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Emmerich war im Begriff abzureisen. Ilsedore begleitete ihn zur Bahn.
»Komm bald wieder!« rief Tante Mieze dem Scheidenden nach, nach.
»Gewiß, auf frohes Wiedersehen!« Emmerich schwenkte seine bunte Mütze zum Lebewohl. »Auf frohes Wiedersehen,« wiederholte er, dann verschwand der Marktplatz mit dem schmalen, hochgiebeligen Hause seinen Blicken.
Der Zug war schon gemeldet, als die Geschwister den Bahnsteig betraten, und da zufällig eine Anzahl Reisender auch diesen Abendzug benutzten, so herrschte hier reges Treiben.
»Leb' wohl, Schwesterlein! Laß dir den Abschied nicht zu nahe gehen. Ich komme bald wieder, 's ist ja nur ein Katzensprung von Berlin hierher. Tante Mieze ist ein fideles Haus und gar nicht knauserig, hat mir fünfzig Mark zum Abschied geschenkt.«
Die rot funkelnden Augen der heranbrausenden Lokomotive blitzten durch den hereindämmernden Abend. Der Zug hielt. Emmerich umarmte sein Schwesterlein.
»Bleibe gesund und denke nicht soviel nach über Dinge, die sich nicht ändern lassen. Immer frisch und fröhlich das Leben genießen, das ist der beste Weg, um glücklich zu sein.«
»Fertig!« rief der Stationsvorstand. Dann ein Anrücken der Wagen, die Verbindungsketten klirrten, die Räder stampften, und dahin rollte der Zug. Schnell war er den Augen der Zurückbleibenden entschwunden.
Der Platz vor dem Bahnhof war ziemlich schwach beleuchtet. Ilsedore kam aus der helleren Beleuchtung des Bahnsteiges; verwirrt blieb sie einen Augenblick stehen und strich sich, wie um besser sehen zu können, über die Augen. Dann schritt sie die Stufen zum Vorplatz hinab.
In diesem Augenblick vernahm sie ein seltsames Geräusch, ein Rattern und Fauchen, plötzlicher, heller Lichtschein erhellte das Dunkel, er blendete ihre Augen, und sie sah nichts mehr. – Da fühlte sie sich plötzlich festgehalten – sie stieß einen Schrei aus, dann war es ihr, als fiele sie, fiele sie klaftertief hinab. – Die Sinne schwanden ihr – Nacht, tiefe Nacht umhüllte sie.
»Was – wo bin ich?« fragte sie mit bebender Stimme. Mit noch geschlossenen Augen tastete sie nach allen Seiten. Seltsam, sie lag auf einem gepolsterten, mit Leder überzogenen Kissen, und neben ihr stand jemand und hielt ihre eine Hand. Merkwürdig, Emmerich war das nicht, zwar glich er ihm an Gestalt – doch – Ilsedore versuchte sich zu erheben, da – eine fremde, milde und tiefe Stimme schlug an ihr Ohr:
»Bleiben Sie still liegen, Sie erschrecken sich und dann –«
»Ja, ja, aber wie, wie komme ich in den Wagen? Ich will nach Hause gehen und –«
»So schnell geht das nicht. Bleiben Sie still liegen. In den Wagen kamen Sie auf eine ganz einfache, natürliche Weise. Ich wartete oben im Vorraum auf mein Auto, da kamen Sie vom Bahnsteig her und schritten die Stufen zum Bahnhofsplatz hinab. In diesem Augenblick fuhr mein Auto etwas scharf um die Hausecke. Das helle, elektrische Licht der Lampen mag Sie erschreckt haben, ich merkte, wie Sie schwankten – da blieb mir gerade noch so viel Zeit, zuzufassen und Sie vor dem Sturz die Stufen hinab zu bewahren.«
Ilsedore hatte, ohne sich zu regen, seinen Worten gelauscht, ein Gefühl von Ruhe und Geborgensein war über sie gekommen, ja sie fühlte sich stark genug, um nach Hause zu gehen. Sie erhob sich, doch mit einem Schrei sank sie auf das Polster zurück.
»Haben Sie sich wehe getan?« fragte der fremde Herr.
»Nein, es ist schon wieder gut. Ich danke Ihnen, mein Herr, für Ihre Hilfe, jetzt muß ich aber schleunigst nach Hause, meine Tante erwartet mich, ich –«
»Sie haben mir nicht zu danken, ich muß vielmehr für meinen Chauffeur um Verzeihung bitten, er fuhr gar zu schnell hier vor. Und zu Ihrer Frau Tante bringe ich Sie, ich muß doch wissen, daß Sie ungefährdet heimkommen.«
»Ja, aber –«
»Hier gibt es kein Aber, doch vorher möchte ich mich Ihnen noch vorstellen,« fuhr er, in den Wagen steigend, fort. »Doktor Hillinger.«
Als wäre ein Blitzstrahl neben Ilsedore herabgesaust und hätte ein Eden in eine Wüste verwandelt, so heftig erschrak sie.
Doktor Hillinger, Josephas Bruder, der, wie sie heute morgen im Seminar erfahren hatte, seit zwei Tagen zum Besuch seiner Eltern hier weilte! – Der Sohn von Tantes Todfeind, der einzige Mensch, den sie glühend haßte! Nein, in dessen Gesellschaft durfte sie, ohne Tante auf das empfindlichste zu kränken, nicht nach Hause kommen.
»Bitte, lassen Sie mich aussteigen, ich denke, die frische Luft wird mir wohl tun.«
»Auf keinen Fall gestatte ich das, Sie sind noch viel zu erregt, um allein nach Hause gehen zu können. Wir können ganz langsam fahren, wenn Ihnen die schnelle Fahrt unangenehm ist.«
Ohne ihr Zeit zum Widerspruch zu lassen, nahm er den Platz neben ihr ein, stützte sie mit Kissen und Decken und rief: »Anton, recht langsam fahren!« Dann lachte er plötzlich hell auf. »Ja, mein Himmel, nun weiß ich nicht einmal, wohin ich Sie überhaupt bringen soll.«
Aber Ilsedores Lippen huschte ein nervöses Beben, als sie nun sagte: »Zum Markt Nummer vier, dem ehemaligen Bäckerobermeisterhaus.«
»Weiß schon, an dem die goldene Brezel hängt,« erwiderte der Chauffeur, in dem er den Wagen ankurbelte.
»Langsam, nur ganz langsam!« befahl Herr Doktor Hillinger.
Ilsedore zitterte vor dem, was nun kommen mußte, dennoch wagte sie ihre Angst nicht in Worte zu kleiden. Sie überlegte, sollte sie ihren Helfer in der Not bitten, sie vorher aussteigen zu lassen? Dann aber mußte sie ihm sagen, daß – nein, um alles in der Welt, sie hätte kein Wort von dem alten Zwist, der ihr in diesem Augenblick so nichtig, kindisch erschien, über ihre Lippen gebracht. Doch trotz aller Angst wagte, sie, einen kurzen Seitenblick auf ihren Nachbar zu werfen.
Doktor Hillinger war ein schöner Mann, eine sehr elegante Erscheinung, die gar nicht in die Schlichtheit dieses Ackerstädtchens passen wollte. Ilsedore errötete, sein Blick hatte sie getroffen, der in einer Ilsedore völlig unbegreiflichen Art und Weise auf ihr ruhte.
Das Auto fuhr sehr langsam, doch für Ilsedores Empfinden immer noch viel zu schnell, sie hätte am liebsten bis in alle Ewigkeit so fort fahren mögen.
Der Eingang zum Städtchen, das altertümliche Tor, war schon passiert. Jetzt bog das Auto in die Straße, die nach dem Markte führte, ein. Ilsedore fühlte, wie ihr das Herz klopfte. – Noch einen Augenblick, dann kam das Verhängnis.
Im Licht einer Gaslaterne sah Ilsedore Tante Mieze, sie stand mit Sophie auf der Steintreppe vor der Haustür. Beide Gestalten hoben sich scharf umrissen von dem im Dunkel liegenden Hauseingang ab.
»Tantchen, ich komme, hast du dich über mein Ausbleiben geängstigt?« fragte Ilsedore, noch ehe der Wagen hielt.
Doktor Hillinger kam ihr jedoch zuvor, er stieg aus und zog ehrerbietig seinen Hut vor der alten Dame.
»Was – wer sind Sie?« schrillte es gellend von Tante Miezes Lippen. Wie zu Stein erstarrt, blickte sie dem jungen Herrn entgegen. »Dieter, du – Dieter!« schrie sie gellend auf.
»Sie kennen mich?« fragte Dieter Hillinger.
»Ob ich dich kenne, Dieter, wenn auch Jahre dahingegangen sind, seit ich dich das letzte Mal gesehen, ich –«
Ilsedore hatte das Auto sehr schnell verlassen. Auf einen Wink seines Herrn rollte es die Straße entlang.
»Ich verstehe Sie nicht –« stammelte Doktor Hillinger.
Tante Mieze war totenbleich geworden, ihre Hand, die Ilsedore fest mit beiden Händen umspannt hielt, bebte, die Gestalt der alten Dame erzitterte wie in Fieberschauern.
»Gehen Sie, ich sehe jetzt meinen Irrtum ein. Sie gleichen Ihrem Vater, im ersten Moment der Überraschung glaubte ich, er stehe vor mir. Lächerlich, er hat weiße Haare, und seine Augen sehen nicht mehr so scharf, er ist gleich mir alt geworden. Doch gehen Sie. Ilsedore, reiche mir deinen Arm, wir wollen nichts zu tun haben mit den Hillingers.«
Stolz aufgerichtet wendete sich Tante Mieze, Sophie riß die Haustür auf, helles Licht flutete aus der Diele. – Ohne den Draußenstehenden nur noch eines Blickes zu würdigen, schritt sie, Ilsedore mit sich führend, in das Haus. Hinter ihnen fiel die Tür krachend ins Schloß.