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Zwei Uhr Morgens.
Besonders in der Nacht war sie aufmerksam auf jeden Schritt, der sich näherte; beim leisesten Geräusch, beim geringsten ungewohnten Ton bebten ihr die Schläfen; vor lauter ewigem Gespanntsein auf die Dinge draußen waren sie entsetzlich schmerzhaft geworden.
Zwei Uhr Morgens. In dieser Nacht, wie in den anderen lag sie mit gefalteten Händen und offenen Augen in der Dunkelheit und hörte dem Winde zu, mit seinem ewigen Rauschen über die Haide hin.
Plötzlich Männerschritte, eilende Männerschritte im Wege! Zu solcher Stunde? Wer konnte vorübergehen? Sie richtete sich auf, bis in die tiefste Seele bewegt, und ihr Herz hörte zu schlagen auf.
Es blieb vor der Thür stehen, es kam die Steinstufen herauf. ...
Er! O Himmelsglück, er! es hatte geklopft – konnte es ein Anderer sein? ... Sie stand schon auf den bloßen Füßen; sie, die seit so vielen Tagen so schwach war, war leicht und behend emporgesprungen wie eine Katze, mit offenen Armen, um den Geliebten zu umfangen. Sicher war die Leopoldine in der Nacht angekommen, hatte gegenüber in der Bucht von Pors-Even Anker geworfen – und er eilte hierher; das alles hatte sie wie der Blitz in ihrem Kopfe zusammengestellt. Und jetzt zerriß sie sich die Finger am Thürhaken in ihrer verzweifelten Hast, den harten Riegel zurückzuschieben. ...
*
Ah! ... Und dann schwankte sie langsam, gebrochen rückwärts, den Kopf auf die Brust gesunken. Ihr schöner, wahnwitziger Traum war vorüber. Es war nur Fantec, ihr Nachbar. ... Nur so lange, um zu begreifen, daß es nur er sei, daß nichts von ihrem Yann vorübergeweht, und sie fühlte sich allmählich in den nämlichen Abgrund zurückgeschleudert, bis auf den Grund der nämlichen gräßlichen Verzweiflung.
Er entschuldigte sich, der arme Fantec: seine Frau, das wußte man, war sterbenskrank, und nun war auch sein Kind, in seiner Wiege am Ersticken, durch schlimmes Halsweh bedroht; darum war er gekommen, um Hilfe bitten, während er ohne Aufenthalt den Arzt in Paimpol holte. ...
Was ging dies alles sie an? In ihrem Schmerze schroff und wild geworden, hatte sie nichts mehr übrig für Anderer Leid. Auf einer Bank zusammengesunken, starrte sie ihn an wie eine Todte, ohne ihm zu antworten, oder ihn anzuhören oder auch nur anzusehen. Was machten ihr die Dinge, die dieser Mensch erzählte?
Da begriff er Alles; er errieth, warum man ihm so schnell diese Thüre geöffnet, und ihn erfaßte das Mitleid über das, was er da gethan.
Er stotterte eine Entschuldigung.
Es war wahr, gerade sie hätte er nicht stören sollen. –
»Mich?« antwortete Gaud lebhaft, »und warum denn nicht mich, Fantec?«
Das Leben war mit einem Ruck wieder in sie zurückgekehrt, denn sie wollte in Andrer Augen noch keine Verzweifelte sein, sie wollte es durchaus nicht. Und dann kam nun auch Mitleid mit ihm; sie kleidete sich an, um ihm zu folgen, und fand die Kraft, sein kleines Kind zu pflegen.
Als sie wiederkam, sich auf ihr Bett zu werfen, um vier Uhr, überfiel sie der Schlaf für einen Augenblick, weil sie sehr müde war.
Aber diese eine Minute überwältigender Freude hatte in ihrem Kopfe einen Eindruck gelassen, der trotz alledem nachwirkte; bald fuhr sie empor und richtete sich halb auf, in der Erinnerung an irgend Etwas ... Es hatte doch etwas Neues gegeben in Bezug auf Yann ... In der Verwirrung der wiederkehrenden Gedanken suchte sie rasch in ihrem Kopf, suchte, was es sein könne ...
Ach! Nichts war es! – nein, nichts als Fantec. Und zum zweiten Mal fiel sie bis in die Tiefe des Abgrundes hinab. Nein, in Wahrheit nichts war verändert in ihrem trostlosen, hoffnungslosen Warten.
Und doch, ihn so nahe gefühlt zu haben, das war, als wenn etwas, das von ihm ausgegangen, sie umschwebt hätte: es war, was man im Bretoner Lande ein »Vorzeichen« nennt; und sie horchte gespannter auf die Schritte draußen, im Vorgefühl, Jemand werde kommen und von ihm sprechen.
Und in der That! als es Tag ward, kam Yann's Vater herein. Er nahm die Mütze herunter und strich sein schönes weißes Haar zurück, das lockig war wie seines Sohnes Haar, und setzte sich zu Gaud an's Bett. Er hatte auch ein todesbanges Herz; denn sein Yann, sein schöner Yann war sein Aeltester, sein Liebling, sein Stolz. Aber er verzweifelte nicht; nein wirklich, er verzweifelte noch nicht. Er begann Gaud in sanftester Weise zu beruhigen: erstens sprachen die letzten Ankömmlinge aus Island von sehr dichten Nebeln, die wohl das Fahrzeug verspäten konnten, und dann war ihm besonders ein Gedanke aufgestiegen: vielleicht lagen sie in einem Nothhafen auf den Feroeinseln, die ferne Inseln auf dem Wege sind, und von wo die Briefe sehr lange Zeit brauchen! Das war ihm selber passirt, vor etwa vierzig Jahren, und seine arme selige Mutter hatte schon eine Seelenmesse für ihn lesen lassen ... Solch ein gutes Schiff wie die Leopoldine, noch fast neu, und solche treffliche Seeleute, wie sie alle an Bord waren ...
Die alte Moan strich um die Beiden herum und nickte mit dem Kopfe; die Noth ihrer Tochter hatte ihr beinahe Kraft und Gedanken zurückgegeben; sie sorgte für die Haushaltung und blickte von Zeit zu Zeit auf das vergilbte Bild ihres Sylvester, das an der Wand hing, mit seinen Marineankern und seinem kleinen Kranz von schwarzen Perlen; nein, seit die See ihr ihren Enkel geraubt, glaubte sie nicht mehr daran, an das Wiederkommen der Matrosen; sie betete nur noch aus Furcht zur Mutter Gottes, mit ihren armen alten Lippen; im Herzen hatte sie einen schlimmen Groll gegen sie bewahrt.
Aber Gaud horchte gierig auf die Tröstungen, ihre großen, schwarzgeränderten Augen sahen mit Zärtlichkeit auf den Greis, der ihrem Geliebten glich; schon ihn da, bei sich zu haben, war wie ein Schutz gegen den Tod, und sie fühlte sich sicherer, näher ihrem Yann. Ihre Thränen rieselten stiller und sanfter nieder, und sie wiederholte im Herzen heiße Gebete an die Jungfrau, Stern der Meere.
Eine Rast dort, bei den Inseln, vielleicht wegen erlittenen Schadens; das war in der That eine Möglichkeit. Sie erhob sich, glättete ihr Haar und kleidete sich sorgfältiger, als könnte er kommen. Ohne Zweifel war nicht Alles verloren, da er noch hoffte, er, sein Vater. Und während einiger Tage begann sie wieder zu warten.
Nun war es wirklich Herbst, und sogar Spätherbst, mit den früh hereinsinkenden, düsteren Nächten, wo frühzeitig Alles dunkel wurde in der alten Hütte, und schwarz auch Alles ringsumher in der alten Bretagne.
Die Tage selbst schienen nur noch Dämmerungen; ungeheure, langsam ziehende Wolken machten selbst die Mittagsstunden dunkel. Der Wind rauschte unablässig; es war wie ein ferner Klang von großen Kirchenorgeln, die böse oder verzweifelte Lieder spielten; andere Male warf er sich dicht gegen die Pforte und heulte wie Thiere.
Bleich, bleich war sie geworden und hielt sich immer gebückter, als hätte das Alter sie schon mit seinem kahlen Fittig gestreift. Sehr oft berührte sie ihres Yann Kleider, seine schönen Hochzeitskleider, sie entfaltend und wieder zusammenlegend wie eine Irrsinnige, – besonders ein Tricot aus blauer Wolle, das die Form seines Körpers behalten; wenn man es sanft auf den Tisch warf, dann zeigte es von selbst, wie durch Gewohnheit, seine gewölbte Brust, seine Schultern; darum hatte sie es auch zuletzt ganz allein in ein Fach ihres Schrankes gelegt, um es nicht mehr zu bewegen, auf daß es länger den Abdruck bewahre.
Jeden Abend stiegen die kalten Nebel vom Lande auf; dann betrachtete sie durch ihr Fenster die traurige Haide, wo kleine Rauchbüschel aus den andern Hütten aufzusteigen begannen; dort waren alle Männer heimgekehrt, wie Wandervögel, die die Kälte zurückgebracht. Und vor vielen dieser Feuer mußten die Abendstunden süß sein; denn neue Liebe zog mit Wintersanfang bei den Isländern ein ...
An den Gedanken dieser Inseln, wo er rasten konnte, sich festklammernd, eine Art Hoffnung wieder nährend, hatte sie von Frischem angefangen, ihn zu erwarten ...