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Samstag, 20. Oktober
Es schneit. Der Himmel ist tief und dunkel, ohne Hoffnung auf einen Lichtblick, als gäbe es gar keine Sonne mehr. Ein wütender Wind bläst aus Norden, und schwarzer Staub wirbelt in wilder Flucht mit den weißen Flocken um die Wette.
Heute morgen erste Zusammenkunft mit unserem Gesandten in der spanischen Gesandtschaft. Sein Fieber hat nachgelassen, aber er ist noch sehr schwach und wird lange das Bett hüten müssen. Die wenigen Mitteilungen, die ich ihm zu überbringen habe, kann ich erst morgen oder übermorgen machen.
Ich nehme meine letzte Mahlzeit unter den Mitgliedern der französischen Gesandtschaft im Hause des Kanzlers ein, wo man den Mangel prunkvoller Unterkunft durch um so herzlichere Gastfreundschaft ersetzt. Um halb zwei Uhr langen die beiden mir zur Verfügung gestellten chinesischen Karren an, die mich samt meinen Leuten und meinem geringen Gepäck nach der »Chinesischen Stadt« befördern sollen.
Diese winzigen chinesischen Karren sind stets festgefügt, schwerfällig und ohne jede Federung; der meine sieht aus wie ein Leichenwagen, er ist außen mit schiefergrauer Seide und breitem Besatz aus schwarzem Sammet bespannt.
Wir fahren nach Nordwesten, in umgekehrter Richtung als gestern, zur »Chinesischen Stadt« und dem Tempel des Himmels. Fünf bis sechs Kilometer werden wir bei dem jammervollen Zustand der Straßen und Brücken, deren Pflastersteine zur Hälfte fehlen, fast im Schritt zurücklegen müssen.
Diese Karren haben keine Türen, sie sind wie ein einfaches, auf Räder gestelltes Schilderhaus, und heute wird man darin von eisigem Wind gepeitscht, vom Schnee gegeißelt und vom Staub geblendet.
Zunächst durchqueren wir die von Soldaten wimmelnden Ruinen des Gesandtschaftsviertels und gleich darauf einsamere, fast verödete rein chinesische Stadtteile: eine staubige, graue Verwüstung, die wir durch die weißen und schwarzen Wolkenwirbel nur undeutlich sehen . . . An den wichtigsten Punkten, den Toren und Brücken, stehen europäische oder japanische Posten; die ganze Stadt ist militärisch bewacht. Dann und wann kommen Arbeitskommandos und Lazarettwagen mit der Fahne des Roten Kreuzes an uns vorüber.
Endlich macht mich der Dolmetscher der französischen Gesandtschaft, der sich mir freundlich als Führer angeboten hat und meinen mit trauerfarbener Seide bespannten Karren teilt, auf die erste Ringmauer der »Gelben« oder »Kaiserlichen Stadt« aufmerksam. Da halte ich Ausschau in dem Winde, der mir in den Augen brennt.
Unter schrecklichen Stößen des Wagens fahren wir durch große blutrote Mauern, nicht durch ein Tor, sondern durch eine von den indischen Reitern der Engländer durch die Mauerbreite gesprengte Bresche.
Jenseits dieser Mauer ist Peking weniger zerstört. In einigen Straßen haben die Häuser ihre vergoldete Holzverkleidung und die Reihen der Fabelwesen an den Dachsimsen behalten. Freilich ist das alles baufällig, wurmstichig oder von den Flammen beleckt und von Kugeln durchlöchert; stellenweise kribbelt da drinnen noch ein Pöbel von verdächtigem Aussehen, mit Schaffellen oder Lumpen aus blauer Baumwolle bekleidet. Dann wieder kommen wüste Strecken mit Asche und Trümmern, wo man die scheußlichen, an Menschenfleisch dickgefressenen Hunde wie Rudel von Wölfen umherlungern sieht. Sie reichen seit diesem Sommer nicht mehr hin, um die Toten zu vertilgen.
Dann folgt ein anderer Mauerwall vom gleich blutigen Rot und ein großes, mit Fayencen verziertes Tor, durch das wir hindurch müssen: das Tor der eigentlichen »Kaiserlichen Stadt«, jenes Bezirks, in das noch kein Fremder je gedrungen war –, und mir ist, als öffnete sich vor mir die Pforte des Zauberlandes und des Geheimnisses . . .
Wir fahren hindurch – und meine Überraschung ist groß, denn nicht eine Stadt, sondern ein Wald liegt vor mir. Ein finsterer Wald, von Raben bevölkert, die überall im grauen Astwerk krächzen. Die gleichen Holzarten wie im Tempel des Himmels, Zedern, Thujas, Weiden; lauter uralte Bäume in verkrümmter Gestalt, in Formen, die wir bei uns nicht kennen. Graupeln und Schnee peitschen ihre alten Äste, und der unausweichliche schwarze Staub dringt mit dem Wind in die Baumgänge.
Man sieht auch bewaldete Hügel, auf denen sich unter den Zedern Gartenhäuser aus Fayence emporstufen, und trotz ihrer großen Höhe erkennt man ihre Künstelei, so traditionell chinesisch sind ihre Umrisse. In der durch Schnee und Staub verdunkelten Ferne erblickt man hier und dort unter den Bäumen alte fremdartige Paläste mit glasierten Ziegeldächern, von entsetzlichen marmornen Ungeheuern bewacht, die an den Schwellen kauern.
Und doch ist diese ganze Stätte von unbestreitbarer Schönheit; aber wie düster, feindselig und beängstigend ist sie auch unter dem finsteren Himmel!
Jetzt kommen wir an etwas Ungeheurem vorbei, einer Festung, einem Gefängnis oder etwas noch Schrecklicherem. Doppelte Wälle steigen auf, deren Ende man nicht absieht, blutrot wie stets, von Türmen mit Schießscharten überragt und von einem Ring dreißig Meter breiter Gräben umgeben, in denen Schilf und Wasserrosen welken. Es ist die im Innersten der »Kaiserlichen Stadt« eingeschlossene »Violette Stadt«, noch unzugänglicher als jene, die Residenz des Unsichtbaren, des Sohnes des Himmels . . . Mein Gott! wie düster ist diese ganze Stätte, wie feindselig und schrecklich unter dem düsteren Himmel!
Zwischen den alten Bäumen dringen wir in tiefster Einsamkeit weiter vor: man wähnt sich wie im Garten des Todes.
Diese stummen geschlossenen Paläste, die hier und dort unter den Bäumen stehen, heißen »Tempel des Wolkengottes«, »Tempel der langen Lebensdauer des Kaisers« oder »Tempel des Segens der heiligen Berge« . . . Und ihre für uns unfaßlichen asiatischen Traumnamen machen sie uns noch fremder.
Aber diese »Gelbe Stadt« wird sich, wie mein Reisegefährte versichert, nicht immer in einem so erschreckenden Bilde zeigen, denn heute herrscht ein außergewöhnliches Wetter, und der chinesische Herbst ist im Gegenteil meistens prächtig klar. Er versichert mich, daß mir in diesem einzig dastehenden Walde, in dessen Schatten ich gewiß mehrere Tage wohnen werde, noch warme, sonnige Nachmittage winken.
»Sehen Sie,« sagt er jetzt, »hier der Lotossee und dort die Marmorbrücke.«
Der »Lotossee«, die »Marmorbrücke«! Diese beiden Namen sind mir seit langem bekannt, Namen aus Feenmärchen, die etwas bezeichnen, was man nie sehen kann und dessen Ruf doch durch die unzugänglichen Mauern gedrungen war. Bilder des Lichtes und der Farbenglut zauberten sie früher bei mir hervor, und hier in dieser düsteren Einöde, unter diesem eisigen Wind, packen sie mich seltsam.
Der Lotossee! . . . Nach den Liedern chinesischer Dichter hatte ich mir einen herrlich klaren Wasserspiegel vorgestellt, mit einer verschwenderischen Fülle großer geöffneter Blumenkelche, eine mit rosigen Blumen geschmückte, rosige Wasserfläche. Und ich finde das! Schlamm, einen traurigen Sumpf, den welke, vom Frost gebräunte Blätter bedecken! Dabei ist dieser von Menschenhand gegrabene See ungleich größer, als ich gedacht, und fernab umschließen ihn schwermütige Ufer, auf denen unter dem grauen Himmel alte Pagoden zwischen hohen Bäumen auftauchen.
Die Marmorbrücke! . . . Ja, dieser lange weiße Bogen mit einer Reihe weißer Stützpfeiler, diese anmutige hochgeschwungene Wölbung, diese mit Fratzen verzierten Geländer, das alles entspricht dem Begriff, den ich mir davon gemacht; höchst prunkvoll und höchst chinesisch. – Nicht gesehen aber hat meine Phantasie die beiden Leichen, die in voller Verwesung in ihren Gewändern dicht vor der Brücke im Schilfe liegen.
Alle diese breiten welken Blätter auf dem See sind wirklich Lotosblätter; jetzt in der Nähe erkenne ich sie und erinnere mich, früher vielfach Verwandte von ihnen auf den Teichen von Nagasaki oder Yeddo gesehen zu haben – doch so grün und so frisch! Und fürwahr, hier mußte sich früher ein ununterbrochener Teppich von rosenroten Blumen ausbreiten; noch tausendfältig ragen ihre welken Stengel aus dem Schlamm.
Doch ohne Zweifel werden sie sterben, diese Lotosfelder, die seit Jahrhunderten die Augen der Kaiser entzückten, denn ihr See ist fast leer. Die Verbündeten haben seine Gewässer in den Verbindungskanal zwischen Peking und dem Flusse abgeleitet, um diese Wasserstraße wiederherzustellen, die die Chinesen in der Befürchtung, sie könnte den Eindringlingen von Nutzen sein, trockengelegt hatten.
Die Marmorbrücke, schneeweiß und verlassen, führt uns ans andere Ufer des Sees, der sich an dieser Stelle stark verengt, und hier werde ich den »Nordpalast« finden, wo ich wohnen soll. Vorerst sehe ich nichts als mehrere aufeinanderfolgende Ringmauern, große zerstörte Säulengänge, Trümmer, nichts als Trümmer und Schutt. Und auf das alles fällt ein totes Licht durch die trüben Schneewolken vom winterlichen Himmel herab.
Mitten in einer grauen Mauer klafft eine Bresche, wo ein Chasseur d'Afrique Schildwache steht; auf der einen Seite ein verendeter Hund, auf der anderen ein Haufen von Lumpen und Schutt mit scheußlichem Leichengeruch. Das ist anscheinend der Eingang zu meinem Palaste.
Wir sind schwarz von Staub, mit Schnee gepudert, und unsere Zähne klappern vor Kälte, als wir endlich in einem von Trümmern angefüllten Hofe von unseren Karren steigen. Mein Kamerad, der Adjutant Kapitän C., kommt mir entgegen. Wirklich möchte man sich bei derartigen Zugängen fragen, ob der versprochene Palast nicht ein Hirngespinst war.
Doch im Hintergrund dieses Hofes erscheint ein erstes Bild von Herrlichkeit: eine lange, mit Glas verschlossene Galerie, elegant, zierlich und anscheinend unversehrt in all dieser Verwüstung. Durch die Scheiben sieht man Gold, Porzellan und kaiserliche Seidenstoffe mit eingestickten Drachen und Wolken blinken . . . Es ist wirklich ein Palastwinkel, ganz versteckt, den nichts umher verraten hatte.
Oh, unsere erste Mahlzeit am Abend der Ankunft in dieser seltsamen Behausung! Es ist fast dunkel. Mein Kamerad und ich sitzen an einem Ebenholztisch, in unsere Militärmäntel mit aufgeschlagenem Kragen gehüllt, vor Kälte schlotternd, von unseren Burschen bedient, die an allen Gliedern zittern. Eine armselige kleine chinesische Kerze von rotem Wachs, dort aus den Trümmern von irgendeinem Ahnenaltar geholt, steckt in einem Flaschenhals, und ihre windgepeitschte Flamme flackert in trübem Schein. Unsere Teller und Schüsseln sind unschätzbares Porzellan, kaiserliches Gelb, mit dem Namenszug eines prunkliebenden Kaisers, eines Zeitgenossen Ludwigs XV. Aber unsere Weinration und das trübe Wasser – gekocht und wieder gekocht aus Furcht vor dem Leichengift aller Brunnen – sind in elende Flaschen gefüllt, die unsere Burschen mit zugeschnittenen rohen Kartoffelstücken verschlossen haben.
Die Galerie, in der diese Szene sich abspielt, ist sehr lang und verliert sich in der Ferne in tiefes Dunkel, aus dem eine asiatische Märchenpracht undeutlich hervortritt. Sie ist bis zu Mannshöhe mit Glas verschlossen, und allein diese schwache gläserne Wand trennt uns von dem großen unheimlichen Dunkel voll Trümmer und Leichen. Man hat das Gefühl, daß die irrenden Schatten draußen, die Gespenster, die unser kleines Licht anlockt, uns von weitem hier bei Tisch sehen können, und das ist unheimlich . . . Oberhalb der Glasscheiben läuft nach chinesischem Brauch eine Reihe leichter Fensterrahmen mit Reispapier bis zur Decke hinan, und von dieser hängen spitzenartige, wunderbare Schnitzereien aus Ebenholz herab. Aber das Reispapier ist zerrissen und überall geplatzt und läßt den tödlich kalten Nachthauch über unsere Köpfe streichen. Unsere erstarrten Füße ruhen auf dicken gelben kaiserlichen Wollteppichen, in denen sich fünfkrallige Drachen winden. Neben uns schimmern im Licht unseres verlöschenden Kerzenstumpfes gigantische Räucherpfannen von blauem Cloisonné in der unnachahmlichen Farbe vergangener Epochen, von goldenen Elefanten getragen, Wandschirme von phantastischer, ausschweifender Pracht, Phönixe aus Email mit weit ausgebreiteten Flügeln, Throne und Ungeheuer, lauter uralte Dinge von unschätzbarem Wert. Und wir, unelegant, bestaubt, verwahrlost, schmutzig, sitzen hier wie plumpe Barbaren, die sich als Eindringlinge bei Feen niedergelassen haben.
Was muß diese Galerie noch vor kaum drei Monaten gewesen sein, als an Stelle von Stille und Tod, Leben Musik und Blumen hier herrschten, als die heute leeren und verwüsteten Gänge von der Masse der Höflinge oder der Dienerschaft in Seidengewändern bevölkert waren – als die Kaiserin, von ihren Palastdamen gefolgt, im Prunk einer Gottheit vorüberschritt! . . .
Nachdem wir unser Abendessen in Gestalt unserer bescheidenen Feldration verzehrt und den Tee aus Porzellan geschlürft haben, das die Zierde eines Museums bilden würde, fehlt uns die Lust, noch bei der Zigarette plaudernd zu verweilen. Nein, wenn es auch ergötzlich ist, sich hier zu wissen, wenn es auch unerwartet und höchst phantastisch ist, es ist doch zu kalt, denn dieser Wind erstarrt uns bis in die Seele hinein. Wir haben an nichts mehr Freude und ziehen vor, uns zur Ruhe zu begeben und Schlaf zu suchen.
Mein Kamerad, der Kapitän C., der dienstlich Besitz von dem Palast ergriffen hat, führt mich mit einer Laterne und kleinem Gefolge in das für mich bestimmte Zimmer. Es liegt selbstverständlich im Erdgeschoß, denn die chinesischen Bauten sind stets einstöckig. Wie in der Galerie, aus der wir kommen, habe ich hier zum Schutze gegen die Nachtluft nur Glasscheiben, ganz dünne Vorhänge aus weißer Seide, und Oberfenster aus Reispapier, die überall geplatzt sind. Meine Türe, die aus einer einzigen großen Scheibe besteht, werde ich mit einem Bindfaden befestigen, da sie keine Klinke mehr hat.
Am Boden liegen wunderbare gelbe Teppiche, dick wie Kissen. Ich habe ein großes kaiserliches Bett aus geschnitztem Ebenholz, und meine Matratze, mein Kopfkissen sind aus kostbarer golddurchwirkter Seide; Leintücher sind nicht vorhanden, dafür eine grauwollene Soldatendecke.
»Morgen«, sagt mir mein Kamerad, »werde ich aus den Vorratskammern Ihrer Majestät eine Auswahl treffen, um die Ausschmückung dieses Zimmers nach Belieben zu verbessern; es wird niemandem schaden, wenn ich einige Gegenstände verschleppe.«
Hierauf versichert er mir, daß die Tore der äußeren Umfassungsmauer und die Bresche, durch die ich hereinkam, von Posten bewacht sind, und von seinen Ordonnanzen gefolgt, zieht er sich in seine Wohnung am anderen Ende des Palastes zurück.
Völlig angekleidet und gestiefelt wie in der Dschunke, strecke ich mich auf die schönen goldigen Seidenstoffe aus und nehme zu meiner grauen Decke noch einen alten Schafpelz und zwei oder drei kaiserliche Gewänder mit goldgestickten Fabelwesen, alles, was mir gerade in die Hände fällt. Meine beiden am Boden schlafenden Burschen richten sich in der gleichen Weise ein, und bevor ich meine rote Kerze von dem Ahnenaltar ausblase, muß ich mir im Herzensgrund eingestehen, daß unser Ruf als »Barbaren des Abendlandes« seit dem Nachtessen an Berechtigung gewonnen hat.
Der Wind peitscht und zerfetzt in der Dunkelheit die Reste des Reispapiers an meinen Fenstern; über meinem Kopf höre ich ein fortwährendes Rauschen wie das Flattern von Nachtvögeln oder der leise Flug der Fledermäuse.
Und im Halbschlummer höre ich von Zeit zu Zeit auch kurzes Gewehrfeuer oder einen lauten einzelnen Schrei in unheimlicher Ferne . . .
Sonntag, 21. Oktober
Kälte, Finsternis, Tod, alles, was uns gestern abend bedrückte, verschwindet in dem aufgehenden Morgen. Die Sonne strahlt und wärmt wie im Sommer. Um uns leuchtet die durcheinandergeworfene chinesische Pracht in orientalischer Lichtfülle.
Es ist ergötzlich, auf Entdeckungen in diesem halb versteckten Palast auszugehen, der sich in einer Niederung hinter Mauern und Bäumen verbirgt, der nach nichts aussieht, wenn man ankommt, und der mit seinen Nebengebäuden fast so groß ist wie eine Stadt.
Er setzt sich aus langen, an allen Frontseiten mit Glas verschlossenen Galerien zusammen, deren leichtes Holzwerk, Veranden und Säulchen außen mit grüner Bronze und rosa Seerosen bemalt sind.
Man sieht, er ist für die Launen eines Weibes erbaut; man möchte sogar sagen, daß die alte galante Kaiserin mit ihren Nippsachen ein Stück ihrer verblühten und doch noch bezaubernden Anmut hier hinterlassen hat.
Die Galerien schneiden sich im rechten Winkel und bilden auf diese Weise Höfe mit einer Art von Kreuzgängen. Sie sind wie Möbelspeicher mit Kunstgegenständen vollgepfropft, die man ebensogut von außen betrachten kann, denn dieser ganze Palast ist durchsichtig; der Blick dringt ungehemmt von einem Ende bis zum andern. Nichts ist vorhanden, um diese Spiegelscheiben zu schützen, nicht einmal des Nachts; der Ort war von so vielen Mauern umgeben, schien so unverletzlich, daß man an keine Vorsichtsmaßregel gedacht hat.
Im Innern besteht der architektonische Luxus dieser Galerien hauptsächlich in Bogenwölbungen von kostbarem Holz, aus mächtigen Balken gefertigt, aber derart geschnitzt, eingetieft und durchbrochen, daß man Spitzen zu sehen meint, oder besser Laubgänge mit schwarzen Blättern, die sich perspektivisch verjüngen wie die Baumgänge alter Parks.
Der von uns bewohnte Flügel muß der vornehmste gewesen sein. Je näher man dem Walde kommt, in dem der Palast endet, desto einfacher wird seine Ausschmückung. Zuletzt gelangt man in die Wohnungen von Mandarinen, Verwaltern, Gärtnern, Dienern – alle in Eile verlassen und voll unbekannter Dinge, Kult- oder Haushaltsgegenstände, Kopfbedeckungen für Zeremonien und Hoflivreen.
Dann gelangt man durch eine mit Skulpturen überladene Marmortür in einen geschlossenen Garten, wo man kleine Wasserbecken und anspruchsvolles, bizarres Muschelwerk sowie Reihen von Fayencevasen mit vertrockneten oder erfrorenen Pflanzen findet. Weiterhin kommen Obstgärten, wo Kakifrüchte, Trauben, Eieräpfel, Melonen und Flaschenkürbisse gezogen wurden – besonders Flaschenkürbisse, die hier als glückbringend gelten. Die Kaiserin pflegte mit ihren weißen Händen allen hohen Würdenträgern, die zur Aufwartung kamen, einen solchen im Tausch für herrliche Geschenke zu reichen. Hier liegen kleine Gartenhäuser für die Seidenraupenzucht und kleine Kioske zur Aufbewahrung von Gemüsesamen – jede Samengattung für sich in einem Porzellankrug mit dem kaiserlichen Drachen, der jedem Museum zur Zierde gereichen würde.
Die Wege dieser künstlichen Meierei verlieren sich schließlich im Buschwerk unter den entblätterten Bäumen des Haines, wo heute in der schönen Herbstsonne Raben und Elstern scharenweise umherspazieren. Es scheint, daß die Kaiserin beim Verzicht auf die Regentschaft – man weiß, durch welchen kecken Kunstgriffes ihr gelang, sie so schnell wieder an sich zu reißen – den Einfall gehabt hat, sich hier eine Art Landsitz einzurichten, mitten im Herzen von Peking, im Zentrum dieses ungeheuren menschlichen Ameisenhaufens.
Das Merkwürdigste in dem Ganzen ist eine gotische Kirche mit zwei granitenen Glockentürmen, einem Pfarrhaus und einer Schule – alles einst durch Missionare in großen Verhältnissen erbaut. Um diesen Palast zu errichten, hatte man die Grenze der »Kaiserlichen Stadt« weiter hinausschieben und den kleinen christlichen Bezirk einbeziehen müssen; deshalb hatte die Kaiserin dieses Anwesen von den Lazaristen gegen eine größere Baustelle und eine schönere Kirche eingetauscht, die sie auf eigene Kosten erbauen ließ – (gegen das neue Pei-tang, wo die Missionare und einige Tausend Bekehrte im letzten Sommer vier Monate lang die Schrecken der Belagerung erdulden mußten). Als ordnungsliebende Frau hatte Ihre Majestät diese Kirche samt Nebengebäuden in der Folge dazu verwendet, ihre Vorräte aller Art in unzähligen Kisten unterzubringen. Nun hat man aber keine Ahnung, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, was für seltsame, ausgefallene und wunderliche Dinge es unter den Vorräten einer Kaiserin von China geben kann!
Zuerst haben die Japaner hier gehaust; dann sind die Kosaken gekommen und zuletzt die Deutschen, die uns schließlich das Feld räumten. Jetzt herrscht in der ganzen Kirche ein unbeschreibliches Durcheinander; die Kisten sind geöffnet oder aufgebrochen, ihr kostbarer Inhalt ausgeschüttet, in Trümmer geschlagen; Bäche von Scherben, Emailstücken, Elfenbein und Porzellan ergießen sich überall.
Übrigens herrscht das gleiche Durcheinander in den langen verglasten Galerien des Palastes. Mein Kamerad, der den Auftrag hat, dieses Chaos zu entwirren und zu inventarisieren, erinnert mich an den Mann, den ein böser Geist in ein mit Federn aller Vögel des Waldes angefülltes Zimmer gesperrt und dazu verurteilt hatte, sie nach einzelnen Arten zu sondern: hier die Finken, die Hänflinge, dort die Dompfaffen . . . Trotzdem hat er sich bereits an diese merkwürdige Aufgabe gemacht, und chinesische Lastträgerkommandos unter Aufsicht einiger Marine-Infanteristen und einiger Chasseurs d'Afrique haben bereits mit dem Aufräumen begonnen.
Geht man am anderen Ufer des Lotossees auf dem Weg, den ich gestern abend einschlug, etwa fünfhundert Meter zurück, so trifft man auf einen zweiten Palast der Kaiserin, der uns ebenfalls angewiesen ist. In diesem Palaste soll vorderhand noch niemand wohnen, ich bin aber ermächtigt, an den wenigen Tagen meines Aufenthaltes mir ein Arbeitszimmer in andächtiger Stille dort einzurichten – und heute morgen will ich Besitz davon ergreifen.
Das ist der Palast der Rotunde, gerade gegenüber der Marmorbrücke. Er gleicht einer runden Festung, auf die man kleine Wachttürme, kleine Fayenceschlösser für Feen gesetzt hätte. Das einzige niedrige Tor wird Tag und Nacht von Soldaten der Marine-Infanterie bewacht, welche die Weisung haben, keinem Besucher zu öffnen.
Hat man dieses Tor der Zitadelle durchschritten und ist es von den Schildwachen wieder geschlossen, so tritt man in eine köstliche Einsamkeit. Eine steile Rampe führt auf eine etwa zwölf Meter hoch gelegene Plattform, welche die Wachtürme und Kioske trägt, die wir von unten gesehen hatten, außerdem einen Garten mit uralten Bäumen, labyrinthisch angelegtes Muschelwerk und eine große, in Glanzziegeln und Gold funkelnde Pagode.
Von hier blickt man senkrecht hinab auf die Paläste und den Park. Auf der einen Seite dehnt sich der Spiegel des Lotossees; auf der andern erblickt man wie aus der Vogelperspektive die »Violette Stadt« und die fast endlose Reihe der hohen kaiserlichen Dächer: eine ganze Welt für sich, eine Welt von gelben, in der Sonne leuchtenden Glasurziegeln, eine Welt von Hörnern und Krallen, von tausenden von Ungeheuern, die auf den Giebeln ragen oder an den Dachtraufen schweben . . .
Im Schatten der alten Bäume wandre ich in der Einsamkeit dieses hochgelegenen Ortes umher, um die ganze Anlage kennen zu lernen und mir eine Wohnung nach meinem Geschmack auszusuchen.
Inmitten des Platzes steht die herrliche Pagode, um die Granaten geplatzt sind und die Spuren des Kampfes noch sichtbar sind. Die Gottheit dieses Tempels aber, eine Art Palladium des chinesischen Reiches, eine weiße Göttin aus Alabaster in edelsteinbesetztem Goldgewand, sinnt hier gesenkten Blickes, ruhig lächelnd und sanft, inmitten der tausend Trümmer ihrer heiligen Gefäße, ihrer Räucherpfannen und Blumen.
Anderswo ist die ganze Einrichtung eines großen dunklen Saales unversehrt geblieben, ein wunderbarer Thron aus Ebenholz, Wandschirme, Sessel in allen Formen und goldgelbe, mit Wolken durchwirkte Kissen aus schwerer kaiserlicher Seide.
Unter den vielen stillen Kiosken fällt meine Wahl auf einen am Rande der weiten Plattform auf dem Kamm des Ringwalles, der über den Lotossee und die Marmorbrücke hinwegschaut und eine Aussicht auf diese ganze künstliche Landschaft bietet, die einst mit vielen Goldbarren und Menschenleben für die müden Augen der Kaiser geschaffen wurde.
Er ist kaum größer als eine Schiffskabine, aber unter seinem Fayencedach ringsum mit Glas verschlossen, sodaß ich mich an der chinesischen Herbstsonne, die sich fast nie zu verschleiern scheint, wohl bis zum Abend werde wärmen können. Ich lasse aus dem dunklen Saal einen Tisch und zwei Ebenholzstühle mit gelben Seidenkissen hineintragen, und nachdem meine Einrichtung derart beendet ist, kehre ich über die Marmorbrücke zum Nordpalast zurück, wo mich Kapitän C., der Kamerad meiner chinesischen Träume, zum Frühstück erwartet.
Ich komme gerade zur Zeit, um noch die am Vormittag hier gemachten eigenartigen Funde zu sehen, bevor sie den Flammen überliefert werden: Dekorationen, Staffagen und anderes Zubehör des kaiserlichen Theaters; lauter leichte, umfangreiche Sachen, ohne Zweifel nur für einen oder zwei Abende bestimmt und dann seit langer Zeit in einem nie geöffneten Saale vergessen, der jetzt geleert und gereinigt werden soll, um Raum für unsere Verwundeten und Kranken zu schaffen. Offenbar sollten auf diesem Theater vor allem mythologische Feenstücke aufgeführt werden, die in der Hölle oder bei den Göttern in den Wolken spielten. All diese Ungeheuer, Fabelwesen, Tiere und Teufel aus Pappe oder Papier waren auf Gerüste aus Bambus oder Fischbein gespannt, alles mit einer hervorragenden Gabe für das Scheußliche, mit einer Einbildungskraft hergestellt, welche die Schreckbilder von Alpträumen weit hinter sich lassen! . . .
Übrigens haben Ratten, Feuchtigkeit und Termiten alles unheilbar verdorben, sodaß beschlossen wurde, diese Figuren zu verbrennen, die allein den Zweck hatten, dem jungen, wollüstigen, schläfrigen und schwachen Kaiser ergötzliche oder schreckliche Traumbilder vorzugaukeln . . .
Den Eifer unserer Soldaten muß man sehen, wie sie das alles unter fröhlichem Lachen hinausräumen. Nun liegen in der schönen Mittagssonne mitten im Hofe die apokalyptischen Tiere und naturgroßen Elefanten mit Schuppen und Hörnern wirr durcheinander, alles federleicht und von einem einzigen Mann zu handhaben und in Bewegung zu setzen. Unsere Chasseurs d'Afrique zertrümmern sie mit ihren Absätzen, springen darüber hinweg und hinein, laufen hindurch, zerfetzen sie zu einem Nichts und zünden zum Schluß ein lustiges Feuer an, das sie im Nu verzehrt.
Die wackeren Soldaten haben außerdem den ganzen Vormittag daran gearbeitet, die Fensterrahmen unseres Palastes wieder mit Reispapier zu verkleben, so daß der Wind nicht mehr eindringen kann. Was die Heizung betrifft, so erfolgt sie nach chinesischem Brauch durch unterirdische Öfen, die in der Flucht der Säle angebracht sind; wir werden sie heute abend anheizen, sobald die Nachtkälte beginnt. Für den Augenblick genügt uns die prachtvolle Sonne; alle diese mit Glas verschlossenen Galerien, in denen Seide, Email und Gold glänzen, haben die Wärme von Treibhäusern, und während wir unsere karge Feldration wieder auf kaiserlichem Tafelgeschirr verzehren, bilden wir uns ein, wir wären im Sommer.
Aber der Himmel Pekings hat heftige und plötzliche Umschläge, von denen wir in unserem gleichmäßigen Klima keine Ahnung haben. Als ich um Mittag wieder unter die Zedern der »Gelben Stadt« hinaustrete, ist die Sonne plötzlich hinter bleiernen Schneewolken verschwunden; der Wind aus der Mongolei beginnt wieder wie gestern rauh und eisig zu blasen, und so folgt der nordische Winter unvermittelt auf ein paar Stunden strahlender Südsonne.
Hier im Gehölz erwarte ich die Mitglieder der französischen Gesandtschaft, um mit ihnen in die grabesheilige »Violette Stadt« einzudringen, die der Mittelpunkt, das Herz und das Mysterium Chinas ist, die eigentlichste Heimstätte der Söhne des Himmels, die ungeheure sardanapalische Zwingburg, neben der alle die kleinen modernen Paläste, die wir mitten in der »Kaiserlichen Stadt« bewohnen, wie Kinderspielzeug erscheinen.
Selbst nach der Flucht des Hofes kann nicht jeder Beliebige die »Violette Stadt« mit ihren großen gelben glasierten Ziegeldächern betreten. Hinter den doppelten Umfassungsmauern wohnen noch Mandarine und Eunuchen an dieser Stätte der Bedrückung und der Pracht; es heißt sogar, daß auch Frauen hiergeblieben sind, verborgene Prinzessinnen, Schätze. Die beiden Tore sind streng bewacht, das nördliche durch Japaner, das südliche durch Amerikaner.
Das erstere ist uns heute zum Eintritt freigegeben. Wir finden eine Gruppe kleiner japanischer Soldaten, die uns lächelnd bewillkommnen; aber das unheimliche, dunkelrote, mit vergoldeten Köpfen von Ungeheuern beschlagene Tor ist von innen verschlossen und widersteht ihren Anstrengungen. Durch die im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Spalten der riesigen Flügel erblicken wir von rückwärts angelegte Holzbalken, die das Öffnen verhindern sollen, und Leute, die auf den Lärm der Kolbenschläge aus dem Innern herbeilaufen, antworten mit flötender Stimme, sie hätten keine Weisungen.
Da drohen wir, das Tor in Brand zu stecken, hinaufzuklettern, Revolverschüsse durch die Ritzen abzufeuern usw., was wir selbstverständlich alles nicht tun werden, was aber den Erfolg hat, die Eunuchen heftig zu erschrecken und in die Flucht zu jagen.
Kein Mensch ist mehr da, um uns eine Antwort zu geben! Was tun ? Man friert am Fuß dieser unheimlichen Mauer, in der Feuchtigkeit der Ringgräben voll welken Schilfes und dem immerfort blasenden Schneewind.
Aber die braven kleinen Japaner kommen auf den Gedanken, den Vierschrötigsten unter ihnen wegzuschicken, und er läuft, was er kann, rings um die Mauern, um durch das andere Tor einzudringen (ein Weg von ungefähr vier Kilometern). Währenddessen zünden die übrigen für uns auf der Erde ein Feuer aus Zedernzweigen und bemalten Holzverkleidungen an, an dem wir uns nacheinander im dichten Rauche die Hände wärmen. Wir belustigen uns auch damit, hier und da in der Nähe alte befiederte Pfeile aufzulesen, die einst die Prinzen oder die Kaiser von den Wällen herabgesandt haben.
So harren wir geduldig eine Stunde, als endlich Lärm und Rufe hinter dem stillen Tor laut werden: unser Abgesandter ist in die Festung gelangt und treibt mit Faustschlägen die Eunuchen auseinander, denen er in den Rücken gefallen ist.
Sofort sinken die Balken mit dumpfem Krach, und vor uns öffnen sich die beiden grausigen Torflügel.