Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Grau und frostig brach der Tag an. Das Boot lag scharf an dem frischen Winde, und der Kompaß zeigte, daß wir genau den Kurs nahmen, der uns nach Japan führte. Trotz den Fausthandschuhen waren meine Finger kalt und klamm vom Halten des Steuerruders. Meine Füße brannten vor Frost, und ich hoffte nur, daß die Sonne scheinen sollte.

Vor mir, auf dem Boden des Bootes, lag Maud. Sie wenigstens war warm, denn sie war in dicke Decken eingehüllt. Die oberste hatte ich ihr übers Gesicht gezogen, um sie vor der Nachtkälte zu beschützen, und ich konnte nichts von ihr sehen als die unbestimmten Umrisse ihrer Gestalt und ihr hellbraunes Haar, das, mit Trautropfen wie mit Juwelen besät, unter der Decke hervorlugte.

Lange blickte ich auf sie, ließ meine Augen auf dem wenigen ruhen, das von ihr sichtbar war, wie ein Mann das betrachtet, das ihm das Teuerste auf der Welt ist. So hartnäckig war mein Blick, daß sie sich schließlich unter den Decken regte, der oberste Zipfel wurde zurückgeschlagen, und sie lächelte mich mit Augen an, die noch schwer vom Schlafe waren.

»Guten Morgen, Herr van Weyden«, sagte sie. »Haben Sie schon Land gesichtet?«

»Nein«, antwortete ich, »aber wir nähern uns ihm mit einer Geschwindigkeit von sechs Meilen die Stunde.« Sie blickte mich erschrocken an.

»Aber das sind ja hundertvierundvierzig Meilen in vierundzwanzig Stunden«, fügte ich beruhigend hinzu.

Ihre Züge erhellten sich. »Und wie weit ist es?«

»In dieser Richtung liegt Sibirien«, sagte ich und wies nach Westen. »Aber etwa sechshundert Meilen westwärts liegt Japan. Wenn der Wind anhält, werden wir es in fünf Tagen schaffen.«

»Und wenn Sturm kommt? Dann kann sich das Boot wohl nicht halten?«

Sie hatte eine eigene Art, einem in die Augen zu blicken und die Wahrheit zu fordern, und so blickte sie mich auch jetzt an, als sie die Frage stellte.

»Dann müßte es schon sehr stürmen«, sagte ich zögernd.

»Und wenn es sehr stürmt?«

Ich nickte. »Aber es kann auch jederzeit geschehen, daß wir von einem Robbenschoner aufgenommen werden. Dieser Teil des Ozeans wird sehr viel von ihnen befahren.«

»Gott, Sie sind ja ganz durchfroren!« rief sie aus. »Sehen Sie: Sie zittern ja. Sagen Sie nicht nein; Sie zittern. Und ich lag hier warm und sicher wie in Abrahams Schoß!«

»Ich kann nicht einsehen, was es an der Sache geändert hätte, wenn Sie auch durchfroren wären«, lachte ich.

»Ich werde es ja doch, sobald ich steuern gelernt habe, was ja hoffentlich bald der Fall sein wird.«

Sie setzte sich auf und begann, ihre einfache Toilette zu machen. Sie schüttelte ihr Haar auf, daß es ihr in einer braunen Wolke um Gesicht und Schultern fiel. Ihr herrliches braunes Haar! Ich hätte es küssen, es durch meine Finger gleiten lassen, mein Gesicht darin vergraben mögen! Wie verzaubert starrte ich sie an und vergaß das Ruder, bis das Boot in den Wind lief und das flatternde Segel mich an meine Pflicht mahnte. »Warum tragen die Frauen ihr Haar nicht immer offen?« fragte ich. »Es ist doch viel schöner.«

»Wenn es nicht so schrecklich unordentlich würde!« lachte sie. »Schauen Sie, jetzt habe ich eine von meinen kostbaren Haarnadeln verloren!«

Wieder vernachlässigte ich das Boot und ließ das Segel in den Wind brassen, so groß war mein Entzücken an jeder ihrer Bewegungen, als sie jetzt die Nadel zwischen all den Decken suchte. Ich war überrascht und froh, als ich sah, wie weiblich sie war, denn in meiner Vorstellung hatte ich fast ein göttliches, gänzlich unnahbares Wesen aus ihr gemacht. So begrüßte ich denn mit Freuden die kleinen Züge, die sie doch alles in allem als echtes Weib offenbarten, wie zum Beispiel die Kopfbewegung, mit der sie die Wolke ihres Haares zurückwarf, und das Suchen nach der Haarnadel.

Mit einem reizenden kleinen Schrei fand sie die Nadel, und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Steuerruder zu. Ich versuchte, das Ruder mit Hilfe eines Keils festzumachen, und das Boot hielt seinen Kurs ganz gut ohne meine Hilfe. Nur gelegentlich kam es zu dicht an den Wind oder fiel etwas ab, aber jedesmal richtete es sich von selber wieder und benahm sich überhaupt recht befriedigend.

»Und nun wollen wir frühstücken«, sagte ich. »Zunächst aber müssen Sie sich etwas wärmer kleiden.« Ich suchte ein neues Hemd hervor, das aus demselben Stoff wie die Decken gemacht war. Ich kannte das Gewebe und wußte, daß es wasserdicht war und selbst bei stundenlangem Regen keine Feuchtigkeit durchließ. Als sie es übergestreift hatte, vertauschte ich ihre Knabenmütze gegen eine Männerkappe, die groß genug war, ihr Haar zu bedecken, und die, wenn die Klappen heruntergeschlagen wurden, ihr ganz über Ohren und Hals ging. Die Wirkung war bezaubernd. Nichts vermochte das köstliche Oval, die fast klassischen Linien, die wie mit dem Pinsel gezogenen Brauen, die großen braunen Augen mit ihrem klaren, ruhigen Blick zu zerstören.

Ein etwas stärkerer Stoß traf uns, als wir gerade einen Wogenkamm passierten. Das Boot legte sich soviel über, daß der Rand der Reling die Oberfläche streifte und wir etwa eine Pütze Wasser übernahmen. Ich war gerade dabei, eine Dose mit Zunge zu öffnen. Ich ließ sie fallen, sprang an die Schoot und warf sie gerade noch im rechten Augenblick hinüber. Das Segel schlug und flatterte, und das Boot kam klar. Wenige Minuten später hatte ich es wieder in den Kurs gebracht und konnte die Vorbereitungen zum Frühstück wieder aufnehmen.

»Es funktioniert, wie es scheint, sehr gut, wenn ich auch in seemännischen Fragen nicht sehr erfahren bin«, sagte sie und nickte beifällig mit dem Kopfe nach meiner Steuervorrichtung.

»Aber es geht nur, solange wir mit dem Winde segeln«, erklärte ich. »Wenn wir den Wind dwars haben oder kreuzen müssen, muß ich doch steuern.«

»Ich muß gestehen, daß mir Ihre technischen Ausdrücke fremd sind«, sagte sie. »Aber ich verstehe Ihre Schlußfolgerung und bin nicht gerade froh darüber. Sie können doch nicht ununterbrochen Tag und Nacht steuern. Sie werden mir also nach dem Frühstück meine erste Unterrichtsstunde erteilen. Und dann werden Sie sich hinlegen und schlafen. Wir werden Wachen bilden wie auf einem Schiff.«

»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll«, wandte ich ein. »Ich bin ja selbst erst Schüler. Als Sie sich mir anvertrauten, haben Sie wohl kaum bedacht, daß ich keine Erfahrung habe. Es ist das erstemal, daß ich mich überhaupt in einem kleinen Boote befinde.«

»Dann müssen wir es gemeinsam lernen, Käptn. Und da Sie einen Vorsprung von einer Nacht haben, werden Sie mich lehren, was Sie unterdessen gelernt haben. Und nun das Frühstück! Die Luft macht hungrig!«

»Kaffee gibt es nicht!« sagte ich bedauernd und reichte ihr mit Butter bestrichenen Zwieback und eine Scheibe Zunge. »Und es wird keinen Tee, keine Suppe und überhaupt nichts Warmes geben, bis wir irgendwo an Land gekommen sind.«

Nach einem einfachen Frühstück, das durch eine Tasse kalten Wassers gekrönt wurde, erhielt Maud ihre erste Unterrichtsstunde im Steuern. Während ich sie unterwies, lernte ich selbst ein gut Teil; ich wandte die Kenntnisse an, die ich mir durch das Segeln der ›Ghost‹ und das Beobachten der Bootssteuerer angeeignet hatte. Maud war eine gelehrige Schülerin und lernte bald, den Kurs zu halten, vor den Windstößen zu luven und im Notfall die Schoot hinüberzuwerfen.

Als sie von der Arbeit offenbar übermüdet war, überließ sie mir wieder das Ruder Ich hatte die Decken zusammengelegt, aber sie breitete sie jetzt wieder auf dem Boden aus. Als das geschehen war, sagte sie:

»So, Käptn, jetzt gehen Sie in die Koje. Und Sie werden bis zum zweiten Frühstück schlafen – bis zum Mittagessen«, verbesserte sie sich, indem sie an die Zeiteinteilung auf der ›Ghost‹ dachte.

Was sollte ich tun? Sie bestand darauf und sagte »Bitte, bitte!«, worauf ich ihr das Ruder überließ und gehorchte. Ich hatte ein wundersames Gefühl, als ich in das Bett kroch, das sie mir mit ihren Händen bereitet hatte. Die Ruhe und Selbstbeherrschung, die einen so bedeutsamen Teil ihres Wesens ausmachten, schienen sich den Decken mitgeteilt zu haben. Ich sank in eine sanfte Schläfrigkeit und Zufriedenheit. Das feine Oval mit den braunen Augen in dem Rahmen der Fischermütze wiegte sich vor dem Hintergrund bald grauer Wolken und bald grauer Wogen – dann wußte ich, daß ich geschlafen hatte.

Ich sah auf meine Uhr. Ich hatte sieben Stunden geschlafen. Und sie hatte sieben gesteuert! Als ich das Ruder nahm, mußte ich ihr die gekrampften Finger öffnen. All ihr bißchen Kraft war erschöpft, und sie war nicht einmal imstande, sich von ihrem Platz zu bewegen. Ich mußte die Schoot fahren lassen, um ihr in das warme Nest von Decken zu helfen und ihre Hände und Arme zu reiben.

»Ich bin so müde!« sagte sie; ihr Atem ging schnell, und sie ließ ihren Kopf mit einem Seufzer sinken.

Aber im nächsten Augenblick richtete sie sich wieder auf. »Jetzt schelten Sie aber nicht, wagen Sie nicht zu schelten«, rief sie mit lustigem Trotz.

»Ich hoffe, daß ich kein böses Gesicht mache,« sagte ich ernst, »denn ich versichere Ihnen, daß ich nicht im geringsten ärgerlich bin.«

»Nein«, meinte sie nachdenklich. »Es sieht nur vorwurfsvoll aus.«

»Dann ist es ein ehrliches Gesicht und drückt nur aus, was ich fühle. Sie haben unrecht sowohl gegen sich selbst wie gegen mich gehandelt. Wie soll ich in Zukunft Vertrauen zu Ihnen haben?«

Sie sah ganz reuevoll aus. »Ich werde brav sein«, sagte sie wie ein unartiges Kind. »Ich verspreche –«

»Zu gehorchen, wie ein Matrose seinem Kapitän gehorcht?«

»Ja«, sagte sie. »Es war dumm von mir, ich weiß.«

»Dann müssen Sie mir etwas versprechen«, meinte ich. »Gern.«

»Sie dürfen nicht zu oft ›Bitte, bitte!‹ sagen, denn sonst untergraben Sie meine Autorität.«

Sie lachte belustigt. Auch sie hatte die Macht ihres »Bitte, bitte!« bemerkt.

»Das Wort ist schön – –«, begann ich.

»Aber ich darf es nicht ausnutzen«, unterbrach sie mich.

Dann lachte sie müde und ließ den Kopf wieder zurücksinken. Ich überließ das Ruder sich selbst, um ihre Füße in die Decken zu wickeln und ihr einen Zipfel über das Gesicht zu ziehen. Ach, sie war nicht kräftig! Ich sah mit Besorgnis nach Südwest und dachte an die sechshundert Meilen, die mit ihrer Mühsal vor uns lagen – –, ach, wenn es nur nichts Schlimmeres als Mühsal werden sollte. Auf diesem Meere konnte jederzeit ein vernichtender Sturm aufkommen. Und doch fürchtete ich mich nicht. Ich setzte nicht viel Vertrauen auf die Zukunft, war sogar sehr zweifelhaft, und doch wurde ich nicht von Furcht übermannt. »Es muß gut gehen, es muß gut gehen!« – Das wiederholte ich mir immer wieder.

Am Nachmittag frischte der Wind wieder auf, die See wurde unruhiger und stellte mich und das Boot auf eine harte Probe. Aber der Proviant und die neun Wasserfässer waren ein guter Ballast, der das Boot in den Stand setzte, See und Wind zu trotzen, und ich hielt das Segel, solange ich es wagte. Dann holte ich es ein, beschlug es, und wir liefen weiter.

Einige Stunden später sichtete ich den Rauch eines Dampfers am Horizont in Lee. Es mußte meiner Ansicht nach entweder ein russischer Kreuzer oder, wahrscheinlicher, die ›Macedonia‹, sein, die noch auf der Suche nach der ›Ghost‹ war. Die Sonne war den ganzen Tag nicht zum Vorschein gekommen, und es war bitterkalt gewesen. Als die Nacht sich herabsenkte, wurden die Wolken dunkler, und der Wind frischte noch mehr auf, so daß Maud und ich mit Fausthandschuhen Abendbrot aßen und ich am Ruder blieb und nur hin und wieder zwischen den Windstößen einen Bissen zu mir nahm.

Inzwischen war es ganz dunkel geworden, Wind und Wogen wurden zuviel für das kleine Fahrzeug, und so holte ich das Segel ein und versuchte, einen Dregg- oder Seeanker zu machen. Ich hatte diese Kunst durch Gespräche mit den Jägern erfahren, und es war eine ganz einfache Sache. Ich legte das Segel zusammen, surrte es gehörig an Mast, Baum, Spriet und zwei Paar Reserveriemen fest und warf es über Bord. Eine Leine verband es mit dem Bug, und da es tief im Wasser lag und dem Winde keinen Widerstand bot, trieb es langsamer als das Boot. Infolgedessen hielt es den Bug in See und Wind – die sicherste Lage, um sich gegen das Kentern zu schützen, wenn Sturzseen kamen.

»Und jetzt?« fragte Maud fröhlich, als die Arbeit vollbracht war und ich mir die Fausthandschuhe wieder anzog.

»Jetzt fahren wir nicht mehr nach Japan«, sagte ich. »Wir treiben in der Richtung nach Südost oder Südsüdost mit einer Schnelligkeit von mindestens zwei Meilen die Stunde.«

»Das sind vierundzwanzig Meilen«, meinte sie, »wenn der Wind die ganze Nacht weht.«

»Und hundertundvierzig, wenn er drei Tage und Nächte anhält.«

»Aber er wird nicht anhalten!« sagte sie zuversichtlich. »Er wird sich drehen und wenden, wie wir ihn brauchen.«

»Das Meer ist der große Treulose.«

»Aber nicht der Wind!« erwiderte sie. Sie wurde ganz beredt, wenn sie auf den prächtigen Passat zu sprechen kam.

»Wenn ich nur daran gedacht hätte, Wolf Larsens Chronometer und Sextanten mitzunehmen«, sagte ich niedergeschlagen. »In einer Richtung segeln und in der andern treiben, gar nicht zu reden von der Strömung, die einen in einer dritten entführen kann – was dabei herauskommt, kann der größte Rechenkünstler nicht finden. Ehe wir es ahnen, können wir fünfhundert Meilen aus dem Kurs sein.«

Dann bat ich sie um Verzeihung und versprach, nie wieder den Mut zu verlieren. Auf ihren eindringlichen Wunsch überließ ich ihr die Wache bis Mitternacht – es war jetzt neun Uhr –, aber ich hüllte sie in Decken und Ölzeug ein, ehe ich mich niederlegte. Ich schlief nur auf einem Auge. Das Boot hüpfte und stieß, wenn es über die Wellenkämme ging; ich konnte die Seen vorbeischießen hören, und immer wieder spritzte der Schaum ins Boot. Und doch erschien mir die Nacht nicht schlimm, war sie doch nichts im Vergleich mit den Nächten, die ich auf der ›Ghost‹ erlebt hatte, und vielleicht auch nichts im Vergleich mit denen, die wir in dieser Nußschale noch zu überstehen hatten. Ihre Planken waren dreiviertel Zoll stark. Zwischen uns und der Meerestiefe war weniger als ein Zoll Holz.

Und doch – das kann ich immer wieder versichern –, doch fürchtete ich mich nicht. Den Tod, vor dem Wolf Larsen und selbst Thomas Mugridge mir Furcht gemacht hatten, fürchtete ich nicht mehr. Maud Brewster war in mein Leben getreten, und das schien mich verwandelt zu haben. Alles in allem, dachte ich, mußte es besser sein, zu lieben, als geliebt zu werden, wenn die Liebe uns etwas so teuer machen konnte, daß wir den Tod nicht mehr fürchteten. Ich konnte mein eigenes Leben über dem anderen vergessen, und ach – so paradox es auch klingen mag –, nie hatte ich so gewünscht zu leben wie gerade jetzt, da ich meinem Leben weniger Wert beimaß als je zuvor. Nie war mein Leben so begründet gewesen – das war mein letzter Gedanke, und dann, im Einschlafen, gab ich mich zufrieden mit dem Versuch, die Nacht zu durchdringen, die den Steven einhüllte, wo, wie ich wußte, Maud zusammengekauert saß und über die schäumende See hinausblickte – jeden Augenblick bereit, mich zu rufen, wenn es not tun sollte.


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