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Etwa sechs Wochen später. Es ist noch Morgen, aber dunkel und kalt. Nach dem Besuch Tientsins, Pekings und anderer Orte, wo so viele fremdartige oder düstere Bilder an unseren Augen vorüberzogen, liegen wir wieder vor Ning-hai, das wir in der Zwischenzeit ganz vergessen hatten; unser Schiff hat bei Tagesanbruch seinen früheren Ankerplatz wieder eingenommen, und wir kehren in das Fort der Franzosen zurück.
Es ist dunkel und kalt; der Herbst, der in diesen Gegenden sehr plötzlich kommt, hat mit einem Male Frost gebracht, und die Birken und Weiden verlieren ihre letzten Blätter unter einem tief herabhängenden, eisigen Himmel von trüber Färbung.
Die Zuaven, die dieses Fort besetzt halten und vor einem Monat so heiter hier einzogen, um unsere Matrosen abzulösen, haben in der chinesischen Erde schon einige der Ihren zurückgelassen, die vom Typhus hinweggerafft oder durch Minenexplosionen und Schüsse gefallen sind. Heute morgen kommen wir mit dem Admiral und Marinetruppen her, um zweien von ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Die sind auf besonders tragische Weise durch einen bedauernswerten Irrtum unter russischen Kugeln gefallen.
Die sandigen, mit gelben Blättern bedeckten Straßen sind noch einsamer als vorher. Die Kosaken in der Ebene haben ihre Lager abgebrochen und sind jenseits der Großen Mauer nach der Mandschurei zu verschwunden. Zu Ende ist das Treiben der ersten Tage, die Verwirrung und das heitere Durcheinander; es hat »sich gelegt«, wie man in der Marinesprache sagt. Ein jeder hat das ihm angewiesene Winterquartier bezogen; aber die Bauern der Umgegend sind nicht zurückgekehrt, die Dörfer öd und verlassen geblieben.
Das noch immer mit seinen chinesischen Sinnbildern, seiner Steinplatte und seinem Ungeheuer verzierte Fort trägt jetzt einen ganz französischen Namen: es heißt »Fort Admiral Pottier«. Sobald wir eintreten, ruft die Trompete für den Admiral ins Gewehr. Die in Reih und Glied stehenden Zuaven, blicken mit zärtlicher Ehrerbietung auf den hohen Offizier, der die Bestattung zweier der Ihrigen mit seiner Anwesenheit beehrt.
Sofort nach Durchschreiten des Tores hat man den unerwarteten Eindruck, französischen Boden zu betreten –, und wirklich kann man sich kaum erklären, wie es die Zuaven zuwege gebracht haben, in Monatsfrist wie mit einem Zauberschlage aus diesem Ort und seiner nächsten Umgebung etwas herzustellen, das einem Stückchen Vaterland gleicht.
Und doch ist nicht viel geändert; sie haben sich begnügt, den chinesischen Schmutz wegzuräumen, das Kriegsmaterial in Ordnung zu bringen, die Zimmer zu tünchen, eine Bäckerei einzurichten, in der das Brot angenehm riecht – und ein Spital, in dem leider viele Verwundete liegen und Kranke auf kleinen, sehr sauberen Feldbetten schlafen. Das alles macht sofort, ohne daß man wüßte, warum, den Eindruck, Frankreich wiederzufinden . . .
Mitten im Fort, in dem Ehrenhofe, vor der Türe des Saales, in dem der Mandarin thronte, stehen unter dem traurigen Herbsthimmel zwei Lafetten ohne Bespannung. Ihre Räder sind mit Blattwerk umwunden und mit weißen Tüchern umhüllt, auf die kümmerliche kleine Sträußchen gesteckt sind: die letzten Blumen aus den chinesischen Gärten der Umgegend, magere Chrysanthemen und kümmerliche halberfrorene Rosen. Das alles ist mit rührender Sorgfalt und der reizenden Naivität der Soldaten zur Ehre ihrer toten Kameraden hergerichtet, die hier in Särgen, welche die Flagge Frankreichs deckt, auf diesen Lafetten liegen.
Überrascht ist man beim Betreten des großen, von den Zuaven zu einer Kapelle umgewandelten Mandarinensaales.
Freilich eine etwas sonderbare Kapelle. An den weiß getünchten Wänden sind Uniformen chinesischer Soldaten in Sternform aufgenagelt, und dazwischen hängen Waffen, Säbel, Dolche, und auf dem weißen Tuch des mit chinesischem Porzellan geschmückten Altars brennen Kerzen auf Leuchtern, die aus Granaten und Bajonetten hergestellt sind; lauter naive, reizende Dinge, wie sie Soldaten in der Fremde herrichten.
Die Messe beginnt höchst militärisch mit einer Abteilung unter Gewehr und Trompetenklängen, bei denen die Zuaven ins Knie sinken. Der Geistliche des Geschwaders liest im Trauerornat die Seelenmesse für die beiden, die draußen vor der Türe im eisigen Wind auf den mit späten Blumen geschmückten Wagen schlafen. Und im Hofe stimmen die Blechinstrumente in gedämpften Tönen langsam das »Präludium« von Bach an, das wie ein Gebet zum Himmel steigt und diese Mischung von Vaterland und ferner Erde, von Trauerfeier und grauem Morgen beherrscht . . .
Endlich kommt der Aufbruch nach einer ganz nahen chinesischen Einfriedung mit festen Mauern aus gestampftem Lehm, die wir zu unserem Friedhof gemacht haben. Die zwei schweren Lafetten werden mit Maultieren bespannt, und der Admiral selber schreitet an der Spitze des Trauerzuges über die sandige Straße, wo die Zuaven mit präsentiertem Gewehr Spalier bilden.
Die Sonne wird diesen Morgen die Herbstwolken nicht durchdringen, um dieses Begräbnis von Kindern Frankreichs zu bescheinen. Es ist noch immer kalt und düster, und die Weiden und Birken in der traurigen Landschaft lassen unausgesetzt ihre Blätter auf uns fallen.
Der improvisierte Friedhof hat trotz aller ihn umgebenden Fremdartigkeit schon ein französisches Gepräge gewonnen – ohne Zweifel wegen der braven heimischen Namen, die auf den Holzkreuzen der frischen Gräber geschrieben stehen, wegen der Töpfe mit Chrysanthemen, die die Kameraden vor den traurigen Erdhaufen aufgestellt haben. Und doch, über der Mauer, die unsere Toten schützt, erhebt sich in nächster Nähe jener große Wall, der unter den Novemberwolken endlos ins Land hineinzieht: die große chinesische Mauer – und wir fühlen uns fern, entsetzlich fern, so weit verschlagen.
Jetzt sind die Särge hinabgelassen, und die neuen Gräber setzen die schon lange Reihe dieser jungen Grabstätten fort; alle Zuaven sind in Reih und Glied herangetreten und ihr Kommandeur erinnert in einigen Worten daran, wie diese beiden gefallen sind:
Es war in der Umgegend. Die Kompanie marschierte arglos in der Richtung auf ein Fort, auf dem die russische Fahne gehißt war, als die Kugeln plötzlich hageldicht herabfielen. Die Russen hinter ihren Schießscharten waren Neulinge, die niemals Zuaven gesehen hatten und deren roten Fez für Boxermützen hielten. Bevor der Irrtum erkannt wurde, lagen schon mehrere der Unserigen am Boden, sieben Verwundete, darunter ein Hauptmann, und diese beiden Toten; der eine war der Sergeant, der unsere Fahne schwang, um dem Feuer Einhalt zu tun.
Endlich spricht auch der Admiral zu den Zuaven, deren Blicke sich bald mit treuen Tränen füllen – und als er auf den traurigen Erdhaufen tritt, um seinen Degen vor den Gräbern zu senken, spricht er zu den darin Ruhenden: »Ich sende euch den letzten Soldatengruß!« Da hört man ein aufrichtiges, ganz naives und nicht verhaltenes Schluchzen aus der Brust eines großen gebräunten Burschen, der doch im Gliede nicht weniger tapfer aussieht als andere . . .
Was ist daneben die klägliche, ironische Leere so vieler pomphafter Zeremonien an offiziellen Gräbern und so vieler schöner Reden!
Oh, in unserer nüchternen, greisenhaften Zeit, die alles ins Lächerliche zieht, wo sich jeder vor dem Morgen fürchtet, sind die glücklich, die stehenden Fußes niedergemäht werden, glücklich, die jung und ohne Falsch für die alten bewunderungswerten Ideale von Vaterland und Ehre fallen, die man hinausträgt, in eine schlichte Trikolore gehüllt – und die man mit einfachen Worten, die zu Tränen rühren, als Soldat grüßt!