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VI.
Die Zukunft

Initial Es ist in gewisser Hinsicht ganz unbegreiflich, dass wir der Zukunft nicht kundig sind. Ein Nichts würde wahrscheinlich genügen, ein anderer Verlauf der Hirnfasern, eine andere Richtung der Hirnwindungen, ein kleines Nervengeflecht mehr, als das, welches unser Bewusstsein ausmacht, und die Zukunft würde sich mit derselben Deutlichkeit, derselben majestätischen und unerschütterlichen Fülle vor unseren Augen entrollen, wie die Vergangenheit sich nicht nur am Horizont unseres persönlichen Lebens, sondern auch an dem der Gattung, der wir angehören, entfaltet. Es ist dies eine eigenartige Schwäche, eine sonderbare Beschränkung unseres Geistes, die uns in Unwissenheit darüber lässt, was uns begegnen wird, obwohl wir doch wissen, was uns begegnet ist. Von dem absoluten Standpunkt aus, zu dem unsere Vorstellung sich erheben kann, wiewohl sie nicht auf ihm zu leben vermag, liegt kein Grund vor, warum wir nicht sehen sollten, was noch nicht ist, weil das, was in Bezug auf uns noch nicht ist, doch notwendiger Weise schon vorhanden sein und sich irgendwo kundgeben muss. Sonst müsste man ja sagen, dass wir in Hinsicht auf alles, was die Zeit betrifft, den Mittelpunkt der Welt bilden, dass wir die einzigen Zeugen sind, auf welche die Ereignisse warten, um das Recht zu haben, in die Erscheinung zu treten und in der ewigen Geschichte der Ursachen und Wirkungen mitzuzählen. Aber es wäre ebenso widersinnig, dies für die Zeit zu behaupten, wie für den Raum, jene andere, etwas weniger unbegreifliche Form des doppelten Mysteriums der Unendlichkeit, in dem unser ganzes Leben schwebt.

Der Raum ist uns vertrauter, weil die Zufälle unserer organischen Beschaffenheit uns in unmittelbarere Beziehung zu ihm setzen und ihn uns greifbarer machen. Wir können uns darin in mehr als einer Hinsicht ziemlich ungebunden vor- und rückwärts bewegen. Darum wird auch kein Reisender die Behauptung wagen, dass die Städte, die er noch nicht besucht hat, erst mit dem Augenblick zur Wirklichkeit werden, wo er sie betritt. Und doch ist dies fast dasselbe, wie wenn wir uns überreden, dass ein Ereignis, welches noch nicht stattgefunden hat, noch kein Dasein besitze.

 

Initial Aber ich habe nicht die Absicht, mich nach Erörterung so vieler anderer in das unlösbarste aller Rätsel zu vertiefen. Wir wollen weiter nichts sagen, als dass die Zeit ein Mysterium ist, das wir willkürlich in Vergangenheit und Zukunft geteilt haben, um zu versuchen, etwas davon zu begreifen. An sich ist es so gut wie sicher, dass sie nur eine ungeheure, ewige, unbewegliche Gegenwart ist, in der alles, was stattgefunden hat und noch stattfinden wird, unerschütterlich besteht, ohne dass das Morgen sich, ausser in dem kurzlebigen Menschengeiste, vom Gestern oder Heute unterschiede.

Man möchte sagen, der Mensch hat stets das Gefühl besessen, dass eine einfache Schwäche seines Geistes ihn von der Zukunft abtrennt. Er weiss sie lebendig, vollständig und wirksam hinter einer Art von Wand, die er seit den ersten Tagen seines Erscheinens auf der Erde unablässig umschweift hat. Oder vielmehr weiss er sie in sich und einem Teile seiner selbst bekannt, ohne dass diese bedrückende und beunruhigende Kenntnis durch die zu engen Kanäle seiner Sinne bis zu seinem Bewusstsein empor zu dringen vermag, welches der einzige Ort ist, wo eine Erkenntnis Namen, nutzbare Kraft und gewissermassen menschliches Bürgerrecht erwirbt. Nur mit ungewissem Schimmer, durch zufälliges und vorübergehendes Durchsickern, gelangen die künftigen Jahre, die ihn erfüllen und deren gebieterische Realitäten ihn von allen Seiten umgeben, bis in sein Hirn. Er wundert sich, dass ein ausserordentlicher Zufall dieses Hirn gegen die Zukunft, in die es doch fast ganz eingetaucht ist, so hermetisch abschliesst, wie ein versiegeltes Gefäss, das in einem endlosen Meere schwimmt und von seinen Wogen bedrückt und getragen, gequält und geliebkost wird, ohne dass es sich in seine Tiefen mischte.

Zu allen Zeiten hat der Mensch nach Spalten in dieser Wand gesucht, hat er sich bemüht, das Wasser durch dieses Gefäss durchsickern zu lassen und die Wände zu durchbrechen, welche seine Vernunft, die fast nichts weiss, von seinem Instinkt trennen, der alles weiss, sich seines Wissens aber nicht bedienen kann. Wie es scheint, hat er mehrfach Glück damit gehabt. Es gab immer Hellseher, Propheten, Sibyllen und Zauberinnen, bei denen durch eine Krankheit, durch ein von Natur oder durch Kunst hypertrophisches Nervensystem, ungewöhnliche Verbindungen zwischen dem Bewussten und Unbewussten, zwischen dem Leben des Einzelwesens und der Gattung, zwischen dem Menschen und seinem verborgenen Gotte eintraten. Sie haben von dieser Möglichkeit ebenso unwiderlegliche Zeugnisse hinterlassen, wie irgend ein anderes historisches Ereignis. Andererseits waren diese seltsamen Deuter, diese grossen geheimnisvollen Hysterischen, in deren Nervenbahnen Gegenwart und Zukunft derart kreisten und sich vermischten, eine Seltenheit, und darum entdeckte man empirische Methoden – oder glaubte sie zu entdecken –, um das allzeit gegenwärtige und bedrohliche Rätsel der Zukunft auf fast mechanischem Wege entziffern zu können. Man schmeichelte sich, auf diese Weise die unbewusste Weisheit der Dinge und Tiere zu befragen. Daher stammt die Deutung des Vogelflugs, die Weissagung aus den Eingeweiden der Opfertiere, dem Lauf der Sterne, dem Feuer und Wasser, den Träumen, und all die Arten von Wahrsagekunst, welche uns die alten Schriftsteller überliefert haben.

 

Initial Es hat mich gelockt, festzustellen, auf welchem Standpunkte die Wissenschaft von der Zukunft heute steht. Sie hat nichts mehr von dem Glanz und der Kühnheit von ehemals. Sie gehört nicht mehr dem öffentlichen und dem religiösen Leben der Völker an. Die Gegenwart und die Vergangenheit enthüllen uns so viele Wunder, dass diese genügen, um unseren Durst nach dem Wunderbaren zu befriedigen. Abgelenkt durch das, was ist oder war, haben wir so gut wie ganz darauf verzichtet, das zu befragen, was sein könnte oder sein wird. Trotzdem ist diese altehrwürdige Wissenschaft in den untrüglichen menschlichen Instinkt zu tief eingewurzelt und von ihm noch nicht aufgegeben. Sie wird allerdings nicht mehr am hellen Tage geübt. Sie hat sich in die düstersten Winkel, in die vulgärsten und leichtgläubigsten, unwissendsten und verachtetesten Kreise geflüchtet. Sie benützt alberne oder kindliche Mittel, und trotzdem hat auch sie eine gewisse Entwickelung durchgemacht. Sie vernachlässigt die meisten Methoden der primitiven Wahrsagekunst und hat dafür andere gefunden, die teils wunderlich, teils lächerlich sind; und sie hat sich einige Entdeckungen zu Nutze gemacht, die keineswegs für sie bestimmt waren.

Ich habe sie bis in ihre obskuren Schlupfwinkel verfolgt. Ich wollte sie sehen, nicht in den Büchern, sondern in ihrer Wirksamkeit im wirklichen Leben und im Kreise ihrer bescheidenen Getreuen, die Vertrauen zu ihr haben und alltäglich ihren Rat einholen oder sich von ihr ermutigen lassen. Ich bin mit redlicher Absicht hingegangen, ungläubig, aber bereit zu glauben, ohne Voreingenommenheit und vorgefasstes Lächeln, denn wenn man kein Wunder mit blinden Augen zugeben soll, so ist die lächelnde Blindheit noch schlimmer, und in jedem hartnäckig festgehaltenen Irrtum birgt sich gewöhnlich eine vortreffliche Wahrheit, die ihrer Geburtsstunde harrt.

 

Initial Wenige Städte hätten mir ein weiteres und fruchtbareres Feld der Erfahrung geboten, als Paris. Hier stellte ich also meine Beobachtungen an. Zum Beginne wählte ich den Augenblick, wo sich ein Vorhaben, dessen Ausgang nicht von mir abhing, das aber von grosser Tragweite für mich war, gerade in der Schwebe befand. Ich will nicht auf die Einzelheiten dieser Angelegenheit eingehen, die an sich ganz belanglos ist. Es wird genügen, dass um dieses Vorhaben eine Menge von Ränken gesponnen waren und mehrere mächtige Gegenwillen sich dem meinen widersetzten. Die Kräfte hielten sich das Gleichgewicht und nach menschlicher Logik war es unmöglich vorauszusehen, wer das Übergewicht erlangen würde. Ich hatte der Zukunft also sehr bestimmte Fragen vorzulegen, – eine notwendige Vorbedingung, denn wenn viele sich beklagen, sie sagte ihnen nichts, so liegt das oft daran, dass sie sie zu einer Zeit befragen, wo sich am Horizont ihres Wesens nichts zusammenzieht.

Ich suchte also nacheinander die Astrologen und Chiromanten auf, die heruntergekommenen und uns vertrauten Sibyllen, die sich schmeicheln, die Zukunft in den Karten zu lesen, im Kaffeesatz, in der Form, die ein in einem Glase Wasser aufgelöstes Eiweiss annimmt, u. s. w.

Denn man darf nichts unterlassen, und wenn der Apparat bisweilen wunderlich ist, so kommt es doch vor, dass sich ein Körnchen Wahrheit auch unter den tollsten Praktiken verbirgt. Ich suchte namentlich die berühmtesten unter jenen Prophetinnen auf, die unter dem Namen von Somnambulen, Hellseherinnen, Mediums u. s. w. ihr Bewusstsein mit dem Bewusstsein und selbst einem Teile der Unbewusstheit der sie Befragenden vertauschen und im Grunde genommen die unmittelbaren Erbinnen der alten Zauberinnen sind. Ich fand in dieser aus dem Gleichgewicht gekommenen Welt viel Schurkerei, Heuchelei und grobe Lügen. Doch hatte ich auch Gelegenheit, gewisse seltsame und unbestreitbare Phänomene aus der Nähe zu studieren. Sie genügen nicht, um zu entscheiden, ob es dem Menschen gegeben ist, den Schleier der Illusionen zu lüften, die ihm die Zukunft verbergen, aber sie werfen doch ein ziemlich seltsames Licht auf die Vorgänge an jenem Orte, den wir für den unantastbarsten halten, ich meine das Allerheiligste des begrabenen Tempels, in dem unsere innigsten Gedanken und die unbekannten Kräfte, die ihnen zugrunde liegen, ohne unser Wissen kommen und gehen und tastend den geheimnisvollen Weg suchen, der zu den künftigen Ereignissen führt.

 

Initial Es würde zu weit führen, wenn ich alles erzählen wollte, was ich bei diesen Prophetinnen und Hellseherinnen erlebte. Ich will nur kurz von einem der schlagendsten Experimente dieser Art berichten. Es schliesst übrigens die Mehrzahl der übrigen ein, und die Psychologie ist bei allen ungefähr die gleiche.

Die fragliche Somnambule ist eine der berühmtesten in Paris. Sie behauptet, in ihrem hypnotischen Zustande den Geist eines unbekannten kleinen Mädchens, namens Julia, zu incarnieren. Sie hiess mich an einem Tische Platz nehmen, so dass derselbe zwischen uns stand, und empfahl mir, Julia zu duzen und sanft mit ihr zu reden, wie mit einem Kinde von sieben oder acht Jahren. Dann verzerrten sich ihre Züge, ihre Augen und Hände, ihr ganzer Körper einige Sekunden lang in unangenehmer Weise; ihre Haare lösten sich auf, und ihr Gesichtsausdruck war völlig verändert. Er wurde naiv und kindlich und aus dem grossen Körper dieser reifen Frau drang eine scharfe, klare Kinderstimme, die mich etwas stotternd fragte: »Was willst du? Hast du Verdruss? Kommst du deinetwegen, oder für jemand anders, um mich zu sehen?« – »Für mich.« – »Schön, willst du mir etwas helfen? Führe mich in Gedanken an den Ort, wo dein Verdruss ist.« Ich konzentrierte meine Gedanken auf den Plan, der mir am Herzen lag, und auf die verschiedenen handelnden Personen dieses kleinen, noch unausgespielten Dramas. Allmählich drang sie nach einigem Hin- und Hertasten, und ohne dass ich sie mit einem Wort oder einer Geste unterstützt hätte, wirklich in mein Denken ein, las darin sozusagen, wie in einem leicht verschleierten Buche, bezeichnete genau den Ort der Handlung, erkannte die Hauptpersonen und zeichnete sie summarisch mit kleinen, eckigen, kindlichen Strichen, die aber wunderlich richtig und zutreffend waren. »Sehr richtig, Julia«, sagte ich in diesem Augenblick, »aber das alles weiss ich schon; was ich noch erfahren müsste, das ist, was daraus noch kommen wird.« – »Was noch kommen wird, was noch kommen wird … Sie wollen wissen, was noch kommen wird; aber das ist sehr schwer zu sagen …« – »Aber wie wird die Sache schliesslich enden? Werde ich gewinnen?« – »Ja, ja, ich sehe es; fürchte dich nicht, ich werde dir helfen; du sollst zufrieden sein …« – »Aber der Verdruss, von dem du mir erzählst; der Mann, der mir Widerstand leistet und mir Böses thun will …« – »Nein, nein, dir will er nichts thun; – es ist wegen einer anderen Person … Ich sehe nicht, warum … Er hasst sie … O ja, er hasst sie, er hasst sie! … Und gerade, weil du sie liebst, will er nicht, dass du für sie thust, was du thun möchtest …« (So war es auch!) – »Aber schliesslich«, bestand ich auf meiner Frage, »wird er bis ans Ende gehen und nicht nachgeben?« – »O, das fürchte nicht … Ich sehe, er ist krank, er wird nicht mehr lange leben.« – »Du irrst dich, Julia; es geht ihm sehr gut; ich habe ihn vorgestern gesehen.« – »Nein, nein, das macht nichts; er ist krank … Man kann es nicht sehen, aber er ist sehr krank … Er wird bald sterben …« – »Aber, wann denn und wie?« – »Es ist Blut auf ihm, um ihn, überall …« – »Blut? Etwa ein Duell?« (Ich hatte einen Augenblick daran gedacht, eine Gelegenheit zu suchen, mich mit meinem Gegner zu schlagen.) »Ein Unfall? Ein Mord? Eine Rache?« (Er war ein ungerechter, skrupelloser Mensch, der vielen Leuten viel Böses zugefügt hatte). – »Nein, nein, frage mich nicht weiter, ich bin sehr müde … Lass mich gehen …« – »Nicht ehe ich weiss …« – »Nein, ich kann nicht mehr sagen … Ich bin zu müde … Lass mich gehen … Sei gut, ich will dir auch helfen …«

Derselbe Krampf, der den Körper im Anfang verzerrt hatte, trat abermals ein und die Kinderstimme schwieg; die Gesichtszüge der Vierzigjährigen traten wieder auf das Gesicht der Frau, die wie aus einem langen Schlaf erwachte. Brauche ich hinzuzusetzen, dass wir uns vor dieser Begegnung nie gesehen hatten und dass wir uns ebensowenig kannten, wie wenn wir auf zwei verschiedenen Planeten geboren wären?

 

Initial Analog, wenn auch mit weniger charakteristischen und zutreffenden Einzelheiten, waren im ganzen genommen die Resultate bei den Hellseherinnen, die wirklich eingeschlafen waren. Um eine Art Gegenbeweis zu machen, schickte ich zu der Frau, die »Julia« zu ihrer Dolmetscherin erwählt hatte, zwei Personen, deren Verstand und Rechtschaffenheit mir bekannt waren. Sie hatten der Zukunft, ganz wie ich, eine wichtige und genaue Frage zu stellen, die nur ihr Glück oder Schicksal hätte lösen können. Der eine befragte sie über die Krankheit eines Freundes und Julia sagte seinen baldigen Tod voraus. Ihre Weissagung wurde durch die Thatsachen bestätigt, obschon in dem Augenblicke, wo sie stattfand, die Heilung ungleich wahrscheinlicher war, als der Tod. Der andere fragte sie nach dem Ausgang eines Prozesses, und sie gab ihm hierauf eine ziemlich ausweichende Antwort; hingegen bezeichnete sie ihm unveranlasst die Stelle, wo ein für die betreffende Person sehr kostbarer Gegenstand sich befand. Aber da dieser Gegenstand seit langem verloren und so oft vergebens gesucht worden war, war diese Person überzeugt, dass sie selbst nicht mehr daran dachte.

Was mich betraf, so ging Julias Prophezeihung zum Teil in Erfüllung; ich trug in der Hauptsache zwar keinen Sieg davon, aber die Angelegenheit wurde doch auf eine befriedigende Weise geregelt. Der Tod des Gegners ist noch nicht eingetreten, und ich erlasse der Zukunft gern das Versprechen, das sie mir durch den unschuldigen Mund jenes Kindes aus einer unbekannten Welt gab.

 

Initial Es ist sehr erstaunlich, dass man derart in die letzte Zufluchtsstätte eines Wesens eindringen und besser, als es selbst, Gedanken und Gefühle darin lesen kann, die bisweilen vergessen oder verworfen, aber jederzeit lebendig, oder noch ungeboren sind. Es ist fürwahr beängstigend, dass ein Fremder in unserem eigenen Herzen weiter kommt, als wir selbst. Dergleichen verbreitet ein seltsames Licht über die Natur unseres Innenlebens. Umsonst, dass wir vorsichtig sind und nicht aus uns herausgehen; unser Bewusstsein ist nicht eingedämmt; es flieht, es gehört uns nicht mehr an, und wenn es auch besonderer Umstände bedarf, damit ein anderer darin eindringt und Besitz davon ergreift, so ist es doch nichtsdestoweniger gewiss, dass unser »inneres Forum«, wie man es mit jener tiefen Intuition genannt hat, die oft in der Etymologie der Wörter liegt, wirklich ein Forum, das heisst, ein geistiger Marktplatz ist, wo die Mehrzahl derer, die Geschäfte haben, nach ihrem Belieben kommen und gehen, ihre Blicke herumschweifen lassen und sich die Wahrheiten auf eine ganz andere und viel freiere Weise aussuchen, als wir bis auf diesen Tag je geglaubt haben.

Aber lassen wir diesen Gegenstand, dem unser Studium nicht gilt. Was ich in Julias Weissagungen klarlegen wollte, das ist der Teil des Unbekannten, der mir selbst fremd war. Ging sie über das hinaus, was ich wusste? Ich glaube nicht. Als sie mir den glücklichen Ausgang der Angelegenheit weissagte, war dies im ganzen genommen der Ausgang, den ich vorhersah und den mein Instinkt in seinem egoistischen und uneingestandenen Teile lebhafter herbeiwünschte, als den vollständigen Triumph, den zu erstreben und zu erhoffen mir ein anderes, hochherzigeres Gefühl zur Pflicht machte, den ich jedoch im Grunde als unmöglich erkannte. Als sie mir den Tod des Gegners verkündete, offenbarte sie nur ein geheimes Verlangen desselben Instinkts, einen jener feigen und schändlichen Wünsche, die wir vor uns selbst verbergen und die sich nicht bis in unser Denken hinaufwagen. Eine wirkliche Wahrsagekunst gäbe es nur dann, wenn dieser Tod wider alles Erwarten, wider alle Wahrscheinlichkeit in kurzem einträte. Aber selbst wenn er bald und unverhofft einträte, so wäre es doch nicht die Pythia gewesen, welche in die Zukunft eingedrungen ist, sondern ich, mein Instinkt, mein unbewusstes Wesen hätte ein Ereignis vorhergesehen, an das es geknüpft war. Sie hätte in der Zeit gelesen, nicht unmittelbar und wie in einem allgemeinen Buche, in dem alles zu lesen steht, was stattfinden wird, sondern durch das Medium meiner Person, in meiner besonderen Intuition hätte sie gelesen und weiter nichts gethan, als zu übersetzen, was meine Unbewusstheit meinem Denken nicht zu sagen vermochte.

Das gleiche trifft, denke ich mir, für die beiden anderen Personen zu, die ihren Rat einholten. Der eine, dem sie den Tod seines Freundes weissagte, hatte trotz der Beruhigung, welche die Vernunft seiner Freundschaft einsprach, wahrscheinlich die innere Überzeugung, dass der Kranke sterben würde. Aber diese Überzeugung, sei sie natürlich oder hellseherisch, war von ihm energisch niedergekämpft worden, und die Somnambule entdeckte sie nun inmitten der holden Hoffnungen, die sie zu betrügen trachteten. Der andere fand unverhofft einen verlorenen Gegenstand wieder; aber es ist schwierig, den Geisteszustand eines anderen genau genug zu kennen, um entscheiden zu können, ob hier ein zweites Gesicht oder einfach eine Rückerinnerung vorlag. Wusste er, der den Gegenstand verloren hatte, wirklich nichts mehr davon, wo und unter welchen Umständen er ihn verloren hatte? Er behauptet, ja; er hätte nie die geringste Ahnung gehabt, im Gegenteil, er wäre überzeugt gewesen, dass der Gegenstand nicht verloren, sondern gestohlen war, und er hätte stets einen seiner Dienstboten in Verdacht gehabt. Aber es ist möglich, dass, während sein Verstand, sein waches Ich nicht darauf achtete, der unbewusste und gleichsam schlafende Teil seiner Selbst den Ort, wo der Gegenstand hingelegt wurde, sehr wohl bemerkt und sich seiner erinnert hat. Durch ein nicht minder überraschendes Wunder, das aber einer anderen Ordnung der Thatsachen angehört, hätte die Somnambule dann die latente, fast animalische Erinnerung wiedergefunden, aufgeweckt und ans Licht des Menschlichen geführt, nach dem dieselbe vergebens getrachtet hatte, emporzudringen.

 

Initial Sollte dies für alle Prophezeiungen gelten? Die Weissagungen der grossen Propheten, der Sibyllen, Pythien und Zauberinnen: wären sie vielleicht nichts gewesen, als ein Widerspiegeln, ein Übersetzen und Hinaufheben in die Verstandeswelt jener instinktiven Hellsichtigkeit der Einzelwesen und Völker, die ihren Sprüchen lauschten? Möge jeder die Antwort oder Hypothese wählen, die ihm seine eigene Erfahrung zuflüstert. Ich habe die meine mit der Einfalt und Aufrichtigkeit gegeben, die eine Frage der Natur erheischt Andere Fälle meiner Versuche haben zu weniger sonderbaren, aber bisweilen analogen Ergebnissen geführt. So suchte ich z. B. eine gewisse Zahl von Chiromanten auf, und wie ich die prächtigen Wohnräume von mehreren dieser Propheten aus der Hand erblickte, die mir doch nichts als Albernheiten offenbarten, bewunderte ich schon die Naivität ihrer Kundschaft, als mir ein Freund in einem Seitengässchen beim Leihhause die Wohnung eines Mannes nannte, der nach seiner Ansicht die grossen Traditionen der Wissenschaft der Desbarolles und Darpentigny am besten gepflegt und fortentwickelt hätte.
Im sechsten Stock eines furchtbaren Hauses, in dem das Gekribbel eines Ameisenhaufens herrschte, fand ich in einer Art Hängeboden, der Wohn- und Schlafzimmer zugleich war, einen anspruchslosen, sanften alten Mann aus dem Volke, dessen Redensarten mehr die eines Portiers, als die eines Propheten waren. Ich bekam nicht viel von ihm zu hören, aber einigen anderen Personen, die nervöser sind als ich und die ich zu ihm führte, namentlich zwei oder drei Frauen, deren Charakter und Vergangenheit ich zur Genüge kannte, nannte er mit einer recht erstaunlichen Genauigkeit die Hauptbestrebungen ihres Geistes und Herzens, unterschied sehr geschickt die Hauptkurven ihres Lebensweges, blieb an den Kreuzwegen stehen, wo ihr Geschick thatsächlich gezaudert hatte oder abgeirrt war, entdeckte gewisse schlagende und genaue, ja fast anekdotische Einzelheiten (Liebschaften, Reisen, Unfälle, Einflüsse, die sich geltend gemacht hatten), kurz, er entwarf ihnen, nicht ohne jener Art von Autosuggestion Rechnung zu tragen, durch die unsere bei Berührung mit dem Mysterium mehr oder minder erhitzte Einbildungskraft die geringsten Indicien unmittelbar ausdeutet, ein in den Einzelzügen genau festgehaltenes Schema ihrer Vergangenheit und Gegenwart auf einem allerdings konventionellen und symbolischen Hintergrunde, und sie waren, ihrem Misstrauen zum Trotze, gezwungen, die Spur ihres besonderen Lebens darin wiederzuerkennen. Was seine Wahrsagungen betrifft, so muss ich allerdings sagen, dass keine derselben eingetroffen ist.
Ganz gewiss lag in seinen Intuitionen etwas mehr, als glückliches Zufallsspiel. Es fand entschieden in geringerem Masse eine Art von nervöser Verbindung zwischen Bewusstem und Unbewusstem statt, ähnlich wie bei der Somnambule. Dasselbe Phänomen begegnete mir bei einer Wahrsagerin aus dem Kaffeesatze, nur mit gewagteren und ungewisseren Resultaten, weshalb ich dieselben übergehe.
. Trotzdem wiederhole ich: es ist fast unglaublich, dass wir nichts von der Zukunft wissen. Ich denke mir, dass wir ihr ähnlich gegenüberstehen, wie einer längst vergessenen Vergangenheit. Wir könnten uns ihrer erinnern. Einige Thatsachen laden zu der Annahme ein, dass dies nicht ausgeschlossen ist. Es würde sich darum handeln, den Weg zu diesem Gedächtnis, das uns vorausgeht, zu entdecken oder wiederzufinden.

Ich verstehe, dass wir nicht befähigt sind, die Umwälzungen der Elemente, das Geschick der Planeten, der Erde, der Reiche, der Völker und Rassen vorauszusehen. Das berührt uns nicht unmittelbar, und wir kennen es in der Vergangenheit nur durch die Kunst der Geschichtsforschung. Aber was uns unmittelbar angeht, was uns erreichbar ist und sich in unserer kleinen Lebenssphäre abrollen muss, die Ausscheidung unseres geistigen Organismus, die uns in der Zeit umgiebt, wie die Muschel oder das Cocon die Molluske oder Seidenraupe im Räume umgiebt, dies und alle äusseren Ereignisse, die darauf Bezug haben, ist wahrscheinlich in diese Sphäre eingeschrieben. Auf jeden Fall wäre dies viel natürlicher, als es verständlich wäre, wenn es nicht so ist. Es handelt sich hier um einen Kampf von Wirklichkeiten mit einer Illusion, und nichts verbietet uns die Annahme, dass hier wie überall die Wirklichkeiten schliesslich der Illusion Herr werden. Die Wirklichkeiten, das ist, was uns begegnen wird, und in der Geschichte, welche die unsere überragt, in der unbeweglichen, übermenschlichen Geschichte der Welt schon begegnet ist. Die Illusion, das ist der undurchsichtige Schleier aus jenen vergänglichen Fäden, die wir Gestern, Heute und Morgen nennen und über diese Wirklichkeiten weben. Aber es ist nicht unumgänglich, dass unser Wesen ewig im Banne dieser Illusion bleibt. Man kann sich sogar fragen, ob unsere aussergewöhnliche Ungeschicklichkeit im Erkennen eines so einfachen, so unbestreitbaren, vollkommenen und notwendigen Dinges, wie die Zukunft, für den Bewohner eines anderen Sterns, der uns besuchen käme, nicht ein Anlass zur grössten Verwunderung sein würde.

Heutzutage erscheint uns dies so von Grund aus unmöglich, dass es uns schwer fällt, uns vorzustellen, wie die gewisse Wirklichkeit der Zukunft die Einwendungen widerlegen würde, die wir ihr im Namen der organischen Illusion unseres Geistes machen. Wir sagen ihr zum Beispiel: wenn wir im Augenblick, wo wir eine Sache unternehmen wollen, wissen könnten, dass ihr Ausgang unglücklich sein wird, so würden wir sie nicht unternehmen, und folglich, da es, ehe wir das Schicksal befragten, in der Zeit irgendwo geschrieben stehen muss, dass diese Sache nicht stattfinden wird, weil wir darauf verzichten werden, so könnten wir ja ihren Ausgang nicht voraussehen, da sie nicht einmal einen Anfang gehabt hat.

Aber wir wollen uns nicht auf dergleichen Wege verirren, die uns zu Orten führen würden, zu denen uns nichts ruft. Genug, wenn wir uns sagen, dass die Zukunft, wie Alles, was besteht, wahrscheinlich zusammenhängender und logischer ist, als die Logik unserer Einbildungskraft, und dass alle unsere Ungewissheiten, all unser Zaudern mit in ihre Voraussicht einbegriffen sind. Überdies glauben wir nicht etwa, dass der Gang der Ereignisse völlig umgeworfen würde, wenn wir ihn im Voraus kennten! Zunächst würden nur diejenigen die Zukunft oder einen Teil von ihr kennen, welche sich die Mühe geben würden, sie zu erforschen, wie nur diejenigen die Vergangenheit oder einen Teil ihrer eigenen Gegenwart kennen, welche den Mut und Verstand gehabt haben, sie zu befragen. Wir würden uns den Lehren dieser neuen Wissenschaft rasch anbequemen, ebenso wie wir uns denen der Geschichte angepasst haben. Wir würden alsbald zwischen den Übeln unterscheiden, denen wir uns entziehen könnten, und jenen, welche unvermeidlich sind. Die Weisesten würden die Gesamtsumme dieser für sich vermindern, und die anderen würden ihnen entgegengehen, wie sie heute vielen gewissen Unglücksfällen entgegengehen, die sich leicht voraussagen lassen. Die Summe unserer Verdriesslichkeiten würde etwas geringer werden, aber weniger, als wir hoffen, denn unsere Vernunft vermag bereits einen Teil unserer Zukunft vorauszusehen, wenn auch nicht mit der materiellen Sinnfälligkeit, von der wir träumen, so doch mit einer oft hinreichenden moralischen Sicherheit, und wir sehen doch, dass die meisten Menschen aus dieser so leichten Voraussicht keinen Nutzen zu ziehen wissen. Sie würden die Ratschläge der Zukunft nicht achten, wie sie die Warnungen der Vergangenheit hören, ohne sie zu befolgen.

Ende


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