Jack London
Abenteurer des Schienenstranges
Jack London

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

General Kellys Armee

Ich hatte einmal das Glück, einige Wochen mit einer Bande zu reisen, die zweitausend Mann zählte. Sie war bekannt unter dem Namen ›General Kellys Armee‹. Im wilden Westen, ganz in Kalifornien, hatten General Kelly und seine Heldenschar Züge gekapert; als sie aber über den Missouri nach dem lebensmatten Osten kamen, waren sie mit ihrer Weisheit zu Ende. Der Osten hatte nicht die leiseste Absicht, den zweitausend Vagabunden freie Beförderung zuzugestehen. General Kellys Armee lag einige Zeit hilflos vor Council Bluffs. An dem Tage, als ich zu ihr stieß, marschierte sie, durch die Verspätung ganz desperat, los, um einen Zug zu kapern.

Es war ein imposanter Anblick. General Kelly saß auf einem prachtvollen schwarzen Schlachtroß, und mit wehenden Fahnen und beim kriegerischen Schall von Trommeln und Pfeifen traten seine zweitausend Landstreicher, eine Kompanie neben der andern, in zwei Divisionen vor ihm an und marschierten dann sieben Meilen auf der Fahrstraße nach dem Städtchen Weston. Als letzter Rekrut befand ich mich im letzten Regiment, in der zweiten Division und in dem letzten Glied des Nachtrabs. In Weston schlug das Heer sein Lager neben dem Gleis oder vielmehr den Gleisen auf, denn es liefen zwei Linien durch Weston: die Chicago-Milwaukee-St.-Paul-Bahn und die Rock-Island-Bahn.

Wir hatten die Absicht, uns des ersten Zuges, der zum Bahnhof hinausfuhr, zu bemächtigen, aber das Eisenbahnpersonal vereitelte sie und trug den Sieg davon. Es gab keinen »ersten Zug«. Man sperrte die beiden Linien und ließ keinen Zug mehr ab. Während wir aber so am toten Gleis lagen, faßten die guten Leute in Omaha und Council Bluffs einen Entschluß. Es wurden Vorbereitungen getroffen, einen Volkshaufen zu mobilisieren, sich eines Zuges in Council Bluffs zu bemächtigen, ihn zu uns herunterzufahren und uns zu schenken. Aber auch das vereitelte das Zugpersonal. Es ließ dem Volkshaufen nicht Zeit, sich zu sammeln. Früh am nächsten Morgen kam eine Lokomotive mit einem einzigen Salonwagen zur Station und fuhr auf ein Seitengleis. Bei diesem Zeichen, daß jetzt wieder Leben in die toten Eisenbahnlinien kam, stellte sich die ganze Armee längst des Gleises auf.

Aber nie ist ein so ungeheuerliches Leben in eine tote Eisenbahn gefahren wie in diese beiden Linien. Im Westen hörten wir eine Lokomotive pfeifen. Sie kam in unserer Richtung, ostwärts. Die ganze Reihe traf Vorbereitungen zum Aufspringen. Das Pfeifen klang unheilverkündend und rasend, und der Zug sauste in voller Fahrt vorbei. Der Landstreicher war noch nicht geboren, der bei dieser Fahrt hätte aufspringen können. Da ertönte ein neuer Pfiff, und ein neuer Zug sauste in voller Fahrt vorbei, dann wieder einer und noch einer, Zug auf Zug, Zug auf Zug. Die letzten bestanden aus Personenwagen, Postwagen, Loren, toten Maschinen, Arbeitswagen, Rettungsgeräten und dem ganzen Gerümpel von ausrangiertem und unbrauchbarem Material, das sich an großen Eisenbahnstationen ansammelt. Als der Bahnhof von Council Bluffs vollkommen ausgeräumt war, fuhren der Salonwagen und die Lokomotive nach Osten, und jetzt waren die Linien im Ernst tot.

Dieser Tag verging, der nächste ebenfalls; es geschah immer noch nichts, und die ganze Zeit lagen die zweitausend Landstreicher in Dreck, Regen und Hagel an der Strecke. In der folgenden Nacht führten die guten Leute in Council Bluffs aber doch die Eisenbahnbeamten an. Ein Volkshaufen sammelte sich in Council Bluffs und marschierte über den Fluß nach Omaha, wo er auf einen andern Volkshaufen stieß; gemeinsam machten sie jetzt einen Angriff auf die Werkstätten der Union-Pazifik. Zuerst bemächtigten sie sich einer Lokomotive, dann setzten sie einen Zug zusammen und fuhren damit über den Missouri und die Rock-Island-Linie hinab, um ihn uns zu übergeben. Das Eisenbahnpersonal versuchte, das Vorhaben zu verhindern, aber es mißglückte ihm zum unsagbaren Schrecken des Stationsvorstehers und eines Eisenbahnarbeiters, der in Weston die Wache hatte. Diese beiden versuchten, ihren geheimen telegraphischen Anweisungen gemäß, die Schienen aufzureißen und den Zug, der voll von hilfsbereiten Freunden zu uns fuhr, zum Entgleisen zu bringen. Aber wir hatten Verdacht geschöpft und Patrouillen ausgeschickt. Auf frischer Tat ergriffen und von zweitausend wütenden Landstreichern umringt, bereiteten sich die beiden Männer zum Tode vor. Ich weiß nicht mehr, was sie rettete, es sollte denn der Umstand gewesen sein, daß der Zug im selben Augenblick kam.

Jetzt waren wir an der Reihe, eine lange Nase zu bekommen, und das geschah denn auch gehörig. In ihrer Eile hatten die beiden Volkshaufen nicht dafür gesorgt, einen hinreichend langen Zug zu beschaffen. Es war nicht Platz für die zweitausend Landstreicher. Folglich veranstalteten die Pöbelhaufen und die Landstreicher ein großes Palaver, und sie verbrüderten sich, sangen Lieder und schieden voneinander, indem die beiden Volkshaufen mit ihrem Zug wieder nach Omaha zurückfuhren und die Landstreicher am nächsten Morgen zu dem hundertundvierzig Meilen langen Marsch nach Des Moines aufbrachen. Erst als General Kellys Armee über den Missouri gekommen war, begann sie zu marschieren, und nun fuhr sie nie wieder. Es kostete die Eisenbahn ein unmenschliches Geld, aber sie tat es aus Prinzip und siegte.

Underwood, Leola, Menden, Avoca, Walnut, Marno, Atlantic, Wyoto, Anita, Adair, Adam, Casey, Stuart, Dexter, Carlham, De Soto, Van Meter, Booneville, Commerce, Valley Junction – wie lebendig stehen mir diese Orte vor Augen, wenn ich die Karte studiere und unsere Route durch das fette Iowa verfolge! Und die gastfreien Iowa-Bauern! Sie kamen mit ihren Wagen und transportierten unsere Bagage; sie hielten warmes Frühstück längs des Weges bereit; die Bürgermeister der wohlhabenden Städtchen begrüßten uns mit Ansprachen und taten alles, um unsere Reise zu beschleunigen. Deputationen von Kindern und jungen Mädchen kamen uns entgegen, und die guten Bürger erschienen zu Hunderten vor ihren Türen, faßten uns unter den Arm und marschierten mit uns durch die Hauptstraßen. Jedesmal, wenn wir in eine Stadt kamen, war Zirkustag, und da es viele Städte waren, gab es jeden Tag Zirkus.

Des Abends wogte eine ganze Völkerwanderung in unser Lager. Jede Kompanie hatte ihr Lagerfeuer, und um jedes Feuer war irgend etwas los. Die Köche in meiner Kompanie, Kompanie L, waren die reinen Gesangs- und Tanzkünstler und übernahmen den größten Teil der Unterhaltung. In einem andern Abschnitt des Lagers sang der Gesangverein mehrstimmige Lieder – eine der besten Stimmen besaß der ›Zahnarzt‹, der der Kompanie L angehörte, und wir waren ungeheuer stolz auf ihn. Er zog auch der ganzen Armee die Zähne aus, und da das Zahnziehen gewöhnlich während der Mahlzeiten vor sich ging, gab es genügend Abwechslung in den Ereignissen, um unsern Appetit anzuregen. Der Zahnarzt hatte keine Betäubungsmittel, aber zwei oder drei von uns waren immer bereit, zuzupacken und den Patienten festzuhalten.

Außer den künstlerischen Leistungen der Kompanien und des Gesangvereins wurde gewöhnlich Gottesdienst abgehalten – die Ortsgeistlichen traten auf –, und es wurden eine Menge politischer Reden gehalten. Alles das lief nebeneinander her; es war genug los. Aus zweitausend Landstreichern kann eine Masse Talent herausgepreßt werden. Ich erinnere mich, daß wir eine ausgesuchte Baseball-Abteilung hatten, und Sonntags pflegten wir die lokalen Klubs gründlich zu erledigen. Zuweilen siegten wir zweimal am Sonntag.

Als ich mich voriges Jahr auf einer Vortragsreise befand, kam ich in einem Pullman nach Des Moines – ich meine nicht einen ›Pullman mit Seitentüren‹, sondern einen richtigen Pullman. Vor der Stadt sah ich die alte Gießerei, und das Herz klopfte mir bei ihrem Anblick. Bei dieser Gießerei hatte die Armee haltgemacht und einen gewaltigen Eid geschworen, daß sie wunde Füße hätte und nicht weitermarschieren würde. Wir nahmen die Gießerei in Besitz und erzählten Des Moines, daß wir gekommen wären, um zu bleiben – daß wir hereinspaziert wären, aber uns lieber hängen lassen wollten, statt wieder hinauszuspazieren. Des Moines war gastfrei, aber das war des Guten denn doch zuviel. Mach' eine kleine Rechenaufgabe, lieber Leser! Zweitausend Landstreicher, die drei volle Mahlzeiten täglich essen, das macht zweiundvierzigtausend Mahlzeiten in der Woche oder hundertundachtundsechzigtausend Mahlzeiten selbst in den kürzesten Monaten. Das ist doch schon etwas, wir hatten kein Geld. Des Moines mußte die Kosten tragen.

Des Moines war verzweifelt. Wir lagen in unserm Lager, hielten politische Reden, gaben göttliche Konzerte, zogen Zähne, spielten Baseball und Poker und verzehrten unsere sechstausend Mahlzeiten täglich, und Des Moines mußte für uns bezahlen. Des Moines wandte sich hilfesuchend an die Eisenbahnen, aber die waren unerbittlich. Sie hatten gesagt, daß wir nicht fahren sollten, und dabei blieb es. Wenn sie uns zu fahren erlaubten, würden sie damit eine Präzedenz schaffen, und das wollten sie nicht. Und wir aßen weiter – das war es eben, was die Situation so ungemütlich machte. Wir wollten nach Washington, und um Fahrkarten, selbst zu herabgesetzten Preisen, für uns zu kaufen, mußte Des Moines eine kommunale Anleihe aufnehmen; blieben wir aber noch länger, so war die Stadt unter allen Umständen gezwungen, eine Anleihe aufzunehmen, um uns beköstigen zu können.

Da fand ein Lokalgenie die Lösung des Problems. Wir wollten nicht gehen. Schön. So sollten wir befördert werden. An Des Moines vorbei floß der Des Moines River nach Keokuk am Mississippi. Dieser Fluß war dreihundert Meilen lang. Wir könnten auf ihm befördert werden, sagte das Lokalgenie, und wären wir einmal mit schwimmendem Material ausgestattet, so könnten wir uns selbst den Mississippi hinunter nach Ohio und von dort den Ohio hinauf befördern, bis wir schließlich nach einer kurzen Wanderung über die Berge nach Washington kämen.

Des Moines veranstaltete eine Subskription. Bürger, denen das Wohl ihrer Stadt am Herzen lag, beteiligten sich mit mehreren tausend Dollar. Planken, Tauwerk, Nägel und Twist zum Kalfatern wurden in großer Menge gekauft, und an den Ufern des Des Moines wurde eine mächtige neue Ära in der Geschichte des Schiffbaus eingeleitet.

Des Moines River ist ein elender kleiner Wasserlauf, der zu Unrecht die Bezeichnung ›Fluß‹ führt; im Westen, wo alles soviel größer ist, würde man ihn einfach einen Bach nennen. Die ältesten Einwohner schüttelten den Kopf und sagten, daß wir es nie fertigbringen würden, da es nicht Wasser genug gäbe, um ihn zu befahren. Des Moines zerbrach sich nicht den Kopf, die Stadt wollte uns nur loswerden, und wir waren so gemästet und optimistisch, daß wir uns auch nicht den Kopf zerbrachen.

Am Mittwoch, dem 9. Mai 1894, brachen wir auf. Des Moines war noch verhältnismäßig billig davongekommen, und sicher hat das Lokalgenie, das der Stadt aus der Verlegenheit half, eine Bronzestatue verdient. Allerdings mußte Des Moines unsere Boote bezahlen, wir hatten sechsundsechzigtausend Mahlzeiten in der Gießerei verzehrt, und außerdem requirierte die Intendantur noch zwölftausend Mahlzeiten – wir mußten uns ja gegen eine Hungersnot in der Wüste sichern –, aber was hätte es anderseits für Des Moines bedeutet, wenn wir elf Monate statt elf Tage geblieben wären! Übrigens versprachen wir bei der Abreise, daß wir nach Des Moines zurückkehren würden, wenn sich der Fluß als unbefahrbar erwiese.

Es war selbstverständlich sehr schön, daß die Intendantur zwölftausend Mahlzeiten hatte, und zweifellos ging es den Jungen in der Intendantur großartig, denn die Intendantur kam uns andern sehr schnell aus den Augen, und jedenfalls mein Boot sah nie wieder etwas von ihr. Die kompanieweise Einteilung ging bei dieser Flußfahrt hoffnungslos in die Brüche. In jedem Lager ist immer ein gewisser Prozentsatz Faulenzer, Hilfloser, Durchschnittsmenschen und tüchtiger Kerle. In meinem Boot befanden sich zehn Mann, und sie waren die Blüte der Kompanie L. Jeder einzelne von ihnen war ein tüchtiger Kerl. Ich war aus zwei Gründen unter ihnen. Erstens war ich so tüchtig, wie nur irgendein Landstreicher je gewesen, und zweitens war ich ›Jack Seemann‹. Ich wußte Bescheid mit Booten und allem, was mit Schiffahrt zusammenhängt. Wir zehn vergaßen die andern vierzig Mann, die mit uns zusammen die Kompanie L gebildet hatten, und als wir eine Mahlzeit hatten entbehren müssen, vergaßen wir sofort die Intendantur. Wir waren unabhängig. Wir fuhren für eigene Rechnung den Fluß hinunter, verschafften uns unser eigenes Essen, überholten jedes einzelne Boot der Flotte und – es tut mir leid, daß ich es sagen muß – beschlagnahmten zuweilen die Vorräte, die die Bauern für die Armee gesammelt hatten.

Den größten Teil der dreihundert Meilen langen Strecke waren wir dem übrigen Heer durchschnittlich einen halben bis einen ganzen Tag voraus. Wir hatten ein paar amerikanische Flaggen aufgegabelt, und wenn wir uns einem Städtchen näherten oder eine Schar Farmer am Ufer versammelt sahen, hißten wir die Flagge, sagten, daß wir der Vortrab wären, und erkundigten uns, was sie an Lebensmitteln für die Armee gesammelt hatten. Selbstverständlich repräsentierten wir die Armee, und die Vorräte wurden uns übertragen. Aber wir waren nie kleinlich. Wir nahmen nie mehr, als wir mitnehmen konnten. Dagegen nahmen wir das Beste von dem, was da war. Hatte zum Beispiel ein menschenfreundlicher Farmer für mehrere Dollar Tabak gestiftet, so war das unser Fall. Ebenso Butter und Zucker, Kaffee und Konserven; wenn die aufgespeicherten Vorräte jedoch aus Säcken mit Mehl und Bohnen oder einigen Stück geschlachtetem Vieh bestanden, so besaßen wir die Seelenstärke, sie nicht anzurühren, und fuhren weiter, nachdem wir Order gegeben hatten, daß diese Art Waren den Intendanturbooten abgeliefert werden sollte, die uns folgten.

Wahrhaftig – wir zehn hatten damals gute Tage! Lange suchte General Kelly vergebens, uns anzuhalten. Er schickte uns zwei Ruderer in einem leichten, kiellosen Boot nach, um unsern Seeräubertaten ein Ende zu machen. Sie holten uns auch ein, gewiß, aber sie waren zwei und wir zehn. General Kelly hatte ihnen Vollmacht erteilt, uns gefangenzunehmen, und das sagten sie uns. Als wir uns nicht recht geneigt zeigten, uns gefangennehmen zu lassen, ruderten sie schleunigst nach der nächsten Stadt voraus, um Hilfe bei der Obrigkeit zu suchen. Wir gingen indessen an Land, und obwohl es noch ein wenig früh war, aßen wir zu Abend. Dann fuhren wir im Schutze der Dunkelheit an der Stadt mitsamt ihrer Obrigkeit vorbei.

Während eines Teiles der Fahrt führte ich Tagebuch, und wenn ich es jetzt lese, so stoße ich immer wieder auf einen Satz: »Lebten großartig.« Und wir lebten wirklich großartig. Wir begnügten uns nicht einmal damit, uns unsern Kaffee mit Wasser zu kochen, sondern bereiteten ihn mit Milch, und das wunderbare Getränk nannten wir ›hellen Wiener‹. Während wir in dieser Weise voranzogen, und während die Intendantur irgendwo weit hinten herumirrte, hungerte die Hauptarmee, die sich zwischen diesen beiden Punkten befand. Es war schlimm für das Heer, das will ich gern einräumen, aber wir zehn waren Individualisten. Wir waren ebenso energisch wie unternehmend, und wir hegten die glühende Überzeugung, daß der Proviant für den, der zuerst kam, und der ›helle Wiener‹ für den Stärksten war.

Einmal blieb die Armee zwei ganze Tage ohne Essen, und dann kam sie an ein kleines Dorf mit dreihundert Einwohnern, dessen Namens ich mich nicht mehr entsinne, obwohl es mir so ist, als ob es Red Rock hieß. Dies Dorf hatte wie alle andern Ortschaften, die die Armee passierte, eine Art Wohlfahrtskomitee ernannt. Nach der Berechnung, daß auf jede Familie fünf Mitglieder kommen, bestand die Bevölkerung von Red Rock aus etwa sechzig Familien. Das Wohlfahrtskomitee erstarrte vollkommen vor Schrecken, als nun zweitausend hungrige Landstreicher hereinbrachen und ihre Boote in zwei bis drei Reihen längs dem Ufer vertäuten. General Kelly war ein gerechter Mann. Er beabsichtigte nicht, hart gegen das Dorf zu verfahren. Er erwartete nicht, daß die sechzig Familien zweitausend Mahlzeiten lieferten. Zudem hatte die Armee ihr Barvermögen.

Aber die Wohlfahrtsabgeordneten verloren den Kopf. »Die Eindringlinge nicht ermutigen«, lautete ihr Programm, und als General Kelly Nahrungsmittel kaufen wollte, schlugen sie es ab. Sie hätten nichts zu verkaufen. Sie brauchten General Kellys Geld nicht. Da sammelte General Kelly sein Heer. Die Hörner gellten, die Armee verließ die Boote und stellte sich in Schlachtordnung am Ufer auf. Das Komitee konnte nichts tun als zusehen. Die Rede des Generals war kurz und bündig.

»Kameraden,« sagte er, »wann habt ihr zuletzt etwas zu essen bekommen?«

»Vorgestern!« riefen sie.

»Seid ihr hungrig?«

Eine so mächtige Zustimmung erscholl aus zweitausend Kehlen, daß die Luft zitterte. Dann wandte sich General Kelly an das Wohlfahrtskomitee.

»Meine Herren, Sie sehen selbst, wie die Situation ist. Meine Leute haben seit achtundvierzig Stunden nichts zu essen bekommen. Wenn ich sie loslasse, kann ich nicht für die Folgen einstehen. Sie sind desperat. Ich schlug Ihnen vor, uns Nahrungsmittel zu verkaufen, aber Sie wollten nicht. Ich ziehe mein Angebot zurück. Statt dessen fordere ich jetzt Essen. Ich lasse Ihnen fünf Minuten, um Ihre Entschlüsse zu fassen. Entweder schlachten Sie sechs Ochsen und geben mir viertausend Rationen, oder ich lasse meine Leute los. Fünf Minuten, meine Herren!«

Die erschrockenen Wohlfahrtsmänner sahen die zweitausend hungrigen Vagabunden an und ergaben sich vollständig. Sie warteten nicht einmal die fünf Minuten ab. Sie wollten nichts riskieren. Das Requirieren und Schlachten des Viehs begann sofort, und die Armee bekam zu essen.

Und immer noch fuhren wir zehn Individualisten voraus und sammelten alles ein, dessen wir habhaft werden konnten. Aber General Kelly wurde doch mit uns fertig. Er schickte Reiter beide Ufer entlang, und die warnten Farmer und Städter vor uns. Sie taten ihre Arbeit gründlich, das stimmt. Die früher so gastfreien Bauern bezeigten uns jetzt eisige Kälte. Sie riefen sogar Polizisten, wenn wir am Ufer anlegten, und ließen die Hunde auf uns los. Ich muß es wohl wissen. Zwei von den Hunden packten mich, als sich gerade ein Stacheldrahtzaun zwischen mir und dem Fluß befand. Ich war mit zwei Eimern Milch für den ›hellen Wiener‹ beladen. Dem Zaun tat ich nichts, aber wir mußten Plebejerkaffee mit gewöhnlichem Wasser trinken, und ich mußte mich auf die Suche nach einem Paar neuer Hosen machen. Lieber Leser, ich möchte gern wissen, ob du je versucht hast, in größter Eile mit einem gefüllten Milcheimer in jeder Hand über einen Stacheldrahtzaun zu klettern. Seit jenem Tage hege ich einen tiefen Widerwillen gegen Stacheldraht.

Da wir uns, solange General Kelly die beiden Reiter vor uns herreiten ließ, unmöglich unser Brot auf ehrliche Weise verdienen konnten, kehrten wir zur Armee zurück und machten Revolution.

Es war eine ganz kleine Revolution, aber sie vernichtete doch Kompanie L der zweiten Division. Der Hauptmann der Kompanie L weigerte sich, uns anzuerkennen; er nannte uns Deserteure, Verräter und Banditen, und als er von der Intendantur Proviant erhielt, wollte er uns nichts abgeben. Der Hauptmann kannte uns nicht, sonst hätte er uns nicht den Proviant vorenthalten. Sofort steckten wir uns hinter den Oberleutnant. Er schloß sich uns mit den zehn Mann an, die er in seinem Boot hatte, und zum Dank ernannten wir ihn zum Hauptmann der Kompanie M. Der Hauptmann der Kompanie L wollte sich das nicht gefallen lassen. General Kelly, Oberst Speed und Oberst Baker wuschen uns den Kopf. Aber wir zwanzig hielten stand, und unsere Revolution wurde anerkannt.

Aber wir kümmerten uns auch jetzt nicht um die Intendantur. Die Tüchtigsten von uns konnten viel bessere Rationen bei den Bauern rings erhalten. Dagegen verließ sich unser neuer Hauptmann nicht recht auf uns. Wenn wir zehn Mann morgens losfuhren, wußte er nie, wann er uns wiedersehen würde; darum schickte er nach einem Grobschmied, um seinen Hauptmannsrang festhämmern zu lassen. In das Achterende unseres Bootes wurde auf jeder Seite ein schwerer Eisenbolzen getrieben. Ebenso wurden am Bug seines Bootes zwei mächtige eiserne Haken angebracht. Dann wurden die Boote dicht aneinandergezogen, so daß wir hinter dem andern lagen. Die Haken wurden durch die Augen der Bolzen getrieben, und da saßen wir denn gut und sicher verankert. Wir konnten nicht loskommen von unserm Hauptmann. Aber wir waren unverbesserlich. Und unsere Fesseln selbst wurden für uns das Mittel zu einer unfehlbaren Erfindung, die uns in den Stand setzte, jedes andere Boot in der Flotte nach unserer Pfeife tanzen zu lassen.

Wie alle großen Erfindungen, war auch diese rein zufällig. Wir machten sie, als wir in einer kleinen Stromschnelle auf einen aufrecht stehenden Baumstamm aufstießen. Das erste Boot saß fest, während sich das hintere in der Strömung herumschwang, wobei das vordere auf dem Baumstamm die Achse bildete. Ich stand im Achterende des hinteren Bootes und steuerte. Wir versuchten vergebens, abzukommen. Da gab ich Order, daß die Mannschaft des vorderen Bootes in das hintere klettern sollte. Sofort kam das vordere Boot klar, und die Mannschaft nahm wieder ihre Plätze ein. Von diesem Augenblick an boten uns Baumstämme, Riffe und Bänke keinen Schrecken mehr. Wenn das erste Boot aufstieß, sprangen im selben Augenblick die Mannschaft in das zweite hinüber. Natürlich nahm das erste Boot jetzt das Hindernis, und nun saß das zweite fest. Ganz mechanisch sprangen nun die zwanzig Mann, die jetzt in dem zweiten Boot sahen, in das erste, und das zweite kam klar.

Die Boote, die die Armee gebrauchte, waren alle gleich, nach der Elle gemessen und in gleich langen Stücken zugeschnitten. Es war eine Art rechteckiger Flöße. Alle Boote waren sechs Fuß breit, zehn Fuß lang und anderthalb Fuß tief. Waren unsere beiden Bote zusammengekoppelt, so saß ich also als Steuermann im Achterende eines Fahrzeuges, das zwanzig Fuß lang war und zwanzig stramme Landstreicher enthielt, die mit Riemen umzugehen verstanden. Außerdem war das Fahrzeug mit Decken, Kochgeräten und unserer eigenen Privat-lntendantur beladen.

Wir machten immer noch General Kelly Sorge. Er hatte seine Reiter eingezogen und verwendete statt deren drei Polizeiboote, die vorausfuhren und kein anderes Boot vorließen. Das Fahrzeug, das die Kompanie M enthielt, bedrängte die Polizeiboote indessen schwer. Wir hätten leicht vorbeikommen können, aber das wäre gegen die Vorschrift gewesen. Darum hielten wir uns in ehrerbietigem Abstand und warteten.

Wir wußten, daß vor uns jungfräuliches, nicht gebrandschatztes, gastfreies Bauernland lag, aber wir warteten. Schäumendes Wasser war alles, was wir brauchten, und als wir eine Biegung des Flusses passierten und ein Wasserfall voraus auftauchte, wußten wir, was geschehen würde. Klatsch! Polizeiboot Nummer 1 rennt gegen eine Klippe und sitzt fest. Krach! Polizeiboot Nummer 2 macht es ebenso. Wupp! Polizeiboot Nummer 3 teilt das Schicksal der andern. Selbstverständlich tut unser Boot dasselbe, aber eins zwei drei sind die Leute aus dem ersten Boot im zweiten; eins zwei drei sind alle vorn, und wir fahren weiter. »Halt! Ihr verdammten Kerle!« schreien die Polizeiboote. »Wie sollen wir das machen? Schimpft lieber auf den verfluchten Fluß!« jammern wir im Vorbeifahren, von der unbarmherzigen Strömung erfaßt, die uns mitreißt und entführt, weit fort, außer Sehweite und in das gastfreie Bauernland, das unsere Intendantur mit den Erstlingen der aufgespeicherten Vorräte versorgt. Und wieder trinken wir ›hellen Wiener‹ und sagen uns, daß der Proviant für den bestimmt ist, der zuerst zur Stelle ist.

Armer General Kelly! Er machte einen neuen Versuch. Die ganze Flotte setzte sich in Bewegung, und wir mußten warten. Kompanie M fuhr ihrer Stellung im Heere gemäß ab, das heißt als letzte. Aber es dauerte nur einen Tag, und wir hatten den gut ausgedachten Plan zuschanden gemacht. Zwischen uns und dem nächsten fahrbaren Stück lag eine Strecke von fünfundzwanzig Meilen – lauter Stromschnellen, Sandbänke, Riffe und Klippen. Diese Strecke war es, über die die ältesten Einwohner von Des Moines die Köpfe geschüttelt hatten. Fast zweihundert Boote erreichten sie vor uns und stauten sich hier auf die merkwürdigste Weise. Wir gingen durch die gescheiterte Flotte wie der Schierling durchs Feuer. Man konnte den Klippen, Riffen und Baumstämmen nicht entgehen, wenn man nicht landete. Auch wir entgingen ihnen nicht. Wir gingen geradeswegs über sie hinweg, eins zwei drei, eins zwei drei, erstes Boot, zweites Boot, erstes Boot, zweites Boot, alle Mann nach hinten, nach vorn und wieder nach hinten. In dieser Nacht waren wir allein im Lager, und wir blieben den ganzen nächsten Tag dort liegen und sahen zu, wie die Armee ihre beschädigten Boote flickte und reparierte und eines nach dem andern ankam.

Unser Hohn kannte keine Grenzen. Wir takelten einen Mast auf, versahen ihn mit Segeln (das heißt Decken) und machten ganz kurze Tagesreisen, während das Heer sich Tag und Nacht abrackerte, um uns nur im Auge zu behalten. Da nahm General Kelly seine Zuflucht zur Diplomatie. Auf dieser Strecke konnte uns kein Boot einholen. Wir waren ohne Vergleich die hitzigste Kompanie, die je den Des Moines River befahren hatte. Waren wir seinerzeit in Acht und Bann getan, so wurde der Bann jetzt gehoben. Oberst Speed wurde an Bord geschickt, und mit diesem hohen Offizier hatten wir nun die Ehre, die ersten zu sein, die Keokuk am Mississippi erreichten. Und alles, was recht ist: General Kelly und Oberst Speed, hier meine Hand! Ihr wart beide Helden, ihr wart Männer. Und ich bedaure wenigstens zehn Prozent der Sorgen, die das erste Boot der Kompanie M euch machte.

Bei Keokuk wurden alle Boote zu einem riesigen Floß zusammengekoppelt, und nachdem wir eines Sturmes wegen einen Tag lang dort festgelegen hatten, nahm uns ein Dampfer in Schlepp und brachte uns den Mississippi abwärts nach Quincy (Illinois), wo wir auf Goose Island an der andern Seite des Flusses unser Lager aufschlugen. Hier wurde die Idee mit dem Floß aufgegeben, die Boote wurden in Gruppen zu je fünf verbunden und überdeckt. Einer erzählte mir, daß Quincy die reichste Stadt ihrer Größe in den Vereinigten Staaten sei. Als ich das hörte, wurde ich sogleich von einem unwiderstehlichen Drang ergriffen, mein Glück zu versuchen. Keinem echten Vagabunden konnte es einfallen, eine so vielversprechende Stadt unbehelligt zu lassen. Ich setzte in einem Kanu über den Fluß nach Quincy, kam aber mit einem großen Flußboot zurück, das fast bis zur Reeling im Wasser lag, so beladen war es mit allem, was wir ›verdient‹ hatten. Selbstverständlich behielt ich selbst das Geld, das ich bekommen hatte, wenn ich auch die Bootsmiete bezahlte, und nahm mir zudem alles, was ich an Unterwäsche, Socken, gebrauchtem Zeug, Hemden, Mützen und Hüten verwenden konnte, und als die Kompanie M alles genommen hatte, nach dem sie Verlangen trug, blieb immer noch ein sehr ansehnlicher Haufen übrig, der der Kompanie L überlassen wurde. Ach, ja, ich war jung und verschwenderisch in jenen Tagen! Ich erzählte den guten Leuten in Quincy ›Geschichten‹ zu Tausenden, und jede Geschichte war gut, aber seit ich angefangen habe, für Zeitschriften zu schreiben, habe ich oft mit Bedauern an den Reichtum von Geschichten, an die Fruchtbarkeit meiner Phantasie gedacht, die ich damals in Quincy verschwendete.

In Hannibal (Missouri) trennten sich die zehn ›Unüberwindlichen‹. Nicht etwa nach einem bestimmten Plan. Jeder ging einfach seines Weges. Der Kesselmacher und ich desertierten heimlich. Am selben Tage verschwanden Scotty und Davy, und auch McAvoy und Fish glückte es, unbemerkt zu verschwinden. Das waren sechs von den zehn. Was aus den vier andern wurde, weiß ich nicht. Als Probe des Vagabundenlebens will ich hier folgende Zitate aus meinem Tagebuch anführen. Es sind die Aufzeichnungen von den nächsten Tagen nach meiner Fahnenflucht:

»Freitag, den 25. Mai. Der Kesselmacher und ich verließen das Lager auf der Insel. Wir setzten in einer Jolle nach Illinois über und gingen sechs Meilen an der C. B. & Q. entlang nach Fell Creek. Wir waren sechs Meilen weit von unsern Wege abgekommen, erwischten aber eine Draisine und fuhren sechs Meilen nach Hull bei Wabash. Während wir uns noch dort aufhielten, trafen wir McAvoy, Fish, Scotty und Davy, die auch ausgerissen waren.

Sonnabend, den 26. Mai. Um 2 Uhr 11 erwischten wir die ›Kanonenkugel‹, als sie bei der Überführung losdampfte. Scotty und Davy wurden geschmissen. Wir vier andern wurden bei Bluffs, vierzig Meilen weiter, geschmissen. Am Nachmittage fanden Fish und McAvoy einen Güterzug, während der Kesselmacher und ich versuchten, etwas Essen zu ergattern.

Sonntag, den 27. Mai. 3 Uhr 21 morgens kriegten wir die ›Kanonenkugel‹ und trafen Scotty und Davy auf dem Blinden. Bei Tagesanbruch wurden wir alle in Jacksonville geschmissen. Hier führt die C. & A. hindurch, und wir wollten sehen, sie zu erwischen. Der Kesselmacher ging fort und kam nicht wieder. Ich denke mir, daß er einen Güterzug gefunden hat.

Montag, den 28. Mai. Der Kesselmacher hat sich nicht wieder gezeigt. Scotty und Davy gingen fort, um sich irgendwo Nachtlogis zu verschaffen, und kamen nicht rechtzeitig zum K.‑C.-Personenzug um 3 Uhr 30 zurück. Ich enterte ihn und fuhr damit bis nach Sonnenaufgang nach Masson City, 25 000 Einwohner. Erwischte einen Viehzug und fuhr die ganze Nacht.

Dienstag, den 29. Mai. 7 Uhr morgens Ankunft in Chicago –«

Und mehrere Jahre später mußte ich zu meinem Kummer in China erfahren, daß der Trick, den wir uns erdacht hatten, um die Stromschnellen auf dem Des Moines zu nehmen – die Idee mit eins zwei drei, eins zwei drei, erstes Boot, zweites Boot – gar nicht neu war. Ich erfuhr, daß chinesische Flußschiffer seit Jahrtausenden ein ähnliches System anwandten, um über ›schlechtes Wasser‹ zu kommen. Aber es war doch ein ausgezeichneter Einfall, wenn wir auch nicht die Ehre der Erfindung hatten. Sie bestand jedenfalls Dr. Jordans Wahrheitsprobe: »Ist es brauchbar? Setzt du dein Leben daran?«

 


 << zurück weiter >>