Halbkreis saßen Eltern und Freunde um die kleine Schar. Hoffmanns und Hildebrandts hatte der Zufall auch hier Nachbarn, wie draußen im Leben, werden lassen.
Lotte saß zwischen ihrer Tante Eva und Fräulein Grete. Heute trug Lotte zum ersten Male die schöne Brosche, die ihr Eddy beim Hussitenfest geschenkt hatte. O, Lotte war recht stolz auf diesen Schmuck, dessen geschliffener Stein im Strahle der Sonne funkelte und blitzte.
Dennoch war es Lotte heute sehr wehmütig um das Herz. Sie war die erste, die aus dem Kreise ihrer Lieben schied. Nur noch kurze Zeit, und dann hatte das lustige Kleeblatt sich aufgelöst. Und wie viel Freude und Glück, wie viel herzliches Zueinandergehören hatten die Nachbarskinder durch diese enge Kinderfreundschaft empfangen und gegeben.
Daran mußte Lotte in diesem Augenblick denken, als die Orgel durch die weiten Hallen der Kirche brauste, und sie selbst das alte liebe: »Herrgott dich loben wir!« mit all den Andächtigen, die kaum in der Kirche Platz gefunden, anstimmte.
Vorn auf der ersten Bank saß Karlhans. Er sah heute viel älter aus; kam das daher, weil er heute so ernst gestimmt war?
Und nun trat der alte, liebe Seelsorger vor den Altar und hielt eine liebreiche, herzliche Ansprache an die versammelten Konfirmanden.
Mit beweglichen Worten führte er aus, wie viel Gelegenheit zum Danken gegen den höchsten Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erden, allen den Kindern gegeben worden war. Wie beglückt im trauten Familienkreis sie gelebt hatten, wie ihnen die Möglichkeit geboten worden war, ihren Geist auszubilden, um dereinst eine angesehene Stellung im Leben einnehmen zu können.
»Der Vater im Himmel,« so schloß er seine Anrede, »hat euch wohlgeführt. Einige von euch,« so fuhr er fort, »ziehen nun hinaus in die Fremde, um dort ihre Studien zu vollenden, andere haben sich einem Handwerk verschrieben, auf daß sie einstens, als Meister, schlicht und gerecht ihrer Hände Werk aufwachsen sehen, zur Ehre Gottes und zur Freude aller Menschen.
Gedenket stets im Leben dieses Augenblickes. Ihr ziehet hinaus in die Ferne. Dorthin geleiten euch weder Eltern noch Lehrer, ihr müßt auf euch selbst acht haben, damit ihr nicht von jener schmalen Straße abweicht, die zum ewigen Heile führt, um zu jener breiten Straße zu gelangen, die wohl köstlich geschmückt ist, die jedoch zum ewigen Verderben führt.«
Einfach, doch herzlich sprach der Geistliche, und seine Worte fanden Anklang in den Herzen seiner Zuhörer. Mit den allerbesten Vorsätzen traten die Kinder dann an den Altar hin, um einen Segensspruch für ihre Fahrt durch das Leben von dem geliebten, verehrten Herrn Pastor zu erhalten.
Karlhans hatte einen schönen Spruch aus Psalm 51, Vers 12 erhalten, er lautete:
»Schaffe in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen gewissen Geist.«
»Ich will mir diesen Spruch merken,« dachte Lotte. Sie blieb dann mit Tante Eva zurück, als die Eltern mit Karlhans sich zum Abendmahl aufstellten.
Voller Orgelklang erfüllte das Gotteshaus, oben vom Chor herab sangen die Schüler ein Lied zum Preise des höchsten Gottes.
Lotte wurde von der Feier tief ergriffen, ihre Gedanken folgten dem geliebten Bruder nach dem Altare.
»Wann werde ich mal dort stehen, und wie wird sich bis dahin mein Leben gestaltet haben,« so dachte Lotte, und noch einmal zogen die Freuden ihrer Kinderjahre an ihrer Seele vorüber. Ja, Pastor Mehnert hatte recht: ihr und den beiden Knaben war das Leben stets günstig voll Sonnenschein elterlicher Liebe gewesen. Unverdient hatte sich diese Liebe auf ihr Haupt herabgesenkt, nun kam die Zeit, in der sie suchen sollten, dieses Glück auch zu verdienen.
»Tante Eva, ich will brav sein und dir und allen, die mich lieb haben, nur Freude bereiten.«
Mit diesem Versprechen im Herzen verließ Lotte heute das Gotteshaus. Die gleichen Gedanken, Wünsche und Hoffnungen erfüllten die Seelen der beiden Knaben. Als man aus der Kirche wieder nach Hause gekommen war, lag auf dem Tische im Wohnzimmer ein Paket mit folgender Aufschrift:
Mit seltsam gespannter Miene betrachtete Karlhans das zierliche Paket.
»Hm, wer schickt mir das?« fragte er seinen Vater.
»So öffne den Umschlag, dann wird sich deine Neugierde lösen.«
Mit vor Ungeduld zitternden Händen löste Karlhans den Bindfaden, die papierne Hülle fiel, ein nettes Etui wurde sichtbar, und als der glückstrahlende Karlhans den Deckel aufschlug, lag eine hübsche silberne Uhr auf dem lichtblauen Sammetpolster.
Kein Zettel, keine Zeile lag dabei.
»Von wem mag die schöne Uhr stammen? Schau nur, Vater, welch reizende Gravierung der Deckel zeigt.«
Vater Hildebrandt setzte seine Brille fester auf die Nase.
»Hm, seltsam, das sind ja Schriftzeichen, Karlhans, du hast scharfe Augen, sieh nach, ob du die Worte nicht entziffern kannst.«
Langsam las Karlhans, er mußte die Uhr erst hin und her drehen, ehe er den rechten Anfang fand.
»Karlhans Hildebrandt,« buchstabierte er, »dem mutigen Retter meiner Tochter zum Andenken.«
Vor Entzücken hätte Karlhans beinahe die kostbare Uhr aus der Hand fallen lassen. Lotte, die daneben stand, sah das Unheil kommen, sie faßte rasch zu.
»Von Herrn Mauersmann,« sagte Lotte. »Ein hübscher Gedanke, und da du keine Uhr besitzest, so ist es für dich auch ein wertvolles Geschenk.«
Karlhans betrachtete die Uhr von allen Seiten, gleichsam als nähme er sie damit in Besitz.
»Eine Westentasche habe ich auch,« rief er strahlend aus. »Muttchen hat vielleicht im Nähtisch ein Stück seidene Schnur, dann –«
Lotte brachte das Gewünschte, und nun steckte Karlhans, stolz wie ein König, seine Uhr ein, doch gleich darauf zog er sie wieder aus der Tasche, um sie mit der alten Schwarzwälderin zu vergleichen.
»Sie geht richtig auf die Minute,« strahlte Karlhans. »Meine alte Uhr ging jeden Tag mehr als eine Stunde nach.«
Dann saß man gemütlich beim Abendbrot. Tante Eva erzählte aus Weimar. Natürlich lauschte Lotte mit gedoppelter Aufmerksamkeit, oder wie Karlhans es nannte: »Mit tausend Ohren«. Doch später, als eine Pause im Gespräch entstand, blickte sich Tante Eva verwundert um.
»Wo ist Karlhans?«
»Wahrscheinlich hat er sich in die Schmiede zurückgezogen. Jetzt ist zwar Feierabend, doch der alte Jatko sitzt noch drunten, da darf Karlhans nicht fehlen, er muß doch seinem Freunde die allerneuesten Neuigkeiten erzählen.«
»Ich will mal nachsehen,« meinte Lotte, aufstehend.
»Aber störe die beiden nicht,« rief ihr der Vater noch nach.
Lachend kehrte Lotte zurück.
»Vater hat recht, Karlhans sitzt auf dem Amboß und Jatko auf dem kleinen Bänkchen daneben, sie sind so in ihr Gespräch vertieft, daß sie mich weder hörten noch sahen,« berichtete Lotte.
Dann aber lenkte das allgemeine Gespräch wieder auf Weimar zurück.