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Es war ein kalter, klarer Tag, so ein selten schöner Wintertag mit Sonnenschein, Frost und Windstille.
Der Neuschnee hatte Garten und Feld wie mit tausend und abertausend glitzernden Diamanten übersät, und das Eis auf dem Flusse zeigte keine Sprünge und Risse. Glatt wie eine Tafel und schneeweiß zeigte es sich den Blicken der in Scharen nach der Eisbahn pilgernden Kinder.
Natürlich fehlte das lustige Kleeblatt nicht. Lotte trug mit Stolz die neuen blanken Stahlschuhe am Arm, sie sollten heute zum ersten Male das blinkende Eis überfahren.
Lotte hatte, wie schon erwähnt, am letzten Geburtstage ein reizendes Eislaufkostüm erhalten. Schon längst hatte sie sich ein marineblaues Kostüm mit Pelzbesatz gewünscht, natürlich durfte ein keckes Mützchen, das sie hoch droben auf dem Zopf sitzen hatte, nicht fehlen.
Eddy betrachtete seine Freundin Lotte mit bewundernden Blicken, während Karlhans, treu seiner Gesinnung, sich »spottwenig aus solchen aufgetakelten Mädchen« machte.
»Glaube es mir, Eddy, sie sind alle eitel und Spiegelnärrchen,« hatte er noch beim Weggehen vom Hause geflüstert, als Lotte noch einmal zurücklief, um zu sehen, ob ihr Pelzmützchen auch richtig säße.
Freilich Eddy war anderer Meinung, doch er sagte es nicht, weil sonst Karlhans ihn unbarmherzig ausgelacht hätte.
»Ich bin nur neugierig, ob ich die feinen Achten und Ringe noch fertigbringe. Letztes Jahr hatte ich es mir fein eingeübt. Und das sage ich dir,« wendete er sich an seine Schwester, »mit Aenny und Hilde fahre ich nicht, die Mädchen sind unausstehlich mit ihrer Geziertheit. ›Einfach süß! Himmlisch!‹ das sind so ihre Ausdrücke.«
Eddy und Lotte mußten laut auflachen. Karlhans spitzte seine Lippen und mühte sich, den Flötenton von Hilde Reichel mit Erfolg nachzuahmen.
»Dort lupus in fabula,« bemerkte Eddy als flotter Lateiner.
Aus einer Seitenstraße traten Hilde und Aenny. Auch sie trugen funkelnagelneue Eiskostüme. Sie erschienen sich unendlich fein und geputzt, deshalb spreizten sie sich wie die Pfauen, wenn sie ein Rad schlagen.
»Ah, da seid ihr ja auch, auch neu eingekleidet,« bemerkte Hilde. Sie streckte die Hand aus und prüfte mit Kennermiene die Feinheit des Stoffes von Lottes Kleid. »Sehr elegant, hoffentlich schmutzt es nicht leicht,« setzte sie maliziös, auf die rußige Schmiede anspielend, hinzu.
Lotte warf den Kopf hintenüber, sie tat, als verstände sie die boshafte Anspielung nicht.
»Mutter hat den Stoff aus Leipzig verschrieben, auch das Modebild, nach dem mein Kostüm gearbeitet ist, stammt aus Leipzig. In der kleinen Stadt hinkt man mit den Modellen immer nach.«
Lotte wußte, daß der Stoff zu Hildes Kleid in der kleinen Stadt gekauft war und daß Minchen, eine bekannte, doch altmodische Schneiderin das Kostüm gearbeitet hatte.
Die beiden Kinder maßen sich mit feindseligen Blicken, dennoch schritten sie dicht neben einander der Eisbahn zu.
»Heute gibt es Musik,« warf Eddy ein. »Da fährt es sich noch mal so gut. Meine Schwester wird auch kommen,« setzte er rasch hinzu.
»Gibt es auch Pfannkuchen und Kaffee?« fragte Aenny. »Ich ließ mir eine Mark von meinem Papa schenken, um mir Kaffee und Kuchen zu kaufen.«
»Wir haben unser Butterbrot mit,« meinte Karlhans gleichmütig. »Das schmeckt eben so schön, Mutter hat es mit selbsteingekochtem Pflaumenmus bestrichen und das nicht zu knapp,« frohlockte der Knabe.
Aenny zog ihr Näschen kraus. Die Hildebrandts waren doch rechte ärmliche Schlucker, wenn nicht Eddy dabei gewesen wäre, der Sohn des Amtsvorstehers, dann hätte sie den Hildebrandts einfach den Rücken zugekehrt.
Musik schallte den Ankommenden entgegen. Die drei Mädchen nahmen auf einer Bank Platz, um die Schlittschuhe anzulegen.
»Warte, Lotte, ich schnalle dir deine Schuhe fest,« meinte Eddy, dabei kniete er auf dem Eise nieder und leistete Lotte den Ritterdienst.
Karlhans hatte seine Stahlschuhe sehr schnell untergeschnallt, dann war er mit dem Rufe: »Nun fangt mich!« fortgejagt, ohne sich nur nach Aenny und Hilde umzusehen.
Ein Fischerjunge leistete ihnen den Dienst. Währenddem hatte Eddy sich selbst bedient und stürmte nun, Hand in Hand mit Lotte gefaßt, dem vorauslaufenden Karlhans nach.
Sprachlos vor Staunen schauten die Freundinnen ihnen nach.
»Schlechte Gesellschaft verdirbt gute Sitten,« tuschelte Hilde ihrer Busenfreundin zu.
Aenny zuckte die Achseln.
»Was soll Feines aus der rußigen Schmiede kommen,« bemerkte sie giftig, dann wogten sie hinein in die zahlreiche Gesellschaft.
Die Musik spielte eben einen flotten Galopp. Hei, wie schmetterten die Trompeten, quiekte die Flöte, brummte der Baß. Dazwischen klang das »Bum, Bum, Bum« der großen Trommel.
Wie eine Schlange ohne Ende bewegten sich die Schlittschuhläufer um den sich hier zu einem Teiche erweiterten Fluß. Dazwischen jagten einzelne Fahrer, oder ein paar Anfänger krabbelten durch die Menge, immer angstvoll mit den Armen balanzierend, um nicht zu fallen.
»Das Eis küssen,« nannte man solchen Fall im Gymnasium.
Lotte war eine firme Läuferin, an der Hand Eddys schwebte sie leichtfüßig daher, und der Gedanke, von Eddy geführt zu werden, erhöhte ihre Sicherheit, denn sie wußte es gewiß, daß sowohl Aenny als auch Hilde viel darum gegeben hätten, wenn Eddy nur eine Stunde mit ihnen gelaufen wäre.
Lottes gute Laune stieg und damit ihr Wagemut. Sie versuchte ihre früher geübten Künste, sie fuhr Achten und Schleifen, holländerte mit vielem Geschick – kurz, sie erregte Aufsehen. Karlhans schweifte wie ein Komet am Himmel, auf der Eisbahn hin und her. Bald in Gesellschaft seiner Mitschüler, bald allein. Eddy aber hielt treulich bei Lotte aus.
»Heute abend ist große Illumination des Teiches,« vertraute er Lotte an.
»Wir müssen um sieben Uhr nach Hause, so hat Mutter bestimmt,« entgegnete Lotte etwas bedrückt. Sie hatte noch niemals solch Eisfest mitgemacht. Dann wurde die Eisbahn rings beleuchtet mit bunten Lampions. Man konnte sich auch solch Lampion kaufen und es beim Fahren an einem Stock befestigt in der Hand halten.
Lotte hätte für ihr Leben gern solchen Festabend erlebt, allein gegen Mutters Befehl durfte sie nicht handeln.
»Bleibst du hier, Karlhans, und ich werde zu Hause erwartet?« fragte Lotte. Plötzlich war ein Rauhreif auf ihr Glück gefallen, denn Aenny und Hilde hatten schon am Vormittag in der Schule mit großem Getue verkündet: »Wir bleiben heute zur Illumination.«
Einen Augenblick ließ Lotte das Köpfchen sinken, dann aber flog ein Strahl von Glück über ihr hübsches Kindergesicht.
»Man muß nicht von allem haben,« dachte sie, es war doch jetzt so schön, so umwogt von Sonnenschein auf der glatten Bahn dahinzugleiten.
»Dort sehe ich Grete kommen, bitte, Lotte, warte hier eine Minute auf mich, ich muß Grete die Stahlschuhe anschnallen.«
Eddy schoß nach dem Eingang zur Eisbahn. Freilich dorthin rief Eddy die Pflicht; dennoch kam sich Lotte plötzlich so verlassen und einsam zwischen den lärmenden Menschen vor.
»Ah, hast deinen Kavalier verloren,« höhnte in dieser Minute die scharfe Stimme Aennys. »Fühltest dich gewaltig stolz, nun ist Eddy abgeschwenkt,« lachte sie laut auf.
»Weil seine Schwester nachkam, er kann Fräulein Gretchen doch nicht allein lassen,« bemerkte Lotte eifrig. Sie versuchte eine heitere Miene zu behalten, doch die Tränen waren ihr nahe. Lotte war durch Eddy verwöhnt, sie hatte nicht gelernt, allein sich zu behelfen. Lotte blickte sich um, ah, dort drüben entdeckte sie den Vermißten. Er lief mit seiner Schwester. Die Geschwister waren lustig. Lotte vernahm Eddys helles Lachen bis hierher. Ohne an die einsame Lotte zu denken, fuhren die Geschwister nach dem Takte des eben einsetzenden flotten Marsches weiter.
»Wir wollen jetzt nach dem Restaurant fahren,« bemerkte Hilde. »Ich bin durstig, eine Tasse heißer Kaffee und ein gefüllter Pfannkuchen werden uns gut tun. Du begleitest uns wohl nicht?« wendete sie sich an Lotte.
»Nein,« erwiderte Lotte gepreßt. Sie sah noch wie Hilde und Aenny nach der Mitte der Eisbahn steuerten. In dem dort stehenden Pavillon waren soeben auch Eddy und seine Schwester Grete verschwunden.
Lotte fühlte, wie ihr der Jähzorn in das Gesicht stieg. Gerade jetzt, unter den scharf beobachtenden Blicken ihrer Feindinnen ließ Eddy sie allein. Als gäbe es keine Lotte auf der Welt, so fröhlich scherzend begleitete er seine Schwester.
Lotte ließ ihr Köpfchen sinken, mit einem Male war alle ihre Freudigkeit verschwunden; ja es schien ihr, als habe die liebe Sonne sich versteckt, als spielte plötzlich die Musik falsch, als hätten die eben noch so heiter scherzenden Schlittschuhläufer das Lachen verlernt.
»Ich will heimgehen,« dachte Lotte. »Auch Karlhans läßt sich nicht sehen, was soll ich denn so allein hier unter den vielen fremden Leuten.«
Allein plötzlich stoppte sie ihren Lauf, ein neuer Gedanke war in ihrem Köpfchen aufgeblitzt.
»Ich will doch sehen, ob Eddy im Restaurant sitzt,« dachte sie, »nur ganz von weitem, damit mich niemand bemerkt. Ob Hilde und Aenny mit Hoffmanns sind?«
Dieser Gedanke verbitterte Lotte noch mehr, und sie konnte es nicht mehr verhüten, Tränen rollten ihr über die Wange.
Langsam steuerte sie auf den Pavillon zu – richtig, dort am Fenster saß Fräulein Hoffmann mit Eddy. Ein Teller mit Pfannkuchen stand mitten auf dem Tische. Eddy erhob sich in diesem Augenblicke, er wendete sich nach dem Ausgang.
Lotte konnte alles sehr bequem beobachten, da erschien Eddy unter der Tür, er blieb stehen und schaute sich suchend um.
Eine Todesangst packte Lotte. Ihr Pulsschlag stockte, doch rasch riß sie sich zusammen.
»Er soll mich nicht sehen,« dachte sie, dann flog sie wie gejagt dem Ausgange der Eisbahn zu. Schon hatte sie die Bank erreicht, um niederzusitzen und die Stahlschuhe abzuschnallen, als sie ihren Namen rufen hörte, und in selber Minute tauchte Eddy neben der Bank auf.
»Lotte, ich suchte dich – willst du schon nach Hause gehen? Bist du müde?« Wie bewegt klang Eddys Stimme, doch Lotte verschloß ihr Herz gegen diesen zärtlichen Ton.
»Ja, ich will nach Hause, ich bin müde,« polterte sie hervor.
»Aber Gretchen erwartet dich, ich habe uns einen hübschen Platz im Restaurant gesucht, Grete hält den Tisch, und ich suchte dich. Bist du wirklich so müde – und – und Lotte, du hast geweint, ja, leugne es nicht, deine Augen sind feucht von Tränen.«
Tödlich erschrocken wischte Lotte mit dem Handrücken die verräterischen Spuren fort.
»Geweint, ich – nein, weshalb? Es zog so sehr auf der Eisbahn,« log sie, »und da tränten mir die Augen.«
»Merkwürdig, von dem Winde habe ich nichts gemerkt,« erwiderte Eddy ruhig. »Doch nun komm, Gretchen wartet. Lasse mich nicht vergeblich bitten,« setzte der Knabe leise hinzu.
Lotte stand plötzlich auf ihren Füßen. Noch einmal strich sie sich mit der Hand über die Augen, dann lachte sie laut und herzlich auf.
»Ich war eine Gans, Eddy, komm, Schwester Grete soll nicht länger warten.«
Einen hellen Juchschrei ausstoßend, zog Lotte ihren Begleiter mit sich fort, hinein in das Gewühl der Schlittschuhläufer.
»Was bist du übermütig, Lotte,« rief Eddy bewundernd, als sie sich gewaltsam Bahn durch die Menge brach.
»Ich bin so übermenschlich glücklich,« rief Lotte laut, fast jubelnd aus. Ihre eben noch so trüb gefaltete Miene heiterte sich im Nu auf, ihre blauen Augen schimmerten fast schwarz vor Wonne.
Eddy betrachtete seine Gefährtin voller Staunen.
Was hatte Lotte? Sie war so verwandelt – vorhin so mürrisch, so abweisend, und nun so froh gelaunt.
»Karlhans hat schon recht,« dachte Eddy. »Die Mädchen stecken alle voller Launen, selbst Lotte ist nicht frei davon.«
Elastischen Schrittes stieg Lotte die drei Stufen zum Restaurant hinauf.
»Hier bringe ich dir einen Flüchtling, Grete, halte sie fest, ich will gehen und Karlhans suchen.«
Schwester Grete reichte Lotte ihre Hand.
»Flink, setze dich, der Kellner wird gleich Kaffee bringen. Es ist doch recht empfindlich kalt heute.«
Lotte schüttelte den blonden Kopf. »Ich finde es nicht, mir ist sehr behaglich warm,« erwiderte sie nach kurzem Ueberlegen.
Bald fand sich Karlhans zur Gesellschaft, und dann saß man bei fröhlichem Geplauder beisammen. Jetzt hatte Lotte keinen Blick mehr für ihre Umgebung, sonst hätte sie die bitterbösen Blicke bemerken müssen, mit denen Hilde und Aenny voller Neid die fröhliche Gruppe betrachteten.
»Jetzt fahre ich Sie Stuhlschlitten,« schlug Karlhans Fräulein Grete vor, und gleich darauf sauste der elegante Stuhlschlitten, einen Schwan darstellend, über die blanke Eisfläche.
»Möchtest du auch fahren?« fragte Eddy die neben ihm stehende Lotte.
Sie schüttelte den Kopf.
»Laß uns lieber etwas holländern,« bat sie, »Horch, die Musik setzt zu einem Walzer ein, da fährt es sich so fein und –«
»Weißt du schon, meine Schwester war bei deiner Mutter. Ihr dürft zur Illumination bleiben, Grete hat uns schon Laternen besorgt. Ich freue mich auf den Abend.«
Als dann der frühe Abend herabsank, da entflammten längs der Eisbahn bunte Lichter. Auf eisernen Gerüsten brannten Pechfackeln, deren rotes Licht alle Gegenstände wie in eine feurige Lohe hüllten.
Erst vereinzelt, dann immer mehr und mehr Traglaternen tauchten auf, deren Träger sich zu Gruppen zusammenschlossen, oder auch wie einzelne Irrlichter über das glatte Eis dahinschwebten.
Auch unser lustiges Kleeblatt war mit hellflammenden Laternen ausgerüstet. Schwester Grete hatte mit viel Geschmack die Lampions ausgesucht; besonders Lottes Lampion, auf dem wundervolle exotische buntfarbige Vögel zu sehen waren, fand allgemeine Bewunderung. Karlhans trug eine Laterne, die einer Fackel nachgebildet war. Feurige Flammenzungen leckten und reckten sich empor. Eddys Lampion war von mattblauer Grundfarbe, auf der ein Zweig dunkelroter Kirschen glänzte.
»Wenn es doch heute niemals Nacht würde,« meinte Lotte. »Ich könnte noch stundenlang hier weilen,« setzte sie jubelnd hinzu.
»Und morgen krank zu Bette liegen,« fiel ihr Schwester Grete in das Wort. »Jetzt umkreist noch einmal die Bahn, dann gehen wir vernünftig nach Hause. Ich habe es eurer Mutter versprochen, euch pünktlich abzuliefern.«
In diesem Augenblicke gellte ein lauter Angstschrei über die Eisbahn. Er übertönte das Rauschen eines Militärmarsches, plötzlich schwieg die Musik, und ein heller roter Feuerschein stieg zum nachtdunkeln Himmel auf. Von allen Seiten drängten die Schlittschuhläufer herbei. Im ungewissen Lichte der Fackeln sammelte, sich inmitten der Eisbahn eine Menge Leute. Erwachsene und Kinder, alles fuhr nach der Gegend hin, aus der jener gellende Schrei erklungen.
Karlhans befand sich in der vordersten Reihe, während Lotte auf Eddys Wink etwas zurückgetreten war und den Ansturm an sich vorüber brausen ließ.
»Eddy, was mag geschehen sein?« fragte Lotte, an allen Gliedern zitternd. »Und wo ist Karlhans hin, im Augenblicke stand er noch dicht neben mir?«
»Die Menschenwelle hat ihn mit fortgespült,« meinte Schwester Grete. »Ich kann ihn nicht mehr erblicken, er ist so tollkühn, wenn er sich nur nicht unnötig in Gefahr begibt.«
»Mir ist so bang,« flüsterte Lotte. Ihre Hand, die sie Eddy gereicht hatte, war eiskalt und ihre Lippen zitterten vor Angst.
»Hier heißt es abwarten,« tröstete Schwester Grete. »Karlhans muß doch gleich zurückkommen. Auch der Menschenstrom flutet schon rückwärts, laßt uns ein paar Schritte seitlich treten, damit wir nicht in das Gedränge kommen und uns auch noch verlieren.«
Lotte und Eddy gehorchten, doch Lotte konnte sich vor geheimer Angst kaum auf den Füßen halten.
»Was hat sich zugetragen?« fragte Fräulein Grete einen dicht bei ihr vorbeikommenden Schlittschuhläufer.
»Ein kleines Mädchen soll verunglückt sein. Ihr Ballon ging in Flammen auf. Aber anstatt das Ding fortzuwerfen, versuchte sie es mit den Händen zu löschen. Ich selbst war nicht Augenzeuge. Sie soll sich das Gesicht arg verbrannt haben. Näheres weiß ich selbst nicht.« Und ohne weiter Rede zu stehen, setzte der Herr seinen Weg über die Eisfläche fort.
»Ich fürchtete schon, Karlhans sei ein Unglück zugestoßen,« sagte Lotte mit einem Seufzer der Befreiung.
»Der stand doch neben dir, als der Schrei erklang,« bemerkte Eddy.
»Man scheint die Verunglückte zu bringen,« sagte Schwester Grete. »Der Strom lenkt hierher und –«
In der Tat teilten sich die Menschenmassen. Auf einem Stuhlschlitten gebettet wurde ein anscheinend größeres Mädchen hergefahren.
»Hilde!« schrie Lotte auf. An der Seite des Stuhlschlittens schritt Hilde Reichel. Bei Lottes Ausruf blickte sie unwillkürlich auf.
»Aenny ist verunglückt,« sagte sie, auf die verhüllte Gestalt im Stuhlschlitten deutend. »Zum Glück sollen die Brandwunden nicht tödlich sein. »Karlhans –«
Die nächsten Worte Hildes verhallten ungehört. Der Zug mit der Verunglückten glitt rasch vorüber, und im selben Augenblick setzte die Musik mit einem rauschenden Marsch wieder ein.
»Karlhans, wo ist Karlhans?« rief Lotte. Eddy hatte Mühe, sie festzuhalten, sie versuchte, sich in das Gewühl der Schlittschuhläufer zu stürzen.
»Bleib ruhig, was sollte Karlhans geschehen sein, laß nur erst die Menge sich etwas verlaufen, dann wird er schon wieder auftauchen,« tröstete er.
»Mir ist so bang! Mir ist so bang,« wiederholte Lotte.
»Karlhans ist gewiß schon nach Hause gelaufen,« meinte Fräulein Hoffmann. »Wir wollen auch heim gehen. Er befindet sich auf jeden Fall auf dem Wege nach Hause.«
Lotte wollte noch warten, erst auf ein erneutes Zureden ließ sie sich dazu bewegen, doch immer wieder blieb sie stehen, als müßte sie etwas erwarten.
Lotte behielt recht mit ihrer Ahnung.
Die kleine Gesellschaft war bis an den Ausgang vorgedrungen, als sie von einem Trupp Männer überholt wurde.
Sie schienen in ihrer Mitte etwas zu tragen, im ungewissen Lichte der Fackeln ließ sich der Gegenstand schwer erkennen.
Da – ein heller Strahl fiel darauf, Eddy stürzte vor.
»Karlhans! Karlhans!« rief er mit weithin klingender Stimme aus.
Da regte es sich unter dem verhüllenden Tuche, und eine mit weißem Linnen verbundene Hand wurde sichtbar.
Lotte stand zitternd und totenblaß daneben, sie wollte vorwärtsstürzen, doch ihre Füße versagten ihr den Dienst.
Fräulein Grete hatte inzwischen Erkundigungen eingezogen.
»Es ist wirklich Karlhans; doch sorge dich nicht, Lotte. Er war ohnmächtig geworden, er selbst ist nur an den Händen verbrannt. Er hat sich als ein tapferer Junge bewiesen und alle die Umstehenden durch sein schnelles Zufassen, seine rasche kluge Tat beschämt. Wir wollen ihn nach Hause begleiten.«
Lotte wünschte ihren Bruder zu sehen, das aber erlaubte der behandelnde Arzt nicht.
»Ruhe, viel Ruhe ist notwendig, damit sich die Erregung bald legt. Wir wollen den Knaben schnell nach Hause bringen, wir –«
»Lotte, weine nicht so bitterlich, du hörst, Karlhans schwebt nicht in Gefahr,« tröstete Fräulein Grete.
Sie hatte Lotte untergefaßt, denn das sonst so kraftvolle Mädchen drohte umzusinken. Mit fast übermenschlicher Kraft suchte sie sich zu beherrschen. Eddy geleitete sie auf der anderen Seite.
Stumm schritt man durch die anbrechende Nacht dahin.
»Was soll Vater, was soll Mutter sagen, sie werden sich tödlich erschrecken,« stammelte Lotte, als man sich ihrem Elternhause näherte.
»Ich habe schon einen Boten vorausgeschickt,« erklärte der junge Arzt.
Als man gleich darauf in die Lindenstraße einbog, kam der alte Jatko ihnen entgegen. Ohne viel Worte zu machen hob er seinen Liebling auf und trug ihn auf seinen alten Armen die Treppe hinauf.
Karlhans schien wieder bei voller Besinnung zu sein. Er streichelte mit der verbundenen Hand die faltigen Wangen des alten Gesellen.
»Habt keine Sorge, ich bin nicht verunglückt. Ich bin nur recht müde und möchte bald schlafen.«
Oben an der Treppe empfingen die Eltern ihren Sohn. Vater Hildebrandt wechselte ein paar Worte mit dem Arzt, während seine Gattin im Schlafzimmer das Bett für Karlhans zurecht machte.
Lotte war mit Eddy im Hausflur zurückgeblieben. Auf einen Wink ihres Vaters blieb sie still zurück.
Erst als Karlhans gebettet war, durfte sie und Eddy ins Zimmer eintreten. Hier erst erfuhren sie durch einen Augenzeugen, wie sich der Vorgang zugetragen hatte.
Durch eine unvorsichtige, rasche Bewegung war Aennys Lampion in Brand geraten; anstatt ihn weit fort von sich über die Eisfläche zu schleudern, hatte sie versucht, die Flamme zu ersticken, um den schönen Lampion zu retten.
Wahrscheinlich durch einen Windstoß war dann die Flamme auf ihr Kleid übergesprungen, und rasch züngelten Flammen aus dem leichten Stoff. Anstatt nun, daß die Umstehenden die schnell um sich greifende Flamme erstickten, standen sie untätig, wohl vom Schreck gelähmt, daneben.
Da war Karlhans durch die Menge gebrochen. Eines Herzschlags Länge überlegte er, dann warf er Aenny zu Boden, wälzte sie auf dem feuchten Eise hin und her und erstickte so die Flammen, ehe sie sich weiter ausbreiten konnten. Natürlich hatte Karlhans Brandwunden an beiden Händen davongetragen, doch Aenny das Leben gerettet.
Von allen Seiten hatten sich dann Hände zur Rettung ausgestreckt. »Doch Karlhans,« so schloß einer der Träger seinen Bericht, »hatte eigentlich das Rettungswerk allein vollbracht. Ein wahrhaftes Glück nur, daß der mutige Knabe keine lebensgefährlichen Brandwunden davongetragen hat.«
»Karlhans, leidest du viel Schmerzen?« fragte Lotte, sich über die verbundenen Hände ihres Bruders neigend und einen Kuß auf die aus dem Verbände herausragenden Finger pressend.
»Es geht,« erwiderte Karlhans. »Wißt ihr, wie es mit Aenny steht?« setzte er nach einer kurzen Ueberlegung hinzu.
»Ich will nachforschen, ich bringe dir Nachricht,« entgegnete Eddy. »Jetzt schlafe wohl, mein lieber Karlhans, ich bin stolz auf dich, hast dich wie ein Held benommen.«
Voller Stolz auf seinen Freund, glänzte es hell in Eddys Augen. Dann nickte er ihm zärtlich zu, und mit der Versicherung, »ich bringe dir Nachricht,« verließ er das Zimmer.
Auch der Arzt hatte sich empfohlen. Begleitet von Karlhans' Vater hatte er sich zurückgezogen.
»Meister Hildebrandt, vielleicht setzen Sie eine Nachtwache zu dem Kranken, ich hoffe ja, daß das Fieber nicht steigt, doch Vorsicht ist geboten. Ihr Sohn ist ein so kerngesunder Knabe, er wird den Unfall leicht überwinden.«
Mutter und Schwester waren bei dem Kranken, der mit halb geschlossenen Augen in seinen Kissen ruhte, zurückgeblieben. Karlhans schlief nicht, dennoch sah er seine Umgebung wie durch eine Art Nebel.
Leise, um den Kranken nicht zu stören, unterhielten sich Mutter und Tochter.
»Wie seltsam es sich gefügt hat, daß Karlhans gerade Aenny vom Tode des Verbrennens gerettet hat,« meinte Lotte nach einer Weile. »Er mochte sie nicht leiden, ja er haßte sie beinahe.«
»Im Augenblick der Gefahr hat er sicherlich nicht an seinen Haß gedacht, er sah ein Menschenleben in Gefahr, und hilfsbereit sprang er zu dessen Rettung herbei.«
Die beiden Karlhans so lieben Menschen saßen noch lange an dessen Bett, als dann die alte Schwarzwälderuhr die elfte Stunde angeschlagen, da erschien der alte Jatko.
»Jetzt gängen's zu Bette. Frau Meisterin hat am Tage viel geschafft, und was unser Fräulchen ist, die muß wachsen, da darf man keine Nacht um die Ohren schlagen. Ich will schon auf unsern Karlhans acht geben, weiß der liebe Gott im Himmel, er ist mir so lieb, wie mir mein eigen Kind sein könnte.«
Trotz aller Einreden beharrte Jatko auf seinem Entschluß.
»Ich bin alt, ein alter Mensch braucht wenig Schlaf.«
Endlich erhob sich Frau Hildebrandt; sie gab Jatko die Hand.
»Ich danke Ihnen, ich weiß mein Kind bei Ihnen in bester Hut, aber wenn das Fieber steigen sollte –«
»Dann rufe ich Frau Meisterin. Hier, unserm Fräuleinchen fallen vor Müdigkeit bald die blauen Guckaugen zu.«
Jatko blieb allein bei dem Kranken, er betrachtete sein hübsches Gesicht mit dem energischen Zug um die vollen Lippen.
»Wird mal dem Handwerk Ehre machen, wir brauchen brave Handwerksmeister. Wie singt doch Meister Hans Sachs in den Meistersingern:
Verachtet mir die Meister nicht,
und ehrt mir ihre Kunst!
Was ihnen hoch zum Lobe spricht
fiel reichlich euch zur Gunst.«
Im Krankenzimmer brannte die Nachtlampe bis der Morgen graute. Der alte Jatko hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen. Nun erhob er sich, öffnete ein Fenster und ließ sich die kalte Morgenluft um Stirn und Wangen fächeln; dann schloß er es schnell wieder.
»Wie sanft mein Karlhans schläft, er schläft seiner Genesung entgegen. Jetzt ans Tagewerk.«