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Fort rannte der Dichter in die Maiennacht, die ihn sänftiglich mit ihrem dunkelblauen Samt umhüllte und das milde Licht ihrer Sterne ins Poetenherz träufelte. Aber dieses Herz wollte nichts wissen von Maienwonne und Sternenschimmer, es brannte im Zorne und unbegreiflichen Schmerz und zuckte wie eine Fackel im Sturmwinde. Das Pflaster war schlecht, und die Gassen waren finster, aber noch finsterer war sein überempfindliches Gemüt, und jeder Schritt auf den holperigen Wegen im rotbrandigen trüben Schein der spärlichen Öllampen verursachte ihm Kopfweh, davon er sein Haupt wund fühlte, als wäre er mit diesem Kugelpflaster und Granitwürfeln gesteinigt worden.
In schattenhaften Umrissen tauchte der Legendenbrunnen wieder auf, die Rätselfrauen schienen vermummt und in Schlaf gesunken, das Wässerlein redete im Traum. Der Dichter wurde seltsam. Er blieb stehen, erhob die Hand, halb winkend, halb abwehrend gegen das Brunnenphantom und rief: »Was wollt ihr von mir, Schicksalsfrauen! Warum seid ihr mir nachgelaufen? Hab' euch erkannt, euch drei, wenn ihr jetzt auch tut, als ob ihr nicht bis fünfe zählen könnt. Kenn euch beim Namen: Netty, Kathi, Pepi! Welche ist es, die Freuden und Leiden ins Lebensgespinst einflicht? Die mittlere der drei Parzen ist es. Und wenn ich dich frage, wie du heißt, wirst du wieder dein vorlautes Göscherl auftun und schnippisch antworten: Kathi heiße ich! Ich habe Sie aber gar nicht gefragt, und danke Ihnen schönstens für die Ehr'!«
Es war ihm ordentlich leichter und freier zumute, als er an den duldsamen Brunnenfrauen seine grillige Laune austoben lassen durfte, indem er sie mit den Fröhlichs verglich. Er redete sich in eine neue Giftigkeit hinein, aber er konnte nicht verhindern, daß seine Phantasie die mittlere der drei Parzen mit den Zügen der Kathi ausstattete, und daß er sie licht und hold immer vor seinen Augen sah. Er hatte das demütigende Gefühl, sich linkisch und ein wenig lächerlich benommen zu haben, und er maß dem Mädchen alle Schuld bei. Aber seine Seele wurde der Anwalt der Hübschen, wie heftig er auch dagegen stritt und sie zu bemängeln suchte. Er zwang sich, ihre etwas freie Art und ihr ungebundenes Benehmen unschön zu finden und vermeinte eine heftige Abneigung dagegen zu spüren. Schon wie sie die zum Gruß dargebotene Hand nach Männerart erfaßte, war ihm unausstehlich. Die Augen – es ist ja wahr, daß es schien, als ob neben ihr niemand Augen hätte als sie, und als ob sie selbst nur in ihren Augen (da wäre – diese dunkelrollenden Augen hätten weniger herumschießen sollen, dann hätte er ihnen vielleicht mehr Geschmack abgewonnen. Aber während er dies dachte, sah er immer das Blitzern der dunkelbraunen Bälle, die scharf fassend, leicht beweglich, alles bemerkten und jedes Wort, jede Bewegung einträchtig begleiteten, obgleich es ihm nur als eine Erinnerung an einen eher merkwürdigen als anziehenden Gegenstand vorkommen wollte. Noch weniger natürlich konnte er den Ton und die Gebärde des Schulknabenjuxes, darin sie sich gefiel, billigen. Er kam zu diesem Schluß: »Mein Frauenideal ist sie nicht.«
Es fiel ihm dabei sofort ein, daß er hingegen auch nicht ihr Männerideal war. Wie hatte sie gesagt? Mehr Jason, mehr Heldenhaftigkeit! Du lieber Gott, das ist doch der simpelste Backfischbegriff! Aber schon erschrak er wieder bei diesem Gedanken, denn als Dichter der »Medea« hatte er Jasons edle Männlichkeit, von der die Mädchen entzückt waren, selbst erschaffen. Er hatte ihr diesen Backfischbegriff eingeimpft. Doch sein Gemüt haderte weiter: »Der Jason tät ihr schon g'fallen, das glaub' ich gern; ob aber sie dem Jason g'fallen tät, da müßten wir doch einmal ihn selber fragen. Nachdem aber der Jason doch von mir ist, und ich aus diesem Grunde dem Jason seinen Geschmack kennen muß, so könnt' ich der Mamsell Katharina schon die rechte Auskunft geben, wenn einem die besten Gedanken nicht immer zu spät einfallen würden. Dem Jason sein Frauenideal ist: Hingebung, gerade das, was dem wohlgeborenen Fräulein Kathi Fröhlich ganz und gar fremd zu sein scheint. Hingebung ist auch mein Ideal von der Weiblichkeit. Also hab' ich doch mehr vom Jason, als die Mamsell bemerkt haben dürfte. Aber es ist ja zu dumm, daß ich mich darüber so ärger'.«
Er stand jetzt vor dem Schottenhof. Heimgehen? Keine Spur. Es war ihm unmöglich, sein unruhvolles und beschwertes Herz in die Einsamkeit seiner Klause zu tragen, dort würde ihm noch schwerer zumute werden. Von Schlafen konnte ja vorderhand keine Rede sein. Er wollte Menschen und Lärm um sich haben, gerade das, was er sonst scheu mied. Fremde Menschen, unter denen man wirklich einsam sein konnte, und Lärm, der für seinen Zustand das war, was die Narkose gegen den Zahnschmerz ist.
Er überlegte einen Augenblick und ging dann so rasch, als es die dichte Finsternis in dem Gewirr von Gassen und der holperige Weg erlaubte, ins Paradeisgartl auf der ziemlich nahen Löwelbastei. Aus den hohen Fenstern der Wirtschaft strahlte Licht, es waren noch viele geputzte Menschen da, und im Garten saßen beim Scheine der Windlichter noch einige Tische voll Leute, Schwärmer, die sich von der lauen Frühlingsnacht nicht trennen konnten. Hier war es schön zu sitzen. Der Wind, dieser echte Wiener Gassenjunge, der sonst wie ein unverschämter Schusterbub pfiff und heulte, auf dem Glacis unten Sandhosen aufwirbelte, den Leuten ganze Tüten Staub ins Gesicht warf, hohnlachend wieder um die Ecken war, Passanten an den Laternenpfahl hinschmiß, den Dämlein die weiten Röcke aufbauschte und in die Höhe wirbelte, ihnen den Chapeau von dem lockenbekränzten Haupt riß, die Zylinder der Herren auf dem Katzenkopfpflaster hopsen ließ, bum, bum, und ihn ganz zerbeulte, ehe er ihn großmütig wieder seinem hinterherjagenden Eigentümer überließ: derselbe Wind, der sich hier den tollsten Schabernack erlaubte, atmete heute wie ein süß schlummerndes Knäblein und wälzte mit traumhaften Händen Wohlgerüche von den Wienerwaldhöhen und von den sanften Geländen herüber, wo der junge Wein blühte. Im Paradeisgartl auf der Löwelbastei saß man wie im Luftballon hoch über der Erde, die im Schlaf lag, von Dunkelheit umhüllt. Unten auf dem Glacis brannten einige Lämpchen, die wie Nachtlichter aussahen; zuweilen kam ein verirrt er Traumschrei herauf, Hundegebell, eine verwehte Menschenstimme, und dann war wieder das leise Flüstern der jungbelaubten Bäume. Drüben die Lichtlein zeigten die hohen Häuser der Vorstädte an, die ganz in die blauschwarze Nacht entrückt schienen. Die Sterne tränten vor Licht und hingen in langen Tropfen.
Franz ging auf einen leeren Tisch zu, der abseits am Gartenrande stand und einen Tiefblick gewährte. Dort war es gut zu munkeln in der Wohligkeit der Mainacht und in der nicht zu nahen Nachbarschaft der Geselligkeit, deren Lärm gemildert herüberklang. Aber da rief ihn schon von einem der lautesten Jung-Männer-Tische eine bekannte Stimme an, die Gesichter der anderen wendeten sich nach ihm: »He, Franz! Bei uns ist Platz genug.«
Jugendfreunde und Bekannte; er mußte sich, ob er wollte oder nicht, zu ihnen setzen.
Der ihn angerufen hatte, war sein Vetter Alexander von Paumgartten. Augenblicklich stand Lottes Bild vor Franzens Seele, sie, die er heimlich und sündhaft liebte und über einer neuen Begegnung, die ihm nicht einmal erfreulich schien, ganz und gar vergessen hatte.
Unsicher in Ton und Miene begrüßte er den Vetter mit der etwas hastigen Frage: »Und deine Frau?«
»Zu Hause; sie hat wieder ihren Kopfschmerz und konnte nicht mitgehen. Wir haben eine Landpartie gemacht.«
Keiner von den Tischgenossen ahnte die innere Bewegung, die sich hinter der erkünstelten äußeren Ruhe verbarg.
»Kopfschmerz!« dachte der Dichter, »natürlich war das eine Finte. Auf mich hat sie gewartet. Und dieweil sie sich in Sehnsucht verzehrt, bin ich drei Frauenzimmern nachgelaufen. Böser Zauber! Das heißt, die Brunnenhexen sind mir nachgelaufen. Aber ich hab mich verführen lassen. Ich hätt' meinem Kopf folgen und nicht hingehen sollen. Das Glück wartet auf mich, und ich renn dran vorüber, wie halt immer, wie immer, ich Esel, dreimal g'schlagener Esel!«
Während ihn sein Herz anklagte, tauschte er Grüße mit den Freunden, die bei aller ungezwungenen Kameradschaftlichkeit des Verkehrs für den Dichter doch einen unbewußt huldigenden Respekt an den Tag legten. Fast alle sprangen auf, jeder bot ihm seinen Platz als den besten.
»Mögen S' da sitzen, Herr Grüllpatzer,« sagte Johann Mayrhofer, der sich gerne hochwürdig und feierlich gehabte wie ein Priester, als trüge er noch das geistliche Gewand eines Novizen zu St. Florian, das er aus Freiheitsdrang abgeworfen, um nun in neuer Abhängigkeit als Beamter vom kümmerlichen Staatssolde zu leben. Beim Wein aber und unter guten Freunden vergaß er die Hochwürdigkeit, vergaß Beamtenelend, glänzte in munterer Laune und schwelgte im Freiheitsrausch wie der erstbeste junge Hitzkopf und konnte dann sehr ungebärdig werden. Auch er war Dichter, ebenso wie seine Amtskollegen, der friedsame Paumgartten und der stille, ideale Joseph von Spaun, der neben ihm saß; wie die anderen glich auch er auf diese Weise die Widersprüche seines Lebens aus. Diese jungen Männer boten alle dem großen Franz ihre Stühle an, aber er dankte mit bescheidener Freundlichkeit und setzte sich an eine Tischecke neben Franz von Schober, den weltgewandten Schweden, der sich geistig ein wenig nach Lord Byron stilisierte und neben Moritz von Schwind, den lieben kleinen Kerl mit den seelentiefen Künstleraugen, der sich nur wenig an der Unterhaltung beteiligte, dafür aber um so eifriger auf dem Tischtuch kritzelte und wunderliche Gestalten ersann. Zwischen dem Poeten, Liebhaber und Weltmann und dem aufstrebenden künstlerischen Genius seiner Zeit, saß ungeachtet seiner Berühmtheit der de- und wehmütige Dichter der »Ahnfrau« und der »Medea«, von Gewissensschuld bedrückt, die ihn innerlich einem Jason durchaus ähnlich machte. Das hatte Jungfer Kathi freilich nicht bemerken können. Wartburgstimmung und politischer Katzenjammer spukte in dem jungen Kreis, gerade das, was der in sich gekehrte Grillparzer nicht eigentlich liebte. Aber, es war ihm jetzt recht so, er konnte sich unter den stürmischen Jünglingen still verhalten und mit seinen Gedanken allein sein, wie er es ja gesucht hatte.
»Aufschreien tut's in mir manchmal, daß ich glaub', es z'reißt mir's Herz,« rief leidenschaftlich der von josefinischen Ideen erfüllte Mayrhofer, der das Zeug eines prächtigen Demokraten und Freiheitsmannes hatte, wenn er nur nicht zu spät oder zu früh auf die Welt gekommen wäre. »Wo soll's denn hin mit unserem Österreich, wenn's so fortgeht?! Schauts euch um und um, Talent über Talent! Jeder ein halbes oder ein ganzes Genie, ein g'sundes und tüchtiges Volk, ungemünzte Schätze im Lande, und dennoch geht nichts vorwärts. Wir ersticken noch in Streusand, Aktenstaub und Polizeiverordnungen. Manchmal ist mir, als müßt' ich die Faszikeln hinhauen, einen Strich über den ganzen Quark machen und die Amtstüren aufreißen, daß ein bissel Luft und Licht rein kann, ein bissel Freiheit ...«
»Pst, pst!« machten Paumgartten und Spaun fast zugleich und deuteten mit ängstlichen Mienen nach dem Pavillon. »Nöt so laut, Mayrhofer! Siehst denn nicht den Sedlnitzky dort?« Alle guckten verstohlen nach dem Portikus, wo der gefürchtete Polizeipräsident, dessen Macht größer als die des Kaisers schien, in Begleitung seiner Damen den Saal verließ und einen Wagen bestieg.
»Ach was!« murrte Mayrhofer unwillig, obschon mit sehr gedämpfter Stimme; »soll's hören! Einem pflügenden Ochsen das Maul verbinden, hat schon die Bibel verboten. Ihr müßt's doch zugeben, daß Sünd und Schad ist um uns. Nennt mir in der ganzen Welt einen Ort, wo halbwegs soviel Prachtkerle beisammen sind, die der Welt ein Loch hauen können, als gerade hier. Und da soll man nicht einmal ordentlich auf den Tisch schlagen und mit einem Himmel Sakrament dreinfahren können?! Es ist zum Weinen, wenn man bedenkt, was wir sein könnten und nicht sein dürfen!«
»Weimar,« schalt Schober ein. »Weimar würde auch dann der Parnaß bleiben.«
»Ja, ein Schmarrn!« schnaubte der fuchtige Mayrhofer. »Weimar ist aus. Schiller ist tot, Goethe ist alt und überdies kein Freund der Jugend. Die neue Blüte ist hier, bei uns zu Hause. In Weimar kannst du jetzt nur mehr existieren, wenn du berühmt und g'storben bist.«
»Hast ja recht, Mayrhofer,« beschwichtigte der versöhnliche Paumgartten und hob sein grüngoldenes Weinglas; »ich bin ganz deiner Meinung. Aber man kann nicht alles Gute zugleich verlangen. Unser Lebensglück ist hier zu Hause, das kann uns nicht genommen werden. Solange wir unsere Liebe haben und diesen guten Wein und das bißchen Drum und Dran, tausche ich nicht mit dem Gott von Frankreich. Das weiß unser Freund Schober, sonst wär' er nöt hier, und das wissen viele andere auch, die hergekommen sind und nicht mehr fortgehen. Sie sind glücklich, obzwar sie leiden, und sie leiden, obzwar sie glücklich sind.«
Grillparzer belohnte den Sprecher mit einem Aufleuchten seiner blauen Augen, und Schober rief in seiner etwas gesuchten Redeweise pathetisch aus: »Mensch, Sie reden prophetisch wie ein göttlicher Mund! Nur ein Gott konnte Ihnen diese Erleuchtung geben, die für mich ein Schicksalsspruch ist, von so bindender Gewalt, als hätte die Priesterin von Delphi ihn gesprochen.« Er nahm sein Glas, nickte dem Paumgartten zu, stieß aber dann leise mit seinem Freund Spaun an und seufzte: »Auf Marianne!«
Spaun ergriff unter dem Tisch die Hand des Freundes, drückte sie und flüsterte: »Es wird alles gut werden. Die Mutter ist halt ängstlich um Marianne. Das Mädel ist ein gar zartes und frommes Geschöpf und zerbrechlich wie dünnes Glas. Du mußt dich in Geduld fassen und abwarten; was nicht ist, kann noch werden.« So tröstete der Freund und Bruder den hoffnungslosen Freier, und so zeigte sich, daß auch er, der Glückliche und Unabhängige, der seiner Laune und seiner Liebe leben konnte, ein Leid trug wie jeder der seligen Jünglinge, die hier wie im Feuerofen saßen und sangen und ein schmerzensreiches Glück genossen, der eine im Feuerofen der Liebe, der andere im Feuerofen seiner Ideale, alle aber im Feuerofen einer unbestimmten Sehnsucht.
Aber auch den Dichter und Konzeptspraktikanten Franz Grillparzer hatte der Ausspruch seines Vetters ans Herz gegriffen. Der hatte das richtige Wort ausgesprochen. Franz hatte die Empfindung, daß es schier für ihn gemünzt war und nahm es für sein Schicksal in Anspruch. Er saß im Glück und wußte nur von Leid; er litt und wußte nicht, daß er vom Glück gesegnet war. Der Wurm fraß an seinem Herzen, und dieses Herz wand sich und schrie: Betrüger, Betrüger! Hastig trank er den Wein hinein, um die Qual zu betäuben. Aber der Wein hatte eine feurige Zunge, und die feurige Zunge wiederholte die Schmach. Betrüger ward er an dem ahnungslosen Vetter, der vor ihm saß, und Betrüger ward er an der Geliebten, die er vergebens harren ließ. Und jetzt wurde er zum drittenmal Betrüger, indem er an sie dachte und immer wieder Kathis Augen vor sich sah. Und er ertappte sich dabei, daß sein Denken jetzt wirklich weniger der Lotte als der Kathi gehörte. Ob er ihr nicht doch vielleicht weh getan hatte? Ob er nicht doch vielleicht am Ende ein bißchen zu grob war? Ja freilich war er zu grob, gewiß hatte er ihr weh getan. Oh neue Reue, oh neuer Schmerz!
»Ös Backhendeldichter, Zufriedenheitspoeten, Phäaken!« wetterte der heute weltschmerzlich aufgelegte Mayrhofer. »Gibt's denn nichts Wichtigeres auf der Welt als Backhendel, Gumpoldskirchner und Techtel-Mechtel? Mir genügt eine g'stopfte Pfeifen, die ist mein Backhendel, mein Wein und meine Liebschaft. Aber was zum Leben noch wichtiger ist: denken dürfen, schreiben dürfen, reden dürfen! Da sollt' ihr sehen, wie unsere Bäume in den Himmel wachsen! Preßfreiheit, Denkfreiheit, Redefreiheit, Aktionsfreiheit! Das ist nämlich wichtiger als Backhendeln, verstanden!«
»Da muß ich dem Freund Mayrhofer recht geben,« ließ sich der stille Spaun vernehmen. »Wie not tät uns die Volksaufklärung, die Bekämpfung des Aberglaubens, der Trunksucht, der Freßsucht und der Spielwut. Was nöt durch die Gurgel g'jagt wird, geht am kleinen Lotto verloren. Daß der Staat selber den Sittenverderber spielt, ist eine wahre Schand für uns. Das erste, was ich tät, wenn der neue Wind in Österreich geht, wär' die Aufhebung des Lottos.« Die Philippika gegen das Lotto war Spauns Steckenpferd.
»Ja, wie kommt es denn eigentlich,« neckte Paumgartten, »daß du, Mayrhofer, mit deinen Freiheitsideen in der Zensur arbeit'st und den Geist anstatt zu befreien, knebeln hilfst? Und wie kommt es, daß du, Spaun, mit deinem Haß auf das Lotto, gerade beim Lotto angestellt bist? Ich prophezei' euch, daß du, Mayrhofer, in Anerkennung deiner Verdienste um die Unterdrückung der Geistesregungen in Österreich zum Chef der Zensurbehörde avancierst, und daß Spaun mit dem Posten eines Lottodirektors ausgezeichnet wird. Müßts halt schauen, daß mit eueren Ideen hübsch hinter Berg bleibts, sonst ist die Karriere verpfuscht.«
Das war das Mittel, den überschäumenden Mayrhofer wieder zahm zu machen.
»Amt ist Amt, und Pflicht ist Pflicht. Deswegen darf der Mensch auch seine privaten Ansichten haben.«
»Das ist es ja eben, lieber Mayrhofer, daß im bureaukratischen Staat auch der Mißbrauch eine geheiligte Person ist, wenn er Geld einbringt und besonders dann, wenn ein paar Beamte davon leben müssen. Dagegen kannst nix machen. Solange die Freiheit eine private Ansicht ist, die weder gesagt noch geschrieben werden darf, solange der Staat den Lotteriekreuzer braucht, um seine Beamten zu bezahlen, wird sich nix ändern. Kannst lang warten, bis bei uns der neue Wind geht. Und was wird denn nachher sein? Wie schaut's denn eigentlich mit deiner vielgerühmten Freiheit aus? Freiheit ist das Recht, sich von einer Abhängigkeit in die andere zu begeben. Und wenn du von der Abhängigkeit nichts wissen willst, dann ist Freiheit das Recht zu verhungern. Du verzichtest zwar, wie du sagst, auf Backhendel, Gumpoldskirchner und Techtel-Mechtel, aber eine g'stopfte Pfeifen möchst, gelt ja, du Schlemmer! Die g'stopfte Pfeifen ist für dich alles zugleich, Backhendel, Gumpoldskirchner und Techtel-Mechtel. Aber sie ist noch mehr für dich. Deine g'stopfte Pfeifen ist für dich der Traum von Freiheit und Unabhängigkeit. Im Pfeifenqualm bist du der göttliche Mensch, der über der Misere steht, in Gedichten denkt und Ideen im Kopf herumträgt, wie Rosinen. Du könntest so herrliche Rosinen im Kopf gar nicht herumtragen, wenn du nicht deine g'stopfte Pfeifen hättst, die dir die Ruhe und Überlegenheit gibt. Siehst du also: dieser g'stopften Pfeifen zulieb, die einen Dichter und Freiheitsapostel aus dir macht, wirst du deine Beamtenpflicht tun und die Freiheit weiterknebeln. Hast auch vollständig recht. Die wahre Freiheit ist eine innere Angelegenheit, und der kann keine Zensur was anhaben. Hab' ich nicht recht, Mayrhofer? Na also prosit, mein liebwerter Pfeifenpoet!«
Aber die Ansichten des geruhsamen Paumgartten konnten Mayrhofers drangvolles Herz nicht beschwichtigen. Dieser schüttelte unwillig den Kopf: »Es ist so, aber es ist doch auch wieder nicht so.«
Die Streitfrage war ja weggeredet worden, aber man hatte sie nicht gelöst, weil sie nicht zu lösen war. Die ungestillte Sehnsucht verblieb, jener seltsame Zustand, der dem Mann des Lebens unerträglich, dem Dichter aber um so willkommener ist.
»Wenn alle Strick' reißen, geh' ich nach München,« sagte plötzlich der kleine Schwind, der bis jetzt eifrig gestrichelt hatte; »dort lebt die Kunst.«
Richtig saß auf dem Tischtuch ein kleines Gemälde, ein Liebespaar im Kahn, das donauabwärts fuhr. Aber der Jüngling trug das Konterfei des Franz von Schober, halb Werther, halb Childe Harald, und die züchtiglich ehrbare Jungfrau hatte unverkennbar Mariannens Züge.
Der wohlgelungene Künstlerscherz heiterte die Gemüter wieder auf; die Jünglinge, die eben noch abgespannte und vom sorgenden Denken gequälte Gesichter hatten, wurden wieder lebensfrisch; jeder, der ein geheimes Leid trug, umwand es mit einem Strauß von Scherz und fröhlichem Lachen und im Handumdrehen hing der Himmel wieder voller Baßgeigen. Trübsal blasen und Elend geigen konnte im Paradeisgartl nicht lange bestehen.
»Das hast in München nöt, Moritzl,« meinte Paumgartten. »So lang wir da sind, und du, und s' Mondscheinhaus, und Schubertl und die vielen anderen, die zu uns g'hörn, lebt die Kunst nicht in München, sondern hier.«
Der Name Schubert hatte alle mit einemmal elektrisiert. Alle kannten ihn, alle liebten ihn, alle priesen ihn. Kaum war das Wort aufgeflogen, als es am Tisch zu summen und brummen anfing, als ob die Baßgeigen, die am Himmel hingen, gestimmt würden. Abgerissene Fetzen von Melodien gingen jedem durch den Kopf, dem einen dies, dem anderen ein anderes Stück; es war, als ob in diesem Augenblick der liebe kleine Zauberkerl in jeden hineingefahren wäre, und in jeder Seele nun ein fideles Gesäusle und Gemiaue anhübe. Nun war das Leid wirklich ganz tief hinabgesunken, brunnentief, zu den Sternen, die unten liegen, und das Glück saß oben bei den Jünglingen, die nun wirklich aus Leibeskräften sangen, als ob sie im Feuerofen wären. Und dieses Glück gab ihnen einer, ein einziger, von dem es hieß, daß ihm das Leben keine Enttäuschung und keinen Schmerz bereiten könne. Franz wurde ganz nachdenklich darüber. Also wirklich einer, der glücklich, ganz glücklich ist? Ein einziger unter so vielen hunderten und tausenden Menschen? Und einer, der von seinem Reichtum weitergeben, ihn sorglos verschenken kann, und so dieses eigene Glück über die anderen verhängt, daß sie ihr eigenes Selbst vergessen und in der Seligkeit herumschwimmen, die in lauter Melodien aufbrodelt! Es schien ihm ganz unbegreiflich, daß in dieser Welt wirklich einer lebt, der nichts anderes als eben glücklich ist. Er war nun wirklich neugierig geworden, und wenn es nicht schon vorher festgestanden war, so wurde es sein unerschütterlicher Entschluß: »Ich gehe doch hin!«
Dieser Gedanke war eine schöne Rosine, die viel Süßigkeit enthielt. Die Freunde hatten sich erhoben und nun ging's Arm in Arm die Löwelbastei hinunter. Schober, etwas ete petete, ließ seine sorgfältig gepflegten Weltmannsallüren fahren und benahm sich ebenso göttlich ungebunden, wie die anderen. Der sanfte Liebesschmerz, der betörende Wein, die lindlösende Mainacht, und gar nicht zuletzt der Geist des geliebten Freundes Schubert hatten diese Verwandlung bewirkt.
»O Bächlein meiner Liebe ...« stimmte Schober an, und die anderen sangen mit. Sogar der scheue und einsilbige Herr Konzeptspraktikant und Dichter, dem das Lied, als er es von den Fröhlichs gehört, nicht mehr aus dem Sinn gegangen war, tat im Chorus weidlich mit. Ärger und Unruhe waren verweht, und in der lichten Seligkeit des Liedes stand Kathis Bild vor seinen Augen. Diesmal war es lieblich anzuschauen, von keiner Unmutswolke umflort.
Die Nacht hatte einen tiefen, verheißungsvollen Sinn und verschenkte sich mit ihren Sternen, ihren Blüten, ihren Liebesworten und ihren sehnsüchtigen Weisen, daß den Schläfern in den stillen Gassen, die den Gesang der Jünglinge hörten, im Traum das Lächeln eines unbewußten Glücks auf die Lippen trat. Die Freunde waren in solchen Eifer geraten, daß sie die Polizeiwache, die wegen Ruhestörung einschreiten wollte, überschrien und sich, von der Macht des Gesanges hingerissen, wie die richtigen Revolutionäre benahmen. Beinahe hätte die Harmonie in einem Mißton geendet, aber ein Polizeisoldat, instinktiv von der Ahnung des Schönen ergriffen, winkte seinen Kameraden ab, und die Wache selbst ging andächtig horchend hinter den singenden Nachtschwärmern her und rief da capo, weil das Lied für sie zu früh zu Ende war. Was im Streit nicht zu erfechten war, hatten die Jünglinge, unbewußt vielleicht, in diesem Augenblick genossen: die Freiheit, die sie ersehnten und die nirgends so rein und so vollkommen zu verwirklichen ist, als in der Kunst.