John Henry Mackay
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John Henry Mackay

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Herkulische Tändeleien

Auf der großen Wiese im Norden der Stadt, wo alle ihre kleinen und großen Festlichkeiten stattfanden, hatte seit einigen Tagen der ›Zirkus Morosini‹ sein großes Leinwandzelt und seine Wagenburg aufgeschlagen.

Heute, am Sonntagnachmittag, sollte die erste große ›Gala- und Eröffnungsvorstellung‹ stattfinden, und jung und alt drängte sich in dichten Scharen erwartungsvoll um die soviel vorher besprochenen Genüsse. Jung und alt. Die Jungen aller Stände der braven Stadt, denn selbst die stolzen Gymnasiasten hatten ihre Eltern um den Zutritt zu dieser Vorstellung bestürmt, während diese selbst es natürlich unter ihrer Würde hielten, den Darbietungen einer untergeordneten Wandertruppe ihre Beachtung zu schenken oder doch wenigstens unter ihrer Beachtung halten mußten. Denn mancher neugierige Blick flog von der ›Promenade‹ zu dem ungewohnten Schauspiel auf der Wiese hinüber, zu dem sich im Winde blähenden Zelt, den flatternden bunten Wimpeln und dem hoch durch die Luft gespannten Turmseil. Von den Erwachsenen der Stadt waren daher nur die Kleingewerbetreibenden und die Arbeiter unter den Zuschauern, die ›ohne gesellschaftliche Stellung‹, und sie erwarteten ebenso gespannt und glücklich wie ihre Kinder den Beginn der Vorstellung.

Um so mehr fiel es wieder auf, daß Herr Karl W. Ettermann, der Chef der großen Firma Wunder u. Co., der größten der Stadt, und ihre bekannteste und vielbesprochenste Persönlichkeit, sich um diese Zeit bereits unter den Gaffern umhertrieb, mit demselben unverhohlenem Interesse, wie sie hinter alle Zeltwinkel zu lugen versuchte und sich in lange Gespräche mit dem entzückten Zirkusbesitzer und den Mitgliedern seiner Bande einließ. Er fiel auf. Das heißt: soviel an ihm noch etwas auffallen konnte. Man war ja an ihm schon manches gewohnt, was man bei den anderen Honoratioren unbegreiflich und unverzeihlich gefunden hätte. Er hatte in seiner Fabrik auffallende Reformen einer gewissen Selbstverwaltung der Arbeiter eingeführt, gab sich ungezwungen im Verkehr mit »hoch und niedrig«, war, selbst kinderlos, ein großer Kinderfreund und beschäftigte sich mit den Kleinen, die ihn vergötterten, bei jeder Gelegenheit – kurz, er wäre dem allgemeinen Hasse des Bürgertums verfallen, wenn man ihn nicht gefürchtet hätte. Aber man fürchtete ihn. Man scheute sich vor diesem starken und spöttischen Menschen, der gekommen war, man wußte nicht woher, und nun hier so eisern und fest saß, als sei er hier geboren und aufgewachsen, und man wich dem Blick dieser durchbohrenden Augen aus, die so schweigend auf den honigsüßen Lippen der Klatschmäuler ruhen konnten, bis sie ihr Gift verspritzt hatten, und sich dann so maliziös in die Blicke des Sprechers senkten, als wollten sie ihn seines vollen Verständnisses für die gebotene Leistung versichern.

Man haßte ihn hier und da. Aber ganz allgemein fürchtete man ihn. Und man gab es auf, über ihn zu klatschen, denn kein Philister dieser Stadt lebte philiströser als er, und sein Leben bot im Grunde nicht den leisesten Spalt zu den Angriffen bohrender Verleumdung.

Man ertrug ihn. Aber man trug schwer an ihm, das war nicht zu leugnen.

 

Man wußte nicht, woher er gekommen war. Aber wann er hierhergekommen war, wußte man noch ganz genau.

Vor acht Jahren war er in diese Stadt verschlagen: ein Dreißigjähriger, groß, schlank und sehnig, völlig wild und ganz gebräunt von einem ruhelosen Wanderleben in aller Herren Länder, zitternd noch, gleichsam noch rauchend von den erlebten Abenteuern, und nur durch einen der lächerlichsten Zufälle des Lebens und widerwillig, um die kleine Erbschaft irgendeiner Verwandten, von der er nie gewußt, in Empfang zu nehmen, hierher abbiegend von seiner Straße.

Und er war geblieben! –

Aus welchem Grunde, das hätte er, der sonst nicht gewohnt war, sich den Fragen seines Lebens zu versagen, kaum zu beantworten gewußt. Kein Anlaß war direkt bestimmend für sein Bleiben gewesen. Aber viele hatten in zweiter Linie dazu mitgewirkt: der Spaß, den ihm das Entsetzen und die Neugier dieser braven Bürger machte, so oft er sich gab, wie er es gewohnt war; das so gänzlich andere, ungewohnte Leben; nicht am wenigsten nach so langer Fahrt das Bedürfnis eines zeitweiligen Ausruhens und vielleicht nicht eingestandene, aber wieder erwachte Gefühle – Erinnerungen an Orte wie dieser, in denen seine vergessene Kindheit sich abgespielt, still, ahnungslos und vertrauensvoll, in Träumen und Sehnsucht des kommenden Lebens ... Endlich: der Kontrast. Der grauenhafte und lächerliche Kontrast zwischen seinem bisherigen Leben und diesen Tagen.

Stolz war er nicht auf das Aufsehen, das er hier erregte. Dazu war er wirklich nicht eitel genug; und es gehörte in der Tat allzuwenig dazu, um diese Stadt auf den Kopf zu stellen. Eine Flasche Sekt, am hellen Tage statt um Mitternacht am ehrwürdigen Stammtisch der »Goldenen Krone« getrunken; ein Zwiegespräch mit irgendeiner nicht zum Honoratiorenkreise gehörigen Person auf offener Straße; die Sendung schönster Rosen aus der Hauptstadt an »das schönste Mädchen der Stadt« – all das genügte, um den Aufruhr über den Fremden nicht zur Ruhe kommen zu lassen und ihn – für diese Zeit wenigstens – zum ausschließlichen Gesprächsthema der Stadt zu machen.

Dann – bevor das Erstaunen dieser guten Leute sich in Ärger, der Ärger sich in Entsetzen und das Entsetzen sich in Haß zu verwandeln Zeit hatte – geschah das Unerhörte: auf der Ressource verliebte sich »das schönste Mädchen der Stadt« in ihn (das schönste Mädchen nach der Ansicht des galanten Postbeamten, der die Rosen befördert hatte), und das reichste zugleich. Sie heirateten sofort, und der fremde Herkömmling wurde mit einem Schlage der große Fabrikbesitzer Ettermann, eine Respektperson von fast uneingeschränktem Einfluß am Ort.

Weshalb er sie heiratete? – Wieder spielten vielerlei Gründe ineinander, von denen er sich über manche selbst nicht klar war. Sicher waren unter ihnen nur zwei: ein auch bei ihm schnell erwachter Rausch – das Verlangen nach diesem schönen und jungen Geschöpf, und dann die alte Abenteuerlust nach der durchschlagenden Wirkung seiner Eroberung. Auch an die Unabhängigkeit eines großen Besitzes dachte er vielleicht. Jedenfalls nahm er die Sache wie er früher seine Abenteuer genommen hatte. Sehr bald erkannte er, daß die Ehe kein Abenteuer war.

Nach vierzehn Tagen gab er jede Art geistiger Annäherung an seine Frau auf. Er hatte zwar das schönste und reichste Mädchen der Stadt geheiratet, aber zugleich eine ausgemachte Bourgeoise, triefend von allen kleinlichen Lastern der Wohlanständigkeit und Gewöhnlichkeit, die selbst auf der Hochzeitsreise mit einer beispiellosen Hartnäckigkeit an jeder Klatschgeschichte ihrer Heimat hing und jeden Versuch, sie loszureißen, als eine tödliche und persönliche Beleidigung empfand.

Sein Erwachen nach diesen vierzehn Tagen war schrecklich. Er hatte sich in seinem Leben in so viele Abenteuer gestürzt und stets einen Ausweg gefunden. Hier sah er keinen. Er dachte sofort an Scheidung. Nach ein paar Wochen und aus welchem Grunde? – Er hatte ohne Grund geheiratet, so mußte er wenigstens einen Grund zur Scheidung haben, das fühlte er. Er hätte sie verlassen können – und das, wußte er jetzt schon, würde er eines Tages tun – aber jetzt? Der Schreck saß ihm noch in den Gliedern und lähmte sie.

Und dann begann seine neue Tätigkeit und hielt ihn. Er liebte seine Frau nicht, wie er jetzt wußte, und er würde sie nie lieben, aber er liebte seine neue Arbeit, die ihm so viele Gelegenheit zur Entfaltung seiner Kräfte und zur Ausnutzung seiner Energie bot. Seine fabelhafte Fähigkeit, sich jeder neuen Situation gegenüber solange trotzig zu behaupten, bis er sie überwunden hatte, wurde hier gleich von Anfang an von so augenscheinlichen Erfolgen begleitet, er hatte mit seinem scharfen Blick sofortige und durchgreifende Veränderungen in Angriff genommen, daß er zum mindesten ihre Erfolge abwarten mußte, daß es einer Flucht aus Feigheit gleichgesehen hätte, wäre er jetzt plötzlich davongelaufen.

So tat er, was er unter diesen Umständen tun mußte: er wartete ab.

Er baute sich und seiner Frau eine große Villa, die schönste und geschmackvollste der Stadt. Die geschmackvollste, weil er sie in allem anders baute, als seine Frau es haben wollte, um deren Wünsche er sich so wenig kümmerte wie um die Wünsche eines verzogenen Kindes, dem man alles verspricht und nichts hält, um es loszuwerden.

Nur in einem gab er ihr nach: er ließ ihr den Willen großer Feste, auf denen die ganze Stadt und die halbe Umgebung erschien, und in denen sie, wie er zu seiner Befriedigung sah, so aufging, daß sie ihn im übrigen tun und treiben ließ, was er wollte, obwohl sie seine Extravaganzen schrecklich fand. So lebte er denn ganz sich: am Tage seiner unermüdlichen Tätigkeit und am Abend in den Zimmern seiner Villa, die keiner betreten durfte, und die er sich nach und nach bis in den kleinsten Winkel hinein mit den Trophäen und Erinnerungen seiner Abenteuer ausstaffierte, diesen Trophäen, aus allen Winkeln der Welt aufgetrieben und nun allmählich von überall hierher zusammengeholt und geordnet.

Jahr um Jahr verging so. Die Ehe blieb unverändert langweilig und kinderlos. Karl W. Ettermann war noch immer der meistbesprochene und geistreichste Mann der Stadt, denn immer noch liebte er es, seine Mitbürger durch irgendeine Außergewöhnlichkeit in Erstaunen und Ärger zu versetzen. Aber die rechte Freude hatte er doch nicht mehr daran. Er war völlig vereinsamt. Er hatte keinen Freund, mit dem er über das sprechen konnte, was ihn am meisten interessierte, er hatte niemand ...

Er wurde müder und älter. Und er fühlte es langsam. Nur zuweilen witterte er die alte Freiheitsluft und schlug aus.

 

So heute. Am Sonntagnachmittag. Auf der Bürgerwiese und beim Anblick einer elenden Zirkustruppe.

Statt daheim bei den Vorbereitungen zu der großen Abendgesellschaft seiner Frau zur Seite zu stehen (sie wäre sehr erstaunt gewesen, ihn dort zu sehen), trieb er sich hier auf der Wiese schon vor Beginn der Vorstellung, selig wie ein der Schule entlaufener Junge umher, kaufte dem völlig aus dem Häuschen geratenen ›Herrn Direktor‹ drei Reihen seiner besten Plätze ab und saß während der ganzen Vorstellung inmitten einer jauchzenden Kinderschar, größtenteils den Kindern seiner Arbeiter, mit denen er sie füllte, nachdem vorher alle Mitglieder seines Stammtisches abgesagt hatten, weil sie für denselben Abend bei ihm zu Hause geladen waren.

Er amüsierte sich göttlich und dachte keinen Augenblick daran, sich bei seiner Frau auch nur zu entschuldigen.

Hellauf lachte er, als er das Programm las. Da stand in großen Lettern:

Unglaublich aber wahr! – Sehen und staunen!
Heute
Große Kapazitäten-Vorstellung

Die Vorstellungen bestehen in Ballett, Nationaltänzen, Akrobatik, Luft- und Parterregymnastik, elektrischen Demonstrationen, italienischen Harlekinaden, herkulischen Tändeleien ...

Er lachte und lachte.

– Herkulische Tändeleien! – Wie über alle Maßen originell das war! Herkulische Tändeleien – wie war der gute Kapitän Brettschneider aus Wien, der preisgekrönte Meisterschafts-Turmseilkünstler und »Inhaber goldener sowie silberner Medaillen«, auf dieses Wort gekommen?

Ettermann lachte, lachte und blieb den ganzen Abend in vergnügtester Stimmung, auch dann noch, als er sich endlich am Schluß der Vorstellung von den dankbaren Kindern und dem mehr als dankbaren Direktor, der ihn in dunkler Erinnerung besserer Zeiten und einer einstigen Liebschaft seiner Frau nur noch mit »Herr Graf« anredete, freigemacht hatte und in seinem tadellosen Frack plötzlich inmitten der Gesellschaft in seinem Hause erschien. Er kümmerte sich, wie immer, nicht im mindesten um die erstaunten Blicke und die versteckten Anspielungen, schwieg alle Fragen in eisiger, unnahbarer Höflichkeit tot, blieb aber trotzdem, wo er solche nicht zu fürchten hatte, der belebendste und anregendste Unterhalter der Gesellschaft, die ohne sein spätes und plötzliches Erscheinen längst auseinander gegangen wäre.

 

Spät, lange nach Mitternacht, kam er auf sein Zimmer. Er entzündete das elektrische Licht und die Holzscheite im Kamin, schlüpfte, halb schon entkleidet, in einen bequemen Rock und begann aus kostbaren, alten, dunklen Eichenschränken seltsam geformte Flaschen hervorzuholen, aus denen er sich mit unendlicher Sorgfalt und offenbarer Meisterschaft in immer wiederholten Mischungen merkwürdige und fremdartige Getränke zusammenbraute.

In seinen Augen leuchtete wieder die Freude, eine andere Freude als die, welche bis eben auf ihnen gelegen, denn nun begann die liebste Stunde seines Tages. Hierher, auf sein Zimmer, zog er sich jeden Abend zurück, hier atmete er auf von dem Druck seines Lebens, und hier träumte er vergangenen Tagen nach, die nie wiederkehrten, wie er zuweilen glaubte. Tagsüber der mäßigste Mensch, hatte er Abende, an denen er sich hier allein berauschte, um zu vergessen, wo und wer er jetzt war. Und er kannte die Getränke, die berauschten, die Flips und Cocktails, die Sours und Figs: nicht umsonst hatte er hinter so mancher Bar der Staaten und Kanadas gestanden und nicht umsonst sein Finish als Barkeeper hinter der des Waldorf Astoria in Newyork erhalten.

Behaglich die Füße gegen die prasselnden Flammen gelehnt, tat er den ersten Zug aus dem Silberbecher und seiner alten Holzpfeife. Der Zirkus fiel ihm wieder ein, die lachenden Kindergesichter und der armselige Flitter der Schaustellung. Und das pompöse Programm ... Er suchte es hervor. Und wieder lachte er hell auf, als er es nochmals durchlas und an die »herkulischen Tändeleien« kam. »Herkulische Tändeleien!« Welch ein Wort für diese traurigen akrobatischen Übungen, die jeder Turner diesen armen Vagabunden des Lebens nachmachte!

Und plötzlich wurde er ernst.

Warum lachte er?

War er selbst in den besten und glücklichsten Jahren seines Lebens etwas anderes gewesen als ein armer, heimatloser Lebensvagabund, laut nach außen und still nach innen, aber sorglos und unbekümmert in einem ewigen Rausch von Gefahren, Abenteuern und Not, zufrieden mit dem Tage und dem Unverhofften, das er ihm brachte, sorglos und unbekümmert wie diese Ausgestoßenen und Gaukler? Hatte er nicht auch in unerschöpften Kräften mit dem Leben getändelt, seine Lasten wie spielend in die Luft des Zufalls geworfen und sie wieder aufgefangen mit übermütigem Lachen? Und was war aus ihm geworden, seiner Lust, seiner Kraft, seinem Getändel? Er spielte nicht mehr mit dem Leben. Er vergeudete seine Kräfte – und er allein wußte, wie groß sie waren – an »nützliche Dinge«.

Er trank den großen, silbernen Becher mit einem Zuge leer, doch das scharfe, beizende Getränk, dem reichlich Whisky beigemischt war, stillte nur für einen Augenblick seinen brennenden Durst.

Er stand auf und ging auf und ab.

Er schlug die Fenstervorhänge zurück. Es war tiefe, dunkle Nacht. Nur dort in der Ferne lohten die Schornsteine seiner Fabrik, in der Tag und Nacht gearbeitet wurde. Und soweit sein Auge reichte, war alles sein. Er war der Herr hier. Aber ihn ekelte vor dieser Herrschaft über andere, vor der Rolle, die er spielte. Nie, keinen Augenblick hatte er an sie geglaubt, nie sich eingebildet, daß er hier irgend etwas »nützen« könne. Denn er glaubte nun einmal, daß alles Leben heute ein gesetzmäßiges Bestehlen der einen durch die anderen sei. Was war er denn hier geworden? Ein großer Dieb. Nichts weiter. Und ein unglücklicher Mensch.

Er ließ die Vorhänge über die Nacht da draußen wieder fallen und trat ins Zimmer zurück. Dieser eine, einzige Raum war alles, was in seinem elenden Leben wirklich sein war. Hier lebte er allein, in wüsten Räuschen alkoholischer Gifte und betäubender Erinnerungen. Hier allein hielt er, der reiche Fabrikherr, der keinen Menschen hatte, mit dem er sprechen konnte, Zwiegespräche in nächtlichen Stunden. Wenn er dies rostige Messer von der Wand nahm, so erzählte es ihm von dem Kampf mit dem Tiger in den Dschungeln Indiens; dieser Schleier, aus dem die Düfte des Orients strömten, war mit seinen Händen von dem Haupte des schönsten und feurigsten Weibes gewunden, das je in seinen Armen gelegen; dieser Lasso hatte sich – wie oft! – in seiner Faust wie eine Schlange geringelt, um sich aufschnellend um die Hälse schlanker Mustangs in den Steppen Kolorados zu legen; dieser Revolver seine Kugel mehr als einmal in die Brust des Angreifers gesandt, um das eigene Leben zu retten; und diesen Becher, aus dem er trank, hatte er zur Verfügung gehabt zu eigener Benutzung, wenn er hinter den Bars von Detroit und Chicago gestanden, um sein Leben zu fristen, und selbst zu einem Drink von dem geladen wurde, welchem er sie mischte, diese Höllentränke, von denen das alte Europa nur einen faden Abguß erhielt ...

Sein Blick fiel in den Spiegel und verweilte in ihm. Sein Auge, obwohl es jetzt blitzte, schien ihm nicht mehr den alten Glanz zu haben. Und er setzte Fett an, daran war nicht zu zweifeln. Noch ein paar Jahre dieses Lebens, und er war so träge, daß er keinen Pferderücken mehr besteigen mochte. Und was sollte dann aus ihm werden?

Ihn grauste.

Der ihn nie auch nur einen Augenblick in all diesen Jahren verlassen; der Gedanke, eines Tages wieder hinauszugehen in sein Leben, stand plötzlich vor ihm wie eine nicht mehr zu bändigende Macht und gewann Gewalt über ihn.

Er mußte fort. Er wollte fort.

Er reckte sich auf.

Vor ihm auf dem Tisch lag eine glänzende Stahlprobe aus seiner Fabrik, ein Stück von mehr als Zentimeterstärke. r nahm sie zwischen die Finger, in denen er früher eine außergewöhnliche Kraft besessen, und bog sie zusammen wie eine Rolle Gummi. Dann lachte er froh, als er sie wieder hinwarf.

Herkulische Tändeleien! ... Etwas von der alten Kraft war noch in ihm. Er wollte noch einmal hinaus, um sie zu erproben in Abenteuern und Fahrten aller Art. Und diesmal, älter und reifer geworden, nicht mehr willig, sich von jeder Laune des Schicksals machtlos hin und her werfen zu lassen, in der neuen Rüstung: der des Geldes.

Denn tändeln wollte er jetzt mit dem Leben – seinen Ernst verlachen und mit seinen Gefahren spielen. Aber mit der Kraft des Herkules!

Dazu brauchte er Geld. Das Geld, das er sich hier verdient in acht Jahren der Selbstbezwingung, der Tagesarbeit und – ach! der Langeweile!

 

Herr Karl W. Ettermann gab in den nächsten zwei Jahren immer weniger, fast keinen Anlaß mehr zu Verstimmungen und Redereien in der Stadt. Mit hoher Befriedigung sahen die gutgesinnten Einwohner ihn mehr und mehr zu einem der ihren werden, wie sie es wollten. Er war unermüdlich fleißig, nahm teil am Rate der Stadt zum Wohle der Bürger, war ein musterhafter Ehemann, der neben seiner Frau in tadelloser Höflichkeit hinlebte, und verbrachte sogar des öfteren einen Abend am Stammtisch, wo man aufhörte, seine scharfe Zunge und seine mörderischen Bemerkungen zu fürchten. Denn er schwieg meistens. Dennoch war man allgemein der Meinung, daß er nie so froh und zufrieden ausgesehen habe wie jetzt ...

Einmal jedes Jahr machte er eine vierwöchentliche Reise und zwar allein. Er erzählte davon. Beide Male war er in der Schweiz gewesen, hatte sich jedesmal längere Zeit am Bodensee, vornehmlich in Konstanz und den westlichen Grenzen aufgehalten. Einmal war er auch in Berlin gewesen, wohin, wie alle wußten, ihn seine Geschäfte riefen.

Im dritten Jahre ging er wieder nach der Schweiz. Er sprach über die Pläne dieser Reise mehr als sonst am Stammtisch: er wollte zunächst vierzehn Tage in »seinem geliebten Konstanz« bleiben, den Rest der Zeit aber zu Fußwanderungen und Bergbesteigungen verwenden, und er erwähnte mit besonderer Befriedigung, daß es ihm dieses Jahr wohl möglich sein würde, etwas länger, vielleicht sogar sechs Wochen fortzubleiben. Er nahm denselben höflichen und kühlen Abschied von seiner Frau, die nach Heringsdorf mit Bekannten ging, traf in seiner Fabrik wie immer die genauesten Anordnungen für die Zeit seiner Abwesenheit und reiste, alles wie sonst hinterlassend, mit seinem Rundreisekoffer, den er stets benutzt hatte, ab, als wisse er ganz genau, daß er in ein paar Wochen wieder hier in dieser Stadt sein würde.

 

Er wußte im Gegenteil ganz genau, daß er sie nie in seinem Leben wieder betreten würde.

In Stuttgart übernachtete er, stieg selbstverständlich im Hotel Marquardt ab, aß vorzüglich zu Abend und trank seine Flasche Monopol, schrieb dann eine Karte an seine Frau, in einem fast scherzhaften Ton, den er sonst nie gegen sie anschlug sowie einen Geschäftsbrief an seinen Prokuristen und schlenderte dann gemächlich die Königstraße hinunter. Die Läden waren noch offen.

Er betrat zwei. In dem einen kaufte er eine Touristentasche; in dem anderen, einem großen Herrenmanufakturgeschäft, machte er die verschiedensten Einkäufe, in erster Linie alles, was zu einer Fußtour gehörte: einen vollständigen Touristenanzug mit bequemen Taschen, zwei Hemden, Unterkleider, Bergschuhe und Socken, eine Sportmütze, ein Dutzend Taschentücher, zwei Handtücher sowie verschiedene andere Sachen: ein Stück Wachstuch, eine Reiseflasche, ein Messer und anderes. Er ließ alles noch an demselben Abend gut verpackt in sein Hotel besorgen. Am nächsten Nachmittag war er in Konstanz. Er wurde im Inselhotel wie ein alter Bekannter empfangen und fand zufällig sein großes Zimmer vom vorigen Jahr mit dem weiten Blick auf den See frei. Er machte alsbald einen Gang in die Stadt und eine Fahrt mit seinem alten Freunde, dem Schiffer Peter Eggli aus Appenzell, im Ruderboot, wobei er, wie stets im vorigen Jahre, sein erstes Bad in dem abgründigen See nahm, und ließ sich von Eggli, einem guten, etwas dummen Kerl, erzählen, was seit dem vorigen Jahre alles passiert war. Auch engagierte er ihn gleich für die nächsten vierzehn Tage jeden Nachmittag auf ein paar Stunden.

Den Abend verbrachte er im Garten des Inselhotels und genoß in vollen Zügen seine einzige Lage und den geheimnisvollen Zauber des alten Klosters.

Vom folgenden Tage an glich sein Leben genau dem, das er bei seinem letzten Aufenthalt hier geführt hatte: er streifte in der Umgegend umher, stets bewaffnet mit einem vorzüglichen Anschützapparat etwas altmodischer Konstruktion in einer verhältnismäßig großen Tasche, die außer dem Apparat noch sechs Kassetten 12 x 18 enthielt, dessen Schwere ihn aber nie zu ermüden schien, beging auf diesen Schweifereien oft das Schweizer Gebiet und das jenseitige Seeufer und fuhr jeden Nachmittag mit Eggli oder aber allein in seinem Kahn auf den See hinaus, wobei er sein regelmäßiges Bad nahm. War Eggli dabei, so hatte dieser sich während der halben Stunde, in der er umherschwamm, in seiner Nähe zu halten. Einmal, nach vier Tagen, geschah es zum erstenmal,, daß ihn eine Anwandlung von Herzschwäche zu überkommen schien und er nach dem Boot rief. Der Schiffer geriet seitdem in Angst, wenn er allein hinaus wollte, und bat jedesmal, ihn doch mitzunehmen. Aber Ettermann lachte ihn, seine Befürchtungen und sein ängstliches Gesicht aus, wenn er in den nächsten Tagen noch länger, als gewohnt, allein draußen blieb und ihm erzählte, wie »er heut' wieder lange draußen um das Boot herumgeschwommen sei, das von der Strömung ergriffen weit abgetrieben war ...« Denn der gute Eggli liebte diesen fremden Herrn Ettermann sehr, der so famos mit ihm plauderte und ihn fürstlich bezahlte.

Jede dieser scheinbar so sorglosen Wanderungen war in jedem Schritt, jede dieser Fahrten, alles, was Karl W. Ettermann in diesen Tagen tat und sprach, so genau überdacht, daß er, ganz allein mit sich noch einmal das heute Getane und morgen Auszuführende überdenkend, immer wieder vor sich hinlachend, diese Vorbereitungen seine »herkulischen Tändeleien« nannte.

 

Er war bestrebt, sich unauffällig aber möglichst bekannt zu machen. Nicht nur Wirt und Personal des Inselhotels kannten ihn, sondern eine ganze Anzahl der Gäste wußte, wer er war, und woher er kam. An manchem Abend saß er nach dem Souper im Garten des Hotels mit allen möglichen Leuten zusammen und erzählte oft und, wie es schien, gern von seinem Wohnort, seiner Fabrik, seiner Frau und seinen Beziehungen.

Auch in der Stadt grüßte man ihn häufig.

Immer nur dachte er an eines!

Er kannte jetzt jeden Weg, jeden Pfad, jeden Baum und jeden Strauch an der Grenze der Stadt am See gegen die Schweiz hin. Er kannte den See selbst und seine Ufer in dieser Richtung in jeder Bucht, jedem Felsblock und jedem Stein an seinen Ufern und ihn selbst hier in seinen Tiefen.

Er hatte Pläne und Zeichnungen in seinem Zimmer, die mit Strichen und Bemerkungen übersät waren.

Nur von den Menschen und ihren Wohnungen hielt er sich in diesen Gegenden fern, soviel er konnte. Hier wollte er nicht gekannt sein.

Sonst verbrachte er seine Zeit mit dem Entwickeln und Kopieren photographischer Platten. Doch waren seltsamerweise gerade von den Örtlichkeiten, die er am eifrigsten durchstreifte, verhältnismäßig wenig Aufnahmen unter ihnen.

 

An einem Morgen tat er dies: er leerte die Tragtasche von Apparat und Kassetten und verschloß alles sorgfältig in seinen Koffer. An ihre Stelle legte er die auf der Herreise gekaufte Touristentasche, die schon vorher mit peinlicher Genauigkeit gepackt war. Sie ging gerade hinein und enthielt die ebenfalls in Stuttgart erworbenen Bekleidungsgegenstände, andere Kleinigkeiten sowie einige Erinnerungen an sein früheres Leben: einen Revolver, eine alte Tabakspfeife, ein paar Schmuckgegenstände und anderes mehr. Dann eine Feldflasche mit Kognak und ein Paket Kakes. Endlich ein kleines Paket Papiere: ein altes Notizbuch, den Paß eines längst verstorbenen Freundes, den er schon mehreremal für sich benutzt hatte sowie in einer alten Brieftasche ungefähr achtzigtausend Mark in englischen und deutschen Banknoten: die Summe, die er in den letzten zwei Jahren aus seinem Geschäft gezogen, ohne daß es auffällig gewesen wäre, und die dem Betrage glich, um den er den Wert der Fabrik durch seine eigene Arbeit erhöht hatte. Als er die Tasche schließen wollte, fiel ihm noch das Wichtigste ein: ein bereits im vorigen Jahre in Berlin gekauftes Rasiermesser und eine kleine Schere.

Nochmals nahm er die Touristentasche heraus, hüllte sie fest in ein großes Stück Wachstuchleinwand, das er mit Bindfaden umschnürte und zwar so, daß das eine Ende des starken Fadens noch etwa zwei Meter lang war. Das ganze so behandelte Paket legte er abermals in die geleerte Tragtasche des Apparates, die er dann verschloß. Er warf sie um die Schultern, als er nach Tisch zur gewohnten Stunde das Hotel verließ. So war er fast täglich fortgegangen.

Als er die Brücke überschritt, wurde er angerufen.

– Nun, Herr Ettermann, gehen Sie schon wieder auf Raub aus?

Er antwortete kurz, aber höflich, daß er noch ein paar interessante Punkte um Emmishofen herum aufnehmen wolle, und ging weiter.

Er ging am Hafen vorbei durch die Stadt, überschritt die Bahn und die Schweizer Grenze.

Der Zollbeamte, der schon längst nicht mehr nach dem Inhalt der ihm wohlbekannten Tasche frug, nachdem dieser ihm einmal gezeigt worden war, grüßte höflich. Ettermann schritt an der jenseitigen Badeanstalt vorbei. Gebüsch, dann Wald nahmen ihn auf. Jeder seiner Schritte verriet, wie genau er die Örtlichkeit kannte. Er erreichte das Ufer. Ein schmaler Streifen Kies und Sand trennte Wald und Wasser. Steinhaufen und Felsblöcke lagen ringsumher. Der Himmel hatte sich überzogen, und es war bereits trotz der frühen Stunde so dunkel, daß man vom See her nichts mehr am Strande erkennen konnte.

Er stand still und stellte die Tasche nieder. Dann lauschte er. Dies war der Ort. Er vernahm nichts als das leise Anschlagen der Wellen an den Kies des Ufers, unruhiger als sonst, als ahnten sie das drohende Gewitter. Nochmals ging Ettermann etwa hundert Meter in beiden Richtungen von dem Platz aus, wo er stand, am Strande entlang, ob sich nicht doch noch ein Grenzwächter oder ein verirrter Wanderer zeigen möchte. Aber nichts rührte sich.

Da schloß er schnell die Tragtasche auf, entnahm ihr das in Wachstuch gehüllte Paket und ging ohne weiteres Zögern auf einen Haufen Felsblöcke los, der ein paar Schritte weiter am Rande des Waldes, halbverdeckt von dichten Zweigen lag. Vor einer höhlenartigen Öffnung schob er das Gebüsch zurück und ließ das Paket an der Schnur hinabgleiten. Den Faden legte er so, daß er von außen leicht zu ergreifen war. Die Zweige schlossen sich von selbst wieder über dem Loch.

Zum Strande zurückgekehrt, füllte er die Tragtasche mit einigen Steinen, um ihr Gewicht zu geben, und ging dann auf Emmishofen zu. Niemand begegnete ihm.

Als er die »Krone« erreichte, brach das Unwetter los. Er saß lange auf der Veranda, sprach mit der freundlichen Wirtin und kam erst am späten Abend nach Hause.

Auf seinem Zimmer leerte er die Tasche von den Steinen und füllte sie wieder mit Apparat und Kassetten.

Wieder fiel ihm das Wort von den »herkulischen Tändeleien« ein, als er in später Nachtstunde, während alles schlief, die Steine einen nach dem anderen in den Garten warf, und wieder lachte er auf ...

 

An dem Tage, der diesem folgte, war der See unruhig, und Ettermann nahm, von Eggli begleitet, nur eine kurze Fahrt und ein schnelles Bad.

Der übernächste jedoch erschien ihm geeignet.

Noch einmal prüfte er mit derselben peinlichen Genauigkeit, mit der er in seinem Hause jeden kleinsten Gegenstand und jedes Stück Papier wieder und wieder – Monate vorher schon – daraufhin angesehen hatte: ob er sie dort lassen oder vernichten sollte, jetzt die Dinge, die hier zurückbleiben sollten ... Er fand nichts mehr. Nichts war dort geblieben, was er nicht gesehen wissen wollte; nichts derartiges würde hier bleiben. Dagegen fehlte auch nichts, dort in seiner Wohnung wie hier im Hotelzimmer, von dem, was seine Frau und seine Bekannten in seinem Besitz wußten ... Alles blieb zurück.

Alles war getan. Ein Brief an seine Frau lag angefangen in seiner Schreibmappe; noch gestern waren die gewohnten Anordnungen mit seinem Stellvertreter in der Fabrik gegeben und neue Pläne angedeutet, eine fidele Karte an den Stammtisch unterwegs und Bekannten im Engadin mitgeteilt, daß er in acht Tagen dort eintreffen und den und den Weg wählen würde.

Nun warf er noch einen langen Blick in das Zimmer zurück, bevor er es zu gewohnter Stunde verließ: alles lag und stand da, als kehre er in kurzem wieder hierher. Dann ging er die Treppe hinab und durch das Vestibül. Es war zufällig leer. Er wollte aber gesehen werden und machte daher einen Umweg durch den Garten des Hotels. Bei einer Gruppe von Damen, die hier zusammensaßen, blieb er stehen und ließ sich in ein kurzes Gespräch ein. Er ließ sich fragen, wohin er gehe, erzählte, daß er baden wolle, sprach einiges über das Wetter, machte einer der älteren ein Kompliment und ging dann endlich mit seinen gewohnten höflichen Grüßen, alle entzückt ob seiner Liebenswürdigkeit zurücklassend ... Am Abend, wenn er nicht zurückkehrte, würden diese Gänse durch das ganze Hotel schnattern, was er ihnen gesagt. Das gerade wollte er.

Am Hafen, wo Eggli seiner wartete, hatte er nochmals ein Gespräch mit diesem. Er lehnte seine Begleitung ab, sprach davon, ein schönes und langes Bad nehmen zu wollen, aber zur gewohnten Stunde zurück zu sein, und fuhr dann langsam hinaus, ganz wie ein Mensch, der kein Ziel und Zeit genug hat.

Er ruderte fast eine Stunde, langsam und gleichmäßig, bis er weit über die Stelle hinaus war, an der er gewöhnlich zu baden pflegte, und die Stadt nur noch undeutlich zu erkennen war. Endlich zog er die Ruder ein und ließ sich treiben.

Der sonnige Glanz des ersten Nachmittags war erloschen, nd ein grauer Ton lag in der Luft und auf dem Wasser. Aber noch war es hell und sein Spiegel weit hinaus zu überblicken. Kein Boot rings in weitem Umkreis, nur ganz in der Ferne die Rauchwolken eines Dampfers auf Meersburg zu.

Ettermann wartete noch, wohl eine Stunde, bis sich der graue Ton zur beginnenden Dämmerung verstärkte. Er saß ganz still auf der Ruderbank, spähte umher und tat nur ab und zu einen Ruderschlag, um das Boot auf der Stelle zu halten.

Dann stand er plötzlich auf und sah nochmals lange nach allen Seiten: die Stadt lag wie ein grauer Streifen am Ufer, die Anhöhen umhüllte ein leichter Dunst, und die Schweizer Seite versank fast ganz in der nun stärker sinkenden Dämmerung. Und ringsumher herrschte ein Schweigen, das nichts durchbrach.

Da entledigte er sich schnell seiner Kleider und warf sie in den Kahn, wie er gewohnt war, wenn er baden wollte. Jede Tasche war in ihnen bis auf die letzte Naht auf ihren Inhalt untersucht; man würde in ihnen nichts vermissen und nichts finden. Sein Laken breitete er – zum Abtrocknen wie immer bereit gelegt – über den Rudersitz.

Dann stand er da, völlig nackt, und sah zum letztenmal lange in die Runde.

Die Atmosphäre war erfüllt von Schwüle und Feuchtigkeit, und auch heute schien ein Gewitter im Anzuge. Ettermann versuchte mit den Augen die Entfernung zu messen, die ihn von dem Ufer trennte, das er erreichen wollte. Es gelang ihm nicht. Er wußte nur, daß er eine, vielleicht auch zwei Stunden schwimmen mußte.

Endlich tauchte er mit einem Kopfsprung in das Wasser. Er lächelte dabei, indem er dachte, daß dies der Todessprung seines alten Lebens war, mit dem er endlich Abschied nahm von diesen zehn verlorenen Jahren der Demütigung und Knechtschaft. Es war sein altes, böses Lächeln, das ihm in seiner starken Überlegenheit so oft geholfen hatte hinwegzukommen über den Haß, die Dummheit und die Tücke seiner so sehr geliebten Nebenmenschen.

Im lauen Wasser schüttelte er sich vor Behagen. Er schwamm noch einmal zum Boot zurück und lenkte es mit einem Stoß seiner ganzen Kraft der Rheinströmung zu, die es auf die Stadt zutreiben sollte. Dann erst griff er aus und schwamm, nachdem er sich über die Richtung vergewissert und sich nur von Zeit zu Zeit herumwerfend und sich überzeugend, daß er sie nicht verlor, eine halbe Stunde mit unausgesetztem Hintenüberwerfen seiner sehnigen Arme und kräftigen Beinstößen, nur den Himmel über und die unermeßliche grüne Tiefe unter sich.

Nach einer halben Stunde, wie ihm deuchte, hielt er ein und warf sich herum. Er sah erst hinunter in die Tiefe. Dort unten würden sie ihn morgen versunken glauben, unauffindbar ... Und hinauf. Der Himmel hatte sich umzogen, und es war merklich dunkler geworden. Er stellte sich auf im Wasser und spähte nach dem Ufer. Er schien ihm nicht näher gekommen zu sein.

Sich von neuem herumwerfend, schwamm er abermals eine lange Zeit. Er hatte die einzige Furcht, die er empfand, verloren: ein Boot könne in seine Nähe kommen. Rings war alles leer und nichts als Wasser. Dennoch sah er jetzt von Zeit zu Zeit um sich, ob nicht doch ein Kahn im Umkreis erschien, und vor allem, um der Richtung gewiß zu sein. Er kannte sie kaum, aber er arbeitete zäh und hartnäckig. Er wußte, das Ufer war weit, und eine Stunde war wenig, ihm zuzuschwimmen.

So begann er ohne das geringste Bangen die dritte halbe Stunde, und als er sie zurückgelegt glaubte und sich abermals, nicht um sich auszuruhen, treiben ließ, sah er, daß der Himmel sich völlig überzogen hatte und es an ihm wetterleuchtete. Und bei diesem Leuchten sah er auch, daß das Ufer wie eine schwarze Wand sich in der Ferne hob, ohne daß er irgendwie sein Ziel unterscheiden konnte.

Das Wasser schien wärmer zu werden und der Grund flacher. Da wußte er, daß er dem Ufer näher war, als er glaubte.

Er schwamm weiter, aber langsamer und behutsamer und erhob, von der Rücken- in die Brustlage übergehend, oft den Kopf, um umherzuspähen.

Wie die Wellen, so trugen ihn seine Gedanken – so leicht war ihm. Es schien ihm, als könne er nie müde werden. Herkulische Tändeleien – dachte er und mußte lachen. Das Wasser kam ihm in den Mund. Nein, so ging es nicht. Er schwamm denn doch hier nicht zu seinem Vergnügen, sondern im Kampfe um sein Leben. Aber war es denn ein Kampf? – Herkulische Tändeleien nur, dachte er wieder ... Und schwamm weiter.

Dann streifte er Schlinggewächse, und plötzlich fühlte er Grund mit den Füßen. Er wußte nicht, wie lange er geschwommen war, aber er sah das Ufer jetzt vor sich liegen. Noch wußte er nicht, wo er und wie weit er aus der Richtung abgekommen war.

Er stellte sich fest auf den Grund und lugte, nur den Kopf über dem Wasser, regungslos nach dem Ufer. Die Bäume lagen dort wie ein dunkler Wall, und über ihnen drohte der Abendhimmel, dunstig, heiß und gewitterschwer. Ettermann wußte jetzt, wo er war: rechts von ihm mußte die Stelle sein.

Er watete halb, halb schwamm er weiter, fast lautlos, bis er die Baumgruppe unterschied, die sein Ziel war. Er war nur wenig von der Richtung abgewichen. Und nochmals stellte er sich auf, lautlos, horchend und spähend.

Aber nichts Lebendes zeigte sich, weder Mensch noch Tier.

Da ging er, sich immer tiefer niedertauchend, je näher er dem Ufer kam, jetzt gleitend, dann wieder auf dem immer flacher werdenden Boden hinkriechend, auf die Baumgruppe der Pappeln und Buchen los, die sich jetzt deutlich vor ihm erhob, und kam lautlos näher und näher heran ...

Denn jetzt kam der einzige Augenblick wirklicher Gefahr. Sein weißer Körper durfte nicht gesehen werden bei seinem Auftauchen aus dem Wasser und dem Sprung ans Ufer.

Nochmals horchte er, lange und angestrengt, mit den Füßen auf dem steinigen Grund und bis an die Schultern niedergeduckt unter dem Wasserspiegel. Sein Auge durchdrang jeden Schatten dort drüben. Aber nichts war zu vernehmen als das Quaken der Unken und das leise Brodeln der Wellen am Strande unter der Last der gewitterschwangeren Atmosphäre. – Da richtete er sich jäh in die Höhe und sprang in eiligen Sätzen auf das Ufer zu, daß das Wasser aufspritzte, und weiter über den weißen Streifen hinweg auf die Stelle los, wo unter dem Gesträuch die Tasche verborgen lag. Er griff nach der Schnur, erfaßte sie und riß mit einem heftigen Ruck das Paket aus der Höhlung. Schnell hatte er die Tasche von der Leinwandhülle befreit, sie geöffnet und sich mit dem Handtuch flüchtig abgerieben, und ruhiger, aber schnell und sicher begann er sich in die neuen, aber ihm bereits durch Anproben vertraut gewordenen Kleider zu werfen. Jetzt mochte kommen, wer wollte: er hatte einfach, von der Wanderung kommend, ein Bad im See genommen.

Aber niemand ließ sich sehen. Da vollendete er in Ruhe sein Werk: mit einer kleinen, scharfen Schere fuhr er an Kinn, Wangen und Lippen hin und entfernte sie vom Barte, zog die Sportmütze über die noch nassen Haare, kleidete sich vollends an und barg alle übriggebliebenen Gegenstände – das Paket mit dem Gelde und den Papieren, seine Erinnerungen, den Revolver, das Handtuch, das Stück Wachsleinwand sowie die mitgenommenen Kleinigkeiten, noch einmal alle sorgfältig prüfend, von neuem in der Tasche. Bevor er sie überwarf, tat er einen langen Zug aus der Kognakflasche, denn er fühlte die Kälte des langen Aufenthaltes im Wasser in den Gliedern.

Dann war er bereit für die Wanderung in sein neues Leben.

Nochmals, bevor er sich wandte, prüfte er den Platz. Nichts verriet, daß hier ein Mensch gelandet und geweilt, nichts als die Büschel Haare seines Bartes, die der Wind bald verwehen, aus denen sich vielleicht ein Vogel ein weiches Nest bauen würde ...

Ettermann ging die ganze Nacht durch, ließ erst Kreuzungen rechts liegen, dann teils auf der Chaussee, teils auf Uferwegen weiter. Das Gewitter drohte noch lange, bevor es ausbrach, dann regnete es ununterbrochen. Das gerade war ihm recht. Er wurde durchnäßt bis auf die Haut, aber nach einer Stunde waren Kleider und Schuhe schmutzig wie nach langer Wanderung, so wie er es wollte. Er sah jetzt ganz aus wie einer der zahllosen Touristen, die die Schweiz zu Fuß nach allen Richtungen hin durchschweifen.

In der Morgendämmerung war er in Romanshorn, nach sechsstündiger, kaum unterbrochener Wanderung. Er wartete den ersten Frühzug ab, der ihn nach Rorschach brachte. Dort mischte er sich in das Gedränge der Reisenden und war um Mittag in Zürich. Auf der Reise schlief er fest.

In Zürich machte er die verschiedensten Einkäufe: zunächst im Anglo-Americain am Bahnhof Anzüge und Wäsche, dann, in einer Droschke von Laden zu Laden fahrend, alles, was er zunächst brauchte, vor allem einen großen Koffer. Er stieg in einem kleineren Hotel an der Bahnhofsstraße ab.

Als er am Abend einen Gang am Kai machte, glattrasiert und völlig frisch, war er wieder der wohlhabende und elegante Reisende, der zu seinem Vergnügen von Ort zu Ort reist. Er nannte sich für diesen Tag Charles D. Macintyre und sprach nur Englisch.

Am dritten Tage abends langte er auf der Gare du Nord in Paris an. Und am nächsten Morgen, zu einer Stunde, in der es wenig besucht war, las er im Café Riche in den schweizer und deutschen Blättern mit Befriedigung die Nachricht von seinem Tode: daß er beim Baden in den Fluten des Bodensees bei Konstanz ertrunken sei und seine Leiche vergebens gesucht werde.

Noch an demselben Abend schiffte er sich in Havre, zunächst nach Australien, ein.

Ende


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