John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
John Henry Mackay

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Das weisse Haus

Da es seine Absicht war, einen Nachmittagsausflug den Fluß hinunter mit dem Dampfer zu machen, war er schon frühzeitig mit der Ringbahn den endlosen Weg um die halbe Stadt herum gefahren, bis er den Fluß und die nächste Haltestelle erreichte.

Nun saß er in dem Restaurationsgarten bei der Landungsbrücke und sollte noch fast dreiviertel Stunden warten. Denn an den Wochentagen fuhren die Dampfer selten.

Er hatte sich verfrüht – in der Hast, mit der er jetzt alles tat, und der Angst, zu spät zu kommen und nicht fertig zu werden.

Nun hatte er wahrlich Zeit genug und hätte ruhig an seinem Tisch sitzen, seine Gedanken auf den Menschen und den Dingen um sich herum weilen lassen und seinen Kaffee trinken können, denn nichts und niemand störte und trieb ihn.

Aber da war sie wieder: die alte, furchtbare Unrast, die ihn immer dann am heftigsten überkam, wenn ihm ein paar Stunden der Ruhe beschert waren, und die ihn eigentlich nur verließ, wenn die rastlose Arbeit des Tages oder der totenähnliche Schlummer der Ermüdung bei Nacht sie vertrieb.

Er kämpfte gegen sie an mit seiner ganzen Kraft; er wollte sich »zur Ruhe zwingen« mit der Aufbietung seines ganzen Willens – und konnte es nicht.

Denn er war krank. Und er wußte es, daß er krank war. Eine Sehnsucht war in ihm, die unermeßlich war, und er war krank, weil er das Ziel dieser Sehnsucht nicht kannte und, wie er auch suchte, nicht finden konnte.

Sie war in ihm, und er wußte weder, woher sie kam, noch wohin sie wollte. Sie hatte sich seines Lebens bemächtigt und lag immer auf der Lauer, es zu zerstören.

Wenn er ihr Ziel nicht fand, so würde sie der Sieger sein.

Er fühlte es: lange konnte es nicht mehr dauern.

Aber noch kämpfte er und suchte. Er suchte, wo immer er auch war: außer sich, in sich – bis zur Verzweiflung, bis zum Wahnsinn. Und er fand nicht, was er suchte.

Kein Augenblick, in dem er nicht gehofft hätte, die Sehnsucht zu stillen; und kein nächster, der ihm nicht die Enttäuschung gebracht hätte. Alles versprach ihm, und alles belog ihn. Kein neues Buch, in dessen Blättern, die er durchflog, er nicht die Antwort auf seine Frage zu finden hoffte; kein neuer Mensch, dem er sich nahte, ohne vor Erwartung geschüttelt zu werden. Auf der Straße konnte ihn ein Gesicht, das Lächeln eines Kindes, der Ton einer Stimme, die nächste gleichgültigste Begebenheit in die Aufregung der Erwartung versetzen: das ist es, was du suchst! – Und zu Hause, allein mit sich, in den einsamsten Stunden der Nacht, verlangte er unablässig von seinen grübelnden Gedanken das Eine, nur das Eine, daß sie ihm den Weg zeigten zur Erfüllung der großen Sehnsucht, die ihn beherrschte! Aber alles enttäuschte ihn, und nichts vermochte den Durst, der ihn verzehrte, länger zu stillen als für die Dauer eines Augenblicks.

So suchte er, und da er nicht fand, was er suchte, wuchs in ihm die Sehnsucht von Tag zu Tag, und mit ihr die Unruhe, die Angst und die Verzweiflung.

Er war krank; und er wußte, daß er es war. Denn er wußte, daß gesunde Menschen die Sehnsucht nicht kennen, sondern in der Erfüllung ihres Tages leben. –

Da war sie auch heute wieder, und statt ihn die Schönheit dieses freien und langerwünschten Sommernachmittags an dem schattigen, grünen Spreeufer genießen zu lassen, packte sie ihn plötzlich mit einem quälenden Gedanken und trieb ihn auf – etwas zu suchen, irgend etwas – was? –

Er rief ungeduldig nach der Bedienung, bezahlte hastig und stand auf. Der Kellner sah dem Gast verwundert nach, der ihn eben noch um Auskunft nach dem nächsten Schiff gefragt hatte und nun davonrannte ...

Was hatte er vor? – Wohin wollte er? – Er wußte es nicht. Wie es immer war: ein unbestimmtes Gefühl der Angst und Ungewißheit hatte ihn emporgetrieben. Es war das alte, ihm so wohlbekannte Gefühl, das ihn seine Entschlüsse und Pläne mit plötzlicher Heftigkeit ändern ließ, und gegen das er machtlos war.

Als er vor einer halben Stunde den weiten Weg mit der Ringbahn gefahren war, erst durch die Stadt, dann an ihren Grenzen hin, endlich in weitem Bogen über die leere Öde der flachen Felder bis hierher, war ihm beim Hinaussehen zum Fenster irgendwo auf dem letzten Teil des Weges ein Haus in die Augen gefallen, und es hatte für die Zeit der paar Sekunden, in denen er es sehen konnte, seine Gedanken gefesselt, so daß er sich noch einmal nach ihm umgesehen hatte. Der Zug war weitergerast, und wie er es aus den Augen verloren, so vergaß er es wieder ... Dann, wie er im Garten gesessen und auf das braune Wasser hinausgesehen hatte, angstvoll bemüht, seinen Gedanken einen Halt zu geben, war es ihm wieder mit einer Plötzlichkeit vor Augen getreten, die ihn aufs neue beunruhigte. Was er im Vorbeifahren gesehen, sah er jetzt wieder: eine weiße Wand, einen Garten, in dessen Mitte ein Teich lag, eine Fahnenstange auf dem Giebel und eine große Inschrift, die besagte, daß das Haus eine Gartenwirtschaft war ... Um das Haus herum, so weit das Auge vom Bahndamm reichen konnte, nur Öde, grenzenlose Öde.

Warum war es ihm überhaupt aufgefallen? Ja, wenn er das gewußt hätte! – Sicherlich gab es nichts Gewöhnlicheres als diese Wirtschaft in den Feldern, an der letzten Grenze der Stadt, dies Haus ohne Nachbarn, schlummernd in der Sommerhitze und kärglich geschützt von den bestaubten Bäumen an dem schmutzigen Tümpel ...

Aber es ließ ihn nicht mehr los, nun er sich seiner so unverhofft wieder erinnerte, und darum stand er jetzt – statt mit dem Dampfer den kühlen Fluß hinunterzugleiten – auf der staubigen Chaussee und sah nach der Richtung, in der das weiße Haus liegen mußte.

Die Sehnsucht gebot ihm, es zu suchen, und wie sie ihn trieb einem Menschen auf der Straße nachzugehen, dessen Gesicht, dessen Stimme, dessen Gang ihn gefesselt, so zwang sie ihn jetzt, zu gehen, bis er das weiße Haus gefunden und das Geheimnis enthüllt, das es für ihn barg.

Aber wo lag es? – Er konnte sich nicht einmal der beiden Stationen mehr erinnern, zwischen denen er es vom Wagenfenster aus gesehen hatte.

Nur die Richtung wußte er. Dort – dort – mußte es liegen, hinter dem Bahndamm, der den Horizont verbarg. Aber wenn es auch eine Stunde zu gehen war, er hatte ja Zeit. Und er machte sich auf den Weg in der glühenden, grellen Hitze des Sommernachmittags.

Wenn er geradeaus ging, so schien es ihm, müsse er einen Teil des Weges abschneiden und den langen Bogen der Bahn verkürzen. Und, getrieben von der immer stärker werdenden Unruhe, überlegte er nicht mehr lange, sondern ging in ungefährer Richtung dem Süden der Stadtgrenze zu.

Um die Bahn zu durchschreiten und den freien Ausblick der Felder zu gewinnen, mußte er lange Straßenlinien verfolgen. Sie trugen bereits Namen und waren sorgfältig gepflastert, aber noch stand an ihnen kein einziges Haus. Alles war berechnet angelegt für die Anschwellung der Großstadt, die eines Tages auch diese leeren, umzäunten Quadrate füllen würde. Der Wanderer ging eine der leeren Fluchten nach der anderen hinunter; bald hatte er links, bald rechts einzubiegen, und doch schien er dem Bahndamm nicht näherzukommen. Das glühendheiße, saubere Pflaster, die noch unbefahrenen grauen Steine, deren grausame Eintönigkeit selbst das Gras kaum zu durchbrechen wagte, brannte durch seine Sohlen, und während er unverdrossen dies schattenlose Labyrinth eines noch ungeborenen und doch schon benannten Stadtteiles durcheilte, dachte er an plätschernde Quellen unter schattenspendenden Bäumen.

Eine große, rote Fabrik, ganz neu und noch von Rauch und Ruß nicht geschwärzt, erhob sich in der Ferne über den Zäunen; wenn er sich rückwärts wandte, sah er die letzten Häuser der Stadt in Glut und Hitze flimmern und zerfließen. Allmählich kam er der Bahn näher, und nun war er endlich auf der Straße, die unter ihr durchführte in das Freie. Jetzt sah er auch einen Wagen und einige Menschen, die träge und sich selbst in Staubwolken hüllend, dahinschlichen.

Im Schatten der Bahnlinie lag eine kleine Schenke. Ein paar Tische und Stühle vor dem Hause; an einem saßen drei Arbeiter vor einer großen Weiße und spielten mit schmutzigen Karten, ohne zu sprechen, wie im Halbschlaf. Ihr Wagen stand vor der Tür, und die Pferde warteten regungslos, die Köpfe gesenkt, und nur träge mit den Schwänzen die Fliegen von sich wehrend.

Der Fremde setzte sich. Er bestellte sich Bier und trank das schäumende Glas, das eine schmutzige Frau ihm brachte, in einem Zuge leer. Das Bier war frisch und kühl, und es tat ihm wohl; er bestellte sich ein neues Glas und blieb sitzen.

Die Sonne stand jetzt am höchsten, und ihre Strahlen fielen fast senkrecht nieder. Es war um die vierte Nachmittagsstunde. Zu dem Wege, der, von hier aus gesehen, nicht mehr als zehn Minuten zu betragen schien, hatte er fast eine Stunde gebraucht, so groß waren die Umwege gewesen.

Eine grenzenlose Müdigkeit überkam ihn, die Müdigkeit der dritten Nachmittagsstunde, des Mitt-Tages zwischen Morgen und Abend, die alle Natur mit unbezwinglicher Gewalt ergreift, und er hätte hier sitzen und schlafen und nicht mehr aufstehen mögen. Aber er träumte von einem weißen Hause, und dieser Traum hielt ihn von dem völligen Versinken in Schlaf und Vergessenheit zurück.

Das weiße Haus – ja, wo war es? – Und er sprang auf, trank aus, bezahlte und ging. Er ging geradeaus unter der Bahn durch, mitten auf der breiten grauen Chaussee, und seine Füße wühlten achtlos den Staub in die Höhe, der ihn mit einer dichten Wolke umgab.

Nun lag das weite Feld offen vor ihm, und er ließ einen langen Blick über die weite Ebene schweifen. Aber was er sah, waren nur Felder und Wiesen, in denen sich hier und da ein Baum erhob. Vergebens suchte er nach den scharfen Konturen eines Hauses – des weißen Hauses: er konnte nichts entdecken. Dann glaubte er endlich, am äußersten Horizont zu seiner Rechten eine schwache Erhebung zu erblicken, die wohl ein Gebäude sein konnte. Und von neuer und über die Maßen quälender Unruhe ergriffen, sagte er sich, daß es das sein müsse. Dort zog sich die Bahn hin, mit der er gekommen war; dann verlor sie sich in dem großen Bogen um das Südende der Stadt – ja, dort ungefähr mußte es liegen; wenn jene dunkle Wölbung auf der scharfen Linie des Horizontes das Haus nicht selbst war, so konnte es doch nicht mehr weit davon sein.

Gewiß, es war kein Zweifel möglich, und wenn er in jener Richtung ging, mußte er entweder direkt auf sein Ziel losschreiten oder ihm doch so nahe kommen, daß er es leicht von da aus erblicken und erreichen konnte. Er maß noch einmal mit einem langen Blicke die große Öde vor sich: geradeaus zog sich die breite Chaussee dem Osten zu, links floß hinter dem Park die Spree, und rechts begann die freie Weite unübersehbarer Felder und Wiesenflächen. Ein offenbar wenig begangener Weg – halb Fahr-, halb Fußweg – führte über sie hin. Ihn mußte er gehen.

Zum letztenmal sah er die Chaussee hinunter, auf der ein Lastwagen in einer weißen Wolke träge dahinzog, dann bog er ab und begann mit schnellen, fast hastigen Schritten seinen Marsch über die Felder. Er sah nicht mehr auf, denn der Weg war holprig und steinig, und er mußte alle Augenblicke den tiefen, vor langem hier gezogenen Furchen der Räder ausbiegen, die den schmalen Fußsteig zerstört hatten. Es war ein ermüdender Weg, wie man ihn sich reizloser und eintöniger nicht denken konnte. Aber er schien es nicht zu empfinden. Er schritt, den Hut in der Hand, weiter und weiter, ohne aufzublicken, und die einzige Erholung, die er sich gönnte, war, daß er mit dem Tuch von Zeit zu Zeit über die Stirn strich, um den Schweiß wegzutrocknen. So ging er mit einer qualvollen Hast wohl eine Stunde, bevor er eine kurze Rast machte und sich von neuem umsah.

Er befand sich jetzt inmitten der unfruchtbaren Felder. Vor ihm und hinter ihm, wie er sich wandte, war nichts mehr zu sehen als der weite, runde Kreis flachen Landes, und immer noch waren es nur hier und da vereinzelte Bäume, die starr und regungslos die erdrückende Gleichmäßigkeit der Linien unterbrachen.

Von dieser schlecht bebauten Erde ging keine Kraft aus: die Felder lagen brach, und die Wiesen waren ohne Frische.

Überall sah der gelbe Sand des Untergrundes hervor und offenbarte die innere Unfruchtbarkeit. An dem glühenden blauen Himmel zeigte sich keine Wolke, nur die Sonne schien allmählich an ihrer eigenen mörderischen Glut zu ermatten.

Der Wanderer ließ nach einem langen Blick seinen Kopf wieder sinken und ging wie bisher – immer geradeaus, und als er ihn wieder hob, schien ihm eine andere Stunde vergangen. Fast nichts hatte sich verändert; er schien nicht weiter gekommen zu sein – diese Felder waren wie das Meer, immer gleich in ihrer schrecklichen Eintönigkeit und endlos, wie es schien ... Wie sollte er wissen, wo er war? –

Nur die Sonne hatte noch mehr von ihrer Glut verloren, und der Himmel etwas von seinem tiefen Blau. Auch der Bahndamm, den er bei seinem letzten Halt ganz und gar aus den Augen verloren, erschien wieder in weiter Ferne wie ein dunkler Streifen am Horizont. Aber von dem weißen Hause war keine Spur zu sehen. Und der Wanderer, der, ohne zu denken, gegangen und nur gegangen war, hatte es fast vergessen. Daß er so gehen und gehen konnte, immer weiter und weiter, auf den Weg achten mußte und den Kopf gesenkt halten durfte, schien ihn zu beruhigen und zu beglücken.

Seine Augen blickten klarer, und sein Gang wurde fester. Er zeigte keine Spur von Müdigkeit, im Gegenteil, er schien sie zu verlieren, je weiter er ging.

Jetzt, wo es etwas kühler zu werden begann, hätte er immer so gehen mögen, ohne Aufhören, immer hin über die schweigenden Felder.

Bisher war der Weg immer geradeaus gegangen; nun machte er eine leise Biegung dem dunklen Streiten am Horizont zu, als wollte er sich nicht zu weit von der Bahn entfernen und sich endlich dort in der Ferne wieder mit ihr vereinigen.

Der Mann begann die Wanderung seiner dritten Stunde. Jetzt trug er den Kopf nicht mehr gesenkt, sondern blickte geradeaus mit einem scharfen und suchenden Blick. Denn jetzt konnte sein Ziel nicht mehr fern sein, und er mußte es erreichen – noch bevor diese Stunde zu Ende war. Und wie er ging und ging, kam langsam die Dämmerung des Abends, und alles wurde anders um ihn her. Alle Farben verblaßten allmählich; zuweilen erhob sich ein leiser Wind, bewegte zart die Halme und verlor sich wie der sprachlose Hauch eines Mundes; und das Schweigen, nicht größer als bisher, nur ungefühlt und dumpf unter der heißen Helle der Sonne, wurde nun fühlbar und glitt über die Felder wie der tröstende Bote der kommenden großen Stille der Nacht. Mit dem Schweigen aber kam der Friede, und die Angst und die Unruhe waren von dem einsamen Gänger gewichen. Hier war er allein – der Herr dieser Einsamkeit und dieses Schweigens, und das Leben hatte seine Macht verloren an dieser Grenze des Seins. – Und in der leisen Dämmerung des Abends, beim Sinken der Sonne, die die luftigen Fluten am Himmel rosig färbte, kam es über ihn wie ein Rausch der Erfüllung, der seine lange Sehnsucht nun endlich stillen sollte. Er hemmte seinen Gang, der Stock entglitt seinen Händen, und indem er beide Arme weitaus in die Ferne streckte, flammten seine Augen, quoll zwischen den bebenden Lippen ein Laut des Entzückens, und er sah vor sich, noch in weiter Ferne, aber klar und deutlich – o so deutlich – das Haus, sein weißes Haus ...

– Ganz von Marmor lag es in dem weiten Park am See. Uralte Bäume umschlossen es von allen Seiten, und nur an einer Seite ging von der breiten Treppe ein langer, stiller Weg, den schlanke Zypressen umsäumten, zum See hinunter. Schwarz waren die Bäume und weiß die Wände des Hauses. Aber der weiße Marmor war nicht kalt, denn eine warme Stimme glitt über ihn und füllte alle Räume mit Leben und Liebe. – Das einsame Haus war nicht einsam, und das Leben in ihm war eine stille Süßigkeit ...

Und verlangender streckte der Mann seine Arme aus. Aber so schnell, wie es gekommen, verlor das luftige Bild an Schärfe, die weißen Mauern und die Zypressen des Parkes am See verschwanden in ungewissen Umrissen von Dämmerung und Schatten, und vor ihm lag nichts mehr als die leere Fläche der Felder, die sich weit dort hinten in beginnende Nacht verloren. Die Arme des Mannes sanken nieder, aber seine Augen blickten noch immer wie gebannt geradeaus. Denn auf dem Wege vor ihm bewegte sich langsam ein dunkler Punkt ihm entgegen, der immer größer wurde, je näher er auf ihn zukam. Noch war er so klein, daß er nicht sehen konnte, was es war. Aber wie gebannt blieb er stehen und ließ das Auge nicht mehr von dem langsam rollenden Fleck. Dann von Ungeduld und Erwartung getrieben, ging er wieder – blieb wieder stehen – und ging wieder schnell vorwärts, bis er erkannte, daß es ein Mensch war, der auf ihn zukam.

Da ging er nicht weiter.

Er erwartete ihn.

Und der dunkle Punkt wurde größer und größer, schien allmählich die ganze Breite des Weges einzunehmen und war dem Mann wie eine übermenschliche Gestalt. Er fühlte, wie ihn langsam ein Grauen packte und eine Angst, so stark, daß er hätte zurückfliehen mögen über die verlassenen Felder.

Er sah nicht, daß es eine alte, müde Frau war, die ihm entgegenkam; er sah nur einen drohenden, schwarzen Schatten, und lange, bevor er ihn erreicht hatte, trat er zurück von dem Wege in die Furchen des Feldes, faßte seinen Stock fester und erwartete die feindliche Gestalt. Sein Herz klopfte, und er fühlte, wie das Grauen ihn schüttelte ...

Die alte Frau kam keuchend heran. Sie war klein und verschrumpft, aber ein großer Sack gab ihr einen gewaltigen Buckel. Sie stützte sich auf einen langen Stock und ging trotz der Gebrechlichkeit ihres Alters mit schnellen, kleinen Schritten. Ihre Augen sahen nicht auf vom Boden, und ihre Lippen bewegten sich, unaufhörlich murmelnd und vor sich hin murrend – unaufhörlich ...

Sie sah den Wanderer überhaupt nicht, der am Wege stand. Sie glitt an ihm vorbei wie ein Schatten und verschwand in der Dämmerung ohne Spur. Er sah ihr noch lange nach, und es war ihm, als sei das Leben an ihm vorbeigeschritten, mühselig und beladen, schmutzig und armselig.

Auch er ging jetzt so weiter wie die Alte: die Augen auf den Boden geheftet und wie unter einer großen Last. Und auch seinen Schatten verschlang die Dämmerung des Abends. Er schritt weiter und weiter, aber er ging jetzt mutlos und ohne Erwartung, und der einzige Wunsch, den er noch hegte, war, so bald wie möglich nach Hause zu kommen.

Wie er den Bahndamm durchschritt und die Felder, die er seit so langen Stunden durchwandert, hinter sich ließ, da sah er plötzlich ganz dicht vor sich das Haus, das ihn zu dieser zwecklosen Wanderung verführt hatte. Ein Blick genügte, um es ihm zu zeigen, wie es wirklich war: ein schmutziger, viereckiger Kasten, im Erdgeschoß eine Fuhrmannskneipe, an der Hinterwand einige verkümmerte Bäume um einen stagnierenden Tümpel herum ... Sein weißes Haus!

Er wollte eilig vorbeigehen, ohne es noch einmal mit einem Blicke zu streifen, und den nächsten Ringbahnhof noch erreichen, bevor es völlig dunkel wurde, aber er vermochte es nicht.

Er glaubte die Viertelstunde nicht mehr gehen zu können, die noch vor ihm lag. Und er ging um das Haus herum in den kleinen Garten, der völlig leer war. Er setzte sich an einen der staubigen Tische auf die harte Bank und wartete darauf, daß jemand kommen möge.

Von dem trüben Gewässer stieg ein unangenehmer, fauliger Geruch auf; vom Schenkzimmer her tönte zuweilen lautes Lärmen und rohes Gelächter. Irgendwo in der Nähe mußte ein Stall sein; sein Dunst mischte sich mit dem der Pfütze. Es wurde dunkel unter den traurigen, schweigenden Bäumen.

Niemand kam, um den einsamen Gast zu bedienen, und dieser war zu müde, um noch einmal aufzustehen und zu rufen. Er fühlte die Müdigkeit in seinen Füßen und Knien plötzlich so stark, daß sie fast schmerzhaft war und doch zugleich verbunden mit der süßen Mattigkeit der Ruhe. Sie war stärker als Durst und Hunger, und er vergaß beide darüber, im Wohlgefühl, so sitzen zu können. Die Unruhe, die ihn zerrte und riß, und die Angst, die ihn folterte ohne Grund – sie hatten ihn nun verlassen, und er fühlte sich losgelöst von dem Leben in der tiefen Gleichgültigkeit der Erschöpfung. Jetzt stand er sich selbst gegenüber und war fähig, sich selbst zu sehen; daher dachte er jetzt nach über sich selbst.

Was war der Grund seiner Krankheit? – Wonach sehnte er sich eigentlich? – Wenn je, so mußte er heute abend die Antwort finden.

So war es nun schon seit Jahren: alles erregte die Begierde seiner Sehnsucht, nichts stillte sie mehr. Keiner seiner Wünsche ging mehr nach innen. Alles in ihm drängte nach außen und griff mit hastigen, gierigen Händen nach allem, was an seinen Tagen vorbeiging. Die wüste Oberflächlichkeit der Außen-Menschen, die er so verachtete, hatte ihn ergriffen, wenn auch in anderer Weise. Denn jenen waren ihre lauten Tage nur Bälle, die sie sich gegenseitig zuwarfen wie leere Worte, und sie zerplatzten in der Luft; aber er durcheilte sie stumm, um die Stille seines Innern wiederzugewinnen, die er so ganz verloren.

Das war der Zwiespalt, das war seine Krankheit: er wußte, er konnte nie in den Tagen finden, was er suchte, außer indem er sie preisgab und sich zurückzog auf sich selbst; und er fühlte, er konnte sie nicht lassen, denn sein Leben war kalt geworden ohne ihre äußerliche Wärme.

Er neigte seine Stirn tiefer über den Tisch, und der Ausdruck seiner Züge wurde noch gramvoller, wie der eines Verzweifelnden. Warum kümmerte sich niemand um ihn? – Er hatte Durst – aber er war zu müde, um aufzustehen.

Er dachte weiter. Wonach sehnte er sich noch? – Was konnte es sein, da er doch alles genossen und alles gelitten hatte, was das Leben einem Menschen geben und nehmen konnte – alle Freuden, alle Leiden? Was konnte es noch sein? –

Alle Freuden: er hatte das Leuchten eines Auges gesehen, entzündet an der Glut des seinen; die warme und liebreiche Umarmung stiller Tage und unvergeßlicher Nächte beglückt und schaudernd empfunden; die edelste und treueste Freundschaft genossen in ihrer höchsten Blüte: der Gemeinsamkeit der Idee. Er hatte die Länder und Meere gesehen, wie sie am Morgen im goldenen Glanze des ersten Lichtes und am Abend im silbernen des letzten lagen, und sein Auge hatte sie umspannt; seine Kräfte geübt an Werken, die den Tag seines Lebens überdauerten, und den Flügel des Ruhmes gespürt, so süß, wie er nur die ungekrönten Stirnen berührt; und das Lächeln und die Tränen einer Mutter hatten lange seine Wege begleitet ... was hatte er nicht genossen? –

Und er hatte alles gelitten. Er hatte dahinsterben sehen, was er liebte, – rettungslos, und sein Blut war entströmt aus Wunden, die sich nie mehr schlossen; die tiefe Gemeinheit der Gewöhnlichkeit hatte ihn beschmutzt, und er hatte sich nicht reinigen dürfen; er hatte jede Sorge und fast die letzte Not kennengelernt in Jahren, die tief unter dem Niveau der Lebensmöglichkeit lagen; und Freundschaft und Liebe waren ihm geraubt worden – nicht durch den Tod, sondern durch eigene Schuld. Krankheit hatte mit seinem Mut gerungen, bis sie Siegerin wurde und nur mit Preisgabe letzter Kraft noch gebannt wurde ... was hatte er nicht gelitten? –

Was wollte, was begehrte er noch? – Wonach sehnte er sich? –

Es war nun ganz dunkel geworden unter den Bäumen, und das Gelächter und der Lärm in der Schenkstube hatten aufgehört. Und wie er so dasaß und vor sich hinsah, da fühlte er plötzlich, daß es der Tod war, den er ersehnte.

Und es wurde ganz still in ihm. Nur sein Kopf senkte sich noch tiefer über den Tisch wie in stummer Ergebung ...

Noch lange saß er so da. Aber er dachte an nichts mehr. Er wartete. Und so würde er von nun an warten – still und geduldig, bis der Erlöser kam, der ihn heute schon berührt und mit dieser einen Berührung alle Angst und alle Unruhe für den Rest seiner Tage von ihm genommen.

Nie in seinem Leben hatte er ein solches Glück empfunden wie in dieser Stunde, die ihm Gewißheit und mit ihr den Frieden gebracht.

Das weiße Haus hatte ihm sein Versprechen gehalten. Als er sich endlich erhob und ruhig und sicher an den Bänken und dem Hause vorbei die Landstraße hinunterschritt, bemerkte ihn der Wirt, der am Fenster stand; und verblüfft und ärgerlich über diesen anständig gekleideten Gast, der aus seinem Garten kam und nichts verzehrt hatte, sah er ihm nach, wie er in dem Dunkel des Abends verschwand.


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