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IV.
Die Vergangenheit

Initial Hinter uns dehnt sich unsere Vergangenheit weit in die Ferne. Sie schläft dort hinten, wie eine im Nebel zurückgelassene Stadt. Einzelne Gipfel begrenzen und überragen sie. Einige wichtige Handlungen steigen wie Türme aus ihr empor, die einen noch fest und deutlich, die anderen schon halb zerbröckelt und unter der Last des Vergessens allmählich dem Sturze zuneigend. Daneben entlaubte Bäume, Mauerreste, die in Trümmer zerfallen, grosse Strecken, die sich mit zunehmendem Dunkel bedecken. Alles dies scheint tot und ohne jede andere Bewegung, als die, welche ihm die langsame Zersetzung unseres Gedächtnisses trügerisch verleiht. Aber abgesehen von diesem Scheinleben, das sich just vom Tode unserer Erinnerungen nährt, scheint alles ein für allemal unbeweglich, unwiederbringlich, unwandelbar und von der Gegenwart und Zukunft durch einen unüberschreitbaren Strom abgetrennt.

In Wahrheit lebt unsere Vergangenheit, und zwar für viele unter uns tiefer und stärker, als unsere Gegenwart oder Zukunft. In Wahrheit ist diese tote Stadt oft der lebendigste Brennpunkt unseres Daseins, und je nach dem Geiste, der uns zu ihr zurückführt, finden die einen und verlieren die anderen alle Reichtümer in ihr.

 

Initial Es ist mit unseren Gedanken über die Vergangenheit, wie mit unseren Gedanken über die Liebe, die Gerechtigkeit, das Schicksal, das Glück und die meisten jener ungewissen und doch so mächtigen geistigen Wesenheiten, welche die grossen, uns beherrschenden Gewalten darstellen. Wir haben sie von unseren Vorgängern im Leben erhalten, so wie sie sind, und selbst wenn unser zweites Bewusstsein erwacht, dasjenige, das sich schmeichelt, nichts mehr geschlossenen Auges hinzunehmen, selbst wenn wir sie geflissentlich prüfen, verlieren wir unsere Zeit oft genug damit, die laut Sprechenden zu befragen, die sich unaufhörlich wiederholen, anstatt uns umzusehen, ob es in ihrem Umkreise keine anderen mehr giebt, die noch nichts gesagt haben. Gewöhnlich braucht man gar nicht erst weit zu gehen, um diese letzteren zu entdecken. Sie warten in uns, bis wir sie anreden. Überdies sind sie in ihrem Stillschweigen nicht müssig. Über die gesprächigen Überzeugungen hinweg lenken sie still und ruhig einen Teil unseres wirklichen Lebens, und da sie der Wahrheit näher stehen, als ihre selbstgefälligen Schwestern, sind sie sehr oft auch einfacher und schöner.

 

Initial Unter diesen fertigen Vorstellungen sind die, welche unsere Vorstellung von der Vergangenheit bestimmen, besonders fest umschrieben. Dank ihnen erscheint unsere Vergangenheit uns als eine ebenso bedeutsame, ebenso unerschütterliche Macht, wie das Geschick. Sie ist das Geschick, welches hinter uns wirkt und dem, welches vor uns wirkt, die Hand giebt. Sie reicht ihm den letzten Ring unserer Kette hin. Sie treibt uns mit derselben unwiderstehlichen Brutalität vor sich her, wie jenes uns nachzieht. Vielleicht ist ihre Brutalität sogar noch packender und furchtbarer. Am Geschick kann man zweifeln. Es ist ein Gott, dessen Händen Mancher entrinnt. Aber kein Mensch denkt daran, die Macht der Vergangenheit zu bestreiten. Es erscheint unmöglich, ihre Wirkungen nicht früher oder später zu verspüren. Selbst die, welche nur das Greifbare zugeben, übertragen auf diese Vergangenheit, die sie mit dem Finger berühren können, all den Einfluss, all die Vorstellungen vom Mysterium und dem Eingreifen höherer Mächte, die sie den von ihnen geleugneten Gewalten nehmen, und so erheben sie es zu dem fast einzigen und um so furchtbareren Gotte ihres entvölkerten Olymps.

 

Initial In Wahrheit ist die Macht der Vergangenheit eine der schwersten, die auf dem Menschen lasten und ihn zur Trübsal niederbeugen. Trotzdem wäre keine so gefügig und so gern bereit, der von uns angegebenen Richtung zu folgen, wenn wir diese Willfährigkeit nur besser zu nutzen verstünden. Überlegt man es recht, so gehört die Vergangenheit uns ebenso wirklich an, wie die Gegenwart, und sie ist gefügiger als die Zukunft. Sie liegt ebenso wie die Gegenwart, und weit mehr als die Zukunft, ganz und gar in unserem Denken und stets in unserer Hand, und dies trifft nicht nur für das Gebiet unserer materiellen Vergangenheit zu, wo wir noch die Möglichkeit haben, die Trümmer, die wir geschaffen haben, wieder aufzurichten, sondern auch für die Teile dieser Vergangenheit, die unseren nachträglichen guten Absichten anscheinend unwiederbringlich entzogen sind, namentlich aber für unsere moralische Vergangenheit und alles in ihr, was uns nie wieder gut zu machen dünkt.

 

Initial Was vergangen ist, ist vergangen, sagen wir. Aber das ist nicht wahr. Die Vergangenheit ist stets gegenwärtig. Wir tragen die Last unserer Vergangenheit, so sagen wir auch. Und das ist ebensowenig wahr. Die Vergangenheit trägt unsere Last. »Nichts kann die Vergangenheit austilgen« – auch dies ist nicht wahr. Die Gegenwart wie die Zukunft durcheilen beim leisesten Wink unseres Willens die Vergangenheit und tilgen in ihr alles aus, was wir ihnen darin auszulöschen anbefehlen. »O unzerstörbare, nicht wieder gut zu machende, unwandelbare Vergangenheit!« – Auch dies ist nicht wahr. Die Gegenwart ist das Unwandelbare und nicht wieder gut zu Machende bei denen, die so reden. »Meine Vergangenheit ist schlecht, traurig und leer«, sagen wir auch bisweilen; »ich finde nicht eine Minute der Schönheit, des Glücks oder der Liebe darin; ich sehe nichts als Trümmer ohne Grösse« … Und doch ist das alles nicht wahr, denn man sieht genau das in ihr, was man in dem Augenblick, wo man sie sieht, hineinlegt.

 

Initial Unsere Vergangenheit hängt ganz und gar von unserer Gegenwart ab und verändert sich fortwährend mit ihr. Sie nimmt unmittelbar die Form der Gefässe an, in die unser heutiges Denken sie aufnimmt. Sie ist in unserem Gedächtnis enthalten, und nichts ist veränderlicher, nichts ist mehr den Eindrücken unterworfen und unselbständiger, als dieses Gedächtnis. Es wird unaufhörlich von unserem Herzen und unserem Verstande bearbeitet und befruchtet, und diese werden grösser oder kleiner, besser oder schlechter, je nach dem, was das Ziel unseres Strebens ist. Was jedem von uns an der Vergangenheit von Belang ist, was uns von ihr bleibt und einen Teil unseres Wesens bildet, das sind nicht die Thaten, die wir gethan, die Erlebnisse, die wir gehabt haben, sondern die moralischen Wirkungen, welche diese Ereignisse in diesem Augenblick bei uns hervorrufen, es ist unser inneres Wesen, an dessen Bildung sie beteiligt waren, und diese Wirkungen, die das innere höhere Wesen schaffen, hängen lediglich von der Art ab, wie wir die stattgefundenen Ereignisse ansehen. Sie wechseln je nach dem moralischen Grundstoff, den sie in uns vorfinden. Nun aber ändert sich dieser moralische Grundstoff unseres Wesens mit jeder höheren Stufe, die unser Verstand und unser Fühlen erreichen, und alsbald nehmen die unwandelbarsten Thatsachen, die in die Vergangenheit wie in Stein oder Bronce eingegraben sind, ein ganz anderes Aussehen an, verschieben und beleben sich von neuem, geben uns grössere und beherztere Ratschläge, reissen das Gedächtnis mit sich empor und bauen aus einem Trümmerhaufen, der im Dunkeln verweste, eine neue Stadt auf, die sich wieder bevölkert und über der von neuem die Sonne aufgeht.

 

Initial Ganz willkürlich setzen wir hinter uns eine gewisse Anzahl von Ereignissen an. Wir verbannen sie an den Horizont unserer Erinnerung, und sobald sie sich dort befinden, bilden wir uns ein, dass sie einer Welt angehörten, in der alle Anstrengungen der Menschen zusammen keine Blume mehr aufrichten und keine Thräne mehr abwischen können. Doch, o seltsamer Widerspruch: indem wir zugeben, dass wir keinen Einfluss mehr auf sie haben, sind wir überzeugt, dass ihre Wirkung auf uns fortdauert. In Wahrheit wirken sie auf uns nur soviel ein, als wir auf sie einzuwirken verzichten. Die Vergangenheit steht nur für den still, dessen moralisches Leben still steht. Sie erstarrt erst dann zu ihrer furchtbaren Gestalt, wenn dieser Stillstand erfolgt. Von diesem Augenblick an liegt wirklich etwas Unabänderliches hinter uns, und die Last unserer Thaten fällt auf unsere Schultern herab. Aber so lange unser Geistes- und Charakterleben keine Unterbrechung erfährt, bleibt sie über unserem Haupte schweben, und ganz wie die gefälligen Wolken, die Hamlet dem Polonius zeigt, harrt sie unseres Blickes, damit er ihr die Gestalt der Hoffnung oder Furcht, der Trübsal oder Heiterkeit zulege, die wir aus uns selbst schöpfen.

 

Initial Sobald unsere moralische Thätigkeit erlahmt, eilen die vergangenen Ereignisse herbei und fallen uns an; und wehe dem, der ihnen die Thür öffnet und sie an seinem Herde sich einnisten lässt! Sie überhäufen ihn um die Wette mit Gaben, die höchst geeignet sind, den Mut zu brechen. Und die glücklichste und edelste Vergangenheit ist, wenn wir ihr gestatten, sich bei uns einzunisten, – nicht als Gast, den wir einladen, sondern als Schmarotzer, der sich aufdrängt, – ebenso gefährlich, wie die trübste und verbrecherischste. Denn wenn diese letztere nichts bringt, als ohnmächtige Selbstvorwürfe, so jene nichts als unfruchtbare Sehnsucht; und Selbstvorwürfe wie Sehnsucht sind, wenn sie derart eindringen, gleich verderblich. Um aus der Vergangenheit das zu schöpfen, was sie Köstliches enthält – und sie birgt fast alle unsere Reichtümer –, muss man bei ihr Einkehr halten, wenn man sich in der Fülle seiner Kraft befindet, wie ein Herr, der sein Hab und Gut besucht, muss man sich in ihr auswählen, was einem frommt, den Rest aber ihr überlassen und ihr gleichzeitig untersagen, unsere Schwelle ungerufen zu betreten. Sie wird wie alles, was im ganzen genommen nur auf Kosten unserer Geisteskraft lebt, bald die Gewohnheit annehmen, uns zu gehorchen. Sie wird zu Anfang vielleicht Widerstand versuchen. Sie wird zu Listen und Bitten greifen. Sie wird uns versuchen und zurückhalten wollen. Sie wird uns auf getäuschte Hoffnungen, unwiederbringliche Freuden, verdiente Vorwürfe, gebrochene Treue, begrabene Liebe, verröchelten Hass, verschwendeten Glauben, verlorene Schönheit hinweisen, auf alles, was eines Tages die geheime Feder unserer Lebensglut bildete, auf alles, was ihre Trümmer jetzt an Trübsalen bergen, die uns zurückrufen, und an erloschenem Glück. Aber wir müssen vorbeigehen und die Fülle der Erinnerungen beiseite schieben, ohne das Haupt zu wenden, wie der kluge Odysseus in der kimmerischen Nacht alle Schatten der Toten, die zu befragen er nicht berufen war, – selbst den seiner Mutter, – mit dem Schwert von dem schwarzen Blute zurücktrieb, das sie wiederbeleben und ihnen für eine kurze Frist die Sprache verleihen sollte. Wir müssen gerade auf die und die Freude, die und die Sehnsucht, den und den Selbstvorwurf losgehen, dessen Rat uns von nöten ist; wir müssen die und die Ungerechtigkeit sehr ausführlich befragen, sei es, dass wir sie wieder gut machen wollen, wenn dies noch angeht, sei es, dass wir bei einer anderen, die wir begangen haben und deren Opfer nicht mehr leben, die Kraft suchen, die notwendig ist, um uns über die Ungerechtigkeiten zu erheben, die zu begehen wir uns noch heute fähig fühlen.

 

Initial Selbst wenn unsere Vergangenheit Verbrechen aufzuweisen hat, die auch der beste Wille nicht mehr gut machen kann und deren Wirkungen er nicht mehr zu hemmen vermag: wenn man die bedingenden örtlichen und zeitlichen Umstände, den ungeheuren Plan jedes menschlichen Daseins aus grösserer Höhe betrachtet, so verschwinden diese Verbrechen thatsächlich augenblicks aus unserem Leben, sobald wir das sichere Gefühl haben, dass keine Versuchung, keine Macht dieser Welt uns zwingen könnte, sie noch einmal zu begehen. Sie werden in der Welt nicht vergeben, denn es giebt wenige Dinge, die in der äusseren Sphäre vergeben und vergessen werden; sie fahren fort, ihre materielle Wirkung zu thun, denn die Gesetze der Ursachen und Wirkungen sind andere, als die unseres Gewissens. Aber vor dem Richterstuhl unserer persönlichen Gerechtigkeit, dem einzigen, der auf unser unantastbares Leben von entscheidendem Einfluss ist, dem einzigen, wo wir wirklich bis auf die Nieren geprüft und gerichtet werden, dessen Sprüche wir nicht umgehen oder vereiteln können, ist eine böse Handlung, wenn wir sie aus grösserer Höhe betrachten, als von ihrem Thatort, nur darum noch vorhanden, um uns den Rückfall desto schwerer zu machen, und sie hat nur von dem Augenblick an das Recht, sich wieder vor uns zu erheben, wo wir von neuem dem Abgrund zustreben, den sie behütet.

Es gehört gewiss zu den tiefsten menschlichen Trübsalen, wenn man Ungerechtigkeiten hinter sich hat, die alle Wege in unserem Rücken sozusagen versperren, sodass es nicht mehr möglich ist, ihre Opfer wiederzufinden, wieder aufzurichten und zu trösten. Es gehört zu den Schmerzen, die sich am wenigsten schnell vergessen lassen, wenn man seine Kraft missbraucht hat, um den Schwachen nach seiner endgiltigen Niederlage auszuplündern, wenn man ein Herz, das uns geliebt hat, ohne Recht bis auf den Tod gepeinigt, oder einfach eine rührende Zuneigung, die uns entgegengebracht wurde, verkannt hat. Es ist notwendig, dass dergleichen schwer auf unserem Dasein lastet. Aber je nach dem Standpunkte unseres heutigen Gewissens hängt es von uns allein ab, ob diese Last unser ganzes moralisches Schicksal herabdrückt oder emporhebt. Es ist unvermeidlich, – denn fast nichts von dem, was wir gethan haben, bleibt ohne Wirkung, – es ist unvermeidlich, dass viele Ungerechtigkeiten, die wir begangen haben, eines Tages wieder auferstehen, um das, was wir ihnen schuldig geblieben sind, einzufordern und berechtigte Wiedervergeltung zu üben. Sie werden unser äusseres Dasein erreichen, aber bevor es ihnen gelingt, dass innere Zentrum dieses Lebens zu erreichen, müssen sie durch das Urteil hindurch, das wir schon über uns selbst gefällt haben, und die Art dieses Urteils bestimmt das Verhalten der mystischen Botinnen, die jene Tiefen entsenden, wo das ewige Gleichgewicht der Ursachen und Wirkungen herbeigeführt wird. Wenn wir uns von der Höhe unseres neuen Bewusstseins aus aufrichtig befragt und verurteilt haben, so werden wir keine plötzlichen, drohenden Rächerinnen von allen Seiten auftauchen sehen, sondern wohlmeinende Besucherinnen, ja, fast unerwartete Freundinnen, die schweigend herbeikommen. Sie wissen im voraus, dass sie einen Menschen finden werden, der nicht mehr der Schuldige ist, den sie suchen, und statt uns Gedanken der Empörung, der Verzweiflung und des Hasses, statt niederziehender und vernichtender Züchtigungen, werden sie uns Gedanken und Strafen ins Herz giessen, die veredeln, läutern und trösten.

 

Initial Die durch viele andere Dinge, die fast alle aus dem gleichen Prinzip des Vertrauens und der Inbrunst entspringen, unterscheiden sich die Glücklichen und Starken von den Weinenden und Entmutigten auch weniger durch das, was sie gethan oder erlitten haben, als durch die Art, wie sie sich ihrer Thaten und Leiden zu erinnern wissen. An sich ist die Vergangenheit für niemand glücklich, und die Lieblinge des Schicksals hätten, wenn sie darauf zurückblicken, was ihnen von verrauschten Jahren tiefsten Glückes bleibt, vielleicht noch mehr Grund betrübt zu sein, als die Unglücklichen, die auf die Trümmer eines Lebens im Elend zurückblicken. Alles, was einmal war und heute nicht mehr ist, stimmt uns traurig, zumal wenn es sehr schön und sehr glücklich war. Der Gegenstand der Sehnsucht, mag diese nun auf das gerichtet sein, was war, oder was hätte sein können, bleibt also für alle Menschen etwa der gleiche, und ihre Trübsal sollte darum die nämliche sein. Trotzdem ist sie es keineswegs; hier herrscht sie ununterbrochen und dort zeigt sie sich nur in grossen Zwischenräumen. Sie muss also von etwas anderem abhängen, als von den Thaten, die geschehen sind. Sie hängt von der Art ab, wie der Mensch auf diese einwirkt. Die Sieger dieser Welt, die keine Zeit damit verlieren, sich den Horizont mit imaginären Unwandelbarkeiten und Unwiederbringlichkeiten zu versperren, die jeden Morgen in einer ewig und unaufhörlich wiedergeborenen Welt neugeboren werden, sie wissen instinktiv, dass alles, was nicht mehr zu bestehen scheint, stets jungfräulich besteht, dass alles, was man für beendigt hält, stets im Begriff ist, sich zu vollenden. Sie wissen, dass die Jahre, welche die Zeit ihnen genommen hat, noch in Thätigkeit sind und unter ihrem neuen Herrn immer noch dem alten gehorchen. Sie wissen, dass ihre Vergangenheit stets in Bewegung ist, dass alles, was gestern trübselig, krank oder schuldbeladen war, morgen voller Freude und Unschuld, in verjüngter Gestalt auf der Strasse der Zukunft erscheinen wird. Sie wissen, dass ihr Abbild in den verflossenen Tagen noch nicht fest geprägt ist, dass es nur eines entscheidenden Gedankens, einer entscheidenden That bedarf, um das Ganze umzuwerfen, dass der Schatten hinter ihnen, so alt er ist und so weit er sich dehnen mag, nur eine Gebärde der Heiterkeit oder der Hoffnung von ihnen erwartet, um dieselbe sofort nachzuahmen und bis zu den spärlichen Trümmern ihrer Kinderzeit fortzusetzen, ja, diesen Trümmern unverhoffte Schätze zu entlocken. Sie wissen, dass alles rückwirkend schöner oder besser werden kann, und dass selbst die Toten ihre Richtersprüche aufheben werden, um eine Vergangenheit, die heute wieder auferweckt und verklärt wird, von neuem zu richten.

Glücklich, wem dieser Instinkt schon in der Wiege zu teil wird. Aber wem er nicht geschenkt ward: kann der ihn nicht nachahmen, und hat die menschliche Weisheit nicht auch den Beruf, uns die heilsamen Instinkte, welche die Natur uns versagt hat, erwerben zu lehren?

 

Initial Schlafen wir auf unserer Vergangenheit nicht ein! Je glücklicher oder glorreicher sie ist, desto verdächtiger muss sie uns werden, sobald sie sich wie ein Gewölbe über unserem Leben zu runden trachtet, sobald sie nicht unablässig unter unseren Blicken sich wandelt, sobald die Gegenwart sich gewöhnt, sie nicht mehr aufzusuchen, wie ein guter Arbeiter, der sich zu ihr begiebt, um die Arbeit zu verrichten, die ihm heute aufgetragen ist, sondern wie ein thatloser und allzu leichtgläubiger Pilger, der sich damit begnügt, schöne starre Ruinen zu betrachten.

Und bringen wir ihr nie jene tiefe Ehrerbietung entgegen, die der Instinkt uns auferlegt, wenn diese Ehrerbietung uns fürchten lässt, ihre schöne Ordnung zu zerstören. Eine gewöhnliche Vergangenheit, die auf ihrem Platze im Dunkeln bleibt, ist immer noch besser, als eine prunkvolle Vergangenheit, die das, was ihr nicht mehr angehört, zu regieren beansprucht. Eine mittelmässige, aber lebendige Vergangenheit, die noch wirkt, als wäre sie allein auf Erden, ist immer noch besser, als eine Gegenwart, die in den Ketten eines wunderbaren Einst hochmütig hinsiecht. Ein jeder Schritt, den wir zu dieser Stunde nach einem unbestimmten Ziele machen, ist für uns belangreicher, als die tausend Meilen, die wir dereinst zu einem glänzenden, aber verjährten Siege machten. Unsere Vergangenheit hat keinen anderen Zweck, als uns zu dem gegenwärtigen Augenblick emporzutragen und uns für ihn die Waffen und Erfahrungen, das Denken und die Freudigkeit, die erforderlich sind, zu verschaffen. Wenn sie uns zu dieser Stunde aber zurückhält oder ein Teilchen unserer Thatkraft auf sich ablenkt, so ist sie, so glorreich sie gewesen sein mag, nur unnütz gewesen, und es wäre besser, dass sie nicht existiert hätte. Wenn wir ihr gestatten, eine Gebärde, die wir gerade machen wollten, zu hemmen, so fängt unser Tod an, und die Gebäude der Zukunft nehmen plötzlich die Gestalt von Grabmälern an.

Es giebt Vergangenheiten, die noch gefährlicher sind, als die des Glückes und des Ruhmes: es sind die, welche von allmächtigen oder heissgeliebten Phantomen bevölkert werden. Es giebt viele, die in den Umarmungen geliebter Erinnerungen zu Grunde gehen. Und doch: wenn die Toten wieder auf Erden zurückkehrten, mit aller ihrer Weisheit, denn sie haben ja alles gesehen, was uns das vergängliche Licht noch verbirgt, so würden sie uns, denke ich, sagen: »Weint doch nicht so. Eure Thränen geben uns das Leben nicht wieder, sondern sie erschöpfen uns, da sie Euch erschöpfen. Macht Euch von uns los, denkt nicht mehr an uns, solange der Gedanke an uns dem Leben, das uns in Eurem eigenen Leben bleibt, nur Thränen beimischt. Wir leben nur noch in Euren Erinnerungen, aber Ihr glaubt zu Unrecht, dass die einzigen, die uns erreichen, die sind, welche sich nach uns zurücksehnen. Alles, was Ihr thut, ist eine Erinnerung an uns und erfreut unsere Schatten, ohne dass Ihr es wisst, ohne dass Ihr Euch an uns zu wenden brauchtet. Wenn unser bleiches Bild Eure Lebensglut dämpft, so sterben wir eines zweiten Todes, der viel schmerzlicher und unwiderruflicher ist, als der erste, und wenn Ihr Euch zu oft über unsere Gräber beugt, so nehmt Ihr uns das Leben, die Liebe und den Mut, die Ihr uns wiederzugeben wähnt.

»In Euch leben wir, unser Leben geht in dem Euren auf, und wenn Ihr wachset, so wachsen wir auch, selbst wenn Ihr uns vergesst, und unsere Schatten atmen auf, wie Gefangene, deren Kerker sich öffnet.

»Wenn wir in der Welt, in der wir sind, etwas Neues gelernt haben, so ist es zunächst dies, dass das Gute, was wir Euch gethan haben, als wir, wie Ihr, auf dieser Erde waren, nicht das Übel einer Erinnerung aufwiegt, welche die Kraft des Lebens und die Zuversicht zu ihm vermindert.«

 

InitialVor allem beneiden wir keinen Menschen um seine Vergangenheit! Unsere Vergangenheit ist durch uns selbst und für uns allein geschaffen. Sie ist die einzige, die uns frommt, die einzige, die uns eine Wahrheit zu lehren hat, die uns niemand anders hätte lehren können, die einzige, die uns eine Kraft verleihen kann, die kein Mensch uns geben könnte. Ob gut oder schlecht, glänzend oder trübe, sie ist für uns wie ein Museum von Meisterwerken, die einzig in ihrer Art sind und nur zu uns reden; denn kein fremdes Kunstwerk könnte einer That entsprechen, die wir vollbracht, einem Kuss, den wir empfangen, einer Schönheit, die wir empfunden, einem Leid, das wir erduldet haben, einer Angst, die uns beklemmt, einer Liebe, die uns mit Thränen oder Frohsinn überschüttet hat. Unsere Vergangenheit, das sind wir selbst, wie wir sind und wie wir dereinst sein werden, und in dieser unbekannten Sphäre, in der wir uns bewegen, vermöchte keiner vorauszusehen, so glücklich oder unglücklich er sei, was er einbüssen würde, wenn er eine fremde Spur an Stelle deren setzte, die er im Leben zurücklassen müsste. Unsere Vergangenheit, das ist auch unser eigenes, durch den Mund der Jahre verkündetes Geheimnis, das ist das geheimnisvollste Abbild unseres Lebens, von der Zeit überrascht und bewacht. Das Bild ist nicht tot; ein Nichts kann es erniedrigen oder zieren; es kann noch licht oder dunkel werden, lachen oder weinen, Hass oder Liebe künden; aber es bleibt unter den Myriaden von Bildern, die es umgeben, stets zu erkennen. Es stellt uns in unserem Rücken dar, wie unser Hoffen und Trachten uns in der Zukunft darstellt, und diese beiden Gesichter verschmelzen zu einem, um uns selbst zu lehren, was wir sind.

Was beneidenswert ist, das sind keineswegs die vergangenen Ereignisse, sondern das geistige Gewebe, in welches die Erinnerung an Tage, die nicht mehr sind, den Weisen hüllt. Mag dieses Gewebe aus Schmerz oder Freude gewirkt, im Überfluss oder in der Kläglichkeit der Ereignisse gewebt sein, es ist doch gleich kostbar, und keiner, der es auf dem Leben seines Trägers glänzen sieht, vermöchte zu sagen, ob die Sterne und Juwelen, die es beleben, in der kärglichen Asche einer Hütte oder auf den Stufen eines Palastes gefunden sind.

Es giebt keine leere oder armselige Vergangenheit, es giebt keine kläglichen Ereignisse, sondern nur solche, die kläglich aufgenommen werden. Wenn Dir wirklich nichts begegnet ist, so wäre dies das ausserordentlichste Ereignis, das je einem Menschen begegnet ist, und Du könntest ihm ein ebenso ausserordentliches Licht entlocken. In Wahrheit sind es dieselben Ereignisse und Leidenschaften, die nämlichen Möglichkeiten und fast die gleichen Gelegenheiten, welche die meisten Menschen erwarten und umwerben. Die Umstände und ihr Glanz sind verschieden, aber weit weniger als ihre inneren Wirkungen, und ein winziges und unvollkommenes Ereignis, das in ein fruchtbares Herz, einen fruchtbaren Geist fällt, wächst sich sehr leicht zu der gleichen moralischen Höhe und Grösse aus, wie ein ähnlicher Fall, der bei anderem Hintergrunde ein ganzes Volk erschüttern würde.

Wenn jemand die verschiedenen Vergangenheiten einer Reihe von Menschen vor sich ausgebreitet sähe, ohne dass er zugleich die moralischen Folgen dieser zerstreuten und unähnlichen Ereignisse überschauen könnte, so würde es für ihn recht schwer sein, die Vergangenheit zu bezeichnen, die er zu leben wünschte. Vielleicht würde er sich grimmig täuschen, wenn er diese oder jene Vergangenheit wählte, aus der unvergleichliche Glücksfälle und Triumphe wie riesige Edelsteine hervorleuchten, während sein Blick gleichgiltig über manches andere, anscheinend inhaltsleere Dasein hinweggleiten würde, das doch von heiteren Gefühlen und guten, befreienden Gedanken beseelt wird, die es über alles glücklich machen, sich aber nicht zeigen. Denn wir wissen ja, dass ein Gedanke genügt, um das, was uns vom Geschick verliehen und vorbehalten ward, ebenso gründlich umzuwerfen, wie es ein grosser Sieg oder eine grosse Niederlage thun würde. Er macht keinen Lärm, er verrückt keinen Kieselstein auf der Strasse, die wir in unserem Geiste gehen, aber er errichtet stillschweigend eine unzerstörbare Pyramide an der Biegung der wirklicheren Strasse, auf der das geheime Leben schreitet, und plötzlich schlägt alles, was uns begegnet, ja selbst die Ereignisse des Himmels und der Erde, eine neue Richtung ein.

Das Wichtigste im Leben Siegfrieds ist nicht der Augenblick, wo er das Wunderschwert schmiedet, noch wo er den Drachen tötet und die Götter zwingt, ihm Platz zu machen; noch minder ist es die leuchtende Frist, wo er in der Waberlohe die Liebe findet, sondern die Sekunde, die er den ewigen Schicksalssprüchen abringt, die kleine, kindliche Bewegung, wo er die eine vom Blute seines geheimnisvollen Opfers gerötete Hand aus Versehen an seine Lippen führt und seine Augen und Ohren aufgethan werden, wo er die verborgene Sprache aller Dinge ringsum versteht, wo er den Verrat des Zwerges vernimmt, der die bösen Gewalten verkörpert, wo er plötzlich thun lernt, was er thun soll.


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