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V.
Das Glück

InitialEs waren einmal zwei Brüder, heisst es in einer alten serbischen Sage. Der eine war thätig und unglücklich, der andere träg und mit Glück überhäuft. Der unglückliche Bruder trifft eines Tages ein schönes Mädchen, das die Schafe hütete und einen goldenen Faden spann. »Wem gehören diese Schafe?« fragt er. »Sie gehören dem, dem ich gehöre.« – »Und wem gehörst Du?« – »Deinem Bruder, ich bin sein Glück.« – »Und wo ist mein Glück?« – »Weit, weit von Dir.« – »Kann ich es finden?« – »Ja, wenn Du es suchest.«

Er geht also auf die Suche nach seinem Glück. Eines Abends findet er in einem grossen Walde ein armes altes Weiblein mit grauen Haaren, das unter einem Baume eingeschlafen ist. Er weckt es auf und fragt es: »Wer bist Du?« – »Du kennst mich nicht?« antwortet es. »Du hast mich freilich nie gesehen; ich bin Dein Glück.« – »Und wer hat mir ein so elendes Glück gegeben?« – »Das Schicksal.« – »Kann ich das Schicksal finden?« – »Vielleicht, wenn Du lange suchest.«

Er geht und sucht das Schicksal. Nach langem Wandern wird es ihm endlich gezeigt. Es lebt im Überfluss in einem grossen Palaste, aber von Tag zu Tag nimmt sein Reichtum ab und die Thüren, die Fenster und Mauern seiner Wohnung schrumpfen zusammen. Es erklärt ihm, dass es derart in ewigem Wechsel vom Elend zum Überfluss lebt und dass die Lage, in der es sich zu einem gegebenen Augenblick befindet, für die Zukunft aller in diesem Augenblick geborenen Kinder bestimmend ist. »Du bist zu der Zeit geboren«, erklärt es ihm, »wo mein Wohlstand abnahm, und daher kommt Dein Unglück.« Und es rät ihm, um sein schlimmes Loos zu beschwören oder zu täuschen, sein Glück mit dem seiner Nichte Militza zu vertauschen, die zu einem günstigen Zeitpunkte geboren ist. Um diesen Tausch zu bewerkstelligen, würde es genügen, seine Nichte zu sich zu nehmen und jedem, der ihn fragt, zu erklären, dass alles, was er besitze, der Militza gehöre.

Er folgt diesem Rat und seine Verhältnisse ändern ihr Antlitz. Seine Heerden werden fett und vermehren sich, seine Bäume biegen sich unter der Last der Früchte, er macht unverhoffte Erbschaften und seine Äcker bedecken sich mit wunderbaren Ernten. Aber eines Morgens, als er in seinem Glücke thatlos ein prächtiges Getreidefeld betrachtet, fragt ein Fremder ihn im Vorübergehen, wem die herrlichen Ähren gehören, die sich so schwer im Morgentau wiegen und zweimal höher und dicker sind, als die der benachbarten Felder. Er vergisst sich und antwortet: »Es sind die meinen.« Sofort fängt das andere Ende des Feldes Feuer und beginnt niederzubrennen. Er erinnert sich jetzt des vergessenen Rates, rennt hinter dem Fremden her und schreit: »Ich irre mich! Ich habe Dir nicht die Wahrheit gesagt; bleib stehen; komm zurück. Dies Feld gehört nicht mir, sondern meiner Nichte Militza.« Und plötzlich, während er noch spricht, sinken die Flammen zusammen und die Halme sprossen von neuem.

 

Initial Dieses naive, uralte Bild zeigt, dass das geheimnisvolle Problem des Glückes sich nicht im mindesten geändert hat, seit der Mensch es zu befragen begonnen hat, und es könnte auch noch unserer heutigen Unwissenheit zur Illustration dienen. Es sind unsere Gedanken, welche unser inneres Glück oder Unglück bestimmen, und die Ereignisse der Aussenwelt die mehr oder weniger Einfluss darauf haben. Es giebt Menschen, bei denen diese Gedanken so mächtig und wachsam geworden sind, das ohne ihre Zustimmung nichts in das Erz- und Krystallgebäude eindringen kann, das sie auf einem, die gewöhnliche Strasse der Ereignisse beherrschenden Hügel errichtet haben. Es ist unser Wille, der, von unseren Gedanken genährt und unterstützt, eine grosse Zahl von unnützen oder schädlichen Ereignissen abzuwenden vermag. Trotzdem schlingt sich rings um diese mehr oder minder sicheren, mehr oder minder uneinnehmbaren kleinen Inseln ein ebenso ununterworfener, ebenso ungeheurer Raum wie das Weltmeer, in dem anscheinend nur der Zufall herrscht, wie der Wind über den Wellen. Kein Gedanke, kein Wille kann eine dieser Wogen hindern, unverhofft emporzurauschen, uns zu überraschen, zu betäuben und zu verletzen. Ihre wohlthätige Wirkung tritt erst dann wieder ein, wenn die Woge sich verlaufen hat. Dann tragen, pflegen und beleben sie uns von neuem und wachen darüber, dass der Schade, den der plötzliche Stoss uns gethan hat, nicht bis zu den tiefen Quellen unseres Lebens herabdringt. Hierauf beschränkt sich ihre Rolle. Sie ist dem Anschein nach sehr bescheiden, in Wirklichkeit aber hebt sie den Zufall, ausser wenn derselbe die unwiderstehliche Gestalt einer grausamen Krankheit oder des Todes annimmt, fast auf und ist hinreichend, um das Beste und Menschlichste im menschlichen Glück zu erhalten.

 

Initial Zwischen den Handlungen, die wir vorausgesehen haben, rings um die Handlungen, die wir allein bestimmen und durch die wir die grossen Linien unseres Daseins notdürftig festlegen, drängt sich und kreist die furchtgebietende Menge der lauernden Zufälle. Die Luft, die wir atmen, der Raum, in dem wir uns bewegen, die Zeit, die wir durchmessen, sind mit Umständen bevölkert, die uns erwarten und uns aus der Menge auswählen. Wenn man ihre Gewohnheiten beobachtet, so bemerkt man bald, dass diese seltsamen Kinder des Zufalls, die, wie ihr Vater, blind und taub sein müssten, niemals auf gut Glück handeln. Sie wissen, was sie thun, und täuschen sich selten. Mit unerklärlicher Sicherheit erkennen sie unter den Vorübergehenden den Wanderer, vor dem sie sich erheben müssen. Wenn zwei Menschen zur gleichen Stunde desselbigen Weges wandeln, so entsteht niemals Zaudern oder Verwirrung in der doppelten unsichtbaren Schaar, die vom Geschick aufgestellt ist. Dem einen tritt bei seiner Ankunft die Reihe der weissen Jungfrauen mit Palmen, Krügen und den tausend unerwarteten Glücksgaben des Weges entgegen; bei der Ankunft des anderen brechen die »schlimmen Weiblein«, die Aeschylus uns geschildert hat, aus dem Gehölz hervor, gleich als hätten sie an ihrem ahnungslosen Opfer irgend eine unerklärliche, vor seiner Geburt liegende Kränkung zu rächen.

 

Wir alle haben im Leben mehr oder weniger das Schicksal gewisser Wesen verfolgt, denen Glücks- oder Unglücksfälle zustiessen, die keineswegs durch ihre Handlungen herausgefordert waren, sondern plötzlich an einer Wegebiegung aus dem Boden zu wachsen oder aus dem Himmel zu fallen schienen und vollständig, grundlos, unverdient und unvermeidlich waren. Der eine, der nicht daran gedacht hat, nach einem Amte zu trachten, zu dem ein besser gerüsteter Nebenbuhler ihm den Weg versperrte, sieht diesen Nebenbuhler im entscheidenden Augenblick verschwinden; der andere, der auf die Fürsprache eines mächtigen Freundes rechnete, sieht diesen Freund in dem Augenblick sterben, wo er ihm die Hand reichte. Dieser Mensch, der weder Talent noch Schönheit besitzt und nichts vorauszusehen vermag, findet alltäglich im Palaste des Glückes, des Ruhmes oder der Liebe Zutritt, gerade in dem Augenblick, wo alle Thüren offen stehen; ein anderer ist ein verdienstvoller Mensch und hat sich seinen rechtmässigen Schritt reiflich überlegt, aber er tritt in dem Augenblick vor die Thore, wo das ungünstige Schicksal sie für ein halbes Jahrhundert schliesst. Mancher setzt seine Gesundheit in unsinnigen Kraftproben zwanzigmal aufs Spiel und geht heil daraus hervor, und ein anderer setzt sie vorsichtig bei einem ehrenvollen Abenteuer ein und verliert sie unwiederbringlich. Tausend Unbekannte arbeiten im Verborgenen daran, dem ersten zu helfen, ohne ihn je gesehen zu haben, und tausend Unbekannte lähmen das Werk des zweiten, ohne zu wissen, dass er lebt. Und diese wie jene ahnen nicht, was sie thun; durch Meere getrennt, gehorchen sie demselben, durch alle Welt zerstreuten und doch so genau berechneten Gebote, und zur gegebenen Stunde schliessen und fügen die verstreuten Teile der geheimnisvollen Maschine sich zusammen, und zwei vollendete, unähnliche Geschicke treten in die Zeitlichkeit.

 

Initial Doktor Foissac zählt in einem seltsamen Buche über »Glück und Schicksal« unzählige wunderbare Beispiele der fundamentalen, vorherbestimmten, hartnäckigen, unerklärlichen, unwiderruflichen Ungerechtigkeit auf, in der die meisten Existenzen schweben. Wenn man ihm folgt, so wähnt man in die befremdenden Werkstätten einer anderen Welt einzutreten, wo man nichts findet, um Glück und Unglück abzuwägen und auszuteilen, was an die unerlässlichen Werkzeuge der Gerechtigkeit, so wie der Mensch sie versteht, erinnern könnte. Da ist z. B. das Leben des bewundernswerten Vauvenargues, wohl des Unglücklichsten unter den grossen Weisen, der trotz seines Genies, seiner moralischen Schönheit, seiner Tapferkeit, seines Strebens, von grausamen Krankheiten gebrochen und entstellt wurde, gerade als sein Glück gewogen wurde. Er schreitet Tag für Tag von einer unverdienten Enttäuschung zu einer ebenso unverdienten Ungerechtigkeit und stirbt mit 32 Jahren in der Stunde, wo sein Werk Anerkennung finden sollte. Da ist die furchtbare Geschichte des Lesurques Ich will diese Geschichte hier kurz wiedergeben, wie Dr. Foissac sie ausgezeichnet zusammenfasst: »Am 8. Floréal des Jahres IV wurden der Postillon und Courier, welche die Post von Paris nach Lyon brachten, um 9 Uhr abends im Walde von Sénart, angefallen und ermordet. Die Mörder waren Courriol, der im Postwagen neben dem Courier gesessen hatte, ferner Durochal, Rossi, Vidal und Dubosq, die ihnen auf gemieteten Pferden entgegenritten, endlich Bernard, der die Pferde besorgt und an der Verteilung der Beute Anteil genommen hatte. Für dieses Verbrechen, an dem fünf Mörder und ein Mitschuldiger Teil hatten, bestiegen im Zeiträume von vier Jahren sieben Menschen das Schafott. Die Justiz tötete also einen Menschen zu viel, sie traf also einen Unschuldigen. Es konnte dies keiner der sechs Mörder sein, die alle ihr Verbrechen eingestanden hatten. Dieser Unschuldige war Lesurques, der bis zuletzt seine Unschuld beteuert hatte und von dem jeder seiner angeblichen Mitschuldigen erklärte, ihn nicht zu kennen. Wie wurde dieser Unschuldige also in eine Angelegenheit verwickelt, die seinem Namen eine so traurige Unsterblichkeit verleihen sollte? Das Verhängnis wollte, dass Lesurques vier Tage vor dem Verbrechen die Stadt Douai mit 18 000 Livres Renten verlassen und sich in Paris niedergelassen hatte, um seinen Kindern eine bessere Erziehung zu teil werden zu lassen. Er war gerade zum Frühstück bei einen seiner Landsleute, namens Guesno, als Courriol erschien und eingeladen wurde, an der Mahlzeit teilzunehmen. Da der Verdacht sich unmittelbar auf Courriol gerichtet hatte, so genügte die Thatsache dieses Frühstücks, um Guesno eine kurze Zeit festzunehmen; da er aber sein Alibi beweisen konnte, hatte der Richter Daubenton ihn unmittelbar auf freien Fuss gesetzt. Nur hatte er ihm gesagt, da es spät am Abend war, er sollte am nächsten Tage wiederkommen, um seine Papiere abzuholen.
Am 2. Floréal Morgens begab Guesno sich zu diesem Zwecke in die Polizei-Präfektur. Unterwegs begegnete er Lesurques und schlug ihm vor, ihn zu begleiten, was dieser auch annahm, weil er gerade nichts zu thun hatte. Während sie im Vorzimmer auf das Erscheinen des Beamten warteten, wurden zwei in der Angelegenheit vorgeladene Frauen hereingeführt, die sich durch die Ähnlichkeit des Lesurques mit dem flüchtigen Dubosq täuschen liessen und ihn ohne Zögern als einen der Mörder bezeichneten. Leider beharrten sie bis zuletzt auf ihrer Aussage. Lesurques' Vorleben sprach zu seinen Gunsten, und unter anderen Thatsachen, die er anführte, um zu beweisen, dass er Paris am 8. Floréal nicht verlassen hatte, behauptete er auch, bei einem Juwelier gewesen zu sein und dort gewissen Tauschgeschäften zwischen Legrand und seinem Kollegen Aldenoff beigewohnt zu haben. Diese Geschäfte fanden in der That am 8. stand, aber als Legrand aufgefordert wurde, sein Buch vorzulegen, bemerkte er, dass er fälschlich den 9. als Datum eingetragen hatte. Er glaubte, ein gutes Werk zu thun, wenn er die 9 ausradierte und eine 8 daraus machte; er wollte seinen Landsmann Lesurques retten, dessen Unschuld ihm bekannt war, und er besiegelte eben dadurch sein Verderben. Die Überschrift, die Fälschung wurden leicht konstatiert, und fortan setzten die Geschworenen und das öffentliche Ministerium nicht mehr das geringste Vertrauen in die vierundzwanzig Entlastungszeugen, die der Angeklagte hatte vorladen lassen; er wurde verurteilt und seine Güter konfisziert. Zwischen seiner Verurteilung und seiner Hinrichtung verflossen 87 Tage, ein in dieser Zeit ganz ungewöhnlicher Aufschub: es hatten sich nämlich starke Zweifel an seiner Schuld erhoben. Das Direktorium besass kein Begnadigungsrecht; es glaubte, an den Rat der Fünfhundert Bericht erstatten zu müssen, und stellte die Frage, »ob Lesurques umkommen sollte, weil er einem Schuldigen ähnlich sähe«. Der Rat ging auf Siméons Bericht zur Tagesordnung über, und Lesurques wurde hingerichtet, indem er seinen Richtern vergab. Und nicht nur er hatte seine Unschuld fortwährend beteuert; auch Courriol hatte in dem Augenblick, wo das Urteil verlesen wurde, mit fester Stimme ausgerufen: » Lesurques ist unschuldig!« Dieselbe Beteuerung wiederholte er auch auf dem Armsünderkarren und bis aufs Schafott. Alle anderen Verurteilten gestanden ihre Schuld und beteuerten gleichfalls, dass Lesurques unschuldig wäre; aber erst im Jahre IX wurde Dubosq, sein Doppelgänger, festgenommen und verurteilt. Das Verhängnis, welches das Familienhaupt getroffen hatte, verschonte keines ihrer Glieder. Lesurques' Mutter starb vor Schmerz; seine Frau wurde wahnsinnig und seine drei Kinder siechten in Elend und Hilflosigkeit dahin. Durch ein so grausames Missgeschick gerührt, erstattete die Regierung der Familie des Lesurques die fünf- oder sechshunderttausend Franken, die ihr durch eine ungerechte Konfiskation entrissen worden waren, in zwei Raten wieder, aber der grösste Teil dieses Vermögens ging durch eine Betrügerei wieder verloren. Sechzig Jahre waren verflossen; von den drei Kindern des Lesurques waren zwei gestorben; nur eine Tochter, Virginie Lesurques, war noch am Leben. Schon lange hatte die öffentliche Meinung die Unschuldserklärung und Rehabilitierung ihres unglücklichen Vaters gefordert. Sie verlangte mehr, und sobald das Gesetz vom 29. Juni 1867 erlassen wurde, das die Revision von Strafurteilen gestattete, hoffte sie, dass endlich der Tag gekommen sei, wo sie diese Rehabilitierung im Heiligtume der Gerechtigkeit selbst fordern könnte; aber auch diesmal waltete ein böses Geschick, und der Kassationshof erkannte unter spitzfindigen Begründungen laut Gerichtsbeschluss vom 17. Dezember 1868, dass kein Anlass vorläge, sich mit dem Antrage zu befassen, und dass Virginie Lesurques in ihrem Revisionsgesuch abschlägig zu bescheiden sei.
Es ist, als sähe man, wie im grauenhaftesten Alptraume, einen Unglücklichen den Eumeniden zur Beute fallen. Seit jener Mahlzeit bei Guesno, die fast ebenso tragisch ist, wie die des Thyest, umschweift er unausgesetzt den Abgrund, der ihn verschlingen wird, während sein Geschick, das über seinem Haupte schwebt wie ein riesiger Geier, Allen, die ihm nahe kommen, das Licht fortnimmt. Und die Kreise droben und die Kreise drunten werden wie durch Magie immer schneller, immer enger, bis ihre Wirbel sich schliesslich berühren und vereinigen und über demselben Leichnam zusammensinken.
In Wahrheit muss der Wettbewerb der mörderischen Schicksalsmächte in diesem Falle übernatürlich erscheinen, und der Fall ist typisch, ungeheuerlich und symbolisch wie eine Mythe. Aber es ist sicher, dass entsprechende Thatsachenreihen sich im Kleinen alltäglich wiederholen, und es giebt tausend Fälle von mittelmässigem oder lächerlichem Ungemach, denn manches Menschenleben ist dem Einfluss eines verhängnisvollen oder böswilligen Sterns unterworfen.
in der tausend Zufälle, wie von der Hölle ausgespieen, zusammentreffen und sich auftürmen, um einen Unschuldigen zu verderben, während die Wahrheit, vom Schicksal in Ketten gelegt, im Stillen aufschreit unter der Menge der Irrtümer, die sie suchen, wie man aus der Tiefe eines bösen Traumes aufschreit, ohne eine Bewegung machen zu können, um die Nacht zu durchbrechen. Da ist z. B. das Geschick des Aimar de Ranconnet, Parlamentspräsidenten von Paris, des rechtschaffensten Menschen auf der Welt, der ungerechterweise seines Amtes entsetzt wird, seine Tochter auf dem Mist sterben, seinen Sohn in den Händen des Henkers enden und seine Frau vom Blitz erschlagen sieht, während er selbst der Ketzerei angeklagt und in die Bastille eingekerkert wird, wo er noch vor seiner Verurteilung aus Kummer stirbt.

Wir halten die Schicksale des Oedipus und der Atriden für unwahrscheinlich und fabelhaft, und doch sehen wir, wie das Verhängnis sich in der neueren Geschichte mit derselben Hartnäckigkeit auf gewisse Familien wirft, wie die der Colignys Die Geschicke der Stuarts sind zur Genüge bekannt, die der Colignys dagegen weniger verbreitet. Ich gebe sie darum so, wie der bereits genannte Autor sie in gutes Licht setzt, in Kürze wieder. »Als Marschall von Frankreich unter Franz I. hatte Gaspard von Coligny die Schwester des Connétable, Anna von Montmorency, geheiratet. Man warf ihm vor, er hätte einen halben Tag lang gezaudert, Karl V. anzugreifen, wie er es mit Vorteil hätte thun können, und er hätte dadurch eine fast sichere Gelegenheit zum Siege verfehlt. Einer seiner Söhne trat als Erzbischof und Kardinal zum Protestantismus über und heiratete im roten Kardinalskleide. Er focht in der Schlacht von Saint-Denis gegen den König und rettete sich nach England, wo einer seiner Diener ihm im Jahre 1571 Gift beibrachte. Er entging dieser Nachstellung jedoch und wollte nach Frankreich zurückkehren; aber in La Rochelle wurde er gefangen genommen und hingerichtet. Der Admiral Coligny, der Bruder des Kardinals, galt für einen der ersten Feldherren seines Jahrhunderts; bei der Belagerung von Saint-Quentin verrichtete er Wunder der Tapferkeit. Trotzdem wurde der Platz mit Sturm genommen und er wurde Kriegsgefangener. Unter dem Prinzen Condé blieb er das eigentliche Haupt der Calvinisten und entwickelte einen Mut, der jeder Probe Stand hielt, einen Geist, der sich stets zu helfen wusste, und niemand zweifelte seine Verdienste und seine soldatische Geschicklichkeit an. Trotzdem hatte er in seinen Unternehmungen ein beständiges Unglück. Im Jahre 1562 verlor er die Schlacht von Dreux gegen den Herzog von Guise, die von Saint-Denis gegen den Connétable von Montmorency und schliesslich die von Jarnac, die seiner Partei ebenso verhängnisvoll wurde. Auch nach der Niederlage von Moncontour in Poitou blieb sein Mut unerschüttert; er wusste die Verrätereien Fortunas durch seine Geschicklichkeit wieder wett zu machen und stand nach seinen Niederlagen gefürchteter da, als seine Feinde im Glänze ihrer Siege. Oft verwundet, aber der Furcht niemals zugänglich, sagte er einst zu seinen Freunden, als sie weinten, weil sie sein Blut in Strömen fliessen sahen: »Muss uns das Handwerk, das wir treiben, nicht mit dem Tod vertraut machen, wie mit dem Leben?« Einige Tage vor Saint-Barthelemy schoss Mauveret aus einem Gebäude des Klosters Saint-Germain-l'Auxerrois mit dem Karabiner auf ihn und verletzte ihn gefährlich an der rechten Hand und am linken Arm. Wie bekannt, drang Besme am Abend dieses blutigen Tages an der Spitze eines Haufens von Meuchelmördern bei dem Admiral ein, durchbohrte ihn mit mehreren Stössen und warf ihn zum Fenster hinaus auf den Hof seines Hauses, wo er den letzten Seufzer zu Füssen des Herzogs von Guise gethan haben soll. Drei Tage lang ward sein Leichnam den Verunglimpfungen des Pöbels ausgesetzt und schliesslich mit den Füssen am Galgen von Montfaucon aufgehängt.
So war der Admiral von Coligny, obwohl er für den grössten Feldherrn seiner Zeit galt, stets unglücklich, stets der Besiegte, wogegen der Herzog von Guise, sein weniger kluger, aber kühnerer Rivale, der namentlich mehr Zuversicht zu seinem Schicksal hatte, seine Feinde zu verblüffen und sich stets zum Herrn der Ereignisse zu machen wusste. »Coligny war ein Ehrenmann«, sagt der Abbe von Mably, »und Guise trug die Maske einer grösseren Zahl von Tugenden. Coligny war der Menge verhasst, der Herzog von Guise war ihr Abgott.« Es wird berichtet, dass der Admiral Coligny ein Tagebuch hinterliess, das Karl IX. mit Teilnahme las, aber der Marschall von Retz liess es ins Feuer werfen. Und da sich ein verhängnisvolles Schicksal an alles heftete, was den Namen Coligny trug, so wurde auch der letzte Abkömmling dieser Familie im Duell von dem Ritter von Guise getötet.«
und Stuarts, oder mit ganz persönlichem Hass einige unschuldige, verstörte Opfer in den Tod hetzt, wie z. B. Henriette von England, die Tochter Heinrichs IV., Louise von Bourbon, Josef II. und Marie Antoinette.

Und was soll man in fast derselben Thatsachenreihe von der vernunftlosen und doch fast wie vernunftbegabten, vorbedachten und systematischen Ungerechtigkeit der Glücksspiele, Duelle, Schlachten, Stürme, Schiffbrüche, Feuersbrünste und Blitzschläge sagen? Was von dem ungeheuren Glück eines Chastenet von Puysegur, der in vierzig Jahren des Kriegsdienstes an dreissig Kämpfen und einhundertundzwanzig Belagerungen teilnahm, immer in den ersten Reihen focht und eine sprichwörtliche Unerschrockenheit besass, und doch niemals vom Eisen oder Blei berührt worden war, während der Marschall Oudinot fünfunddreissigmal verwundet wurde und der General Trézel bei jedem Gefecht verwundet wurde. Was soll man schliesslich von dem aussergewöhnlichen Glück eines Lauzun, eines Chamillart, Casanova, Chesterfield u. s. w. denken, oder von dem unbegreiflichen, beharrlichen Glück im Verbrechen bei Sulla, Marius und Dionys dem Älteren, der nach einem ruchlosen, aber vom Glück gesegneten Leben vor Freude starb, als er erfuhr, dass die Athener eine seiner Tragödien preisgekrönt hatten? Was schliesslich soll man vom Schicksal des Herodes mit dem Beinamen des Grossen oder des Ascaloniten sagen, der im Blute watete, eine seiner Frauen, fünf seiner Söhne und alle tugendhaften Männer, die sein Misstrauen erregten, umbrachte und doch in allen seinen Unternehmungen glücklich war?

 

Initial Diese Beispiele, die man nach Belieben vermehren könnte, sind nichts als riesenhafte welthistorische Vergrösserungen der schlichteren, aber nicht minder deutlichen Schauspiele, welche die tausend Launen des glücklichen oder widerwärtigen Geschickes auf der kleinen, schlecht erleuchteten Bühne des gewöhnlichen Lebens alltäglich aufführen.

Gewiss muss man beim Befragen dieser unverschämten Glücksfälle und dieses unveränderlichen Unglücks zunächst den physischen und moralischen Ursachen, die zur Erklärung derselben dienen können, einen Hauptanteil anweisen. Wenn wir Vauvenargues gekannt hätten, so hätten wir in seinem Charakter wahrscheinlich die Furchtsamkeit und Unentschlossenheit oder den unzeitigen Hochmut entdeckt, die ihn verhinderten, die Gelegenheit herbeizuführen oder mit der nötigen Kraft zu ergreifen. Es ist wahrscheinlich, dass Lesurques es an Geschicklichkeit fehlen liess, an ich weiss nicht was, an jener wunderbaren inneren Kraft, die man bei der verläumdeten Unschuld stets voraussetzt. Es ist gewiss, dass die Stuarts, Joseph II. und Marie Antoinette ungeheure Fehler begingen, welche ihren Unstern erst erweckten, dass Lauzun, Casanova, Lord Chesterfield sich über die meisten Bedenken hinweggesetzt haben, welche den Ehrenmann am Handeln verhindern. Es ist ebenso sicher, dass wenn das Dasein eines Sulla, Marius, Dionys des Älteren und Herodes des Grossen auch äusserlich glücklich bis zum Wunder war, dieses seltsame, unruhige, blutige, fast gefühl- und gedankenlose Phantom doch keinem von uns – so denke ich – ein inneres Glück gegeben hätte, wenn anders das Wort Glück überhaupt auf Dinge anwendbar ist, die auf Verbrechen beruhen. Aber wenn dieser Abzug gemacht ist, so vernünftig und reichlich, wie es möglich ist, – und je mehr man das Leben beobachtet und erforscht, je tiefer man in das Geheimnis der kleinen Ursachen und grossen Wirkungen eindringt, desto reichlicher wird er sein, – so bleibt in dieser beharrlichen Wiederkehr von Umständen, in diesen unauflöslichen Ketten von Glück oder Missgeschick, – denn man hat schon lange gemerkt, dass das Glück und Unglück fast stets in langen ununterbrochenen Reihen eintreten, – doch ein bedeutender, oft ausschlaggebender, bisweilen ausschliesslicher Teil übrig, den man nur dem unerforschlichen, aber unableugbaren Willen einer unbekannten, aber wirklichen Macht zuschreiben kann, die sich Zufall, Verhängnis, Schicksal, Glücksader, unglückliche Hand, guter oder böser Stern, weisser oder schwarzer Engel oder sonstwie nennt, je nach dem mehr oder minder erfinderischen, mehr oder minder poetischen Genius der Völker und Zeiten.

Es ist dies für den Menschen eines der beunruhigsten und schwierigsten Probleme unter allen, die er eines Tages zu lösen haben wird, um sich für den vornehmlichsten, rechtmässigen, unabhängigen und unwiderruflichen Besitzer dieser Erde zu halten.

 

Initial Stellen wir es in seiner einfachsten Gestalt vor unseren Verstand und sehen wir zunächst zu, ob es nur für den Menschen von Belang ist. Wir haben auf diesem wenig verständlichen Erdball schweigsame und treue Gefährten im Dasein an unserer Seite, und es ist oft nützlich, sie mit dem Blicke zu suchen, wenn der Kopf uns auf gewissen, vielleicht illusorischen Höhen schwindelt, auf denen wir uns gern einbilden, dass die Gestirne, die Götter oder die sonstigen verhüllten Vertreter der höchsten Daseinsgesetze sich nur mit uns beschäftigen. Es scheint, als ob unsere armen Brüder im animalischen Leben in ihrer so zuversichtlichen und ruhigen Ergebung viele Dinge wissen, die wir nicht mehr wissen. Sie bewahren im Stillen ein Geheimnis, das wir mit solcher Ungeduld verfolgen. Es ist sicher, dass die Tiere, insbesondere die Haustiere, eine Art von Geschick haben. Sie kennen das unverdiente, andauernde Glück und das grundlose, hartnäckige Unglück; sie könnten ganz wie wir von Stern, Glück oder Unglück, von Glücksader und unglücklicher Hand reden. Das Loos eines Droschkenpferdes, das in der Abdeckerei endigt, nachdem es durch die Hände von hundert namenlosen Folterknechten gegangen ist, ist im Vergleich zu dem des Vollblutpferdes, das im Stalle eines mitleidigen Herrn vor Altersschwäche stirbt, vom Rechtsstandpunkte aus ebenso unerklärlich – wenigstens wenn man sich nicht an buddhistische Lehren anschliesst, die darin die Züchtigung oder Belohnung für ein früheres Leben sahen, – wie das eines Menschen, der durch Zufall verarmt oder unverdient reich geworden ist. Es giebt im Lande Flandern eine Rasse von Ziehhunden, über die das Schicksal abwechselnd alle seine Gunst und all seinen Hass ausschüttet. Werden sie von einem Schlächter gekauft, so führen sie ein herrliches Leben ohne viel Arbeit. Des Morgens fahren sie im Viererzug einen leichten Wagen nach der Schlächterei und des Abends bringen sie ihn fleischbeladen nach Hause und ziehen ihn in freudigem, triumphierendem Galopp durch die gewundenen Gassen der alten Städte mit den kleinen bunt bemalten Häusergiebeln. In der Zwischenzeit ist alles Musse, und zwar wundervolle Musse unter den Ratten und den Abfällen des Schlachthauses. Sie sind gut genährt, fett und glänzend wie Wachteln und geniessen das einzige Glück, das die naive und schnobernde Seele eines guten Hundes träumen muss, in seiner ganzen Fülle. Aber ihre unglücklichen Brüder desselben Schlages, die der alte Mann kauft, welcher die Küchenabfälle aufliest, oder der meist hinkende Sandverkäufer, oder der arme Bauer mit den grossen, grausamen Holzschuhen, von dem sie an schwere Karren und unförmige Handwagen gekettet werden und mit Läusen behaftet, ohne Fell, räudig und verhungert, mit mageren Weichen, bis zu ihrem Tode die Kreise einer Hölle durchmessen, zu der sie einige Groschen verdammen, die in eine schwielige Hand gedrückt werden. Und in einer anderen Welt, die dem Menschen minder unmittelbar unterworfen ist, findet man entschieden Rebhühner, Fasanen, Hirsche und Hasen, die gar kein Glück haben und bei jeder Begegnung mit einem Jäger verwundet werden, während andere, man weiss nicht wie noch kraft welcher Tugend, allen Schlächtereien entgehen.

Sie sind also ganz wie wir einer unbestreitbaren Ungerechtigkeit unterworfen. Aber wenn es sich um eine dieser Ungerechtigkeiten handelt, so fällt es uns nicht ein, alle Götter in Bewegung zu setzen und die geheimnisvollen Gewalten zu befragen; und doch sind ihre Schicksale vielleicht nichts, als das naiv vereinfachte Abbild dessen, was uns zustösst. Es ist wahr, dass gerade wir es sind, die ihnen gegenüber jene geheimnisvollen Gewalten darstellen, die wir für unser Teil suchen. Aber haben wir wohl das Recht, von diesen letzteren viel mehr Bewusstsein und eine einsichtsvollere Gerechtigkeit zu erwarten, als wir den Tieren bezeigen? Und wenn dies Beispiel auch zu weiter nichts dienen sollte, als um dem Zufall etwas von seinem unnützen Nimbus zu nehmen, um es dem Geist der Initiative und des Widerstandes in unserer Brust zuzusetzen, so wäre dies schon ein nicht zu verachtender Gewinn.

 

InitialEs ist jedoch trotz dieses neuen Abzuges nicht zu leugnen, dass es – wenigstens im komplizierteren Menschenleben – auch jenseits alles Dessen, was wir gesagt haben, in dem oft sichtlichen Willen des Zufalls, dieser Scheidemünze des Verhängnisses, eine Ursache für das Glück oder Unglück giebt, die wir mit unseren Erklärungen noch nicht erreicht haben. Wir wissen, – und dies Wissen gehört zu den noch ungestalteten, aber grundlegenden Gesetzen des Lebens, die eine tausendjährige Erfahrung in eine Art von Instinkt umgesetzt hat, – wir wissen, dass es Menschen giebt, die unter ganz gleichen Umständen die »glückliche« oder »unglückliche Hand« haben. Es war mir vergönnt, den Lebenslauf eines Gefährten, der das Opfer eines solchen beständigen Missgeschickes war, aus nächster Nähe zu verfolgen. Ich meine dabei nicht, dass sein Leben unglücklich war. Es ist sogar merkwürdig, dass die unglücklichen Zufälle die grossen Linien seines wirklichen Glückes stets achteten, wahrscheinlich, weil dieselben gut verteidigt wurden. Denn er besass in sich ein starkes moralisches Leben, Gedanken, Hoffnungen, Gewissheiten und tiefe Gefühle. Er wusste auch sehr wohl, dass diese Güter vor einem Schicksalsschlage geborgen waren, und dass sie ohne seine Beihilfe durch nichts zerstört werden konnten. Das Geschick ist nicht unbesieglich, d. h. der grosse Mittelweg jedes Daseins, der grosse innere Kanal, lässt sich zum Glück oder zum Unglück leiten, aber seine Verzweigungen, die sich über unseren Alltag verbreiten, und die tausend Zuflüsse, die ihm die Zufälle der Aussenwelt zuführen, entgehen unserm Willen.

So kommt ein stolzer Strom von den Höhen herab, noch ganz glänzend von dem reinen Adel der Gletscher, aber schliesslich muss er doch durch die Ebenen und die Städte, wo ihm nur vergiftetes Wasser zugeführt wird. Er trübt sich eine Weile, und wir wähnen, er verlöre unwiederbringlich das Abbild des reinen Himmels, das er den Becken der Springbrunnen entnommen hatte, das Bild, das seine Seele und der tiefe, klare Ausdruck seiner Kraft zu sein schien. Trotzdem, wenn man ihn weiter stromab unter den grossen Bäumen wiederfindet, hat er den Schmutz der Rinnsteine schon vergessen. Er spiegelt von neuem den Azur des Himmels in seinen durchsichtigen Wassern, und er trägt ihn zum Meere, so klar, wie er war, als er noch aus den Quellen der Berge lachte.

So hat auch der Mensch, von dem ich rede, obwohl er mehr als einmal weinte, nie jene Thränen vergossen, die man nur um den Tod seines eigenen Ich weint und die nie mehr aus unserem Gedächtnis getilgt werden. Und so führte jede seiner Verrechnungen nach der unvermeidlichen ersten Niedergeschlagenheit im ganzen genommen nur dazu, ihn seinem geheimen Glück näher zu bringen, es in ihm zu konzentrieren und mit einem dunkleren Strich zu umziehen, damit es um so köstlicher, glühender und gewisser würde. Aber sobald er diesen Zauberkreis überschritt, fielen ihn die feindlichen Zufälle um die Wette an. Er war zum Beispiel ein guter Degenfechter, hatte drei Duelle und wurde dreimal von Gegnern, denen er überlegen war, verwundet. Bestieg er ein Schiff, so war die Überfahrt selten glücklich. That er etwas Geld in ein Geschäft, so missglückte dasselbe. Ein Rechtsirrtum, in den ihn eine ganze Kette von sonderbar böswilligen Umständen verwickelte, ward für ihn zu einer Quelle von langen und ernstlichen Unannehmlichkeiten. Auch war er trotz seines angenehmen Gesichtes, seines freien, gütigen Blickes, nicht eigentlich »sympathisch«. Er erfuhr nie zuerst jene unverdiente Zuneigung, die wir oft, und ohne zu wissen warum, einem vorübergehenden Unbekannten, ja selbst einem Feinde erweisen. Sein Herzensschicksal war keineswegs günstiger als das andrer Menschen. Selbst in der Liebe fand er, der ihrer doch ungleich würdiger war, als die Mehrzahl derer, denen das unberechenbare Frauenherz ihn opferte, nichts als Verrat, Kummer und Enttäuschungen. So ging er seines Weges, zog sich, so gut er konnte, aus den elenden Schlingen, die ihm sein undankbares Schicksal bei jedem Schritte stellte, und blieb unentmutigt, ohne sich innerlich zu grämen, aber freilich nicht ohne Verwunderung über soviel Missgeschick, bis er endlich das einzige, grosse Glück seines Lebens in einer Liebe fand, die der in ihm harrenden ebenbürtig war, einer ausschliesslichen, leidenschaftlichen, vollkommenen, unveränderlichen Liebe. Und von dieser Stunde an fühlte er, wie die bösen Zufälle sich unter dem Einfluss eines neuen Sternes, dessen Strahlen mit dem seinen verschmolzen, allmählich verspäteten, verlangsamten und seltener wurden, bis sie ganz ausblieben und einen anderen Weg einschlugen. Man hätte sagen mögen, sie gaben die Gewohnheit, ihm zu folgen, nur widerwillig auf. Er erlebte es thatsächlich, wie sein Glück umschlug. Und heute, wo er in der Zurückgezogenheit eines gleichgiltigen, neutralen Dunstkreises lebt, wo die gewöhnlichen menschlichen Zufälle ihn nicht mehr erreichen, entsinnt er sich lächelnd der Zeiten, wo jede seiner Bewegungen von dem unfassbaren Feinde erspäht wurde und eine Gefahr heraufbeschwor.

 

Initial Wir wollen die Götter nicht anrufen, um solche Erscheinungen zu erklären. Sie werden nur dann geeignet sein, uns etwas zu erklären, wenn sie selbst deutlich erklärt sind. Und das Geschick, welches gerade der unbekannteste unter ihnen ist, hat am allerwenigsten das Recht, sich einzumischen und uns zuzurufen: »Ich war es, der es wollte!« Berufen wir uns ebensowenig auf die grenzenlosen Weltgesetze, die Absichten der Geschichte, den Willen der Welten, die Gerechtigkeit der Sterne. Diese Mächte giebt es zwar, und wir unterliegen ihrem Einfluss, wie wir der Gewalt der Sonne unterliegen. Aber sie wirken, ohne uns zu kennen, und es bleibt uns wahrscheinlich eine ungeheure Bewegungsfreiheit in dem grenzenlosen Kreise ihrer Einflüsse, und sie haben auch mehr zu thun, als sich über uns zu beugen und ein Grashälmchen auf den kleinen Pfad unseres Ameisenhaufens zu werfen oder ein Blättchen davon fortzunehmen. Da es sich hier um uns selbst handelt, so liegt nach meiner Meinung der Schlüssel des Mysteriums in uns selbst, denn es ist wahrscheinlich, dass ein jedes Wesen die beste Lösung des Problems, das es selbst darstellt, auch in sich selbst trägt.

Unter unserem bewussten Wesen, dass der Vernunft und dem Willen unterworfen ist, liegt ein tieferes Dasein, das einesteils in eine Vergangenheit hinabtaucht, welche der Geschichte unerreichbar ist, und andrerseits in eine Zukunft, die Jahrtausende nicht erschöpfen werden. Es ist nicht vermessen zu glauben, dass alle Götter sich in ihm verbergen, und dass die, mit denen wir die Welt und die Planeten bevölkert haben, nach und nach daraus hervorgingen, um ihm einen Namen und eine Gestalt zu geben, die unserer Vorstellungskraft entsprachen. Je klarer der Mensch sehen lernt, je weniger er der Symbole und Bilder bedarf, desto mehr beschränkt er die Zahl dieser Namen und Gestalten. Er spricht schliesslich nur noch einen aus, behält nur eine von ihnen übrig und ahnt alsbald schon, dass dieser letzte Name, diese letzte Gestalt auch ihrerseits nur das letzte Bild einer Macht sind, deren Thron sich stets in ihm selbst befand. Dann kehren die Götter zu uns zurück, woher sie gekommen waren, und hier befragen wir sie heutzutage.

 

Initial Ich glaube also, dass es unser unbewusstes Leben ist, das ungeheure, unerschöpfliche, unerforschliche, göttliche, in dem wir die Erklärung für unser Glück oder Missgeschick finden müssen. In uns befindet sich ein Wesen, das unser wirkliches Ich ist, unser erstgeborenes, unvordenkliches, unbegrenztes, allgemeines und wahrscheinlich unsterbliches Ich ist. Unser Verstand ist wahrscheinlich nur ein Phosphoreszieren über diesem inneren Meere, das er nur unvollkommen kennt. Aber von Tag zu Tag lernt er mehr, dass alle Geheimnisse der menschlichen Erscheinungen, die er bisher nicht verstanden hat, in ihm liegen. Dieses unbewusste Wesen lebt auf einem anderen Boden und in einer anderen Welt, als unser Verstand. Es weiss nichts von Raum und Zeit, diesen beiden ungeheuren eingebildeten Wänden, zwischen denen unsere Vernunft dahin fliessen muss, wenn sie sich nicht verlieren will. Für es giebt es weder Nähe noch Ferne, weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Widerstand noch Materie. Es weiss alles und vermag alles. Übrigens hat man diese Allwissenheit und Allmacht ja stets in gewissem Grade zugegeben und seinen Kundgebungen die Namen: Instinkt, Seele, Unbewusstes, Unterbewusstsein, Reflexbewegungen, Intuition, Vorgefühl u. s. w. gegeben. Man schreibt ihm namentlich jene noch nicht näher bestimmte, oft wunderbare Kraft derjenigen Nerven zu, die nicht unmittelbar zur Hervorbringung unseres Verstandes und Willens dienen, und die anscheinend das Lebensfluidum selbst ist. Es ist wahrscheinlich bei allen Menschen von fast derselben Natur. Aber es steht mit dem Verstände auf sehr verschiedene Arten in Verbindung. Bei den einen bleibt dieses unbekannte Prinzip so tief begraben, dass es sich nur um die körperlichen Funktionen und die Fortdauer der Gattung kümmert. Bei anderen scheint es im Gegenteil jederzeit wach und taucht bisweilen soweit empor, dass es die Oberfläche des bewussten äusseren Lebens mit seiner zauberhaften Gegenwart berührt. Dann greift es bei jeder Gelegenheit ein, sieht voraus, warnt, entscheidet und mischt sich in die meisten Hauptvorgänge unseres Lebenslaufes. Woher stammt dies Vermögen? Das hat noch keiner gesagt. Es hat keine festen, gewissen Gesetze. Man entdeckt z. B. keinerlei beständige Beziehungen zwischen der Thätigkeit des Unbewussten und der Entwickelung des Verstandes. Diese Thätigkeit gehorcht Regeln, die wir nicht kennen. Für den Augenblick und bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse scheint sie rein zufällig zu sein. Man findet sie bei diesem, aber nicht bei jenem, ohne dass irgend etwas uns andeutete, welches die Ursache dieser Verschiedenheit ist.

 

Initial Ob es sich also um Glück oder Missgeschick handelt, es geschieht etwa das Folgende. Ein günstiges oder verhängnisvolles Ereignis tritt aus den Tiefen der grossen, ewigen Gesetze hervor und stellt sich uns in den Weg. Es steht unbeweglich, schicksalsvoll, übergross und unerschütterlich da. Es kümmert sich nicht um uns; es ist nicht um unseretwegen da. Es hat seinen Daseinsgrund in sich selbst und für sich selbst. Es kennt uns einfach nicht. Wir kommen ihm näher, und sobald wir im Bannkreise seines Einflusses sind, haben wir vor ihm zu fliehen oder ihm zu trotzen, es abzuwenden oder zu durchkreuzen. Ich will annehmen, das Ereignis sei ein unglückliches, ein Schiffbruch, eine Feuersbrunst, ein Blitzschlag, oder ein Todesfall, eine Krankheit, ein Unfall oder sonst ein Kummer in ungewöhnlicher Gestalt. Es wartet unsichtbar, blind, gleichgiltig, vollkommen, unabänderlich, aber noch ungeschehen. Es ist voll und ganz vorhanden, aber nur in der Zukunft, und für uns, deren Sinne im Dienste unseres Verstandes und unseres Bewusstseins stehen und so beschaffen sind, dass sie die Dinge nur nacheinander in der Zeit wahrnehmen, ist es noch, als wäre es nicht. Nehmen wir an, um es noch näher zu bestimmen, es sei ein Schiffbruch. Das Schiff, das untergehen soll, ist noch nicht aus dem Hafen ausgelaufen; die Klippe oder das Wrack, woran es stranden soll, schläft noch friedlich unter den Wogen, und der Sturm, der erst gegen Ende des Monats ausbrechen wird, schlummert jenseits unserer Blicke noch im Geheimnis der Himmel. Für gewöhnlich, wenn nichts geschrieben stände und das Unglück nicht schon in der Zukunft stattgefunden hätte, wären fünfzig Reisende aus fünf oder sechs Ländern an Bord gegangen. Aber das Schiff ist vom Schicksal gezeichnet. Es steht fest, dass es untergehen muss. Und in Folge dessen hat sich schon seit Monaten, ja vielleicht schon seit Jahren, unter den Reisenden, welche am gleichen Tage hätten in See gehen müssen, eine geheimnisvolle Auswahl vollzogen. Wahrscheinlich, dass von den fünfzig ursprünglichen Reisenden nur zwanzig an Bord sind, wenn die Anker gelichtet werden. Möglich sogar, dass nicht einer der Fünfzig dem Rufe der Umstände Folge leistet, die, stände die Katastrophe nicht bevor, wahrscheinlich ihre Abfahrt erzwungen hätten, und dass sie also durch zwanzig oder dreissig andere ersetzt werden, in denen die Stimme des Zufalls nicht mit derselben Kraft spricht.

Es ist in der That eine bemerkenswerte und beständige Erscheinung, dass grosse Katastrophen gewöhnlich weit weniger Opfer erfordern, als man nach aller Wahrscheinlichkeit und mit gutem Grunde befürchten müsste. Meist wird die Hälfte oder gar zwei Drittel der von dem noch unsichtbaren Schicksal bedrohten Personen im letzten Augenblick durch einen aussergewöhnlichen Zufall zurückgehalten. Ein Personendampfer, der untergehen soll, hat gewöhnlich weit weniger Passagiere an Bord, als er gehabt hätte, wenn er nicht untergehen sollte. Zwei Züge, die in einander fahren, ein Expresszug, der in einen Abgrund stürzt u. s. w., haben viel weniger Passagiere, als an Tagen, wo ihnen nichts begegnet. Eine Brücke – der häufigste Fall – stürzt wider alles Erwarten gewöhnlich in dem Augenblick ein, wo die Menge sie verlassen hat. Leider verhält es sich bei Bränden von Theatern und anderen öffentlichen Gebäuden nicht ebenso. Aber hier ist es, wie bekannt, nicht das Feuer, sondern gerade die Anwesenheit der bethörten, vor Schreck wahnsinnigen Menge, welche die Hauptgefahr bildet. Dagegen treten schlagende Wetter gewöhnlich ein, wenn sich eine viel geringere Zahl von Bergleuten im Schachte befindet, als in der Regel darin zu arbeiten hat. Desgleichen explodiert eine Pulverfabrik gewöhnlich in dem Augenblick, wo die Mehrzahl der Arbeiter, die unweigerlich umgekommen wären, aus irgend einem nichtigen, aber schicksalsvollen Grunde fortgegangen ist. Es ist dies so wahr, dass die fast unveränderliche Beobachtung schon zu einer stehenden Redensart geworden ist, die wir alle kennen: »Eine Katastrophe, die furchtbare Folgen hätte haben können, ist dank dem und dem Umstände zum Glück darauf beschränkt geblieben« … u. s. w. Oder: »Man schaudert bei dem Gedanken, dass, wenn derselbe Unfall eine Minute früher eingetreten wäre, alle Arbeiter oder alle Reisenden …« u. s. w.
Ist dies eine Gnade des Zufalls? Wir glauben immer weniger an die Persönlichkeit, die Vernunft und die Absichten des Zufalls. Es ist viel natürlicher anzunehmen, dass etwas im Menschen das Unglück gewittert hat, und dass viele Menschen durch einen dunklen, aber sehr sicheren Instinkt in dem Augenblick von einer Gefahr zurückgehalten werden, wo diese plötzlich wächst und die drohende, gebieterische Form des Unvermeidlichen annimmt. Es tritt alsdann eine Art von dumpfer innerer Panik ein, die sich nach aussen nur durch eine Willensregung, eine Laune, einen plötzlichen Einfall ausdrückt, die oft sehr kindlich und haltlos, aber unwiderstehlich und segensreich sind.
Hier taucht man in die tiefste Tiefe des tiefsten menschlichen Rätsels, und jede Hypothese ist darum mit Notwendigkeit irrig. Aber ist es angesichts dieser imaginären Thatsache, die nur Das ins helle Licht setzen soll, was in den kleineren Verhältnissen des alltäglichen Lebens so oft vorkommt, nicht natürlicher, man wendet sich nicht an ferne und zweifelhafte Götter, sondern nimmt an, dass es unser eigenes Unbewusstes ist, was da handelt und entscheidet? Es kennt die Katastrophe, es muss sie kennen und sehen, denn für es giebt es ja weder Raum noch Zeit, und sie findet in diesem Moment unter seinen Augen statt, wie sie unter den Augen der ewigen Kräfte stattfindet. Auf die Art, wie es dem Unglück zuvorkommt, kommt wenig an. Unter den dreissig Reisenden, die gewarnt sind, haben vielleicht zwei oder drei das deutliche Vorgefühl der Gefahr; in ihnen wirkt das Unbewusste freier und erreicht leichter die ersten, noch dunklen Schichten des Verstandes. Die anderen ahnen nichts, schimpfen auf die Verzögerung und die unerklärlichen Widerwärtigkeiten, thun alles, was sie können, um zur Zeit zu kommen, werden aber nicht abreisen. Die einen werden krank, schlagen einen falschen Weg ein, ihre Pläne ändern sich, ein nichtssagender Zwischenfall tritt ein, etwa ein Streit, eine Liebschaft, ein Augenblick der Trägheit oder Vergesslichkeit, der sie wider Willen zurückhält. Die anderen werden nie daran denken, sich auf das prädestinierte Schiff zu begeben, auch wenn es das einzige ist, das sie logischer Weise unvermeidlich hätten wählen müssen. Bei den meisten vollziehen sich diese Regungen des Unbewussten in solchen Tiefen, dass der Gedanke, sie verdankten ihr Leben ihrem Glücke, ihnen gar nicht in den Kopf will, und sie glauben thatsächlich, sie hätten nie die Absicht gehabt, das von den Mächten des Meeres gezeichnete Schiff zu besteigen.

 

Initial Die, welche treulich zu dem schicksalsvollen Stelldichein gekommen sind, gehören zum Stamme der Unglücklichen. Sie bilden eine besondere Rasse in der unseren. Wenn alle anderen fliehen, bleiben sie allein am Platze. Wenn die anderen das Weite suchen, kommen sie vertrauensvoll näher. Sie nehmen unfehlbar den Zug, der entgleisen wird, gehen zur bestimmten Stunde unter dem einstürzenden Turm vorüber, betreten das Haus, in dem das Feuer schon schwelt, gehen durch den Wald, in den es einschlagen wird, machen die Bewegung und den Schritt, den sie nicht machen durften, lieben die einzige Frau, die sie nicht hätten lieben sollen. Hingegen wenn es sich um glückliche Dinge handelt, wenn die anderen, von der tiefen Stimme der wohlwollenden Gewalten gerufen, herbei eilen, so gehen sie vorüber und hören sie nicht, und niemals von ihrem Unbewussten gewarnt, allein den Ratschlägen ihres Verstandes überlassen, dieses alten, sehr verständigen, aber fast blinden Führers, der nur die kleinen Pfade am Fusse der Gebirge kennt, irren sie durch eine Welt, welche die menschliche Vernunft noch nicht verstanden hat. Wahrlich, sie haben allen Grund, das Schicksal anzuklagen, aber nicht so, wie sie es verstehen. Sie haben das Recht, ihm die Frage zu stellen, warum es nicht den warnenden Wächter in ihre Brust gelegt hat, der ihre Brüder schützt. Aber wenn sie diesen Vorwurf, den grossen Vorwurf gegen die unabänderlichen Ungerechtigkeiten, erhoben haben, so haben sie sich nicht weiter zu beklagen. Das Weltall ist ihnen durchaus nicht feindlich gesinnt. Das Unglück verfolgt sie nicht; sie kommen zu ihm. Die Dinge der Aussenwelt sinnen ihnen nichts Böses an; sie bieten sich selbst den Übeln dar. Das Unglück, das sie befallt, hat ihnen nicht aufgelauert, sie haben es sich gewählt. Die Ereignisse warten ihr Leben lang, wie bei jedem Menschen, gleich den Waren in einem Kaufladen, die auf den Käufer warten, der sie erwerben soll. Niemand täuscht sie; sie täuschen sich einfach selbst. Nichts verfolgt sie, aber ihre unbewusste Seele thut ihre Pflicht nicht. Ist sie ungeschickter oder weniger aufmerksam? Schläft sie hoffnungslos im Grunde eines Kerkers, der besser geschlossen ist, als andre? Und kann kein Wille sie einem so verhängnisvollen Schlaf entreissen, noch die furchtbaren Thore erschüttern, die von dem Leben, das alles unbewusst weiss, zu dem führen, das in bewusster Unwissenheit lebt?

 

Initial Ein Freund, mit dem ich diese Probleme besprach, antwortete mir gestern: »Das Leben, das uns besser befragt, als die Philosophen, zwingt mich gerade heute, deine Fragen um eine höchst wunderliche Frage zu vermehren. Was geschieht, wenn zweierlei Glück, zweierlei Unbewusstes von entgegengesetzter Art, das eine glücklich und geschickt, das andere ungeschickt und unglücklich, sich vereinigen und in dem gleichen Ereignis, demselben Unternehmen, gewissermassen verschmelzen? Welches von beiden wird gewinnen? Ich werde es bald wissen. Ich werde heute nachmittag einen wichtigen Schritt thun, von dem die Zukunft, die Möglichkeit, nach seiner Natur und deren Rechten zu leben, der Wohlstand und alles äussere Glück des Wesens, das mir das liebste auf Erden ist, fast vollständig abhängen. Wenn ich meine Vergangenheit befrage, die immer gnädig mit mir war, in welcher der Zufall mir ein vorausblickender und treuer Freund gewesen ist, wenn ich mich zurückwende zu den fünf oder sechs Momenten, die in jedem Leben gleichsam die goldenen Angeln sind, auf denen das Glück sich bewegt, so habe ich Vertrauen zu meinem Sterne, und ich bin moralisch sicher, dass der Schritt, wenn er nur mich anginge, ohne Zweifel ein glücklicher sein würde, denn ich habe die »glückliche Hand«. Aber die Frau, um derentwillen ich ihn thue, hat nie Glück gehabt. Bei dem feinsten und umfassendsten Verstände und einem Willen, der tausend mal vorsichtiger und fester ist, als der meine, hat sie, wie ich glauben muss, ein stumpfsinniges oder böswilliges Unbewusstes, das sie auf die rauhe Bahn der Ungerechtigkeiten, der Missgeschicke, des unliebsamen Zusammentreffens von Umständen, der Widerwärtigkeiten und Enttäuschungen treibt, ohne ihr eine zu erlassen. Ohne Zweifel hätte es sie veranlasst, das Schiff zu besteigen, von dem wir sprachen. Ich frage mich also, wie mein gewecktes und vorausblickendes Unbewusstes sich bei dieser trägen und verhängnisvollen Schwester bewähren wird, in deren Namen es handeln und die es gewissermassen vertreten soll.

»Wo und wie bildet sich in diesem Augenblick die schwerwiegende Entscheidung, die ich bald aufsuchen werde? Während ich so spreche, welche Gewalt wägt da das Für und Wider ab, d. h. das Glück und Unglück derer, die ich vertrete? Aus welcher Sphäre, welcher vielleicht unvordenklichen Tugend, aus welchem verborgenen Geiste oder unsichtbaren Sterne wird das Gewicht kommen, das die Wagschale nach der Licht- oder Schattenseite herabzieht? Anscheinend ist der Verstand und Wille, das Interesse der Teile das Entscheidende; in der tieferen Wirklichkeit aber ist es oft etwas anderes. Wenn man so dem Problem gegenübersteht und die Liebe zu denen, die von ihm abhängen, uns ein wenig die Augen öffnet, so deucht es uns nicht mehr so einfach, und man wirft einen angstvollen, erstaunten und sozusagen jungfräulichen Blick auf all das Unbekannte, das uns leitet und dem wir gehorchen.

»Ich werde diesen Schritt also mit einer grösseren Aufregung, Kraft und Inbrunst thun, als wenn mein eigenes Leben und Glück auf dem Spiele stände. Die, für die ich ihn thue, ist in der That »mehr ich als mein ganzes Ich«, und seit lange ist ihr Glück die Quelle des meinen. Mein Herz und mein Verstand sind davon völlig überzeugt, aber hat mein Unbewusstes davon Kenntnis? Mein Herz und mein Verstand, die mein Bewusstsein bilden, zählen kaum dreissig Lebensjahre, aber meine unbewusste Seele, die sich noch der ältesten Geheimnisse erinnert, zählt vielleicht nach Jahrhunderten. Sie entwickelt sich, ohne sich zu überhasten. Sie nimmt sich Zeit, wie eine Welt, die in der unendlichen Zeit kreist. Und darum weiss sie vielleicht noch nicht, dass noch ein zweites Dasein im Begriff ist, mit dem meinen zu verschmelzen und es ganz in sich aufzunehmen. Wieviel Jahre werden also verfliessen, bis die grosse Neuigkeit in ihrem Schlupfwinkel gedrungen ist? Auch hierin ist das Unbewusste ungleich und mannigfaltig. Bei dem einen nimmt es sofort alles an, was im Herzen stattfindet, bei dem anderen nimmt es nur einen sehr verspäteten Anteil an den Vorgängen des Verstandes. Übrigens giebt es auch Fälle, wo es dem Herzen und dem Verstände vorangeht, z. B. in der Mutterliebe. Die unbewusste Seele einer Mutter trennt sich erst sehr spät von der ihrer Kinder und wacht über sie zuerst mit viel mehr Eifer und Besorgnis, als über sich selbst. Aber in einer Liebe, wie der meinen, ist es unmöglich vorauszusagen, ob sie weiss oder nicht weiss, dass diese Liebe mir notwendiger ist, als das Leben. Was mich betrifft, so glaube ich, dass sie der Überzeugung bleibt, der Schritt, den ich im Namen dieser Liebe vorhabe, ginge mich überhaupt nichts an. Sie wird nicht erscheinen und eingreifen. In dem Augenblick, wo ich alle meine Energie, alle meine Hoffnungen anspanne, mehr als ob es mein eigenes Heil gälte, liegt sie im dunklen Grunde ihrer Zufluchtsstätte ihren geheimen Verrichtungen ob. Wenn ich für mich selbst Gerechtigkeit forderte, wäre sie schon wach. Vielleicht wüsste sie, dass heute nicht der Tag ist, wo ich dies thun soll. Ich würde mich ihres Eingreifens, denke ich mir, in keiner Weise bewusst werden; aber sie würde irgend ein unvorhergesehenes Hindernis in den Weg stellen. Ich würde krank werden, einen Unfall haben, ich würde durch ein nebensächliches Ereignis angelockt werden, das meine Ankunft zur ungünstigen Stunde verhindern würde. Und sobald ich Dem gegenüberstände, in dessen Händen mein Schicksal läge, würde meine wachsame Freundin mich mit ihren Flügeln beschützen, mir ihren Odem einblasen und mich mit ihrem Lichte erleuchten. Sie würde mir die Worte einflüstern, die ich sagen müsste und die allein eine Antwort auf die stillschweigenden Einwendungen des Menschen wären, der meines Schicksals Herr ist. Sie würde mir das Auftreten, das Schweigen am rechten Fleck, die Gebärden eingeben, sie würde mich mit der Zuversicht erfüllen und mir den namenlosen Einfluss geben, der oft mehr als alle Vernunftgründe und alle Beredsamkeit des Interesses die Wahl der Menschen bestimmt. Und ich fürchte, das alles wird sie nicht thun. Sie wird sich nicht stören lassen. Sie wird nicht auf der gewohnten Schwelle erscheinen. Stumpf und unerreichbar für den Gedanken, dass mein Leben nicht mehr mir ganz allein angehört, wird sie nach ihrer vielhundertjährigen Überzeugung handeln. Sie wird mir zu dienen glauben, indem sie das zum Scheitern bringt, was mich in ihrer Vorstellung nichts angeht, und sie wird mir dadurch ein grösseres Leid zufügen und mir einen tieferen Schmerz anthun, als wenn sie mich angesichts des Todes verriete. Ich werde zu dieser ganzen Angelegenheit also nur einen sehr blassen Abglanz, eine Art von Phantom meines Glückes mitbringen, und ich frage mich voller Bangigkeit, ob dies hinreichen wird, um den bösen Willen des Unglücks aufzuwiegen, mit dem ich sozusagen behaftet bin und das ich zu vertreten habe.«

 

Initial Nach einigen Tagen sagte mir mein Freund, dass sein Schritt erfolglos geblieben sei. Es ist möglich, dass er diesen Misserfolg lediglich dem Zufall oder seinem Mangel an Zuversicht zu danken hat. Denn die Zuversicht, die den Erfolg vorausnimmt, strebt mit desto grösserer Energie nach ihm und entwickelt Kräfte, die man im Zaudern und Zweifeln nicht kennt, auch lässt sie keine jener unfreiwilligen Schwächen sehen, die der Instinkt des Gegners zu benutzen weiss. Wahrscheinlich ist auch viel Wahres an ihrer Inscenesetzung des Unbewussten. Und überdies verschmelzen Unbewusstes und Zuversicht in einer gewissen Tiefe mit einander, und es ist dann sehr schwer zu sagen, wo das eine anfängt und die andre aufhört.

Statt uns indessen bei dieser allzu spitzfindigen Untersuchung aufzuhalten, wollen wir lieber das Leben belauschen, wie es uns in der Frage des Glückes, welches eine der grossen Lebensfragen ist, andere, noch unmittelbarere Fragen stellt. Es sind darunter solche von sozusagen alltäglichem Interesse. So fragt es uns z. B., welches Benehmen wir gegen die Menschen beobachten sollen, die unbestreitbar mit Unglück behaftet sind und deren böser Stern von so verhängnisvoller Macht ist, dass er alles, was sich dem oft sehr ausgedehnten Umkreis seines verderblichen Einflusses zu sehr zu nahen wagt, unfehlbar zum Untergange führt. Soll man sie unbedenklich fliehen, wie Dr. Foissac anrät? – Ja, sicherlich, wenn ihr Ungemach die Folge eines unvorsichtigen, gewagten, unaufmerksamen, ungeordneten, dunstigen oder unlogischen Geistes ist. Das Unglück ist eine ansteckende Krankheit, die sich oft von einem Unbewussten zum andern überträgt. Aber sobald es sich um wirklich unverdientes Unglück handelt, das unsere Liebsten trifft, so ist es unrecht und schändlich, wenn man flieht. Hier hat der bewusste Teil unseres Wesens, dem soviel unbekannt ist, der aber Wahrheiten einer anderen Art hervorbringt, die gleichsam die ersten Blumen einer entstehenden Welt sind, die Pflicht, der allgemeinen Weisheit des Unbewussten die Stirn zu bieten, ihren Warnungen zu trotzen und sie mit in das Verderben zu ziehen, das in diesem Falle ein Sieg auf einem Felde ist, welches vom Licht eines Ideals bestrahlt wird, dessen das Unbewusste sich vielleicht selbst eines Tages noch bewusst werden wird.

 

Initial Wir werden hierdurch zu der Frage geführt, ob das Unbewusste, dem wir unser Glück zuschreiben, wirklich unwandelbar und unvervollkommenbar ist. Wer von uns hat nicht schon die wunderlichen Gewohnheiten dieses Glückes an sich erfahren? Wenn man sein Wirken in einer Kleinstadt oder unter einer gewissen Zahl von Menschen verfolgt, die man nicht aus den Augen verliert, so erscheint es als eine eigensinnige, wunderliche Gottheit von der Art einer Pferdefliege. Je nach dem Wesen oder Ereignis, dem sie sich anheftet, nimmt es sofort einen Charakter, eine deutlich ausgedrückte Persönlichkeit an. Es hat sehr verschiedene Launen, aber es ist in jeder von ihnen gewissermassen unveränderlich. Je nachdem man die erste oder zweite seiner Gebärden belauscht, ist es leicht oder unmöglich vorauszusehen, was es in der Folge thun wird. Eine Proteusgottheit, die kein Gleichnis restlos ausdrückt, springt es hier plötzlich und ungeahnt hervor, wie ein Wasserstrahl in einer Wüste, und verschwindet alsbald, nachdem es für kurze Zeit eine Oase geschaffen hat. Dort taucht es in regelmässigen Abständen wieder auf, zieht sich zusammen und zerteilt sich wieder, wie Wandervögel, die dem Rhythmus der Jahreszeiten gehorchen. Zu unserer Rechten stürzt es einen Menschen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern; zu unserer Linken wirft es einen anderen zu Boden und lässt sein armes Opfer nicht mehr fahren. Aber fast immer, im Guten wie im Bösen, bleibt es dem Charakter, den es in jedem besonderen Falle anscheinend ein für allemal annimmt, erstaunlich treu. Der eine z. B., der im Kriege kein Glück gehabt hat, wird es nie haben. Der andere wird im Spiel regelmässig gewinnen oder verlieren. Ein dritter wird unweigerlich betrogen; ein vierter wird vom Feuer, vom Wasser oder von Strassenunfällen verfolgt; ein fünfter ist beständig glücklich oder unglücklich in der Liebe, in Geldgeschäften und so weiter. Ist dies nicht, wo nicht ein Beweis, so doch ein Zeichen dafür, dass es nicht ausser uns, sondern in uns herrscht, und dass wir ihm seine Gestalt gaben und es mit einer verborgenen Kraft ausrüsten, die von uns selbst ausströmt?

Bisweilen werden seine Gewohnheiten von seltsamen Widersprüchen, die nichts als die Launen seiner Launen sind, plötzlich durchbrochen und sein Charakter wird durch sie scheinbar Lügen gestraft, um im nächsten Augenblick in einem anderen Dunstkreise von neuem bestätigt zu werden. Man sagt dann: »Das Glück hat sich gewandt.« Aber ist es nicht vielmehr das Unbewusste, das sich entwickelt? Wacht seine Aufmerksamkeit oder Geschicklichkeit endlich auf? Wird es schliesslich gewahr, dass in der Welt, die über ihm liegt, grosse Dinge geschehen? Erwirbt es ein gewisses Bewusstsein? Dringt ein Strahl des Verstandes, ein Blitz des Willens in sein Versteck, um es vor Gefahr zu warnen? Lernt es nach einer langen Reihe von Jahren und infolge von grausamen Erfahrungen, dass es aus seiner zu vertrauenseligen Thatlosigkeit heraustreten muss? Rütteln die unglücklichen Zufälle der Aussenwelt es aus seinem gefährlichen Schlummer auf? Oder wenn es stets gewusst hat, was oberhalb seines Kerkers vorging, gelingt es ihm da wohl im Augenblicke der grössten Not, in die riesige Schicht der Jahrhunderte und die Gleichgültigkeit, die es von seinen unbekannten Schwestern trennt, einen Riss zu bringen und dadurch an dem vergänglichen Leben, von dem ein Teil seines Lebens abhängt, Anteil zu nehmen?

 

Initial Immerhin müssen wir zugeben, dass diese Hypothese des Unbewussten nicht hinreicht, um alle Ungerechtigkeiten des Glückes zu erklären. Die drei grössten, welche die drei wirklichsten Arten von Unglück sind, die einem Menschen zustossen können, treffen ihn gewöhnlich schon vor seiner Geburt. Ich meine die absolute Armut, die Krankheit (namentlich unter ihren schrecklichsten Formen: dem physiologischen Verfall, den unheilbaren Gebrechen und der abstossenden Hässlichkeit und Missgestalt) und die geistige Rückständigkeit. Das sind die drei grossen Priesterinnen der Ungerechtigkeit, welche den Unschuldigen bei seinem Eintritt ins Leben erwarten und zeichnen. Aber wenn ihre Wahl geheimnisvoll erscheint, so ist die dreifache Quelle, aus der sie die drei unheilbaren Übel schöpfen, vielleicht minder geheimnisvoll, als man vermeint. Man braucht sie nicht auf einen prästabilierten Willen, auf feindliche, ewige, undurchdringliche Schicksalssprüche zurückzuführen. Die erste und dritte dieser Quellen hat ihren Anfang und ihr Ende im Machtbereich des Menschen, und wenn man auch nicht weiss, warum der eine reich geboren wird und der andere arm, so weiss man doch vollständig, kraft welcher rein menschlichen Ungerechtigkeiten es in dieser Welt zu viel Elend einerseits und zu viel Überfluss andererseits giebt. Die Götter und Sterne haben keinen Teil an dieser Ungerechtigkeit. Was aber die beiden anderen betrifft, so bleibt nach Abzug dessen, was sie der Armut verdanken, welche die Mutter der meisten physischen und moralischen Gebrechen ist, und nach Abzug dessen, was auf Rechnung früherer Sünden der Eltern zu setzen ist, die durchaus nichts Unvermeidliches haben, immer noch ein Rest von hartnäckigen Ungerechtigkeiten, über deren Gründe man nichts sagen kann, aber dieser Rest des Mysteriums gehört fast in die hohle Hand des Philosophen, der sie später mit Müsse betrachten wird. Heutzutage ist es weise, sein Leben nicht mit imaginären Feinden und Flüchen zu umgeben und es sich auch nicht ohne hinreichende Gewissheiten zu verdüstern.

Und was das alltägliche Glück betrifft, so wollen wir in Erwartung eines Besseren annehmen, dass die Geschichte dieses Glückes (welche nicht notwendig die Geschichte unseres wirklichen Glückes ist, da es möglich ist, dasselbe über den Zufall hinauszuheben), auch die Geschichte unseres unbewussten Wesens ist. Dies hat mehr für sich, als wenn wir die Ewigkeit, die Sterne und den Weltgeist für unsere kleinen Ereignisse in Beschlag nehmen, und es giebt unserem Mute eine bessere Zuversicht. Vielleicht ist es ebenso schwierig, den Charakter unseres Unbewussten zu ändern, als den Lauf des Mars oder der Venus zu ändern, aber es scheint weniger fernliegend und phantastisch, und sobald wir zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen haben, ist es unsere strengste Pflicht, die anzunehmen, die unserer Hoffnung am wenigsten zuwiderläuft. Überdies, wenn das Unglück auch wirklich unvermeidlich wäre, so läge doch immer ich weiss nicht welcher stolze Trost darin, sich zu sagen, dass es nur von uns ausgeht, dass wir nicht die Opfer eines bösen Willens oder das Spielzeug eines nutzlosen Zufalls sind, sondern dass wir wahrscheinlich nur die notwendige Gestalt unserer Persönlichkeit in Raum und Zeit beschreiben, indem wir mehr Unglück haben, als unsere Brüder. Und solange das Unglück nicht den inneren Stolz eines Menschen angreift, behält dieser noch Kraft genug, um den Kampf fortzusetzen und seine Hauptaufgabe zu erfüllen, die darin besteht, mit aller Inbrunst zu leben, deren er fähig ist, wie wenn sein Leben für die Geschicke der Menschheit von viel grösserem Belang wäre, als jedes andere.

Dies entspricht auch besser dem weltenweiten Gesetze, das alle Götter, mit denen wir die Welt bevölkert hatten, einen nach dem anderen in unsere Brust zurückführt. Die meisten dieser Götter waren nichts weiter, als die Wirkungen von Ursachen, die sich in uns selbst befanden. In dem Masse, wie wir weiterkommen, entdecken wir, dass viele Kräfte, die uns beherrschten und bezauberten, nur schlecht bekannte Teile unseres eigenen Vermögens sind, und es ist wahrscheinlich, dass dies sich von Tag zu Tage mehr bestätigt.

Eine unbekannte Kraft uns menschlich näher bringen und in uns selbst erklären, ist vielleicht noch nicht dasselbe, wie sie besiegen, aber es ist doch schon etwas, wenn man weiss, wo sie zu finden und zu befragen ist. Wir sind von sehr dunklen Kräften rings umgeben, aber die, mit der wir am unmittelbarsten zu thun haben, ist die, welche sich im Brennpunkt unseres Wesens befindet. Alle anderen gehen durch sie hindurch, geben sich in ihr ein Stelldichein, kehren in sie zurück, strömen in ihr zusammen und gehen uns nur in ihren Beziehungen zu ihr etwas an.

Diese letzte Kraft haben wir zur Unterscheidung von der Menge der anderen unsere unbewusste Kraft genannt. Mit dem Tage, wo es uns gelingen wird, dieses Unbewusste aus grösserer Nähe zu erforschen, seine Geschicklichkeiten, seine Zu- und Abneigungen, seine geheimnisvollen Ungeschicklichkeiten kennen zu lernen, werden wir die Krallen und Zähne dieses Ungeheuers, das uns als Glück, Fortuna, Geschick verfolgt, seltsam abgestumpft haben. Heute nähren wir es noch, wie ein Blinder den Löwen nährt, der ihn verschlingen wird. Aber wir werden den Löwen vielleicht schon bald in seinem wahren Lichte sehen und ihn dann zähmen lernen.

Durchmessen wir also unermüdlich alle Wege, die von unserem Bewusstsein zu unserem Unbewussten führen. Dann werden wir eine Art von Pfad in die grossen, noch unwegsamen Strassen ziehen, die »vom Sichtbaren zu dem noch nicht Sichtbaren«, vom Menschen zu Gott und vom Einzelwesen zum Weltganzen führen. Am Ende dieser Strassen birgt sich das allgemeine Geheimnis des Lebens. Einstweilen aber wollen wir die Hypothese gutheissen, die unser Leben in diesem Leben, das unser bedarf, um in seine eigenen Geheimnisse einzudringen, am meisten ermutigt, denn wir sind es, in denen seine Geheimnisse sich schliesslich am schnellsten und klarsten krystallisieren.


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