Pierre Loti
Die letzten Tage von Peking
Pierre Loti

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In Ning-hai

3. Oktober 1900

In der Tiefe des Golfes von Petschili dehnt sich der Strand von Ning-hai in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Zu Füßen eines großen Forts, dessen Kanonen stumm bleiben, liegen mit dem Vorderteil im Ufersand Schaluppen, Avisos, Flachboote und Dschunken, aus denen Soldaten und Kriegsmaterial ausgeschifft werden. An diesem Strande herrscht ein Wirrwarr, eine babylonische Verwirrung, wie sie bisher zu keiner Zeit gesehen ward; vom Topp dieser Fahrzeuge, aus denen so viele Menschen steigen, flattern alle Farben Europas durcheinander.

Das Ufer ist mit Birken und Weiden bewachsen, und in der Ferne ragen die Gipfel eigentümlich geformter Berge in den klaren Himmel. Überall Bäume des Nordens, ein Zeichen, daß dies Land eisige Winter hat; und dennoch brennt schon die Morgensonne, die Berggipfel dort sind in wunderbares Violett getaucht, das Licht strahlt wie in der Provence.

Was gibt es nicht alles auf diesem Strande zwischen den hastig zur Verteidigung aufgeschichteten Sandsäcken! Man sieht Kosaken, Österreicher, Deutsche, englische Midshipmen neben unserer Marine-Infanterie; kleine japanische Soldaten, deren gute militärische Haltung in ihren neuen europäisch geschnittenen Uniformen auffällt; blonde Damen vom russischen Roten Kreuz, mit dem Auspacken von Lazarettmaterial beschäftigt; Bersaglieri aus Neapel, die ihre Hahnenfedern auf die Tropenhelme gesteckt haben.

Wirklich, in diesen Bergen, in dieser Sonne, in dieser Klarheit der Luft liegt etwas von unseren mittelländischen Küsten an schönen Herbstmorgen. Aber dort, ganz nahe, erhebt sich aus den Bäumen ein altersgraues Gebäude von wunderlicher, geschweifter Form, mit Drachen und Ungeheuern gespickt: eine Pagode. Und über die fernen Berge zieht sich in Schlangenwindungen eine endlose Befestigungslinie und verliert sich hinter den Gipfeln: die große chinesische Mauer, die Grenze gegen die Mandschurei.

Die Soldaten, die barfuß in den Sand springen und sich in allen Sprachen lustig anrufen, machen einen vergnügten Eindruck. Das, was sie heute tun, nennt man eine »friedliche Besitzergreifung«; man möchte an ein Fest allgemeiner Verbrüderung, allgemeiner Eintracht denken – während doch im Gegenteil, nicht weit von hier, in der Richtung nach Tientsin und Peking, alles in Trümmern liegt und mit Leichen besät ist.

Die Notwendigkeit der Besetzung Ning-hais, um es im Bedarfsfall zur Verpflegungsbasis des Expeditionskorps zu benützen, hatte sich den Admiralen des internationalen Geschwaders aufgedrängt, und vorgestern wurde auf allen unseren Schiffen klar zum Gefecht gemacht, denn es war bekannt, daß die Küstenforts vollkommen armiert sind. Als jedoch die hiesigen Chinesen durch einen Parlamentär erfuhren, daß eine gewaltige Anzahl von Panzern bei Tagesanbruch erscheinen würde, hatten sie es vorgezogen, den Platz zu räumen, und so fanden wir bei unserer Ankunft ein verlassenes Land.

Das Fort, das diese Küste beherrscht und den Endpunkt der großen Mauer gegen das Meer bildet, wurde als »international« erklärt.

So flattern denn dort auf hohen, von Ehrenwachen gehüteten Masten gemeinsam die Flaggen der sieben verbündeten Nationen, dem Alphabet nach geordnet: Deutschland, England, Frankreich, Italien, Japan, Österreich, Rußland.

In die übrigen, über die Anhöhen der Umgebung zerstreuten Forts hat man sich dann geteilt. Das den Franzosen zugefallene liegt etwa eine Seemeile vom Ufer entfernt. Zu ihm führt eine sandige Straße, von zart belaubten Birken und Weiden eingefaßt, an Gärten und Obstgärten vorbei, über die der Herbst sein Gelb gebreitet hat, genau wie bei uns. Übrigens gleichen sie auch sonst den unsrigen mit ihren bescheidenen Kohlbeeten, ihren Kürbissen und geradlinigen Salatreihen. Auch die weinumrankten Holzhäuschen, die hier und da zwischen den Bäumen hervorlugen, mit ihren Dächern aus runden Ziegeln, den kleinen Beeten von Zinnien, Astern und Chrysanthemen, wirken wie eine Nachahmung unserer Bauernhäuser . . . Dörfer, die gewiß ruhig und glücklich waren, aber seit zwei Tagen, bei dem Nahen der Eindringlinge aus Europa, von ihren erschreckten Bewohnern verlassen wurden.

An diesem frischen Oktobermorgen begegnen sich Matrosen und Soldaten aller Nationen auf der schattigen Straße, die zum Fort der Franzosen führt. Voller Freude, auf Entdeckungen auszugehen, sich im eroberten Lande zu tummeln, jagen sie emsig Hühner und rauben in den Gärten Salat und Birnen. Russen räumen aus einer Pagode die Buddhastatuen und vergoldeten Vasen aus. Engländer treiben auf den Feldern gefangene Rinder mit Stockschlägen ein. Dalmatinische und japanische Matrosen, seit einer Stunde eng befreundet, waschen sich gemeinsam am Ufer eines Baches. Und zwei Bersaglieri, die einen kleinen Esel erwischt haben, schütteln sich vor Lachen, während sie zusammen auf ihm davonreiten.

Indessen dauert der traurige Auszug des chinesischen Landvolkes, der gestern begonnen hat, fort; trotz der ausdrücklichen Zusage, daß niemandem ein Leid geschehen würde, fühlen sich die Zurückgebliebenen dem Feinde zu nahe und ziehen die Flucht vor. Ganze Familien wandern gesenkten Hauptes davon: Männer, Frauen, Kinder, alle in den gleichen Kleidern aus blauer Baumwolle, alle mit ihren Habseligkeiten beladen. Selbst die Kleinsten schleppen Bündel und tragen ihre kleinen Kopfkissen und Matratzen ergebungsvoll fort.

Und dort spielt sich eine herzzerreißende Szene ab. Eine alte Chinesin, uralt, vielleicht hundertjährig, die sich kaum mehr auf den Beinen halten kann, zieht fort, Gott weiß wohin, aus ihrem Hause vertrieben, in dem sich ein deutscher Posten einrichtet; sie schleppt sich dahin, gestützt von zwei jungen Burschen, wahrscheinlich ihren Enkeln, die ihr nach Kräften helfen, mit zärtlichen Blicken und unendlicher Ehrerbietung. Sie scheint uns gar nicht zu sehen, als hätte sie von niemandem mehr etwas zu erwarten. So geht sie langsam an uns vorüber, mit dem Ausdruck der Verzweiflung, des tiefsten und hilflosesten Jammers in ihrem armen Gesicht, – während die Soldaten hinter ihr lachend die bescheidenen Bilder ihres Ahnenaltars aus dem Hause werfen. Und die schöne Sonne dieses Herbstmorgens bescheint ruhig ihr kleines wohlgepflegtes Gärtchen, in dem Zinnien und Astern blühen . . .

Das den Franzosen zugeteilte Fort hat beinahe den Umfang einer Stadt mit all ihrem Zubehör, den Wohnungen der Mandarine und Soldaten, den Elektrizitätswerken, Ställen und Pulverkammern. Trotz der Drachen, die das Tor schmücken, und trotz des krallenbewehrten Ungeheuers, das vor dem Eingang auf eine Steinplatte gemalt ist, ist das Fort nach den neuesten Regeln erbaut, betoniert, mit Kasematten versehen und mit Kruppschen Kanonen neusten Systems ausgerüstet. Zum Unglück für die Chinesen, die rings um Ning-hai gewaltige Verteidigungswerke mit Minen, Torpedos, Flatterminen und verschanzten Lagern errichtet hatten, war nichts fertig geworden; die Bewegung gegen die Fremden war um sechs Monate zu früh ausgebrochen, bevor noch die von Europa an Li-Hung-Tschang verkauften Geschütze eingebaut waren.

Tausend Zuaven, die morgen landen, werden dieses Fort für den Winter besetzen; unterdessen führen wir zwanzig Matrosen hin, um Besitz von ihm zu ergreifen.

Es ist eigenartig, diese in Hast und Schrecken verlassenen Wohnungen zu betreten, deren zerbrochener Hausrat und am Boden umherliegendes Geschirr die Verwirrung einer überstürzten Flucht verrät. Kleidungsstücke, Gewehre, Bajonette, Schießtafeln, Stiefel mit Papiersohlen, Regenschirme und Arzneimittel häufen sich in wirrem Durcheinander vor den Türen. In den Truppenküchen stehen noch Reisspeisen auf den Herden, daneben Kohlgerichte und Kuchen aus gebackenen Heuschrecken.

Überall rollen Granaten aus den erbrochenen Kisten; Patronen bedecken den Boden, Schießbaumwolle ist gefahrdrohend verstreut, Pulver liegt in langen kohlschwarzen Streifen ausgeschüttet. Aber neben dieser Vergeudung von Kriegsmaterial bezeigen drollige hübsche Einzelheiten die gemütlichen Seiten des chinesischen Lebens: auf allen Fensterbrettern stehen kleine Blumentöpfe, an allen Wänden sieht man kleine, von den Soldaten angeklebte Bilder. Mitten unter uns hüpfen Sperlinge vertraulich umher, die von den Bewohnern offenbar nie verscheucht worden sind. Katzen hocken auf den Dächern, mißtrauisch, aber mit dem Wunsche, sich anzufreunden, und überlegen, wie sie mit den unerwarteten Gästen am besten auskommen können.

Ganz nahe, hundert Meter von unserem Fort, läuft die chinesische Mauer, überragt von einem Wachtturm, auf dem japanische Soldaten sich gerade einrichten und an einem Bambusstock die Flagge ihres Landes, weiß mit roter Sonne, hissen.

Immer lächelnd, besonders uns Franzosen gegenüber, laden uns die kleinen Japaner ein, zu ihnen hinaufzukommen, um uns von oben die Umgegend anzusehen.

Die große Mauer, hier sieben bis acht Meter stark und von gewaltigen viereckigen Bastionen flankiert, senkt sich auf der chinesischen Seite in Abhängen und Grashalden, fällt aber gegen die mandschurische steil ab.

Jetzt sind wir oben, und zu unseren Füßen zieht sich ihre uralte Linie hin, auf der einen Seite in das Gelbe Meer tauchend, auf der anderen zu den Berggipfeln emporklimmend, in steten Schlangenwindungen weit über das ausgedehnte Blickfeld hinauslaufend, etwas Ungeheures, das nirgends ein Ende zu finden scheint.

Gegen Osten übersieht man in dem reinen Licht die öden Ebenen der Mandschurei.

Gegen Westen – nach China zu – bietet die bewaldete Landschaft den trügerischen Anblick von Vertrauen und Frieden. Alle europäischen Flaggen, die über den Forts flattern, machen inmitten des Grüns einen festlichen Eindruck. In der Ebene freilich, in der Nähe des Strandes, herrscht ein Gewimmel von Kosaken, doch in weiter Ferne, sodaß ihr Lärm nicht zu uns dringt: mindestens fünftausend Mann zwischen Zelten und den in die Erde gepflanzten Fahnen. (Im Gegensatz zu den anderen Mächten, die nur einige Kompanien nach Winghai entsandten, gehen die Russen in großen Massen vor – wegen ihrer Absichten auf die benachbarte Mandschurei.) Drunten, ganz grau, stumm und wie schlafend hinter seinen hohen Zinnenmauern, erscheint Schan-hai-kwan, die Tartarenstadt, die ihre Tore aus Angst vor Plünderung geschlossen hat. Und auf dem Meere, nahe am Horizont, liegen die alliierten Geschwader – all die schwarz qualmenden eisernen Ungeheuer, gut Freund für den Augenblick und stumm vereint im regungslosen Blau.

Ein ruhiges, herrliches, mildes Wetter. Der wunderbare Grenzwall Chinas blüht zu dieser Jahreszeit noch wie ein Garten. Zwischen seinen dunklen, von den Jahrhunderten gelockerten Ziegeln sprießen Gräser, Astern und eine Menge rosafarbener Nelken, ähnlich denen an den französischen Küsten . . .

Aber diese sagenhafte Mauer, die jahrhundertelang die Einbrüche aus dem Norden abgehalten hat, wird wohl die gelbe Flagge mit dem grünen Drachen der göttlichen Kaiser nie mehr flattern sehen; ihre Zeit ist um, vergangen, vorüber auf immer.

 


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