Otto Ludwig
Die Heiterethei und ihr Widerspiel
Otto Ludwig

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»Ich wollt' wer weiß was drum geben,« sagte die alte Annemarie, indem sie ihr Lämpchen anzündete, »wenn Ihr das nicht hättet gemacht, Annedorle. Die größten Weiber, wo in der ganzen Stadt sind, habt Ihr auf Euch verbittert. Ich kann nix dazu. Wenn ich Euch wollt' abhalten, seid Ihr nur immer noch wilder geworden.«

»Weil ich recht hab' gehabt!«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Davon wär noch zu reden,« sagte sie, »und wenn man auch nicht am Gründonnerstag Sechzig ist gewest.«

Die Heiterethei sah sich nach der Alten um, ob diese die Redensart der Valtinessin anwende, um sie zu verspotten. Da diese aber völlig ernsthaft, ja, mit Andacht weitersprach, öffnete die Heiterethei das Fenster, um nichts weiter zu hören.

»Ja, wenn's Euresgleichen wär' gewest,« spann die Alte an dem unsichtbaren Rocken der Weberin. »Die armen Leut' haben nur gegen arme Leut' recht. Die großen Leut' sind wie das Wetter, das muß man nehmen wie's kommt, und wenn's gut ist, so ist man froh und bild't sich doch nicht ein, es hätt' gut Wetter müssen sein. Denn warum? wenn's schlecht ist, muß man immer denken, es könnt' noch schlechter sein, und man müßt' sich's auch lassen gefallen.«

Die Heiterethei wandte sich heftig vom Fenster nach ihr um. »Und da meint Ihr, die armen Leut' müssen denen ihre Wetterhähn' sein und müssen sich drehn, wie die blasen! Ja, Ihr seid so eine, die krumm läßt grad sein, wenn nur die Valtinessin einen gnädigen Nicker macht, wenn Ihr an ihr vorbeigeht und Euch bis auf die Erden verneigt. Meinethalben sind sie die größten Weiber in der Stadt; ich bin ich und fürcht' mich vor der ganzen Stadt nicht, geschweig' vor Euern dummen großen Weibern. Und nu geht und macht mich nicht vollends noch wild.«

»Ich wollt',« sagte die Annemarie, »ich wollt' lieber, Ihr wär't vier Jahr' lang in keine Kirchen gekommen.«

Sie setzte die Lampe, die sie eben aufgenommen hatte, wieder auf den Tisch.

Aber die Heiterethei sagte ungeduldig: »Der Diktes hat getüt't; macht, daß Ihr 'nauf kommt in Euer Stüble.«

Die Alte nahm die Lampe wieder und sagte vor Kummer und Verletztheit in ihrem eigenen Ton: »Ich wollt' – ich wollt' – aber Ihr – nicht einmal den Neiger habt Ihr mir zulieb getan – Ihr seid – na, ich mach ja schon. Ich wollt' – nu gute Nacht, Annedorle – schlaft wohl.«

Die Annemarie ging hinauf. Die Heiterethei öffnete die Stubentür, um an den Bach zu gehen. Sie dachte unwillkürlich daran, unter wie so ganz anderen Gefühlen sie dies noch vor wenigen Tagen, ja, daß sie es da so spät vielleicht gar nicht getan haben würde.

»Und wenn sie mich setzen,« sagte sie, indem sie hinausging, »an dem Fritz hab ich's zehnmal verdient, und es ist doch tausendmal besser als der Fritz wär' tot und wüßt' auch keine Menschenseel, daß ich's hätt' getan.«

Zwischen den Weiden am Bach kauerte sie nieder, schöpfte mit der hohlen Hand von seinem Wasser und warf es sich in das brennende Gesicht.

Darüber vertiefte sie sich in Gedanken, was der Fritz nun daheim machen und denken möge. Je freudiger sie sich ihrer Kraft und Selbständigkeit der Welt gegenüber bewußt war, desto tiefer wurde ihr Mitleid mit dem Holders-Fritz. Sie konnte alle Welt auslachen; sie konnte arbeiten, aber er? Mit dem gelähmten Finger? Sie malte sich aus, wie er vergeblich sich mühte, Schnitzmesser und Beil zu handhaben, und so lebendig, daß sie unwillkürlich die Hand ausstreckte, wenn sie bald diese, bald jene Hilfeleistung nötig sah. Die Arbeit konnte bis morgen nicht fertig werden, wovon sollt' er morgen leben? Und wenn Hunger und Sorge ihn noch mehr schwächten! Sie wußte wohl, der Fritz war eher reich als arm, und auch im großen und ganzen, Reichtum sei eine schöne Sache, und die Reichen hätten gut leben; aber indem sie sich in die Einzelheiten seines unglücklichen Zustandes hineindachte, nahmen diese die Gestalt an, unter der das Unglück sich vorzustellen, ihr in ihrem eigenen engen Kreise am nächsten lag.

Den Schmerz seiner vermeintlich mit Haß erwiderten Liebe ihm in ihren Gedanken nachzuempfinden, hätte ihr noch weniger gelingen können, da diese Gefühle ihr fremder waren als die innere Gestalt des Lebens in einem reichen Hause.

So stand es mit ihm und das war ihre Schuld. Und er hatte es gut gemeint und mußte denken, sie hat sich aus Haß an ihm vergriffen.

»Wenn ich's ihm nur wenigstens könnt' sagen: es ist nicht gern geschehn, und ich macht's gern ungetan, wenn ich's könnt'! Wenn er freilich so klug wär', und mich doch noch freit'. Er sollt's nicht spüren, daß ihm der Finger fehlt, und es sollt' trotzdem noch ein Rechter aus ihm werden. Aber ich bin selber daran schuld; warum hab' ich mich von den dummen großen Weibern lassen verleiten! Vielleicht, wenn er's erführ', daß ich's nicht apart aus Bosheit gegen ihn hab' getan. Aber wer sollt' ihm das sagen? Und wenn ich mir so was ließ' merken, wie würden die Weiber erst reden. Und ich weiß nicht einmal, was er selber meinen tät'. Er dächt' wohl gar, es wär' mir um ihn zu tun! Ich brauch' keinen, ich kann's noch selbst ermachen. Mir ist's nur darum, daß er mich dauert, und ich bin schuld daran. Ich wollt', ich könnt's machen, und er wüßt' gar nichts davon.«

Sie sann vergeblich auf das Wie.

Ein Windstoß arbeitete sich eben aus der Erlenkrone über ihr los, welche ihn mit den krausbelaubten Ästen kämpfend festhielt wie ein Spinngewebe eine lärmende Bremse. Er erinnerte sie weckend, daß sie noch am Bach kauerte, und warf ihr von der Erle herab einen Einfall zu.

Da am Erlensteig –! Es war ziemlich dunkel, der Mond kam erst gegen Morgen. Da gar nicht weit, am Erlensteig, hatte der Holders-Fritz einen Acker mit Kartoffeln. Sie hatte heute noch im Vorbeigehen gesehen, der Acker war voll Unkraut, das die Kartoffeln fast erstickte.

Mit drei Schritten den Abhang hinauf hatte sie das Häuschen erreicht. Einen flüchtigen Blick warf sie auf das Kind, das im sanftesten Schlummer lag. Dann nahm sie die Haue vom Nagel und eilig mit schnellem Schritt ging's erst an den Weiden, dann den Weg querfeldein hin.

Ebenso flüchtig als gestern um diese Stunde, eilte sie durch das Tal. Ebenso hatte sie den Unterrock über den Kopf heraufgeschlagen, daß niemand sie erkennen sollte. Wie gestern erschrak sie, wenn es hinter ihr rauschte. Wie gestern wuchs der Laut von jedem fallenden Blatte zum Hall eines Verfolgertrittes im furchtgeschärften Ohr. Ebenso laut pochte ihr Herz und doch von wie ganz anderen Empfindungen als gestern.

Nun war der Acker erreicht. Am Raine blieb sie stehen und gab dem Blute Zeit, sich zu beruhigen.

Wie sah der Acker aus? Das stand noch schlimmer mit dem Unkraut, als es ihr heut vom Weidenwege aus vorgekommen war. Der Holders-Fritz mußte seine Kartoffeln ganz vergessen haben. Sie schüttelte immer von neuem wieder den Kopf. Wie nötig brauchte der Fritz eine tüchtige Frau! Wie aufs Geratewohl hingesäet standen die Zeilen, ein Stock wie auf einem Berge, ein anderer wie in einem Tale. »Das muß der Lehrer (Lehrling) gemacht haben, und der hat dabei die Augen so fest zugehabt, als müßt' er die Rausch' verschlafen, die der Meister und die Gesellen sich trinken.« Der Holders-Fritz kam ihr in der Verwahrlosung seines Gutes noch mitleidsbedürftiger vor.

Es war ihr unlieb, daß der Wind jetzt nachließ. Sie hatte darauf gerechnet, daß man vor seinem Sausen das Geräusch ihrer Arbeit nicht hören würde. Ein leiseres Lüftchen strich nur mit den äußersten Flügelspitzen an den Erlen hin. Drüben, wo die Wiese sumpfig ist, läuteten Unken. Und wie das Rauschen des nahen Wehrs, das sie übertönend verbergen sollte, bald leiser, bald lauter erklingend, hielten die gedämpften Schläge von der Haue der Heiterethei die Nacht hindurch den Takt zu der heimlichen Musik des Tales. Dazwischen tönte hier und da einmal der ferne Stundenschlag vom Kirchturme der Stadt, den die Rathausglocke wie ein ferneres Echo wiederholte, und des alten Diktes' Nachtwächterhorn.

Endlich bot die wachsende Helle dem heimlichen Geschäft der Heiterethei Feierabend.

Der Mond erhob sich, in bleiche, regenkündende Dünste gehüllt, wie im bloßen Hemde aus seinem Lager hinter dem Perleberg.

Der Einfall der Großmutter, den Bader zu wecken und mit ihm nach ihres Enkels Werkstatt in seinen Stadel zu gehen, erwies sich als ein sehr glücklicher. Aber leicht auszuführen war er nicht.

Das alte Fräle tat zwar, so schnell sie konnte, die Haube auf und den Mantel um; das Laternenanzünden wurde um so leichter, als der Mond durchs Küchenfenster herein ihr dazu leuchtete. Die Sorge um ihren Fritz spannte sich hilfreich ihren schwachen Beinen vor, und das Häuschen in der Weidengasse mit den grünen Fensterläden konnte sie schon beim Hinaustreten aus ihrer Haustür sehen. Aber den Bader aus dem Bett zu bringen, das er gewöhnlich mit einem Räuschchen teilte, und ihn zu verständigen, wohin und was er dort sollte, das hatte seine Schwierigkeit.

Indes war diese zu überwinden gewesen, wenn auch auf dem Wege nach dem Stadel noch mancher Mangel an richtigem Verständnis zutage kam. Die Alte schritt voran, sorgfältig dem Meister Schnödler leuchtend; sie schien zu meinen, sein unsicherer Gang rühre daher, daß das Mondlicht ihm noch zu dunkel sei. Dafür glaubte er wohl ihren Zuruf: »Da ist ein Loch! da ist ein Stein, Meister Schnödler!« so verstehen zu müssen, als meine sie, er solle in das Loch fallen und sich an den Stein stoßen; wenigstens führte er den vermeinten Auftrag mit größter Gewissenhaftigkeit aus.

Es war der Wahrheit gemäß, was wir seine kleine verschämte Frau in der Wachtstube erzählen hörten. Die alte Großmutter und Meister Schnödler fanden den Fritz in bewußtlosem Zustande auf seinem Lager.

Die Alte war außer sich, aber der Meister Schnödler sagte, um sie zu beruhigen, geringschätzig lachend: »Da gibt's noch ganz andre Ding' auf der Welt, Frau Holderin. Das ist noch lang' kein Schieferdecker, der den Hals gebrochen, 's ist bloß, daß sein Blut ist herausgelaufen.« Er nickte der Jammernden wie schelmisch zu: »Den wollen wir schon kriegen, Frau Holderin!«

In der Siegesgewißheit wäre er fast über den Liegenden gefallen. Um einem möglichen Vorurteile von Seiten der Frau Holderin vorzubeugen, sagte er: »'s ist bloß aus Durst, Frau Holderin. Keinen Tropfen! Keinen Tropfen heint den ganzen Tag!«

Dabei griff er nach dem Arm des Holders-Fritz und fühlte diesem den Puls, was mit einigen Schwierigkeiten verknüpft war, weil er ihn in der Gegend des Ellenbogens suchte.

Die Alte hing in Angst an des Meister Schnödlers Mund. Sie fürchtete zu hören: »Es ist aus mit ihm«. Dieser nickte ihr wieder schelmisch lachend zu und sagte: »Ein verwünschter Kerl! Nicht einmal sein Puls schlägt mehr, aber wir wollen ihn schon kriegen.«

»Aber, Meister Schnödler, wo greift er denn hin?«

Der Meister wurde seinen Irrtum gewahr, er rutschte suchend vom Ellenbogen zum Handgelenke des Holders-Fritz. Um seinen Zustand nicht eingestehen zu müssen, erklärte er der Alten, so ein Kerl, wie der Fritz, sei nicht wie jeder. Am Handgelenke einen Puls haben, das sei keine Kunst, das könne jeder Schneider. Aber von einem Kerl, wie der Fritz einer sei, verlange man mehr.

Nicht weit vom Kopfende des Lagers stand ein Krug. Den faßte der Bader. Aber er roch erst hinein. »Es ist eine Schande, daß so ein Kerl Wasser säuft. Das ist nur dazu gut.« Er goß es dem Holders-Fritz über den Kopf. Dann nickte er pfiffig der Alten zu, sie sollte nun aufmerken.

Das tat die Großmutter, und mit einer Spannung als meine sie, der Fritz könne von ihrem Aufmerken gesund werden.

Und wirklich gab dieser nun ein Zeichen des Lebens von sich.

Der Bader nickte der Alten wiederum blinzelnd zu. »Was? Schüttelt's ihn tüchtig? Das muß noch ganz anders kommen. Wir wollen ihn schon kriegen. Nur nicht ängstlich, Frau Holderin. Wenn er den Hals hätt' gebrochen, das war' ein ganz ander Ding.«

Der Alten fiel der verletzte Finger ein; sie machte den Bader darauf aufmerksam. »Ach, Meister Schnödler, wenn nur der Finger dem Fritz nix schad't!«

»Schad't?« entgegnete der Meister. »Da schneiden wir ihn 'runter.«

Die Alte sah ihren Enkel schon verstümmelt und schluchzte laut.

Der Meister aber lachte, um sie zu beruhigen, wie ein Teufel und sagte: »Was da ein Finger? Der hat noch Knochen und Fleisch genug am Leib, und tät' man ihm alle zehn runterschneiden und die Füß' dazu. Das geht wie ein Donnerwetter: wo hab' ich nur mein Messer hingebracht? Sieht Sie: eins, zwei! drei! Nur nicht ängstlich, Frau Holderin.«

Die Alte hielt dem Meister in ihrer Angst beide Hände fest. Sie schien ihm zuzutrauen, er schnitt dem Fritz einen Finger ab, um nur ihr zu zeigen, wie leicht das ginge und daß sie darüber nicht ängstlich zu sein brauche.

»Was?« sagte der Meister. »Das ist die Hauptsach', daß man den Leuten Herz macht. Und wenn der da im Sterben liegt, es soll Ihr nicht angst werden; dafür bin ich da. Was ist's denn ums Sterben? Und für so einen Kerl? Der stirbt nur so; das hat gar keine Schwierigkeit; wenn er den Hals bräch', das wär' noch ein ganz ander Ding. Nur nicht ängstlich, Frau Holderin.«

»Ach, du lieber Gott, er stirbt!« brach die Alte aus.

»Was denn?« fragte der Meister. »Der? dem fällt's noch nicht ein.«

»Aber er hat's ja selber gesagt, der Meister Schnödler.«

»Ja, zum Exempel,« entgegnete der Meister, »wie ich Sie beruhigen tät', wenn's der Fall wär', er stürb'. Aber das ist ja Kinderei mit dem. Höchstens ein tüchtig's Nervenfieberle und einen steifen Finger, weiter ist's mit dem nix. Nur nicht ängstlich, Frau Holderin.«

Dabei streifte er sich die Ärmel auf, und es kamen zwei Mitteldinge von zottigen Bärenfüßen und menschlichen Händen zum Vorschein. Er schüttelte sie erst, um sich zu versichern, er habe alles weggeräumt, was ihre freie Bewegung hindern könne. Dann kramte er sein Verbindzeug hervor und faßte die verletzte Hand des Holders-Fritz.

»Der Finger wird steif, weiter ist's nix,« lachte er dann der Alten zu, als meint' er ihr Wunder welche Freude mit der Nachricht zu machen. »Aber soll denn gar nix weiter da sein als Wasser? Ich hab' heint noch keinen Tropfen getrunken.«

»Mein Tichterle,« sagte die Alte, »trinkt nix anders mehr als Wasser.«

»Na und da sind die Folgen davon! Hätt' er ruhig im Gringel gesessen und eins getrunken, da wär' er nicht in den Bach gefallen.«

Der Kranke zuckte auf. Er mußte es entgelten, daß der Meister Schnödler auch durch die sorglose Art, mit der er den Verband umlegte, dem Holders-Fräle zeigen wollte, sie habe keine Ursache, ängstlich zu sein.

»Wenn ich einmal so einen unter mein Messer hätt' gekriegt, weil ich in Dresden die Chirurgie hab studiert! Was das für ein Brustkasten ist, und wie der heraufgezogen ist! Ja, da ist's keine Kunst, wenn einer eine Mitten hat wie ein Mädle. Da ist die Heiterethei, das ist auch so eine!«

Der Name Heiterethei wirkte stärker auf den Kranken, als vorhin der Überguß mit kaltem Wasser. Er erhob sich halb und sagte mit matter Stimme: »Was geht die mich an? Der Gringelwirts-Ev' hab' ich aufgepaßt. Mein' ich doch, ich wär' in meiner Werkstatt,« setzte er, sich besinnend hinzu.

Wer war glücklicher, als das gute, alte Holders-Fräle, ihren Fritz wieder bei Besinnung zu sehen! Sie liebkosete ihn wie ein kleines Kind.

»Ihr seid's, Fräle? Habt Ihr das richtig gemacht, Ihr wißt schon was?«

»Aber, Fritzle,« entgegnete die Alte, »du hast mir's die Nacht erst gesagt. Was denkst du denn? Ich kann doch zu Nacht nicht zu den Leuten gehn, wenn sie schlafen?«

»So tut's morgen,« sagte der Fritz, »redet mit der Valtinessin.«

Er sank wieder aufs Lager zurück.

»Ja doch, Fritzle, gleich morgen früh,« versicherte die Alte. Dann sah sie den Meister Schnödler wiederum ängstlich fragend an. Das Umsinken des Kranken beunruhigte sie von neuem.

Der Meister aber machte ihr ein Zeichen, daß er entfernter von diesem ihr antworten wolle.

»Das Stehen wird mir sauer,« sagte er, als sie an die Schnitzbank kamen. »Ich hab' heint noch keinen Tropfen getrunken.« Er setzte sich und fuhr fort: »Ich hab' morgen im Gringel zu tun, ich könnt's besorgen.«

Die Alte erschrak. »Ja, was denn?«

»Das Richtigmachen mit der Valtinessin-Ev'.«

Die Alte wollte ihn noch nicht verstehen. Er erzählte ihr, um zu zeigen, er sei eingeweiht, was er unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einem erfahren, den er nicht nennen dürfe. Er meinte den Schneider.

Dadurch erfuhr das Holders-Fräle erst die ganze Geschichte von dem Auflauern ihres Enkels und wie man erst geglaubt, er wolle der Heiterethei etwas Böses zufügen, dann, er sei ihr zu Gefallen gegangen, bis er selbst erklärt, es habe der Gringelwirts-Valtinessin-Ev' gegolten.

Das letzte kam ihr, wie sie bei sich selber meinte, kurios vor. Freilich die ganze Geschichte klang kurios. Das Holders-Fräle war gar nicht schwer im Begreifen. Nachdem sie, was sie noch nicht wußte, dem Bader geschickt abgefragt hatte, so daß sie das Ganze der Begebnisse, so weit sie bekannt waren, übersehen konnte, begriff sie den Zusammenhang. Das Beste schien ihr, den Fritz sich erst wieder beruhigen zu lassen; denn sein heftiges Verlangen, die Sache mit der Valtinessin-Ev' richtig gemacht zu sehen, ging, das sah sie wohl, aus dem Zorne hervor, von der Heiterethei verschmäht zu sein. Wenn sie ihn nur so lang' in dem Wahne lassen, sie gehorche ihm, bis er ruhiger geworden war! Bis dahin klärte sich manches auf, was jetzt noch verwirrte, und alles fügte sich so, wie sie überzeugt war, daß es für den Fritz am wünschenswertesten sei.

Das konnte der Meister Schnödler mit seiner Vermittlerzudringlichkeit vereiteln. Drum sagte das kluge Fräle nach einigem Besinnen: »Ja, Meister Schnödler, was denkt Er denn? Ich will gar nicht meinen, daß mein Fritzle jetzt gar nicht so recht bei sich ist; das muß der Meister Schnödler besser wissen, als ich. Aber bei so einer Frau, wie die Valtinessin, ist's nicht, als wollt' ich eine Mäd dingen: da könnt' ich Euch wohl schicken. Aber zu der, da muß ich selber. Und hernachen wird der Meister Schnödler auch gegen andere Leut' still sein von der Sach'. Mein Fritzle ist gar ein Wunderlicher. Weil die Leut' meinen, er hat der Heiterethei aufgepaßt, so will er den Leuten zum Trotz die Valtinessin-Ev'. Sagen aber die Leut', es ist ihm um die Valtinessin-Ev', hernachen verfällt er gewiß wieder auf die Heiterethei. Und wenn Er meint, daß die Valtinessin meinem Fritzle keinen Korb geben wird, so wird die Valtinessin dem Meister Schnödler keinen Dank sagen, wenn er die Sach' verderbt hat. Wenn mein Fritzle Euch vielleicht fragt, so sagt nur: ich bin dort gewesen, und die Sach' war so gut, wie fertig. Aber was meint Er denn zu meinem Fritzle? das ist's eigentlich gewest, was ich Ihn hab' fragen wollen.«

»Ein Fieberle kriegt er, und das ein tüchtig's,« entgegnete der Meister. »Wenn eine Krankheit in so einen Kerl kommt, da ist's nicht, wie wenn sie in einen Schneider gerät. Hernachen ist's eine Lust, wie sie drin herum hantiert. Nur nicht ängstlich, Frau Holderin. Morgen komm' ich wieder, und den wollen wir schon kriegen!«

Die Alte mußte ihm hinaushelfen. Sie sah ihm besorgt nach. Er bemerkte das. Zwanzig Schritte von der Stadeltür kam ihm sein Beruhigungseifer noch einmal. Er wandte sich mühsam und versicherte: »Keinen Tropfen, Frau Holderin, keinen Tropfen!«

Des Mondes Prophezeiung erfüllte sich. Die Heiterethei war noch nicht eingeschlafen, als es schon zu rieseln begann. Wie sie erwachte, hörte sie die fallenden Tropfen im Strohdach rauschen und auf den Blättern des Holunders zerplatzen. Und noch ehe die Stunde schlug, wo sie gewöhnlich auf den Tagelohn ging, goß es mit Kannen.

Ein kleines Mädchen kam, ihr für heut die bestellte Arbeit abzusagen.

»Morgen wird's schon anders Wetter sein,« meinte die Heiterethei.

Das Mädchen sagte im Weggehen: »Das Annedorle braucht nicht eher zu kommen, bis die Mutter mich wieder nach ihr schickt.«

Die Heiterethei sah ihr einen Augenblick befremdet nach. Dann sagte sie: »Schad't nix. Ist's nicht da, so ist's wo anders. Arbeit gibt's genug.«

Die Annemarie tat diesen Morgen ganz einsilbig, als sie herabkam, die Heiterethei in der Wartung des Kindes abzulösen.

Eben ließ die Valtinessin die Stühle und Tassen abholen, welche die Frauen bei ihrem gezwungenen schleunigen Abzuge nicht hatten mitnehmen können. Das zu sehen, tat der guten Alten in der tiefsten Seele leid. Jedem einzelnen Stücke blickte sie einen wehmütigen Abschied nach. Die vornehmen Besuche und deren Sorgen und Bemühungen um die Heiterethei hatten dieser in ihren Augen eine Art Wichtigkeit gegeben, einen Glanz, von dem ein Teil verklärend auf sie selber fiel. Sie hatte die Empfindung eines alten angeerbten Dieners, der in dem Ansehen seiner heruntergekommenen Herrschaft sein eigenes scheiden sieht. Sie hatte die Heiterethei lieb und meinte sich darum im Rechte, in dem Bruch der Heiterethei mit den großen Weibern noch eine besondere Lieblosigkeit gegen sie selber zu sehen. Es hatte sie schon bekümmert, daß die Heiterethei nicht einmal den einzigen Neiger ihr zuliebe getan. Und wenn sie auch den großen Weibern nicht unbedingt recht gab, so begriff sie doch in ihrem Respekt vor ihnen nicht, wie ein Armes gegen sie könnte recht haben wollen. Daß die Heiterethei dies gewollt, kam ihr ordentlich wie ein Majestätsverbrechen vor.

Da die Heiterethei zu Hause blieb, war sie überflüssig und tappte kopfschüttelnd langsam wieder in ihr Stübchen hinauf.

Das Mädchen hatte sich mit einer Näherei an das vordere Fenster gesetzt – das hintere behielt sich der Holunderbusch ganz allein zum Hereinsehen vor – und bemerkte, in Gedanken vertieft, den Abgang der Alten nicht.

Nie hatte ein Tag dem andern so unähnlich gesehen, als seit die Heiterethei zum letztenmal nach dem Zainhammer gefahren war. Der heutige hatte wieder sein ganz eigenes Gesicht. Es war, als wäre das Stübchen seit seiner Erbauung zum ersten Male leer, seine Wände rückten immer weiter auseinander. Der Holunderbusch sah wie glatzköpfig aus; so sehr war man daran gewohnt, ihn den ganzen Tag aus einer tausendlockigen Perücke herausblicken zu sehen. Das Kind, das um die Heiterethei spielte, hielt unbewußt noch den kleinen Raum ein, der allein ihm wochenlang zur Benutzung geblieben, und wich noch immer all den Knien aus, die nicht mehr vorhanden waren. Um die Stelle, wo die Valtinessin gesessen, bewegte es sich noch nicht anders, als in einem weiten Kreisabschnitte. Vermied doch die Heiterethei selber, im Vorbeigehen mit der seitwärts schwebenden Haube der Valtinessin zusammenzustoßen.

Außerdem vergaß sie alles über den Gedanken an den Fritz. Die Befürchtungen und Gespräche der früheren, die Angst und das Mitleid der letzten Tage hatten sie so sehr gewöhnt, an ihn zu denken, daß sie es nicht mehr wußte, wenn sie es tat.

Eine eigene Wirkung hatte dieses Denken an den Fritz. Das Bewußtsein ihrer Verschuldung, ihr Sinnen, wie sie das, was nicht mehr ungetan zu machen war, wenigstens zum Teil ausgleichen könnte, weckte vertiefend die innere Welt, die bis jetzt in dem handfertigen Mädchen unter der fortwährenden Richtung ihrer Kräfte auf ermüdende Körperarbeit und die äußeren Dinge des Lebens geschlummert hatte. Das zeigte sich bald auch in ihrem äußeren Ansehen. Ihr Blick wurde tiefer. Dem Kenner wären die Anfänge eines neuen Daseins in ihr lesbar gewesen. Es hätte ihn an jene topographischen Pläne erinnert, wo neben und über dem gegenwärtig Vorhandenen mit schwächeren Linien die beabsichtigten Umgestaltungen eingezeichnet sind.

Und Zeit hatte sie und sollte immer noch mehr Zeit haben für die ruhige Entwicklung dieses neuen Daseins.

Während der Nacht hatte der Regen eine Pause gemacht; noch vor der Sonne des nächsten Tages begann er wieder seine eintönige Musik. Den ganzen dritten Tag zitterten die Blätter des Holunders unter den zerplatzenden Tropfen. Am vierten geriet der Regen in Zorn, daß die Ringe, die er unermüdlich Grau in Grau auf die wachsenden Pfützen zeichnete, immer wieder zerflossen; er nahm seinen schärfsten Stift und schien nicht eher ruhen zu wollen, als bis es ihm gelänge, sie unzerstörbar einzugraben. Das Wachen selber konnte die Augen nicht offen erhalten, die Fröhlichkeit selber wurde schwermütig bei dem eintönigen Liede, das er sich dabei sang.

Stunde um Stunde verging, Tag um Tag, Woche um Woche; was allein blieb im ewigen Wechsel, das war der Regen. Aber wer keine Uhr besaß, für den gab es bald nicht mehr Nacht und Tag. Himmel und Erde unterschieden sich nur noch durch das Oben und Unten.

Erst sah man jede Stunde nach dem Wetterglase, dann jeden Tag, zuletzt gar nicht mehr. Es war, als könnte es nun nicht mehr anders werden. Erst sehnte man sich, wieder Grün und Blau zu sehen, zuletzt hatte man vergessen, daß es noch andere Farben gab, als Grau; man sah die Zeit kommen, wo Rechen und Haue zu fabelhaften Altertümern wurden, über deren einstige Bestimmung man sich den Kopf zerbrach, wo man nicht mehr an das Kartoffelhacken glaubte und das Heueinernten für ein schönes Märchen alter Tage galt. Die besonnensten Leute mußten konfus werden, wie sie sich in der neuen Welt einrichten sollten, wo das Wasser an die Stelle der Luft zu treten schien. Denn die alte, in der man bisher gelebt, war abgetan.

Wenn man nur auch hätte vergessen können, daß man einen Magen besaß! Von der Herzgrube aus eroberte sich das Ehemals wiederum die Welt. Der Hunger war das erste Glied der Kette von Schlüssen, durch welche die Gegenwart von neuem an die Vergangenheit festgemacht wurde.

Wenn nun ein solches Wetter zur Zeit der Heuernte selbst den großen Leuten Sorge machte, wie mußte es einem alleinstehenden Mädchen das Herz bedrängen, das heute brauchte, was es gestern verdient. Und doch war die Heiterethei sonst auch bei solchem Wetter nie zu feiern gezwungen gewesen. Als Tag um Tag verging und niemand ihrer begehrte, weder zum Waschen, noch zum Scheuern, noch zu sonstiger Haus- und Stubenarbeit, da lag es ihr nahe genug, einzusehen, was sie, wie die Valtinessin gesagt, angerichtet hatte. Aber sie wollte es lieber den Umständen in die Schuhe schieben, als sich selbst. Freilich, wer soll jetzt waschen, wo keine Aussicht auf Trockenwerden? wer scheuern lassen, wo jeder Eintretende die halbe Luckenbacher Flur an den Schuhen mit in die Stuben schleppt? Und ihre Unzulänglichkeit als Nähterin gestand sie sich selber willig ein. Denn sie sah das Gegenteil für keinen großen Vorzug an. Nähen galt ihr für keine Arbeit. Eine Nähterin stand bei ihr nicht in viel größerer Achtung, als ein Schreiber. Es ging ihr wie den meisten Leuten ihres Standes. Wenn diese selber einmal einen Brief oder sonst etwas zu schreiben haben, däucht sie das so schwer und peinlich, daß sie für jeden Buchstaben gern ein Scheit Holz sägten oder hackten; an einem anderen kommt es ihnen dennoch wie nichts, wie eine Art bevorwandeten Müßigganges vor. Und sie halten es für unnötig, obgleich es ihnen nötig genug vorkam, sich darum Stunden lang zu quälen.

»Und an solcher Faulenzerei,« fuhr die Heiterethei dann in Gedanken fort, »hab ich selber keinen Spaß. Aber laßt nur wieder schön Wetter werden!«

Sie weiß ja, daß sie in Luckenbach mit zu dem guten Wetter gehört. Sie ist so wesentlich und unentbehrlich zur Heuernte, als Sonne und trocknender Wind.

Freilich! bis dahin ist verzehrt, was sie für ein mögliches Krankenlager bisher sich abgedarbt hat; nicht für sich – daß sie krank werden könnte, ist ein Gedanke, der niemand einfallen wird, am wenigsten der Heiterethei selbst – aber für das Liesle, das Kind.

Die Annemarie ist dafür auf einmal desto gesuchter. Bald wird sie zu der Valtinessin gerufen, bald zur Weberin, bald zu einer anderen großen Frau. Sie kommt wenig mehr nach Haus. Sie spricht jeden Tag vornehmer, sie fängt schon an, die Haube zu balancieren wie die Valtinessin, aber natürlich im richtig bemessenen Grade ihrer Unterordnung. Ihr Haubenwerfen verhält sich zu dem der Valtinessin, wie ein Schweineschwänzchen zu einem Löwenschweif. Und geht sie breiter, denn sonst, so ist ihre Grazie gegen die massive, steinerne der Valtinessin nur eine aus Holz und Lehm, und sie selber nur ein bescheidenes bretternes Hintergebäude.

Nur selten kann sie die Zeit erübrigen, im Vorbeigehen unten hereinzusehen, und dann läßt sie gutmütig, so viel in der Eile möglich ist, von ihrem neuen Glanze auf die verdunkelte Gestalt der Heiterethei fallen. Ihr etwas anzubieten, hat sie nicht den Mut, wenn auch die Lust. Denn sie kennt die Heiterethei. Und die gibt sich auch nicht das Ansehen, als ob sie etwas bedürfe. Ja, sie treibt noch Possen mit der Annemarie. Sie spielt die Person der Valtinessin und der Weberin gegen sie, und weiß das mit solcher Geschicklichkeit der Nachahmung zu tun, daß die Annemarie zuweilen ihr süßsaures Lachen vergißt und, in unwillkürlicher Täuschung befangen, sich verneigt und ihr antwortet, als wäre die Heiterethei wirklich jene große Frau selber.

Eines Regentages kam die Annemarie zur Zeit der Dämmerung, das heißt, wo es noch dämmeriger war, als den ganzen übrigen Tag, zu der Heiterethei in das Stübchen herein. Aus allerlei Vorbereitungen ersah die Heiterethei, die Annemarie hatte etwas auf dem Herzen, das nicht über die Zunge wollte.

»Ich bin keine von Euren großen Weibern,« sagte sie, »daß Ihr erst vom Wetter müßt anfangen, wenn Ihr mir was wollt sagen. Da ist nur eins zu machen, entweder Ihr red't oder Ihr red't nicht. Und so ist's, und nu ist's fertig. Ihr wollt vielleicht damit warten, bis ich die Lampen hab' angezünd't.«

»Vor meinetwegen brennt die Lampen ja nicht an, Bas Dorle,« entgegnete die Annemarie, die noch immer das Trumm suchte zu ihrem Vorbringen.

»Nu, doch wegen dem Liesle da, damit sich die nicht stößt.«

»Das Liesle sitzt ja so ruhig, und das Öl, das wird schrecklich teuer bei der Witterung.«

»So will ich's noch lassen gehn, aber nu hätt' ich gedacht . . .«

»Ja,« sagte die Annemarie. Sie dachte, einmal muß es sein, und gab sich selber einen Stoß, daß sie gleich mitten in die Sache hineinfuhr.

»Weil Ihr das Kind mit auf die Arbeit wollt nehmen,« sagte sie, »und es ist groß genug dazu; sonst übrigens außerdem blieb' ich lieber bei Euch wohnen, als wo anders.«

»Ihr wollt fort aus meinem Häusle?« fragte die Heiterethei.

»Ja,« sagte die Annemarie, »und der Holunderbusch droben, wenn der blüht, das kann ich auf meiner Brust nicht mehr ertragen.«

»Der hat abgeblüht,« entgegnete die Heiterethei ruhig. »Und wenn er's einmal hat getan, so tut er's das ganz' Jahr nicht zum zweiten Mal.«

»Und der Bach,« fuhr verlegen die Annemarie fort.

»Ja, der Bach,« half die Heiterethei der Alten, weil sie sah, diese wurde nicht allein mit dem neuen Vorwande fertig. »Der Bach, der ist halt schrecklich naß. Habt Ihr heint schon ans Ausziehen gedacht, wie Ihr mittag seid dagewest?«

Die Alte bejahte nur und geriet schon vorläufig in Verlegenheit, wozu die Heiterethei ihre Antwort benutzen könnte.

»Ja, nu weiß ich,« sagte diese, »warum das Öl so teuer ist, und warum Ihr grad jetzt kommt, wo's finster ist. Ihr habt gedacht, ich seh's Euch sonst an, daß Ihr Vorwänd' macht. Wär't Ihr zur Nacht gekommen, wo ich hätt' geschlafen, da wär's noch besser gewest; da hätt' ich's auch nicht gehört. Und nu will ich's Euch auch nicht zuleid tun und die Lampen anbrennen, eh' Ihr wieder fort seid. Ich bin freilich nicht so höflich, wie Ihr. Damit's nicht zu grob herauskommt, wenn Ihr einmal die Wahrheit red't, wollt Ihr mir lieber zwei Lügen weismachen. Bei Euren großen Weibern ist das vielleicht das Recht', zumal, wenn Ihr noch einen schönen Neiger dazu macht. Aber ich mein', wenn mir einer Lügen weis will machen, so ist das die größt' Grobheit, wo er mir kann antun. Ihr seid Euer eigener Herr und könnt in der Valtinessin ihre Brillenscheiden ziehen, wenn Ihr wollt. Ich hab' Euch nix zu sagen und mithin auch nix übelzunehmen. Was das Liesle da angeht, so muß die Sach gehen, wie sie kann. Mir kann's einerlei sein und ist's auch, und nu ist's fertig.«

Bei der Annemarie war's aber noch nicht fertig. Sie hätte gar zu gern gehört, die Heiterethei könne es nicht ermachen ohne sie. Nicht als hätte sie gewünscht, die Heiterethei vermöchte das wirklich nicht. Dazu hatte die Annemarie das Mädchen, so sehr sie ihr schon entfremdet war, im Grunde ihres Herzens doch noch zu lieb. Sie ging ja bloß aus Furcht, die großen Weiber könnten's für eine Sünde halten, wenn sie bei der Heiterethei wohnen bliebe. Aber ein Haus zu verlassen, darin man so lange gewohnt, ohne die Bekräftigung und Anerkennung, daß man auch etwas darin gewesen, daß man ihm fehlen werde, das ist so leicht nicht. Sie wickelte ein großes, großes Papier auseinander, worin eine kleine Zuckerbrezel auch fast gar nichts gewesen, und gab diese dem Liesle. Es war wohl nicht die entfernte Ähnlichkeit ihres Schicksals mit dem dieser Brezel, was sie dabei so mit Wehmut erfüllte.

»Wenn Ihr doch das nicht hättet gemacht, das mit den großen Weibern, Annedorle!« begann sie mit zitternder Stimme, in der Tür sich noch zurückwendend. »Und wenn Ihr mir nur wenigstens den Neiger zulieb' hättet getan vor meinem End', aber so . . .«

Den Anstrengungen ihrer Hand gelang's nicht, die vom Schluchzen unterbrochene Rede zeigend und winkend zu ergänzen, wohl hauptsächlich deshalb, weil man die Hand vor der völlig eingetretenen Nacht bereits nicht mehr sehen konnte.

Der Klang der in das Schloß fallenden Tür zeigte an, daß sie gegangen war.

Draußen stand sie noch eine Weile, mit den Augen in den Regen regnend. Die wunderliche Alte vermißte ein Zeichen der Anhänglichkeit, indem sie selber keine bewies.

Aber die Heiterethei hatte sich eben so seltsam widersprochen, da sie gegen die Unwahrheit der Annemarie geeifert. Sie dachte nicht daran, daß sie selber in demselben Augenblick unwahr wurde. Denn einerlei war's ihr gewiß nicht, daß die Annemarie fort wollte.

Nicht deshalb, weil sie daraus, daß selbst die treue Alte sie verließ, erkannt hätte, wie schlimm man in dem ganzen Städtchen von ihr denken mußte.

Diese hatte über ein Menschenalter lang da gewohnt. Sie hatte lange vorher schon da gewohnt, ehe die Mutter der Heiterethei hereingeheiratet hatte. Eins nach dem andern neben der Heiterethei hatte das Häuschen verlassen. Vater und Mutter und ihre eigenen jüngeren Geschwister hatte sie hinaustragen sehen; die ältere Schwester hatte sie selbst hinaustreiben müssen. Nun, da auch die Annemarie ging, ward's erst leer, trug man ihr die Mutter noch einmal hinaus. Damals hatte es auch schon so lange geregnet und regnete noch. Und der alte Holunder rauschte jetzt wieder eben so eigen, wie damals, als seine Zweige den Sarg nicht hinauslassen wollten. Wie wenn die Leute in der Kirche nach dem Gebet aufatmend sich leise setzen.

Das alles war ihr beim Abschied der Alten gekommen, und sie hätt' es der Annemarie gesagt. Diese wäre entweder geblieben oder beruhigter gegangen. Aber die Heiterethei fürchtete, ihre Stimme werde brechen, wenn sie rede. Und ehe sie die Wahrheit ihrer Empfindung durch »jammeriges Wesen« selber verdächtigte, blieb sie lieber schweigend an ihrem Fenster sitzen.


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