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Die Schule war aus.
Vom benachbarten Kirchturm klang das Mittagsläuten. Aus dem Gymnasium, das an einem freien, großen mit Bäumen bestandenen Platze der Mädchenschule gegenüber lag, strömten die Knaben unter lauten Schreien und Rufen.
Als einer der ersten verließ Eduard Hoffmann das Schulhaus, dennoch schien er keine große Eile, nach Hause zu kommen, zu haben, denn er schlenderte quer über den Platz und stellte sich dort, noch hochaufatmend vom eiligen Lauf, seitlich des großen Portales auf, durch das sich jetzt ein Schwarm großer und kleiner Mädchen ergoß.
Mit von Sehnsucht geschärften Augen ließ Eddy die Mädchen an sich vorüberlaufen und -jagen, endlich schien die Erwartete zu kommen.
Eddy trat schnell einen Schritt vor, er hatte es sich so schön ausgedacht, doch sein noch eben helleuchtendes Gesicht verfärbte sich, Lotte kam nicht allein, sondern sie wurde von Hilde Mauersmann und Anny Reichel begleitet.
Vor Aerger stampfte Eddy mit dem Fuße auf, er hatte es sich so schön ausgedacht, mit Lotte nach Hause zu gehen und ihr von dem Federballspiel zu erzählen, das noch wohlverpackt im Kasten lag, weil Lotte sich am gestrigen Tage nicht wieder hatte blicken lassen, und nun erschien sie in Gesellschaft ihrer Freundinnen. Eddy mochte eigentlich Hilde und Anny nicht leiden, sie hatten ihm zwar niemals etwas getan, doch sie entzogen ihm öfter Lottes Gesellschaft.
»Wie die Kletten hängen die drei Mädchen zusammen,« mußte Eddy denken. Schon wollte er sich zurückziehen, da hatte Lotte den Spielgefährten bemerkt. Mit einer schnellen Handbewegung verabschiedete sie sich von den Freundinnen und schritt langsam, als habe sie den wartenden Eddy nicht bemerkt, nach der andern Seite des Platzes.
Erst als sie dicht vor Eddy stand, hob sie ihr Köpfchen.
»Ach, Eddy, du bist hier? Wartest du auf Karlhans? Der hat heute bis ein Uhr Unterricht.«
Eddy war bei Lottes Anrede vor Freude errötet; er wollte etwas erwidern, doch er fand keine Worte, so streckte er nur seine Hand Lotte zum Gruße entgegen.
»Na, da können wir selbander wandern,« schlug Lotte vor. »Dir ist es doch recht,« setzte sie, listig mit den Augen blinzelnd, hinzu.
Ob es Eddy recht war, erfuhr Lotte nicht.
»Wollen wir heute mit dem Federballspiel werfen?« fragte der Knabe.
»Wie sieht es aus? Wieviel Bälle gehören dazu? Haben sie schöne bunte Federn?« fragte Lotte mit sichtlichem Interesse.
»Das weiß ich nicht, ich –«
»Das weißt du nicht,« wiederholte Lotte, »ja, habt ihr gestern nachmittag nicht damit gespielt,« forschte sie.
»Nein, es ist noch verpackt, ich dachte, du wolltest es auspacken, da ließ ich es im Kasten.«
Lotte blieb mitten auf dem Wege stehen; ein stolzes Lächeln, ein kindlicher Triumph erhellte auf Minuten ihr Kindergesicht, und ihre Hand auf Eddys Arm legend, sagte sie: »Du bist wirklich ein guter Junge, Eddy; hattest dich auf das neue Spiel gefreut, und nun wartest du auf mich. Weißt, ich bin so vieler Freundschaft gar nicht wert,« setzte sie, sich selbst anklagend, hinzu.
Eddy schüttelte abwehrend den Kopf.
»Unter Freunden darf man nicht so scharf rechnen,« sagte er gutmütig. »Heute nachmittag wollen wir es auspacken und gleich spielen. Karlhans hat auch keine Schule, da wollen wir uns mal tüchtig ins Zeug legen.«
Lotte nickte, das neue Spielwerk war ihr sehr interessant. Anny Reichel war neulich bei einer Verwandten eingeladen gewesen, da hatten sie Federball gespielt, und nun war es Lottes höchster Wunsch, solch ein Spiel kennen zu lernen.
Ihre Mutter, der sie den Wunsch vorgetragen, hatte sie abschläglich beschieden.
»Wir sind nicht in der Lage, euch alle Tage neues Spielzeug zu kaufen, es wird Vater so schon schwer, dich und Karlhans in eine so teure Schule zu schicken.«
Da hatte Lotte den Kopf hängen lassen, und ein paar Tränchen der Entsagung rollten über ihre vollen Wangen, doch dann hatte sie zu Freund Eddy von ihrem Wunsch gesprochen und dieser, der einzige Sohn des reichen Amtsvorstehers, hatte seine Schwester, die seit dem frühen Tod der Mutter den Haushalt führte, so lange mit Bitten gequält, bis sie ihm feierlichst versprach, solch ein Spiel aus der nahen Stadt mitzubringen.
An der Ecke der Straße trennten sich die Kinder, Eddy bat Lotte, recht pünktlich zu kommen, und Lotte sagte freudig zu.
Dann eilte Eddy seiner Wohnung zu.
Amtsvorsteher Hoffmann bewohnte eine hübsche Villa auf der Rosenstraße, die durch ein feingegliedertes Eisengitter abgetrennt war.
Den Vorgarten schmückten kostbare Blumen, besonders Rosenbeete waren angelegt, die aber heute im Frühling noch keine Blüten zeigten. Aber Schneeglöckchen, Narzissen, Maiblumen und Hyazinthen standen in voller Blüte, ihr süßer Duft erfüllte die milde Luft. Feiner goldgelber Kies lag auf den schnurgeraden Wegen. Alles atmete Wohlstand und Behaglichkeit.
Hinter dem Hause zog sich der sogenannte Grasegarten hin. Hier standen viele Obstbäume, die heute mit schneeigen Blüten übersät waren und eine köstliche Obsternte verhießen.
Auch Beerenobst gab es hier in Fülle. Karlhans hatte schon richtig gesehen, die ersten Erdbeeren röteten sich und luden zum Abpflücken ein.
Der Garten zog sich tief hinab, er grenzte an den Garten des Schmiedemeisters Hildebrandt. Nur eine niedrige Hecke trennte beide Gärten. So konnten die Kinder aus beiden Häusern zusammenkommen, ohne erst auf die Straße hinaus zu gehen.
Lotte bog mit elastischen Schritten in die nächste Straße ein. Schon von weitem klang ihr großer Lärm aus ihres Vaters Schmiede entgegen.
Vor derselben stand ein Knecht, der zwei junge Pferde, die beschlagen werden sollten, nur mit Mühe zügelte. Sie scheuten zurück vor dem Sausen und Brausen des Blasebalges, sowie vor den mit Ruß geschwärzten Gesichtern der Schmiede.
Lotte beschleunigte ihre Schritte, das rußige Handwerk ihres Vaters gefiel ihr nicht besonders, und niedergedrückt verglich sie oft den Lärm in ihrem Elternhause mit der vornehmen Ruhe und behaglichen Stille im Hause ihres Spielgefährten.
Auch heute drückte sie sich an dem weit offenstehenden Tore der Schmiede schnell vorbei – sie bemerkte nur noch, daß Karlhans neben dem großen Amboß stand und zuschaute, wie ein Geselle ein weißglühendes Eisen mit dem mächtigen Stahlhammer bearbeitete. Funken flogen und sprühten herum, doch Karlhans stand ruhig dazwischen.
Im Gegensatz zu der rußigen Schmiede glänzten die Zimmer im Hause vor Sauberkeit, Frau Hildebrandt war eine fleißige, tüchtige Hausfrau, sie legte überall Hand an und hoffte, in ihrem Töchterchen recht bald sich eine Hilfe zu erziehen.
Auch heute erschien sie im Wohnzimmer, ein Paket blendend weißgewaschener Wäsche über die Arme tragend.
»Hurtig, Lotte, spute dich und hilf mir diese Bettwäsche recken und legen.«
»Kann das nicht die Hausmagd tun?« fragte Lotte.
»Nein, Mine hat im Garten zu tun; sie pflanzt Salat und Kohlrabi, ich warte schon eine Weile auf dich, Karlhans ist längst zu Hause, du kommst ziemlich spät aus der Schule,« setzte sie mit leichtem Tadel hinzu.
»Ich ging mit Eduard Hoffmann. Er erzählte mir, daß seine Schwester ihm ein Federballspiel geschenkt habe. Heute nachmittag wollen wir es versuchen,« setzte Lotte mit vor Wonne strahlendem Gesicht hinzu.
»Na, da hast du ja mal wieder deinen Willen durchgesetzt. Mädchen, Mädchen, der Eddy ist viel zu nachgiebig gegen dich, bist groß genug, selbst mal lernen, deine Wünsche zu bescheiden, sonst muß dir das Leben später die Flügel stutzen und das tut sehr weh.«
Lotte umhalste die Mutter und küßte sie zärtlich auf die etwas streng blickenden Augen.
»Herzensmütterchen, schilt nicht, ach, ich bin ja so glücklich, und das Leben ist so schön.«
»Möge es dir immer nur seine schönen Seiten zeigen,« bemerkte die Mutter. »Aber nun hilf mir die Wäsche legen; sonst –«
»Sonst, Mütterchen?« fragte Lotte mit einem listigen Seitenblick. »Muß es wirklich sein, dann rasch –«
Alle Augenblicke hatte Lotte nach der alten Schwarzwalduhr geschaut, für ihre Ungeduld, zu Eddy zu gehen, bewegte sich der Zeiger heute sehr langsam vorwärts.
Ihre Aufgaben für die Schule hatte sie heute sehr flott gefertigt, denn sie wußte, daß ihre Mutter ihr die Erlaubnis, zu Hoffmanns zu gehen, verweigert hätte, wenn nicht erst die Aufgaben für den nächsten Schultag gemacht wären.
Karlhans schien es gar nicht so eilig zu haben, er reckelte sich bei seiner Arbeit, guckte zum Fenster hinaus, um den Flug der Tauben zu betrachten, spitzte seine Bleistifte mit großer Umständlichkeit, so daß Lotte kaum mehr ihre innere Unruhe verbergen konnte.
Endlich konnte sie ihren Unmut nicht mehr zurückhalten.
»Du wirst heute wohl nicht fertig?« fragte sie mit etwas belegter Stimme.
»O ja, bald bin ich fertig, wir kommen noch immer zeitig genug zu Hoffmanns.«
»Bist ein Frosch, ein Schneemann,« erwiderte Lotte, dicht an den Arbeitsplatz ihres Bruders tretend.
»Und du ein Zappelfritz,« erwiderte Karlhans phlegmatisch. »Vater predigt dir doch immer, jedes Ding hat seine Zeit, aber du bist immer nirgends an und immer zur Feueresse hinaus. Wenn du mich immer störst, dann werde ich gar nicht fertig. Wir haben aber viel schwerere Aufgaben, als ihr luftiges Mädchenvolk. Wir Gymnasiasten –«
»Ihr – Ihr,« spottete sie, »wollt die Herren spielen und seid doch nur Schulfüchse und –«
Karlhans machte Miene, seine Worte durch Tätlichkeiten zu illustrieren, da zog Lotte sich schnell zurück und ihre Hand auf den Arm des Bruders legend, bettelte sie: »Lieber Karlhans, beeile dich ein wenig, mir zuliebe tue es.«
Der gutmütige Bruder war schnell besänftigt, er tauchte die Feder ins Tintenfaß und sagte: »In fünf Minuten bin ich bereit; doch jetzt laß mich rechnen, diese Exempel sind verteufelt schwer,« setzte er hinzu.
Nun saß Lotte ganz still am Fenster, vor ihr auf dem Nähtisch stand ein Körbchen mit ihrem Strickstrumpf, doch Lotte war keine Freundin der edlen Kunst des Strickens. Sehr zum Leidwesen ihrer Mutter nahm sie niemals ihr Strickzeug, ohne dazu aufgefordert zu sein, zur Hand.
Auch heute lagen ihre von der Sonne schon braun gebrannten Hände ihr müßig im Schoße und ein Seufzer, durch ihre Ungeduld ausgepreßt, klang durch die wieder eingetretene Stille. Erst als Karlhans seine Hefte zusammenschlug und in den Schulranzen verpackte, erst da kam Leben in Lotte.
Sie erhob sich rasch, drehte sich auf dem Absatz herum, dabei blickte sie angelegentlich in den zwischen beiden Fenstern hängenden Spiegel und lächelte sich zärtlich zu.
»Na, also dann Abmarsch, ganze Kolonne fertig,« kommandierte Karlhans.
Wie ein Blitz flog Lotte zur Tür, die sie stürmisch aufriß.
»Muttchen, wir sind fertig, dürfen wir nun gehen?«
»Ja, Kinder, sind die Schularbeiten fertig? Dann geht, kommt aber hübsch zur Zeit nach Hause zurück, ihr wißt, Vater liebt es nicht, sein Abendbrot ohne seine Kinder einzunehmen.«
Lotte und Karlhans versprachen, die Wünsche ihrer Mutter zu bedenken, dann aber stürmten beide die Treppe hinab in den Hof.
Lotte reckte beide Arme in die Höhe.
»Uff, endlich fertig, mir kribbelt die Unrast in den Fingerspitzen; da, eben schlägt es schon vier Uhr, wir sollten längst bei Eddy eingetroffen sein.«
»Na, ich rechne, es ist noch zeitig genug,« brummte Karlhans, aber da seine eigene Neugierde erwacht war, so schritt er dicht neben der Schwester durch den Hof. Selbst seine geliebten Hühner, die in einem hinter Holzgittern eingerichteten Gartenplatz untergebracht waren, schenkte er heute keinen Blick, nur am Kaninchenstall blieb er stehen.
»Lotte, sieh, der hübsche kleine weiße Karnickel, er hat ebensolche rote Augen wie seine Mutter, ich möchte –«
»Mich mal etwas sputen,« fiel ihm Lotte in die Rede.
Sie stand schon ganz dicht vor der Weißdornhecke und spähte nach dem schmalen Durchschlupf, der ihr gestattete, den Garten des Nachbarhauses zu betreten.
»Hier, Lotte, hier,« erklang Eddys Stimme. »Ich warte schon eine Weile. Vater ist in sein Büro gegangen, und meine Schwester Grete stattet ihrer Busenfreundin einen Besuch ab, und na bei solchen Gelegenheiten kommt sie so bald nicht heim; da blieb ich mutterseelenallein zurück.«
»Aber nun ist das lustige Kleeblatt, wie uns Vater nennt, wieder beisammen,« rief Lotte. Trotzdem sie fast zwei Jahre jünger war als Eddy, so liebte sie es, den lieben Freund etwas zu bemuttern, wie es Karlhans oft ärgerlich nannte.
»Du bist gar kein richtiger Junge,« schmälte er oft, »wenn Lotte mich so bevormunden wollte, dann zeigte ich ihr, was ein richtiger Junge ist.«
Doch heute schien Karlhans' Aufmerksamkeit anderweitig gefesselt, er erwiderte kein Wort und folgte den Voranschreitenden in das Haus.
Das war viel eleganter ausgestattet als das Schmiedehaus, und Karlhans, der sich sehr viel auf seine Würde als Quartaner einbildete, trat hier viel zurückhaltender auf als daheim in seinem Elternhause, das oft von den schweren Schritten seiner nagelbesetzten Stiefel widerhallte.
Eddys Zimmer, er bewohnte ein eigenes Stübchen, lag im ersten Stock. Es war eine echte Jungensstube. Der Schreibtisch stand am Fenster, davor ein wirklicher Schreibsessel, ein Möbel, das Karlhans höchste Bewunderung abnötigte, denn er mußte sich mit einem einfachen Rohrstuhl begnügen.
Einen hübschen Bücherschrank und einen mächtigen Spielschrank enthielt das Zimmer. Hier standen hinter den Glasscheiben große Kisten mit Bleisoldaten aller Nationen, Kanonen, Wagen, Zelte und allerlei zu einem Kriegsspiele notwendigen Requisiten.
Auch eine kleine Maschine zum Betrieb einer elektrischen Eisenbahn war vorhanden, doch heute hatte keines der Kinder dafür einen Blick und Interesse, heute bewegte es sich um den kleinen Kasten, der auf der Schreibtischplatte stand.
»Nun, Lotte, mache dich ans Werk, packe aus!«
»Wirklich, ich – ich – ich, Eddy, du bist himmlisch gut,« flammte Lotte auf.
Mit vor Seligkeit zitternden Händen öffnete sie das Paket. Fein säuberlich in Seidenpapier verpackt lagen verschiedene zierliche Federbälle in dem Kasten; während kleine, einem Tennisschläger ähnliche Gegenstände, sowie eine Anleitung zum Spielen daneben lag.
»Wie niedlich,« rief Lotte, einen mit blauen Federn besetzten Ball zur Hand nehmend. »Wir fangen doch gleich an. Hilde hat mir die Regeln des Spiels erklärt. Man legt einen Ball auf den Schläger, gibt ihm einen kleinen Schwung und wirft ihn mit aller Kraft seinem Partner zu.«
»Vater meinte, dieses Spiel sei nicht ungefährlich, ich –«
»Sei kein Hasenfuß, Eddy, schau her, so wird es gemacht.«
Mit sicherer Hand warf Lotte das Geschoß durch das Zimmer.
»Ach, das ist nichts Rechtes,« warf Karlhans ein. »Wir wollen nach dem Garten gehen, hier ist es viel zu eng, da kann man nicht ordentlich spielen.«
Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Das lustige Kleeblatt begab sich in den Garten, und hier vergnügten sie sich leidenschaftlich mit dem neuen Spielzeug.
Die buntbefiederten Bälle flogen, geschickt geschleudert, hin und her, besonders Lotte zeigte sich recht gewandt im Abwerfen und Auffangen, während Eddy die Bälle nicht so forsch fortschleuderte, und sie deshalb oft seitlich flogen und so ihr Ziel verfehlten.
»Ach, du bist ungeschickt, Eddy; mußt mehr Kraft anwenden,« schalt Lotte, der sich im Eifer des Spiels die Zöpfe gelöst hatten, ihre Augen blitzten und ihre Wangen zeigten eine erhöhte Farbe.
Karlhans spielte auch mit viel Schwung, immer höher flogen die buntgefiederten Bälle, und immer höher stieg die leidenschaftliche Spiellust.
Eben hatte Lotte einen Ball geschickt losgeschleudert, als Eddy sich unvorsichtig vorneigte. Anstatt, daß er den Ball mit seinem Schläger auffangen sollte, so flog ihm der Ball in das Gesicht.
Mit einem Schrei ließ Eddy den Schläger fallen, er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, unbeachtet fiel das Federspiel zu Boden.
Einen Augenblick stand Lotte sichtlich erschrocken, sie starrte auf Eddy, der bewegungslos stand; dann aber stürzte sie vor und umklammerte Eddys Arm mit beiden Händen.
»Eddy, lieber Eddy, habe ich dir weh getan?« fragte sie angstbewegt. Eddy schüttelte mit dem Kopf, doch die Hände zog er nicht vom Gesicht. Nur mit sanfter Gewalt mochte sie Lotte zu entfernen, da – ein Schrei löste sich von ihren Lippen, der Ball hatte Eddys linkes Auge gestreift, eine schwache Blutspur zeigte an, wo der Ball das Auge getroffen hatte.
Lotte stand tieferschüttert, es zuckte in ihren Mienen, und mit dem Ruf: »Eddy, lieber Eddy, hast du Schmerzen?« brach sie neben dem Spielgenossen in ihre Knie.
»Nein,« flüsterte Eddy.
»Aber das Blut?« stöhnte Lotte.
Der Verwundete suchte ein Lächeln um seine Lippen zu zaubern, doch der Schmerz war stärker als sein Wille, er zuckte zusammen.
Karlhans hatte bei der sich überstürzenden Szene seinen vollen Gleichmut bewahrt, er lief nach dem nahen Springbrunnen, benetzte sein Taschentuch und reichte es Eddy zu.
»Kühle das Auge, stille das Blut. Wie konntest du nur so unvorsichtig sein,« wendete er sich an die Schwester. »Du bist immer vorne weg und nirgends an,« schalt Karlhans.
»Zanke nicht mit Lotte, sie kann nichts dafür, ich selbst habe –«
»Natürlich,« grollte Karlhans. »Du trägst die Schuld, Lotte ist unschuldig wie ein kleines Kind; aber ich weiß, was ich gesehen habe, Lotte ganz allein trägt die Schuld. Sie hat viel zu heftig und viel zu weit geworfen. Mutter wird schelten, wenn –«
»Pfui; Karlhans, du willst petzen?« Eddy hielt sich das wieder angefeuchtete Tuch an das Gesicht. »Wie das kühlt,« bemerkte er noch, dann aber schwankte die zarte Knabengestalt, und hätte der viel kräftigere Karlhans nicht schnell zugefaßt, so wäre Eddy zu Boden gestürzt.
»Da haben wir die Geschichte, nun wird der Junge vom Schreck und Schmerz ohnmächtig; Lotte, ich könnte dich prügeln, uns so den schönen Nachmittag verhunzt zu haben,« schalt Karlhans, dann setzte er milde hinzu: »Was soll das nun werden?«
Lotte hatte alle Farbe verloren, ihr war das Heulen nahe, doch sie beherrschte sich.
»Wir müssen Eddy nach seinem Zimmer bringen,« schlug sie vor. »Wir wollen versuchen, ihn hinauf zu tragen.«
»Mädchen müssen immer Unheil anrichten!« Mit dieser Bemerkung schickte sich Karlhans an, seinen Freund in das Haus zu bringen. »Hier, fasse Eddy am Arm, ich will ihn mit meinen Händen um den Leib nehmen, hm, er ist reichlich schwer, hätte solches Gewicht dem Jüngelchen nicht zugetraut.«
Von den Geschwistern mehr getragen als geführt, wankte Eddy dem Hause zu. Das so innig herbeigewünschte Federballspiel lag unbeachtet auf dem Boden. Lotte hatte keinen Blick mehr dafür, all ihr Denken und Mühen richtete sich auf Eddy, der Wohl klaglos, doch sichtlich nicht schmerzlos den Garten verließ.
»Einen Augenblick halte mal still,« bat Lotte, die Anstrengung hatte ihr eben noch so bleiches Gesicht gerötet, ein Zittern und Beben schüttelte sie, und ihr Atem klang scharf und rauh.
Karlhans blieb stehen, er schlang den Arm fester um Eddy. In diesem Augenblick trat Fräulein Grete, Eddys ältere Schwester, auf den Vorplatz des Hauses. Ein Blick genügte, um ihr die Situation klar zu machen. Mit wenigen Schritten stand sie neben den Kindern.
»Was ist geschehen? Eddy blutet –« fragte sie rasch.
War es die Stimme der Schwester oder die Einwirkung der kühleren Luft, die aus dem Vorplatz herausströmte, Eddy schlug seine Augen groß auf, und die besorgte Miene seiner Schwester bemerkend, sagte er, mühsam jedes Wort formend:
»Ich war ungeschickt, Grete, es ist nicht schlimm, ich möchte nur etwas ruhen.«
Mit vereinten Kräften wurde Eddy, dessen Bewußtsein nach den Worten wieder erloschen schien, in sein Zimmer und auf sein Bett gebracht.
»Karlhans, hole Doktor Schmid, er soll schnell kommen, du, Lotte, lauf in die Küche, Trude soll rasch ein Glas Portwein bringen.«
Dann neigte sich Grete über den Bruder.
»Mein armer Junge, warst so überglücklich und nun mußte das geschehen.«
Mühsam nur schluckte Eddy einige Tropfen des starken Weines, Schwester Grete hatte ihm einen Verband über Stirn und Auge gelegt. Lotte, die sonst so lebhafte Lotte, stand am Kopfende des Bettes und ihre Blicke hingen mit verzehrender Angst an dem totenbleichen Gesicht ihres lieben Gespielen. Wie umschattet waren seine sonst so blanken Augen, welch schmerzlicher Zug hatte sich um seinen Mund eingegraben.
Lotte zitterte vor Angst, das alles war ihr Werk, ihre Unachtsamkeit und Jachheit trugen die Schuld an dem Leiden Eddys.
Lotte regte sich nicht, selbst als Karlhans mit Doktor Schmid ins Zimmer trat, stand sie wie eine Marmorfigur, den Kopf etwas zur Seite geneigt, wie eine Büßerin, die ihrer Verurteilung harrte.
Doktor Schmid untersuchte das jetzt stark angeschwollene Auge, dann aber heiterte sich sein erst ernstgefaltetes Gesicht zusehends auf.
»Fräulein Hoffmann, Sie können von Glück sprechen, das Auge selbst ist unverletzt, freilich ein Nervenchok hat den armen Jungen mitgenommen. Er bedarf anhaltender Ruhe, lassen Sie ihn schlafen, verdunkeln Sie sein Zimmer und halten Sie jede Störung fern. Der Verband sitzt gut, ich erneuere ihn erst morgen früh. Weinen Sie nicht, Fräulein Grete, schlimme Folgen wird die Verwundung nicht nach sich ziehen.«
Zugleich mit Doktor Schmid verließen die Geschwister auf seinen Wink das Zimmer. Lotte hatte wieder etwas Mut geschöpft, der Ausspruch des Arztes belebte sie, doch noch immer lag ein sonst nicht gewohnter Ernst auf ihrem hübschen Kindergesicht.
Karlhans und Lotte kehrten sichtlich befangen und aufgeregt in ihr Elternhaus zurück.
»Was würde ihre Mutter sagen, würde sie die Tochter hart strafen?« Lotte fürchtete sich, vor ihre Mutter zu treten, ihre Schritte verlangsamten sich, je näher sie der Schmiede kamen.
Frau Hildebrandt war ausgegangen, Lotte atmete etwas auf – am Ende – sie wagte ihre Gedanken nicht weiter auszumalen, freilich, Karlhans, würde er schweigen? Sie suchte den Bruder, er war nicht mit ins Wohnzimmer gekommen, er blieb gern in der Schmiede und versuchte mit seiner schwachen Kraft sich nützlich zu machen. Die Gesellen hatten ihn alle gern, während Lotte bei ihnen wenig beliebt war.
Auch heute, wo doch jedes Alleinsein ihre Stimmung bedrückte, blieb sie im Wohnzimmer. Lange saß sie nachdenkend am Fenster, dann aber seufzte sie schwer auf und nahm das sonst stets verschmähte Strickzeug zur Hand.
Als Frau Hildebrandt heimkehrte, fand sie Lotte zu ihrem Erstaunen eifrig strickend vor. Sie staunte, doch sie sprach nicht davon, am Ende sah Lotte ein, daß sie nun zu groß war, um auf der Straße herumzuschwärmen.