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Mehrere Tage waren seit Johannes' Flucht vergangen. Emmerich hatte vergeblich auf ein Lebenszeichen des Jugendfreundes gewartet. Spurlos war er verschwunden.
Apotheker Helldorf erschien um Jahre gealtert. Er betrieb voller Hast die Auflösung seines Haushaltes, um dann mit seiner Tochter nach Süddeutschland, der Ort seines neuen Wohnsitzes stand noch nicht fest, zu reisen.
Margarete und Ilsedore waren viel zusammen, ja auch Elisabeth erschien in Begleitung ihres Bruders in der Apotheke. – Johannes' Flucht war nicht mehr der einzige Gesprächsstoff der jungen Leute, sondern jetzt stand die Trennung von Margarete im Vordergrund des Gespräches.
Ilsedore war tief betrübt, der Abschied von Grete wurde ihr unendlich schwer. Zwar blieb ihr noch Elisabeth, doch erstens war sie fast zwei Jahre jünger als Ilsedore, und dann war ein so ungezwungener Verkehr, wie zwischen Ilsedore und Grete, niemals mit Elisabeth möglich. Durch ihre ganze Erziehung, die noch nicht vollendet war. und die Lebensanschauungen der Eltern – Vater Mellenhoff war ein Beamter des Kommerzienrates – wurde eine allzu innige Freundschaft nicht gefördert.
Emmerich dachte an seine Abreise. – Er wünschte noch vor Anfang des Wintersemesters in Berlin einzutreffen, um sich im Hause seines Onkels und in der großen Stadt erst etwas heimisch zu machen, ehe er an sein Studium denken wollte.
Auch Leo verließ auf Wochen die kleine Stadt. Sein Vater hatte ihm zur Belohnung seiner Fügsamkeit und seines guten Examens eine Fahrkarte für einen Dampfer geschenkt, der von Hamburg aus seine Reise nach dem Nordkap in wenigen Tagen antrat.
Dann blieb Ilsedore völlig vereinsamt zurück. In der Stadt selbst hatte sie niemals Verkehr gehabt – es gab dort auch keine Familie, mit der sich Ilsedore eine nähere Bekanntschaft wünschte.
Eines Vormittags saß Ilsedore auf der kleinen Bank vor der Haustür. Sie schnippelte grüne Bohnen zum Einmachen für den kommenden Winter ein.
»Grüß Gott, Fräulein!« Mit diesen Worten betrat der alte Postbote den Garten. »Ein Briefchen an den Herrn Papa!«
Ilsedore blickte gleichmütig dem Mann entgegen. Sie ließ sich in ihrer Arbeit nicht stören.
»Legen Sie den Brief nur hierher,« sagte sie nachlässig. »Vater muß bald kommen.«
Der Postbote tat dies und empfahl sich darauf.
Ilsedore schnippelte ruhig weiter, kein Blick traf das Schreiben. Auch als dann bald ihr Vater in den Garten trat, begrüßte sie ihn mit einem zärtlichen Kusse, und erst dann übergab sie ihm den Brief.
»Tante Mieze scheint dieses Mal sehr schreibselig gewesen zu sein, solche dicken Briefe läßt sie selten vom Stapel,« bemerkte er.
Dann nahm er Platz am Tische und schnitt bedächtig den Briefumschlag auf. Er las, und sein Gesicht überzog dabei ein leises Lächeln.
»Die Mieze bleibt halt die alte,« sagte er, ohne sich im Lesen zu unterbrechen, dann aber stutzte er und flüsterte: »Hm, hm!« Der Inhalt des Briefes schien ihn doch mehr zu interessieren, als er vorher gedacht hatte. Endlich faltete er den Brief zusammen und steckte ihn in seine Brusttasche.
»Wollen erst essen,« sagte er zu Ilsedore gewendet.
»Was schreibt denn Tante?« fragte sie, neugierig geworden.
»Wirst es gleich erfahren. Jetzt Ruhe – Muttchen kommt. Wo bleibt Emmerich?«
Man hörte ein Gepolter auf der Holztreppe, dann erschien der Sohn des Hauses.
Die Mutter folgte ihm auf dem Fuße, und bald war man eifrig beschäftigt, sich an dem vortrefflich zubereiteten Bohnengemüse mit Rindfleisch zu laben.
Endlich legte Vater Messer und Gabel aus der Hand. Er wendete sich an seine Gattin.
»Hier, Betti, ein Brief von meiner Schwester, 's ist Frauensache, ich muß sofort nach dem Kontor – erwarte nämlich einen telefonischen Bescheid aus Hamburg.«
Er erhob sich, grüßte seine Familie und hastete dann auf dem Wege zur Fabrik davon.
Frau Mellenhoff betrachtete den Brief von allen Seiten. Sie schwärmte nicht für ihre altmodisch denkende und lebende Schwägerin, doch kaum hatte sie ein paar Zeilen gelesen, als sie wie elektrisiert aufsprang.
»Ilsedore, höre, was Tante Mieze schreibt. Nein, so etwas, die alte Dame denkt auf einmal ganz modern!«
Bei der Anrede halte sich Ilsedore flugs erhoben, sie trat hinter den Stuhl ihrer Mutter und mühte sich, die zitterigen Schriftzüge der Tante zu enträtseln.
»Hier, lies lieber vor!« meinte die Mutter, und Ilsedore las:
»Mein lieber Bruder!
Ich hoffe, daß Du und die Deinen bei guter Gesundheit seid. Mir geht es auch ganz gut, nur das Alter macht sich bemerkbar. Heute ergreife ich nun die Feder, um Dir etwas ganz Neues mitzuteilen. Denke Dir nur. in Wengstädt ist soeben ein Seminar für junge Mädchen eröffnet worden. Ja, ja, unser Herr Bürgermeister versteht es, mit der neuen Zeit mitzugehen. Und da, da mußte ich auch gleich an Deine Ilsedore denken. Betti schrieb mir ja letzthin, daß Dein Kind Lust habe, ein Seminar zu besuchen; daß aber bei Euch noch immer Schmalhans regiert und der Emmerich so unmenschlich viel Geld kostet. Ich machte mich gleich auf den Weg zum Herrn Bürgermeister. Du kennst den neuen Herrn Bürgermeister nicht, er ist ein hübscher, leutseliger Mann, der auch anderen Menschen etwas Gutes gönnt. Ihm trug ich meine Bitte vor. Ilsedore als Schülerin im Seminar aufzunehmen. Da überreichte er mir beiliegendes Heftchen, das ich pflichtschuldigst schicke. Lies es durch und lasse mich dann Deinen Willen hören. Bei mir kann Dorchen umsonst wohnen und essen. Na, Ihr werdet gewiß auch einmal ein Päckchen Eßwaren schicken. Das Schulgeld scheint mir nicht teuer zu sein. Für die Hälfte des Geldes könnte ich schon einspringen. Mehr lassen meine Verhältnisse nicht zu. Aber Ihr müßt Euch bald entschließen, denn die neue Anstalt soll sehr fein sein, es kommen schon, wie mir der Herr Bürgermeister sagte, aus allen Teilen Thüringens die Anfragen für Aufnahme. Allein der Herr Bürgermeister hat mir durch Handschlag versprochen, daß meine Nichte als angenommen gelten soll. Lebe wohl, viele Grüße, und antworte mir baldigst.
Deine alte Schwester Mieze.«
»Heureka! Schwester Ilse, nun ist es erreicht!« rief Emmerich erfreut.
Wie ein Siegeszeichen schwenkte Ilsedore das Briefblatt – dann, im Überschwang ihrer Freude, fiel sie ihrer Mutter um den Hals.
»Ach Mutting, Mutting! Die liebe Tante, die gute Tante!« jauchzte sie hell durch den Raum.
»Fasse dich, Kind,« bat die besorgte Mutier. »Du regst dich gleich viel zu sehr auf.«
»Ach Muttchen, ich kann mein Glück noch gar nicht fassen. Wird Vater noch heute Tantes Brief beantworten?«
»Gewiß, Kind, Tante schreibt ja, es eilt.«
»Weißt du, Muttchen, ich möchte gleich die ganze Welt umarmen.« flüsterte Ilsedore, heiser vor Aufregung.