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Zehntes Kapitel
Unverhoffter Besuch

Allmählich hatte der Sommer Abschied genommen, und man marschierte nun stracks auf den Herbst los. Das Wetter war noch immer köstlich schön. Im Garten sammelte die alte Sophie den reichen Erntesegen ein, und ein klarer, blauer Himmel wölbte sich über der sonnenbeschienenen Landschaft.

Niemals wieder war Tante Mieze auf jenes Gespräch zurückgekommen, und der Name Josephas war niemals wieder erwähnt worden. Hatte die alte Dame dies alles vergessen? Oder wollte sie nicht daran erinnert sein?

Wohl hatte Ilsedore bei der Aufnahme in das Seminar eine sehr gute Prüfung abgelegt, sie hatte eben Glück gehabt. Als dann später der Unterricht begann, da merkte sie zu ihrer großen Überraschung, daß es doch noch ziemliche Lücken in ihrem Wissen, ihren Kenntnissen gab.

Nun setzte sie sich nur noch ein Ziel, sie mußte ihre Kräfte aufs äußerste anstrengen, um jene Lücken auszufüllen, und um nicht von einer anderen Mitschülerin überflügelt zu werden.

Seltsamerweise hatte sich in der Mittelklasse des Seminars kein eigentlicher Verkehr zwischen den Schülerinnen eingestellt. Die größte Anzahl davon war ortsfremd und lebte in Pensionaten. Naturgemäß hielten diese jungen Mädchen zueinander, sie waren ja tagsüber auf sich angewiesen; so kam es, daß die übrigen jungen Mädchen nur sehr wenig Umgang fanden.

Ilsedore fühlte auch kein Verlangen nach Mädchenfreundschaften. Sie wünschte das sich selbst gesteckte Ziel zu erreichen, deshalb arbeitete sie mit unermüdlichem Eifer, und ihre wenigen freien Stunden widmete sie ihrer Tante und ihrer geliebten Musik.

Darin hatte sie riesige Fortschritte gemacht. Ihre von Natur angenehme Stimme hatte an Umfang und Stärke bedeutend gewonnen, ihr Lehrer war mit ihr sehr zufrieden, und Tante Mieze liebte es, sich in den Dämmerstunden von ihrem »Dorchen« ein paar Volkslieder Vorsingen zu lassen.

Als dann die ersten herbstlichen Tage kamen, fühlte sich Tante Mieze oft leidend. Zwar versuchte sie ihre Schmerzen vor den Augen der jungen Nichte zu verbergen, ja sie wies jede Hilfsleistung sogar schroff zurück; doch Ilsedore ließ sich nicht abschütteln, sie kam wieder und wieder, und zuletzt sah es Tante recht gern, wenn sich Dorchen um sie bemühte. Ihre Hände waren viel zarter als die abgearbeiteten Hände der alten Sophie, die wohl ihre Herrin gern bediente, doch nicht das rechte Zeug zu einer liebevollen Pflegerin besaß.

Trotzdem sie es mit keinem Worte äußerte, so litt Ilsedore unter der Einwirkung eines starken Heimwehs. Sie sehnte sich nach dem kleinen Hause am Waldesrand, nach Vater und Mutter, nach dem einfachen, doch fröhlichen Leben im Elternhause.

Zwar war es in der Heimat auch stiller geworden. Ilsedore wußte ja, daß Helldorfs, ihre liebsten Freunde und Jugendgenossen, weit weggezogen waren. Mit Margarete Helldorf hatte Ilsedore noch zweimal Briefe gewechselt, dann war ihr letzter Brief ohne Antwort geblieben. War die lustige Grete krank? Von Johannes Helldorf war feit seiner Flucht aus dem ›König Salomon‹ niemals wieder eine Nachricht eingetroffen. Er war. ohne eine Spur zu hinterlassen, verschwunden. – War er verdorben, gestorben?

Auch von Elisabeth Wehrhaus hatte Ilsedore keinerlei Nachricht erhalten, obschon die jungen Mädchen einen lebhaften Briefwechsel verabredet hatten. Nur aus Briefen ihrer Mutter hatte Ilsedore erfahren, daß Elisabeth nach Montreux in der Schweiz in dasselbe vornehme Pensionat geschickt worden war, in dem auch die Erziehung ihrer älteren Schwester Hortense den letzten Schliff erhalten hatte.

Wie oft hatte Ilsedore, wenn Tante Mieze die müden Augen zugefallen waren, an die Geschicke und das Leben dieser ihrer Jugendfreunde gedacht, ohne eine Antwort auf ihre bangen Fragen zu finden.

So war es auch eines Tages Ende August. Schon sanken die Schleier des frühen Abends herab. Ilsedore hatte der Tante das alte, schöne Lied vom »Lindenbaum vor dem Tore« vorgesungen. Die alte Dame hatte mit gefalteten Händen still dem Gesange gelauscht. Dabei war ihr das Haupt an das weiche Polster des Ohrenstuhles gesunken, sie hatte sich zwar noch ein paarmal aufgerichtet, dann waren ihr die alten Augen aber zugefallen. Sie war eingeschlafen. Um die liebe Schläferin nicht zu stören, war Ilsedore am Klavier sitzengeblieben. Ihre Hände ruhten noch aus den vom Alter gelblich getönten Elfenbeintasten des altertümlichen, tafelförmigen Instrumentes, als es plötzlich laut und vernehmlich an die Haustür klopfte.

Ilsedore lauschte. Sie stutzte – war das nicht eine Männerstimme? Aber wer klopfte noch so spät am Abend bei Tante an? Und seltsam, die Stimme erschien Ilsedore sehr bekannt. – Wer – war – das?

Vorsichtig erhob sie sich, um nachzusehen. Tante Mieze war von dem Geräusch nicht erwacht. Auf den Fußspitzen balanzierend, durchschritt Ilsedore das Zimmer. Sie öffnete – da –

»Ein Wanderbursche bittet um einen kleinen Zehrpfennig,« vernahm Ilsedore.

Die alte Sophie wollte eben barsch die Türe zuschlagen, als Ilsedore mit dem Ausruf: »Emmerich, mein geliebter Emmerich!« dem Wanderburschen an die Brust sank.

Wäre der Himmel neben Sophie eingefallen und hätte das ganze Haus zerstört – Sophie hätte nicht erstaunter blicken können als jetzt, wo Ilsedore ihre beiden Arme fest um den Hals des fremden Mannes legte und immer nur voller Entzücken ausrief: »Emmerich, mein Emmerich! Endlich, endlich sehe ich dich wieder! Wie lange schon habe ich mich nach dir gesehnt!«

In diesem Augenblick erst bemerkte Ilsedore die alte Sophie. Im Überschwang ihrer Überraschung hatte sie nur Augen für Emmerich gehabt.

»Komm,« sagte sie und dem Fremden die Hand reichend, zog sie diesen über die Schwelle hinein in den Vorflur. Dann flog ein listiges Lachen über ihr strahlendes Gesicht und einen tiefen Knicks vor Sophie machend, sagte sie humorvoll: »Bitte, Fräulein Sophie, ich möchte Ihnen meinen Bruder Emmerich vorstellen, der auf seiner Harzreise hier mit herangekommen ist, um mich wiederzusehen und Tante kennenzulernen.«

Emmerich streckte der Alten die Hand entgegen. »Grüß' Sie Gott – altes Haus.«

Doch Sophie zog ihre Hand zurück und verbarg sie, eines neuen Angriffes gewärtig, unter ihrer weißen, steifgestärkten Schürze.

»Nun, dann nicht, liebe Tante,« bemerkte Emmerich, während seine Schwester ihn nach ihrem Zimmer zog.

»Warte hier einen Augenblick, ich muß Tante Mieze erst aus dein Erscheinen vorbereiten, 's ist schon spät,« setzte sie erklärend hinzu.

»Na – nun, zu spät – in Berlin fängt jetzt das Leben erst richtig an.«

»Hier hat es lange schon aufgehört,« erwiderte Ilsedore, die Tür schließend.

»Nee, nee, so was lebt nich, kommen bei nachtschlafender Zeit fremde Herrens zum Besuch. Nee – nee, so was janz Neies.«

Mit diesen ziemlich laut gesprochenen Worten verschwand die alte Sophie in ihre Küche.

»Was geht da draußen vor sich?« fragte Tante Mieze. »Ich hörte Sophiens Stimme und – und – auch die Stimme eines Mannes.«

»Ganz recht. Emmerich hat einen Abstecher nach Wengstädt gemacht. Er wollte dich so gern kennenlernen und –"

»Sein Schwesterlein besuchen. Na freilich, da wird Sophie aus dem Häuschen gehen, ich denke, ein fremder Herr hat seit langen Jahren meine Schwelle nicht betreten. Wohin hast du ihn gebracht, Dorchen? Hole ihn, ich bin auf seine Bekanntschaft neugierig.«

Emmerich verstand es gut, sich mit der alten Dame zu befreunden. Es war kaum eine halbe Stunde verflossen, da saß er auf dem steiflehnigen Sofa neben Tante Mieze. Er erzählte ihr in seiner lebhaften, humorvollen Art und Weise von Berlin, von Onkel und Tante, von seinem Studium und von den Abenteuern und Erlebnissen seiner Harzreise, so daß Tante Mieze gar nicht aus dem Lachen herauskam.

Ein Klingelzeichen rief Sophie herein. Ihre neugierig funkelnden Augen durchforschten suchend das Zimmer.

»Denke nur, Tante, deine Sophie hat mir nicht mal die Hand zum Willkommen gereicht.«

Lächelnd drohte Tante Mieze der bestürzt dastehenden Sophie mit der Hand.

»Pfui – Alte, hast du so wenig feine Lebensart bei mir gelernt? Bessere dich, geh in dich. Jetzt aber nimm die Kellerschlüssel, auf dem Brette rechts liegen die grüngold gesiegelten Weinflaschen, hole eine davon herauf und bringe uns die gelben Römer.«

Je länger Tante Mieze sprach, desto größer öffneten sich die Augen Sophies.

»Na – na, Madamchen, aberst vom Grüngesiegelten soll ich holen, das ist doch der Kindtaufswein vom Herrn Obermeister.«

»Geh und rede nicht so viel. Dazu noch solch dummes Zeug.«

So rasch, als es ihr Alter erlaubte, verschwand Sophie und erschien nach wenigen Minuten wieder.

Ilsedore nahm ihr Gläser und Flasche ab, der Bruder handhabte mit erstaunlicher Gewandtheit den Pfropfenzieher, und Schwesterchen goß ein.

»Das erste Glas auf dein Wohl, liebe Tante!« rief Emmerich.

Verschämt errötend wie ein junges Mädchen, dankte Tante Mieze. Sie nippte nur von dem edlen Tropfen, während Emmerich sein Glas austrank.

»Nagelprobe, Tante! Dein Wein schmeckt vortrefflich!« rief der Student, sein Glas wieder füllend.

»Ist auch eine feine Marke,« erwiderte die Tante. »Mein guter Großvater erhielt ihn zum Geschenk, als er sein Amt als Obermeister der hiesigen Bäckerinnung niederlegte,« erzählte sie.

Ilsedore staunte. So lebhaft hatte sich Tante nicht an dem Gespräch beteiligt, als ihr Vater hier weilte. Ja, ja, der Emmerich, das war ein Tausendsassa, ein Schwerenöter, er verstand es, alte und junge Damen zu unterhalten.

Die Uhr auf der Diele schlug die mitternächtliche Stunde an.

»Tantchen, bist du nicht müde?« fragte Ilsedore.

»Nein, Dorchen, ganz und gar nicht. Der Sandmann hat Reißaus genommen, als der flotte Bruder Studio anrückte,« bemerkte sie. Ein feines Lächeln verschönte ihr Gesicht.

Emmerich neigte sich über ihre Hand und küßte sie zärtlich.

Ilsedore kam aus dem Staunen gar nicht heraus. Tante ging sonst stets zeitig zur Ruhe, und heute saß sie noch um Mitternacht luftig und munter in ihrem Stuhl.

»In unseren Weihnachtsferien fahren wir zusammen zu den Eltern. Ich hole euch ab.«

»Natürlich, mein Jungchen. Da wollen wir mal wieder lustig sein.« Gedankenvoll blickte sie vor sich hin. »Richtig, sind gerade zwanzig Jährchen her, seitdem ich das letzte Mal mein Haus verließ. Ich –«

Das nächste Wort blieb ungesprochen. Die Zimmertür öffnete sich ganz leise, und die alte Sophie, schon die mächtige, gestärkte Schlafhaube auf dem Kopf, erschien.

»Alle guten Geister,« rief Emmerich aus, und in komischem Entsetzen faltete er seine Hände.

»Ich wollte man nur fragen, ob wir heute jar nich zu Bett jehen?« preßte sie mit ihrer tiefen Grabesstimme heraus.

Tante Mieze und die Geschwister lachten hell auf.

»Aber Sophie, ich denke, wir leben das ganze Jahr nach der Uhr – heute wollen wir mal über die Zeit herrschen und uns nicht sklavisch daran binden,« warf Ilsedore ein.

»Janz jut, doch Madame? Solche wilden Sachen sind nur für junge Herrschaften,« meinte Sophie.

Emmerich hatte ein volles Glas eingeschenkt.

»Hier, Sophie, trinken Sie auf Tantes Wohl einen Schluck. – Feste, nicht so zimperlich. Nagelprobe, sage ich Ihnen!«

Sophie ließ sich zureden, doch als sie getrunken hatte, meinte sie: »Kurios, mir wird janz schwindlig.«

»Schadet nichts, Sophie, kennen Sie nicht das schöne Lied: ›Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann‹?«

»Sophie, lasse dich nicht verulken. Der Emmerich ist ein ganz Schlimmer! Komm, gib mir deine Hand, geh zu Bett, ich will schon Tante versorgen. Du hast recht, 's ist höchste Zeit, schlafen zu gehen.«

Von Ilsedore geleitet, schwankte Sophie aus dem Zimmer, nicht ohne noch einen anklagenden Blick auf Emmerich geworfen zu haben. Als Ilsedore dann zurückkehrte, traf sie Tante und Neffen in ein ernstes Gespräch vertieft.

»Ja, Tantchen, zwei Semester sind abgehaspelt, nun noch vier, dann werde ich wohlbestallter Kandidat theol. Nach weiteren zwei Jahren steige ich in das Staatsexamen, und dann erhalte ich in irgendeinem Neste eine Pastorei.«

»Aber nun zu Bett!« warf Ilsedore ein.

»Wollen erst noch den Rest austrinken,« schlug Emmerich vor, die fast geleerte Flasche gegen das Licht haltend.

»Emmerich hat recht – Ilsedore, du mußt dich fügen,« entschied Tante Mieze, dann aber folgte sie ihr doch in ihr Schlafzimmer.


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