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Die Krone der Ottonen.

I.

Auf den Dächern und Giebeln des Stiftes zu Quedlinburg lag Vollmondglanz. Jede Zinke schimmerte, fast taghell beleuchtet ragten Erker und Chor in die stille Spätsommernacht hinaus und warfen ihre tiefen Schatten über den Hof, wo die Linde ihre Blätter in den steinernen Brunnen streute. Kein Laut ging durch die Nacht. Ab und an nur regte es sich im Weinlaub an der Mauer, wo die Spatzen schliefen, oder durch die Wipfel der Linde ging ein Rauschen – sonst kein Ton ringsum, als wäre der stolze Bau verlassen und vergessen von aller Welt. Und doch herrschten Leben und Wille hinter den Stiftsmauern, und das Regiment einer festen, starken Hand reichte über dieselben hinaus – das Regiment einer Frau. Seit dem Jahre 1515 lenkte eine Tochter der Harzgrafen, Anna II. von Stolberg, mit Weisheit und Treue die Geschicke des Stiftes Quedlinburg. Sie war eine eifrige Förderin der Lehre Luthers, eine Beschützerin der Armen und Notleidenden, eine Frau mit großen Gaben und weitem Herzen, die sich des eigenen wie des fremden Rechtes bewußt war. In jeder Weise war sie auf das Wohl ihrer Untergebenen bedacht, aber mit sichtender Schärfe schied ihr Gerechtigkeitssinn die Spreu vom Weizen. Trotz schwerer Zeiten, trotz Krieg und Unruhen blühte das Stift unter der segensreichen Regierung der Äbtissin Anna, und Hoch und Niedrig verehrte die Frau im geistlichen Kleide wie eine Heilige. – –

Von St. Wiperti klang es zwölf durch die Nachtstille. Ein Käuzchen flatterte schreiend an den Ufern der Bode, und der Wächter begann den Rundgang um das Jungfernstift. Die hohen Fenster lagen im Dunkel tiefer Nischen, von Efeu und wildem Wein umkränzt, nur im Gemach der Äbtissin brannte noch Licht und der greise Hüter des Stiftes sah einen Schatten hinter den Vorhängen. »Nicht einmal die Nachtruhe vergönnt sich die hochwürdige Frau!« murmelte er vor sich hin, dann stieß er kräftig in sein Horn und verkündete die Mitternachtsstunde mit hallendem Sang:

»Lobet den Herrn!
Zwölf hat's geschlagen in Nähe und Fern'!
Habt acht auf die Zeichen der schwindenden Zeit!
Habt acht auf das Nahen der Ewigkeit!
Denn den Toren zum Hohn
Vom himmlischen Thron
Wird richtend erscheinen des Menschen Sohn!
Lobet den Herrn!«

Aber der Mahnruf verklang und das Licht hinter dem Linnen leuchtete hell wie vordem. »Sie tut sich zuviel!« meinte er, das weiße Haupt schüttelnd. »Der Hochgelobte gesegn' es ihr am frohen Tag!« Am jüngsten Tage. und langsam schritt er weiter auf die andere Seite des Stifts. Weithin klang wieder und wieder der Wächterruf, und die Bode rauschte ihr nächtliches Lied dazu – dann war alles still.

Aber oben im Gemach der Äbtissin saßen zwei beieinander und hielten eifrige Zwiesprache. Die eine der zwei Personen war die hochwürdige Frau selber. Es lag etwas Gebietendes in ihrer Haltung, in der Art, wie sie das klösterliche Gewand trug, in dem klaren Blick der stahlgrauen Augen, in dem schmalen Mund mit seiner Entschlossenheit, endlich in dem stolzen, fast hochmütigen Ausdruck ihres Antlitzes – aber was einst dem heranblühenden Mägdlein die Schönheit beeinträchtigt haben mochte, das kleidete die jungfräuliche Gebieterin des Stifts gar gut und hob die Würde der Frau im geistlichen Kleide. In den hochlehnigen Armstuhl zurückgelehnt, blickte sie fragend auf ihr Gegenüber, einen Mann in der Jahre Blüte in ritterlichem Gewande. Eine hohe, edle Gestalt war's, das stolze, klare Antlitz glich dem der Klosterfrau – sie waren Bruder und Schwester. Graf Wolff von Stolberg-Wernigerode weilte häufig als Gast im Stift zu Quedlinburg; er war der Äbtissin nicht nur ein liebevoller Bruder, sondern ein treuer Freund und Berater, dem das Wohl des Hauses, dessen Hüterin eine Tochter seines Geschlechts war, am Herzen lag, als sei es seine persönliche Angelegenheit.

»Euer Liebden haben recht, der Domschatz ist in Quedlinburg nicht mehr sicher,« sagte er mit gedämpfter Stimme. »Kurfürst Johann Friedrich richtet sich wider den Nordharz, wie lange wird's währen und er brandschatzt Quedlinburg, wie er es rings im albertinischen Lande getan, um den Sold für sein Heer aufzubringen. Er wird nicht zaudern, Euer Liebden die Kleinodien abzufordern, die Beutegier der Ernestiner ist hinlänglich bekannt!«

Sie blickte an ihrem Gewande nieder, um den schmalen Mund lag ein herber Zug.

»Ja, so ist's, Wolff. Zudem hab' ich die Gewalt des Mannes einem Weibe gegenüber zur Genüge erfahren, als Kurfürst Moritz in unseren Toren einritt und Quedlinburgs Huldigung erzwang, trotz meines Protestes des Landes Fürst sich heißend. Seit jenen Tagen bin ich in steter Sorge um den »goldenen Arm Sankt Servatii« und insonderheit um die Kaiserkrone. Die leider wahrscheinlich für immer verschwundene Quedlinburger Kaiserkrone ist nicht mit der Wiener Kaiserkrone zu verwechseln. Die erwähnte, seit dem zwölften Jahrhundert nicht mehr gebrauchte Quedlinburger Krone muß älter gewesen sein als das Wiener Kleinod und entstammt vermutlich der Zeit der sächsischen Kaiser. Im schmalkaldischen Kriege (1547) wurde dieselbe mit anderen Kleinodien nach dem Schlosse zu Wernigerode überführt. Länger als dreißig Jahre schirme ich als dieses Hauses Mutter die Krone Otto des Großen, soll ich jetzund, da das Haar sich bleicht, die Schande erleben, daß das Kleinod mir entrissen wird?« Sie erhob sich und öffnete eine unscheinbare, in das Mauerwerk eingelassene Tür. »Es besteht zu Recht, Euer Liebden, so wir den Domschatz nach Wernigerode flüchten. Als regierende Äbtissin nehme ich der Verantwortung volle Last auf mich!« Sie streckte die Hand nach einem Bunde schwerer Schlüssel aus und trat dicht vor den Bruder hin. »Kommt,« sprach sie, »ein Stolberg steht treu zu Kaiser und Reich! Laßt uns auch treu sein im Bewahren der Kleinodien vergangener Herrlichkeit, es wird uns nicht ungelohnet bleiben!«

Graf Wolff stand schon neben ihr. »Und Ihr fürchtet Euch nicht, so man das Gewölbe leer findet?« Sein Auge ruhte forschend auf ihr.

»Wer hat mich zur Rechenschaft zu ziehen?« fragte sie stolz.

»Gut,« klang seine rasche Antwort, »ich bin bereit. Rosse und Wagen stehen unten, ein verschwiegener, mir treu ergebener Mann ist mein Begleiter – betet für das Gelingen meiner Fahrt, Anna, die Zeiten sind ernst!«

Ein weicher, liebreicher Ausdruck lag auf dem Antlitz der Matrone. »Aber Gott ist mit uns!« sagte sie zuversichtlich und schaute ihn hellen Auges an.

Da neigte sich der Stolberg über die Schwester und küßte sie. »Ja,« antwortete er, »und die Äbtissin zu Quedlinburg weiß allezeit einen guten Rat, weil sie Gottes Wege geht!«

Sie sah mit klarem Blick auf das Kreuz an der Wand, wo der Erlöser mit der Dornenkrone hing, dann ergriff sie mit der ihr eigenen raschen Art den Armleuchter und schritt dem Bruder voran. »Es ist nach Mitternacht, eilen wir!«

Leise gingen sie den Wendelstein hinab, über den mondbeglänzten Hof ihrem Ziele zu. Die Äbtissin öffnete die schweren eisenbeschlagenen Türen, eine nach der anderen und verschloß sie sorgfältig hinter sich. Alles blieb still, nur die Schritte der beiden nächtlichen Wanderer klangen unheimlich in den weiten Gewölben wieder. Da sprang die letzte Tür auf, der Harzgraf hob den Leuchter hoch empor, flackernder Lichtschein irrte durch den stillen, grabesdunklen Raum.

Die Äbtissin trat einen Schritt vor, ihr Auge spähte umher. Aber vergeblich suchte sie das Dunkel zu erforschen. Eine lähmende Angst überkam sie und schnürte ihr die Kehle zu: die Kleinodien waren verschwunden! Sprachlos vor Schrecken blickte sie zu ihrem Bruder hinüber, sie las dieselbe bange Sorge in seinem Antlitz.

»Wolff,« flüsterte sie endlich und ergriff zitternd seinen Arm. Aber bevor der Graf antworten konnte, vernahmen sie ein leises Geräusch wie das Rauschen von Frauengewändern, und aus dem Dunkel trat eine helle Gestalt auf sie zu. Silbergraue Schleier, von Sternen übersät, umflossen die wunderbare Erscheinung vom Haupt bis zu den Füßen, lächelnd wandte sie das schöne Antlitz der Klosterfrau zu und hob den weißen Arm aus dem Gewande.

»Ihr sucht die Krone Otto des Großen, hochwürdige Frau,« sagte sie mit glockenheller Stimme; »seid ohne Sorgen, sie ist wohlverwahrt!« Sie wandte sich und glitt lautlos über den steinernen Boden. »Die Domschätze liegen im nächsten Gewölbe!«

»Wer seid Ihr?« fragte die Äbtissin, die sich kaum vom ersten Schrecken erholt hatte.

»Ich bin die Sage!« klang es zurück, und wieder lüftete die schöne Frau den Sternenschleier. »Wenn Not und Gefahr im Anzug sind, komme ich, die Krone des großen Kaisers vor Unglimpf zu schirmen. Ich bin die Hüterin vergangener Herrlichkeit und altehrwürdiger deutscher Sitte. Die neue Zeit bringt viel Böses, und die Ehrerbietung vor den Kleinodien der Väter schwindet dahin, darum tut's not, auf der Warte zu stehen und Ausschau zu halten, ob der Feind in Sicht ist. Die Ernestiner nahen mit Kriegsmacht und Gewalt, und die Domschätze dürfen daher nicht länger in Quedlinburg bleiben. Ihr tut recht daran, so Ihr sie nach dem Schlosse zu Wernigerode bringt, edler Herr,« fuhr sie an den Grafen gewendet fort, »aber die Sommernacht ist hell, der Vollmond möchte Euch zum Verräter werden. Ich werde Euch begleiten und meinen Schleier über die Kleinodien breiten, er tut dieselben Dienste wie die Nebelkäpplein Eurer Harzzwerge, und niemand soll es ahnen, daß Ihr die Krone Kaiser Ottos in die »Stadt vor dem Brocken« Wernigerode. flüchtet!« Damit schwebte sie den beiden Stolbergs voran in das angrenzende Gewölbe, wo die Krone im Glanz ihrer Kleinodien lag.

»Sie würde sich selbst zum Verräter werden,« schloß sie, auf die Strahlende weisend. –

Eine halbe Stunde später rollte ein unscheinbares Gefährt aus den Toren des Jungfernstifts; ein alter Knecht zügelte die Rosse, das Innere des Wagens war verdeckt. Neben demselben aber schritt eine hohe Frauengestalt in grauen Gewändern. Unter dem Schleier, der das Haupt verhüllte, quoll eine Fülle blonden Haares hervor, das im Mondlicht schimmerte wie eitel Gold. Stumm ging sie ihres Weges, den Blick auf das Gefährt gerichtet, nur als sie aus dem Stiftstor geschritten war, hatte sie sich noch einmal umgewandt und der Äbtissin mit der weißen Hand ein letztes Lebewohl gewinkt.

Den alten Mann überkam ein leises Grauen vor der schweigsamen Frau, und der Gedanke an eine Geistererscheinung nahm ihm seine Ruhe. Er wandte sich um, ob sein Graf noch nicht in Sicht sei und atmete erleichtert auf, als er die Wappenschilde und Fähnlein der Mannen dicht hinter sich im Mondschein blinken sah.

Da legte sich eine Hand auf seinen Arm, und ein schönes junges Antlitz blickte ihm in das alte runzelige Gesicht.

»Klaus Hunicke, Ihr fürchtet Euch doch nicht?«

Das war zuviel, sogar seinen ehrlichen Namen wußte die Schleiergestalt.

»Nein!« rief er mit lauter Stimme und faßte die Zügel fester. »Alle guten Geister loben Gott, den Herrn!«

Aber zu seinem größten Erstaunen verschwand der Spuk nicht bei diesen Worten, sondern klar und feierlich klang die Antwort der Christenheit zu ihm herauf: »In Ewigkeit, Amen!«

Klaus Hunicke kratzte sich verlegen hinter den Ohren, dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und bot der Unbekannten den Platz an seiner Seite an.

Aber sie schüttelte lächelnd das Haupt und hüllte sich wieder in den Schleier.

»Es wird ein Engel sein,« dachte der Alte, »freilich einer ohne Flügel – aber das Grausen könntest du dir sparen, Klaus Hunicke.«

Ruhig setzte er seinen Weg fort, von der grauen Frau begleitet. Das Mondlicht lag silberhell auf der Heerstraße, eine Sternschnuppe nach der anderen ging leuchtend nieder. Jeden Laut vernahm man in der Stille der Sommernacht, bisweilen hob die Fremde das Haupt und lauschte. Aber nur das Rauschen der Waldbäume klang im Nachtwind herüber, und die Bode murmelte ihr Lied von verklungener Herrlichkeit und großen Zeiten.

*

II.

Jahrhunderte waren vergangen seit jener Nacht. Graf Wolff und die fromme Äbtissin schliefen längst den letzten Schlaf, und Klaus Hunicke hatte als ein treuer Knecht das Geheimnis von der Krone Otto des Großen mit in sein schlichtes Grab genommen. Es war viel geforscht worden nach dem Domschatz, Freund und Feind hatten gesucht und gegraben, in Quedlinburg und in den Gewölben des Wernigeroder Schlosses war kein Winkelchen, da man nicht Umschau gehalten, aber die Schätze waren und blieben verschwunden. Das neunzehnte Jahrhundert ging zur Rüste, und auf Deutschlands Thron saß ein Gewaltiger. Was die Karolinger und die Sachsen errungen, was die Salier und die Staufen erbaut, das erbten die Hohenzollern und schirmten es mit ihrem Blut. Eine große Zeit ging schlafen, aber helles Morgenrot strahlte über der Jahrhundertwende. – –

Es war an einem leuchtenden Oktobermorgen. In reicher Herbstesschönheit lag die Stadt vor dem Brocken im Kranz ihrer Berge. Ein frischer Wind strich über die Höhen, in den Kronen der Harztannen, im letzten Goldschmuck des Laubwaldes, und verkündete dem Gebirgsvolk frühen Schnee. Aber unten in den Gärten dufteten verspätete Rosen mit Malven und Astern um die Wette, als sei es Hochsommerzeit.

Oberhalb des Schlosses, wo die Fluren sich im Herbststurm gelichtet, wanderte ein Knabe durch das goldgelbe Laub. Sein blondes Lockenhaar wehte im Winde, hochaufgerichtet kam er den schmalen Pfad entlang, leuchtenden Auges, als schritt der junge Adel durch den Wald. Jetzt stand er aufatmend still. Ein leises Geräusch klang durch die Büsche zu ihm herüber. Vorsichtig lugte er durch die Zweige. Und dann bahnte er sich den Weg und ging mit weitgeöffneten Augen auf die lichte, sonnige Stelle zu, wo der Waldbach über die Steine hüpfte. Dort saß etwas wunderbar Holdes, wie er es nie gesehen, in langen goldenen Locken, die weißen Schultern von zarten Gewändern, fein wie Spinnweben, verhüllt – es schoß ihm durch den Sinn: »Das ist das Märchen!« Leise näherte er sich der schönen Gestalt. Die Hände über den Knien gefaltet, sah sie dem Bach zu, wie er über die Steinblöcke sprang, und sang mit leiser Stimme ein Lied vor sich hin. Der Knabe hatte es nie gehört, mit angehaltenem Atem stand er, klar und deutlich klang jedes Wort zu ihm herüber:

»Es ruhet im Felsgesteine
Eine schwere güldene Kron',
Die Krone Otto des Großen,
Des Helden auf Deutschlands Thron!

Es weiß keine Menschenseele
Den stillen verschwiegenen Platz,
Und leise breitet die Sage
Den Schleier über den Schatz!

Daß niemand die Strahlende schaue,
Daß keiner das Kleinod begehr'.
Schirmt sie im Wechsel der Zeiten
Des mächtigen Herrschers Ehr'.

Doch wenn ein deutscher Kaiser
Droben ins Burgtor zieht,
Lüftet sie leise den Schleier,
Daß alles schimmert und glüht.

Daß die gewaltige Botin
Einer vergangenen Zeit
Huld'ge dem Größten im Reiche,
Strahlend in Herrlichkeit!

Bis daß der Reigen verklungen
Oben im Rittersaal,
Bis daß der Kaiser reitet
Nieder vom Burgberg zu Tal!

Dann wird es still wie vor Zeiten
Um den verschwiegenen Platz,
Und wieder breitet die Sage
Den Schleier über den Schatz.«

Der letzte Ton war verklungen. Mit leuchtenden Augen stand der Knabe. Da richtete sich die Fremde empor und wandte ihm ihr junges, schönes Antlitz zu.

Aber erschrocken fuhr sie zurück; sie hatte sich in der tiefen Waldeinsamkeit allein geglaubt, statt dessen hatte ein Menschenkind sie belauscht und sie hatte ihm das so lange bewahrte Geheimnis preisgegeben. Es war freilich ein junges, holdes Antlitz mit großen unschuldigen Kinderaugen, die sie fragend anblickten, aber der rote lachende Mund plauderte sicherlich lieber, als daß er schwieg – forschend weilte ihr Auge auf dem Knaben.

Und da trat er leise näher. »Du bist gewiß das Märchen?« fragte er. »Bitte, willst du mir nicht noch mehr von der Krone erzählen?«

Sie legte den Finger auf den Mund. »Still,« sagte sie, »es könnte uns jemand hören. Ich bin die Sage,« fuhr sie dann fort, »und wenn du mir versprechen willst, kein Sterbenswörtchen von dem, was du eben gehört hast, zu verraten, sollst du morgen abend die Kaiserkrone sehen. Zwar darf ich dich nicht mit in das Gewölbe nehmen, aber es ist eine Luke in der Burgmauer, durch welche du hineinblicken sollst.«

»Lüftest du morgen abend den Schleier?« flüsterte der Kleine ehrfurchtsvoll.

Sie nickte ihm lächelnd zu. »Ja, morgen abend, wenn sie die Kaiserstandarte aufziehen. Aber nicht wahr, du hältst mir dein Versprechen und schweigst, denn nur unter der Bedingung darf ich dich mitnehmen.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er schlug ein. »Ich kann schweigen!«

»Gut. Komme morgen nach dem Abendläuten an den Bach, hier an dieser Stelle wollen wir uns treffen!« Sie nickte ihm freundlich zu, hüllte sich in ihren Sternenschleier und verschwand zwischen den Waldbäumen.

Wie verzaubert stand der Knabe. Im ersten Augenblick meinte er, es sei alles ein Traum gewesen. Nachdenklich ließ er sich auf den Stein nieder, wo die Sage gesessen. Da blitzte es ihm wie ein funkelnder Tropfen entgegen, er bückte sich und sah ein goldenes Sternchen in den Gräsern hängen. Freudig nahm er es auf und betrachtete es lange, dann erhob er sich und trug es sorgfältig nach Hause. Niemand sollte es sehen, das Geheimnis sollte bewahrt bleiben, er hatte es ja der Sage versprochen.

*

Die Sonne ging auf und wieder zur Ruh. Einer Fülle von Glanz und Herrlichkeit hatte sie geleuchtet, den Edelsten im Lande hatte sie ihren freundlichen Willkommensgruß geboten und dem hohen Gast den alten Harz in seiner ganzen malerischen Herbstesschönheit gezeigt.

Und dann wurden die Schatten dunkler. Der Mond kam mit seinem strahlenden Gefolge über die Berge und breitete seinen Silberglanz über das efeuumsponnene Schloß mit seinen Fähnlein und Girlanden, seinen Türmen und Erkern. Im Schloßhof rüstete man sich zum Fackelzug, an den Fenstern wurden helle Gestalten sichtbar. Weich und sehnsüchtig zogen die Klänge eines Waldhorns zu den dunklen Bergen hinüber und weckten das Echo. Jeder auf der Burg bis zum ärmsten Troßbuben hinab hatte an diesem Abend nur einen Gedanken, einen Wunsch: seinen Kaiser zu sehen!

Unten an der Mauer, wo Efeugerank und wilde Rosen wucherten, standen zwei Gestalten, eine schlanke Frau in seltsamer, fremdländischer Tracht, und ein Herrenkind in samtenem Festkleid. Sie hatte den Arm um den Nacken des Knaben gelegt und flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann zog sie ihn mit sich fort, zu der engen, unter Efeu verborgenen Luke, schob die Ranken beiseite und ließ ihn hineinblicken. Da lag sie tief unten im Felsgestein, die Kaiserkrone, strahlend im Schmuck ihrer Juwelen, und erfüllte das finstere Gemach mit zauberhaftem Glanz. Wie gebannt blickte der Knabe auf das schimmernde Kleinod. Es war ihm ums Herz, als müßt' er davonstürzen und droben im Saal den erlauchten Gast bei der Hand nehmen und ihm das Wunder zeigen. Aber die schöne Frau an seiner Seite mochte seine Gedanken erraten, sie legte den Finger auf den Mund und flüsterte: »Es ist ein Geheimnis!«

Und dabei blieb es. Solange die Purpurstandarte Kaiser Wilhelms II. vom Bergfried des Wernigeroder Schlosses wehte, leuchtete unten in dem halbverfallenen, unzugänglichen Gewölbe ein helles, wunderbares Licht: die Krone des großen Toten strahlte dem Lebenden und brachte dem Hohenzollern den Gruß des Gewaltigsten unter den Sachsen.

Aber als der Kaiser aus den Toren der Burg zog und das Purpurbanner verschwand, da erlosch auch das geheimnisvolle Licht im Gemäuer.

Bisweilen schoben Kinderhände die Efeuranken beiseite und zwei blaue Augen blickten sehnsüchtig durch das rostige Eisengitter. Aber die Krone lag in tiefem Dunkel.

Und der Knabe wußte, es konnte nicht anders sein. Eine fremde schöne Frau saß dort unten und verbarg die Krone Otto des Großen, bis wieder ein Kaiser in der »Stadt vor dem Brocken« seinen Einzug halten werde. Und dann war's ihm, als vernähme er leises Singen unten im Verlies, eine süße, märchenhafte Melodie, wie er sie einst am Waldbach gehört; glockenhell tönten die Worte herauf:

»Dann wird es still, wie vorzeiten,
Um den verschwiegenen Platz, –
Und wieder breitet die Sage
Den Schleier über den Schatz.«


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