Jack London
Abenteurer des Schienenstranges
Jack London

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Zigeuner

Der größte Reiz des Vagabundenlebens liegt vielleicht darin, daß es nie eintönig wird. Dem Vagabunden bietet das Dasein ein kaleidoskopisch wechselndes Bild – das Unmögliche wird zum Ereignis, und an jeder Wegbiegung begegnet ihm das Unerwartete. Der Landstreicher weiß nie, was im nächsten Augenblick geschehen wird; darum lebt er stets dem Augenblick. Er hat gelernt, wie müßig es ist, Pläne zu schmieden, und kennt die Freude, die darin liegt, sich von den Launen des Zufalls treiben zu lassen.

Oft denke ich an meine Vagabundentage, und immer wieder wundere ich mich über die schnelle Reihenfolge, in der die Bilder in meiner Erinnerung auftauchen. Es ist einerlei, wo ich beginne, denn jeder einzelne Tag ist ein Tag für sich und hat seine eigenen, schnell wechselnden Bilder. So erinnere ich mich zum Beispiel eines sonnigen Sommermorgens in Harrisburg (Pennsylvanien), und wie glücklich er begann. Ich wurde ›hereingebeten‹ zu zwei alten Fräuleins, und zwar nicht in die Küche, sondern ins Speisezimmer, und sie saßen selbst mit mir am Tische. Wir aßen Eier aus Eierbechern! Es war das erstemal, daß ich Eierbecher sah oder von Eierbechern hörte. Ich gestehe, daß ich zuerst ein bißchen linkisch war; aber ich hatte Hunger und ließ mich nicht in Verlegenheit bringen. Ich wurde mit den Eierbechern fertig und gleichfalls mit den Eiern, jedoch auf eine Art, daß die beiden alten Damen die Augen aufsperrten.

Freilich, sie selber aßen wie ein paar Kanarienvögel, nippten an den Eiern und pickten winzige Stückchen von den fast oblatendünnen Scheiben gerösteten Brotes. Lebenskraft besaßen sie nicht viel; ihr Blut war dünn, und sie hatten die ganze Nacht in ihrem warmen Nest gelegen. Ich aber kam aus der frischen Luft und hatte auf dem Wege von Emporium, einem Ort im Norden des Staates, ein gut Teil der in meinem Körper steckenden Feuerung verbraucht. Geröstetes Brot, so dünn wie Oblaten! Es war großartig! Aber jede Oblate war nur ein Bissen für mich, und so mußte ich leider nach jedem Stück erst wieder umständlich zulangen. Als ich ein ganz kleiner Junge war, hatte ich einen ganz kleinen Hund, namens Punch. Ich sorgte immer selbst für sein Futter. Einmal hatte einer vom Hausstand eine Menge Enten geschossen, und es gab ein herrliches Essen. Als ich fertig war, machte ich Punchs Mittag zurecht – einen großen Teller Knochen und allerlei Leckerbissen. Ich ging hinaus, um es ihm zu geben. Nun war aber gerade ein Gast von einem Hofe in der Nähe herübergeritten und hatte einen Neufundländer, so groß wie ein Kalb, mitgebracht. Ich setzte den Teller auf den Boden. Punch wedelte mit dem Schwanze und machte sich darüber her. Mindestens eine halbe Stunde Glückseligkeit lag vor ihm. Da kam plötzlich ein Sturmwind angebraust. Punch wurde beiseitegefegt wie ein Strohhalm, und der Neufundländer stürzte sich über den Teller her. Im Nu – noch ehe ihn mein Fußtritt beiseiteschleuderte – hatte er den ganzen Teller geleert. Er räumte gründlich auf. Ein letztes nachdenkliches Lecken entfernte selbst die Fettflecken.

Wie der große Neufundländer es mit dem Fleisch gemacht hatte, das für Punch bestimmt gewesen war, so machte ich es jetzt mit dem Essen der beiden alten Damen in Harrisburg. Ich räumte gründlich auf. Ich zerbrach nichts, aber ich vertilgte alle Eier, das geröstete Brot und den Kaffee. Das Mädchen brachte mehr, aber ich hielt sie in Atem, und sie mußte immer mehr bringen. Der Kaffee war prachtvoll, aber warum servierte man ihn in so winzigen Täßchen? Wie sollte ich Zeit zum Essen haben, wenn ich immerfort Zucker und Sahne in die vielen Tassen Kaffee tun mußte?

Jedenfalls bekam ich dadurch Zeit, meiner Zunge freien Lauf zu lassen. Die beiden alten Damen mit ihren roten Bäckchen und ihren weißen Locken hatten nie zuvor das leuchtende Antlitz des Abenteuers gesehen. Sie hatten, um einen Vagabundenausdruck zu gebrauchen, ihr ganzes Leben auf demselben Gleis gearbeitet. In ihr ereignisloses enges Dasein mit dem feinen Lavendelduft kam ich, ein frischer Luftzug aus der großen Welt, eine gesunde, kräftige Erinnerung an Schweiß und Kampf, auf Geschmack und Geruchsinn wirkend wie der Hauch ferner Länder und ferner Erde. Und ich rieb ihre weichen Handflächen gründlich mit der harten Haut meiner eigenen Hände – der halbzölligen, hornartigen Haut, die von dem ständigen Rucken des Taus und den langen angestrengten Stunden herrührte, da die Hand sich zärtlich um den Spatenschaft geschlossen hatte. Das tat ich nicht nur aus jugendlichem Übermut, sondern um zu zeigen, daß ich zufolge meiner Arbeit Anspruch auf ihre Barmherzigkeit hatte.

Oh, ich sehe sie noch vor mir, diese lieben alten Damen, an deren Frühstückstisch ich vor zwölf Jahren saß, und denen ich erzählte, wie mein Leben sich geformt hatte. Ich überhörte ihre freundlichen Ratschläge, wie so ein verteufelter Kerl es tun muß, und fesselte sie durch spannende Berichte nicht nur der Abenteuer, die ich selbst erlebt hatte, sondern auch solcher, die all den andern begegnet waren, die ich kannte und mit denen ich Eindrücke gewechselt hatte. Ich eignete sie mir alle an, ich meine die Abenteuer, die all den andern begegnet waren, und wenn die beiden alten Damen weniger vertrauensvoll und unschuldig gewesen wären, hätten sie mich bezüglich der zeitlichen Reihenfolge schlimm in die Enge treiben können. Nun ja, und wenn schon? Es war ein anständiges Geschäft. Ich bezahlte prompt für die vielen Tassen Kaffee, die Eier und die feinen Schnitten gerösteten Brotes. Ich verschaffte ihnen königliche Unterhaltung. Daß ich gekommen war und an ihrem Tisch saß, war ihr Abenteuer, und Abenteuer sind unbezahlbar.

Als ich mich von den beiden alten Damen verabschiedet hatte und die Straße hinunterbummelte, fand ich vor der Tür eines Hauses, wo man offenbar spät aufstand, eine Zeitung und legte mich damit auf den Rasen in einem Park, um zu sehen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden in der Welt vorgegangen war. In diesem Park traf ich einen andern Landstreicher, der mir seine Lebensgeschichte erzählte und mich quälte, in die Armee der Vereinigten Staaten einzutreten. Er hatte sich selbst eben anwerben lassen und konnte nicht begreifen, warum ich nicht dasselbe tun wollte. Er war in Coxeys Armee gewesen und vor ein paar Monaten mit nach Washington marschiert, und dabei schien er Geschmack am Soldatenleben bekommen zu haben. Ich war selbst Veteran, denn war ich etwa nicht Gemeiner in der Kompanie L der zweiten Division von Kellys Arbeiterheer – die Kompanie war überall unter dem Namen ›Nevada-Stoßtrupp‹ bekannt – gewesen? Aber meine Erfahrungen in bezug auf das Soldatenleben hatten just die entgegengesetzte Wirkung auf mich ausgeübt, und so ließ ich den Landstreicher seinen dunklen Weg – vor die Hunde oder ins Heer, wie es nun kam – wandern, während ich ausknobelte, wie ich zu einem Mittagessen kommen könnte.

Als diese Arbeit besorgt war, schlenderte ich über die Brücke, die über den Susquehanna nach dem westlichen Ufer führte. Ich kann mich nicht erinnern, wie die Eisenbahn dort drüben hieß, aber als ich da so an diesem Morgen im Grase lag, kam mir der Einfall, nach Baltimore zu fahren, und zwar mit dieser Eisenbahn, wie sie nun auch heißen mochte. Es war ein heißer Nachmittag, und von der Brücke sah ich eine Bande von Kerlen, die um einen der Brückenpfeiler herumschwamm. Ich warf die Kleider ab und stürzte mich in den Fluß. Das Wasser war herrlich; als ich aber wieder an Land war und mich anzog, entdeckte ich, daß ich bestohlen worden war. Irgendeiner hatte meine Taschen durchsucht. Nun frage ich: ist Bestohlenwerden nicht Abenteuer genug für einen Tag? Ich habe Leute getroffen, die bestohlen wurden und davon redeten, solange sie lebten. Allerdings hatte der Dieb, der meine Taschen durchsuchte, nicht viel von seiner Mühe – dreißig oder vierzig Cent in Kupfer und meinen Tabak nebst Zigarettenpapier; aber es war alles, was ich besaß, und das ist mehr, als man den meisten Menschen stehlen kann, denn sie haben immer noch etwas zu Hause zu liegen, während ich kein Zuhause hatte. Es war eine hübsche Gesellschaft, die in dem Flusse herumschwamm. Ich sah mir einen von ihnen an und kam zu dem Ergebnis, daß es besser sei, keinen Lärm zu schlagen. Folglich bat ich um Tabak, und ich könnte darauf schwören, daß es mein eigenes Zigarettenpapier war, in das ich meine Zigarette drehte.

Jenseits der Brücke nahm ich meinen Weg am Ufer entlang. Hier lief die Eisenbahn, auf die ich es abgesehen hatte. Aber soweit das Auge reichte, war keine Station zu erblicken. Und wie ich einen Güterzug außerhalb einer Station erwischen sollte, das war eben die Frage. Ich bemerkte, daß das Gleis über eine steile Anhöhe führte, von deren höchstem Punkt ich gerade herabgekommen war, und ich wußte, daß ein schwerer Güterzug da nicht sehr schnell hinauffahren konnte. Aber wie schnell? Jenseits des Gleises erhob sich eine hohe Böschung. An ihrem Rande sah ich den Kopf eines Mannes aus dem Grase herauslugen. Vielleicht wußte er Bescheid, wie schnell die Güterzüge über die Anhöhe fuhren, und wann der nächste Zug in südlicher Richtung vorkeikam. Ich rief ihm meine Fragen hinauf, und er machte mir ein Zeichen, daß ich näher kommen solle.

Ich gehorchte, und als ich den Gipfel der Anhöhe erreichte, fand ich außer ihm noch vier andere Männer, die rings im Grase lagen. Ich wußte gleich, was sie waren – amerikanische Zigeuner. Auf dem freien Platze zwischen den Bäumen, ein Stück vom Rande der Böschung, standen ein paar Wagen verschiedenster Art. Ein ganzer Schwarm zerlumpter, halbnackter Kinder lief im Lager herum, aber ich bemerkte, daß sie sich wohl hüteten, in die Nähe der Erwachsenen zu kommen und sie zu stören. Ein paar hagere, abgearbeitete, häßliche Frauen waren mit verschiedenen Dingen im Lager beschäftigt, und mir fiel besonders eine auf, die für sich mit gebeugtem Haupte auf einem der Wagen saß und das Kinn auf die Knie stützte, die sie kraftlos mit den Armen umschloß. Alles Leid, das einem Menschen widerfahren kann, stand in ihrem Gesicht geschrieben, über dem ein tragischer Ausdruck lag, als hätte sie die Fähigkeit, zu leiden, verloren. Sie sah aus, als wäre ihr alles gleichgültig – aber hierin irrte ich mich, denn ich sollte später erfahren, daß es etwas gab, das ihr nicht gleichgültig war.

Ich lag im Grase am Rande der Böschung und redete mit den Männern. Wir waren Blutsverwandte – Brüder. Ich, der amerikanische Landstreicher, und sie, die amerikanischen Zigeuner. Ich kannte ihren Jargon, und sie kannten den meinen genügend, daß wir uns verständigen konnten. Es waren noch zwei Männer mehr in der Bande, die sich drüben auf der andern Seite des Flusses befanden. Sie beschäftigten sich mit ›Kesselflicken‹, aber was eigentlich hinter diesem ›Kesselflicken‹ steckte, das erfuhr ich nicht, und es wäre unhöflich von mir gewesen, zu fragen.

Es war ein herrlicher Tag. Nicht ein Lüftchen regte sich, und wir sonnten uns in der flimmernden Wärme. Von allen Seiten ertönte das einschläfernde Summen der Insekten, und die balsamische Luft war von dem süßen Duft der Erde und all des sprießenden Grüns erfüllt. Wir waren zu faul, um etwas anderes zu tun, als hin und wieder ein Wort zu murmeln, damit die Unterhaltung nicht einschlief. Und da wurden, ganz plötzlich, der Frieden und die Ruhe unangenehm unterbrochen.

Zwei barfüßige Knaben von acht bis neun Jahren hatten gegen eine der Verordnungen verstoßen, die für das ganze Lager galten – was es war, wußte ich nicht –, und ein Mann, der neben mir lag, erhob sich plötzlich und rief sie. Er war der Stammeshäuptling, ein Mann mit schmaler Stirn und mandelförmigen Augen. Seine dünnen Lippen und der sardonische Ausdruck seines Gesichts erklärten hinreichend, warum die beiden Knaben sich plötzlich beim Klang seiner Stimme aufrichteten und wie erschreckte Rehe erstarrten. Ängstliche Spannung lag auf ihren Gesichtern, sie machten entsetzt kehrt und liefen fort. Er rief sie, zurückzukommen, und der eine blieb auch zögernd und widerwillig zurück. Seine magere, kleine Gestalt zeigte deutlich den Kampf, der in seinem Innern tobte, einen Kampf zwischen Furcht und warnendem Verstand. Der Stammeshäuptling verfolgte ihn nicht. Er schlenderte nur zu einem Wagen und holte eine schwere Peitsche. Dann kam er auf die Mitte des freien Platzes zurück und blieb stehen. Er sagte nichts. Er regte sich nicht. Er war das Gesetz, unbarmherzig, allmächtig. Er stand bloß da und wartete. Und ich und alle, auch die beiden Knaben im Schatten der Bäume, wußten, worauf er wartete. Der Knabe, der zurückgeblieben war, kam jetzt langsam heran. Ein schwerer, unter Angst und Beben gefaßter Entschluß war auf seinem Antlitz zu lesen. Er zögerte nicht. Er hatte sich entschlossen, seine Strafe auf sich zu nehmen. Und wohl zu merken: es handelte sich nicht um die Strafe für sein ursprüngliches Vergehen, sondern für das Verbrechen, dessen er sich durch die Flucht schuldig gemacht hatte. Und in diesem Punkt benahm sich das Oberhaupt des Stammes nur so, wie die erhabene Welt es verlangt, in der er lebte. Wir strafen unsere Verbrecher, und wenn sie uns entwischen und fortlaufen, so holen wir sie wieder und strafen sie noch härter.

Gerade auf den Häuptling zu ging der Knabe und blieb in der richtigen Entfernung stehen, daß er die Peitsche schwingen konnte. Der Hieb zischte durch die Luft, und unwillkürlich fuhr ich erschreckt auf, als ich den scharfen Schlag hörte. Das magere kleine Bein war ja so mager und klein! Wo die Peitschenschnur getroffen hatte, wurde das Fleisch ganz weiß, und dann erschien dort ein häßlicher dicker Striemen, an dessen Seite winzige rote Blutstropfen hervorquollen und zeigten, wo die Haut zerrissen war. Wieder wurde die Peitsche erhoben, und das ganze Körperchen zitterte in Erwartung des Schlages, obwohl der Knabe sich nicht von der Stelle rührte. Er wollte aushalten. Ein neuer Striemen erschien auf seinem Bein, dann ein dritter. Erst als die Peitsche zum vierten Male traf, schrie der Knabe laut. Jetzt konnte er auch nicht mehr stillstehen, und von diesem Augenblick an hüpfte er, vor Schmerz und Qualen schreiend, umher, versuchte aber nicht, wegzulaufen. Wenn er bei seinem verzweifelten Hüpfen außer Reichweite der Peitsche war, hüpfte er gleich wieder zurück. Erst dann, als alles vorüber war – es waren zwölf Schläge –, kroch er wimmernd zwischen die Wagen.

Der Häuptling blieb stehen und wartete. Jetzt erschien der andere Knabe zwischen den Bäumen, kam aber nicht geradeswegs zum Häuptling. Er kam wie ein kriechender Hund, machte jeden Augenblick in plötzlichem Entsetzen kehrt und wich ein halbes Dutzend Schritte zurück. Aber er kehrte immer wieder um, näherte sich dem Manne in immer engeren Kreisen, wimmerte und stieß unartikulierte Kehllaute aus wie ein Tier. Seine Augen wichen nicht von der Peitsche, und es lag ein Ausdruck von Entsetzen in ihnen, der mich ganz krank machte – von einem wahnsinnigen Entsetzen, das bezeugte, wie unfaßbar dieses Kind mißhandelt wurde. Ich habe starke Männer rechts und links von mir im Kampfe fallen und sich in Todesqualen winden, ich habe sie zu Dutzenden durch Bomben und Granaten in die Luft gesprengt, zerfetzt und zerrissen werden sehen, aber glaubt mir, das war der reine Scherz gegen den Anblick dieses armen Kindes.

Die Auspeitschung begann. Die Strafe des ersten Knaben war Spielerei gewesen im Vergleich mit dieser. In wenigen Sekunden strömte das Blut über die dünnen Beinchen herab. Er hüpfte und wand sich, fiel zusammen, bis er fast aussah wie eine Marionette an der Schnur. Ich sage »fast«, denn sein Geschrei strafte diesen Eindruck Lügen und zeigte, daß alles Wirklichkeit war. Sein Geschrei war gellend und durchdringend; nicht heiser, sondern bebend und dünn, wie es der geschlechtslosen Kinderstimme eigen ist. Dann kam ein Zeitpunkt, da der Knabe es nicht mehr ertragen konnte. Sein letzter Rest, von Vernunft verschwand, und er versuchte fortzulaufen. Aber jetzt folgte ihm der Mann, schnitt ihm den Rückzug ab und trieb ihn, immer mit Peitschenschlägen, nach dem freien Platze zurück.

Da gab es eine Unterbrechung. Ich hörte einen wilden, halberstickten Schrei. Die auf dem Wagen sitzende Frau war heruntergesprungen. Mit einem Satz stand sie zwischen dem Manne und dem Knaben.

»Willst du auch was abhaben, he?« sagte der Mann mit der Peitsche. »Na schön, meinetwegen.«

Er schwang die Peitsche über ihr. Ihre Röcke waren lang, so daß er nicht versuchte, ihre Beine zu treffen. Er zielte nach ihrem Gesicht, und sie wehrte den Schlag, so gut sie es vermochte, mit Händen und Armen ab, während sie den Kopf zwischen die mageren Schultern duckte und die Peitschenschläge auf die dünnen Arme und Schultern regnen ließ. Heldenmütige Mutter! Sie wußte gut, was sie tat. Der Knabe entlief, immer noch schreiend, zu den Wagen.

Und die ganze Zeit lagen die vier Männer neben mir und sahen zu. Aber sie regten sich nicht, und ich gestehe, daß ich mich auch nicht regte, und das ohne Scham, obwohl meine Vernunft einen schweren Kampf mit meinen natürlichen Instinkten kämpfte, die mich trieben, aufzustehen und mich dazwischenzulegen. Ich kannte das Leben. Was hätte es der Frau oder mir genützt, wenn ich mich hier am Ufer des Susquehanna von fünf Männern hätte totprügeln lassen? Ich habe einmal gesehen, wie ein Mann gehängt wurde, und obwohl meine ganze Seele empört dagegen aufschrie, kam kein Wort über meine Lippen. Hätte ich Einspruch erhoben, so hätte man mir aller Wahrscheinlichkeit nach die Hirnschale mit einem Revolver zertrümmert, denn das Gesetz gebot, daß der Mann gehängt werden sollte. Und in dieser Zigeunerbande gebot das Gesetz, die Frau auszupeitschen.

In beiden Fällen war der Grund, daß ich mich nicht dazwischenlegte, nicht das Gesetz an sich, sondern der Umstand, daß das Gesetz stärker war als ich. Hätten die vier Männer nicht neben mir im Grase gelegen, so würde ich mit Freuden auf den Mann mit der Peitsche losgegangen sein. Und hätte mich dann nicht eine der Frauen im Lager mit einem Messer oder einer Keule angefallen, so bin ich überzeugt, daß ich ihn kurz und klein hätte schlagen können. Aber die vier Männer lagen nun einmal neben mir im Grase. Sie waren die Ursache, daß das Gesetz stärker war als ich.

Glaubt mir, ich litt auch mein Teil dabei! Ich hatte früher gesehen, wie Frauen geprügelt wurden, aber noch nie, wie diese Frau es wurde. Ihr Kleid hing in Fetzen von den Schultern. Einen der Schläge hatte sie nicht abwehren können, und er riß ihr einen blutigen Striemen von der Backe bis zum Kinn. Nicht ein Schlag, nicht zwei, nicht ein oder zwei Dutzend Schläge, ein endloser Schauer von Schlägen regnete auf sie herab. Ich war in Schweiß gebadet; ich atmete schwer und griff mit beiden Händen ins Gras, bis ich es mit der Wurzel herausriß. Und unterdessen flüsterte mir mein gesunder Menschenverstand ins Ohr: »Du Narr! Du Narr!« Der blutunterlaufene Striemen im Gesicht der Frau hätte meiner Selbstbeherrschung fast ein Ende gemacht. Ich machte Miene aufzuspringen, aber der Mann neben mir legte mir die Hand auf die Schulter und hielt mich zurück.

»Ruhig, Kamerad, ruhig!« warnte er mich leise. Ich sah ihn an, und sein Blick begegnete dem meinen ohne Zögern. Er war ein großer, breitschultriger und muskulöser Mann, und sein Gesicht war schlaff, phlegmatisch, träge, nicht unfreundlich, aber ohne Leidenschaft und ganz ohne Intelligenz; eine Seele, die in der Finsternis tappte, nicht schlecht, aber bar aller Moral und dumpf und starrsinnig wie die eines Büffels. Wie ein Tier war er, mit einem schwachen Funken von Verstand, ein gutmütiges, sprachloses Tier mit den Körper- und Geisteskräften eines Gorillas. Seine Hand lag schwer auf meiner Schulter, und ich fühlte das Gewicht der Muskeln hinter diesem Griff. Ich betrachtete die beiden andern, die auch nichts sprachen – zwei waren ganz teilnahmslos und uninteressiert, der dritte freute sich offenbar über den Anblick, und da erwachte mein gesunder Menschenverstand, meine Muskeln erschlafften, und ich sank wieder ins Gras zurück.

Meine Gedanken gingen zurück zu den beiden alten Damen, bei denen ich an diesem Morgen gefrühstückt hatte. Kaum zwei Meilen in gerader Linie lagen zwischen ihrer Wohnung und dem Ort, wo dieser Auftritt stattfand. Und hier wurde an einem schönen, stillen Tage, bei strahlendem Sonnenschein, eine ihrer Schwestern von einem meiner Brüder gepeitscht. Dies war ein Blatt im Buche des Lebens, das sie nie zu sehen bekommen sollten – und das war auch das beste, eben weil sie es nicht sahen und nie diese ihre Schwestern verstehen konnten, die aus so ganz anderem Stoff gemacht waren. Denn es ist einem Weibe nicht gegeben, sein Leben in duftenden, engen Zimmern zu verbringen und gleichzeitig das »Schwesterlein« der ganzen Welt zu sein.

Die Exekution war beendet, und die Frau, die jetzt nicht mehr schrie, kehrte zu ihrem Platz auf dem Wagen zurück. Keine der Frauen näherte sich ihr – jedenfalls nicht gleich. Sie hatten Angst. Aber sie kamen später, als eine geraume Weile vergangen war. Der Mann legte die Peitsche weg, kam zu uns zurück und warf sich auf der andern Seite neben mich. Er atmete schwer vor Anstrengung. Dann trocknete er sich den Schweiß mit dem Rockärmel aus den Augen und sah mich herausfordernd an. Ich begegnete seinem Blick mit größter Gleichgültigkeit; was er getan hatte, ging mich nichts an. Ich brach nicht sofort auf. Ich blieb noch eine halbe Stunde liegen, was unter den vorliegenden Umständen allgemeiner Höflichkeit und Etikette entsprach. Ich drehte mir Zigaretten aus Tabak, den sie mir borgten, und als ich mich die Böschung zur Eisenbahn hinuntergleiten ließ, war ich mit allen Kenntnissen versehen, die ich brauchte, um den nächsten Zug nach dem Süden zu erwischen.

Es war ein Blatt im Buche meines Lebens, das war alles, und es gibt viele Blätter, die schlimmer, weit schlimmer sind als die, welche ich gesehen habe. Ich habe zuweilen behauptet – Leute, die es hörten, glaubten stets, es sei ein Scherz –, daß der Unterschied zwischen Menschen und Tieren darin besteht, daß die Menschen die Weibchen ihrer Art mißhandeln. Das läßt sich weder ein Wolf noch der feigste Coyote je zuschulden kommen. Selbst der Hund, der doch durch sein Zusammenleben mit dem Menschen degeneriert ist, wird das nie tun. In diesem Punkte hat der Hund sich den Instinkt des wilden Tieres bewahrt, während der Mensch die meisten Instinkte des wilden Tieres – jedenfalls die meisten guten – verloren hat.

Schlimmere Blätter im Buche des Lebens als das, welches ich beschrieben habe? Lest die Berichte über die Kinderarbeit in den Vereinigten Staaten – im Osten, Westen, Norden und Süden, einerlei wo – und denkt daran, daß wir alle, wir, die wir von der Arbeit anderer leben, viel schlimmere Blätter in das Buch des Lebens fügen als das ist, das einfach von einer Frau erzählt, die am Ufer des Susquehanna gepeitscht wurde.

Ich ging hundert Meter die Böschung hinunter bis zum Gleis, wo eine gute Stelle war, um den Zug zu entern, wenn er sich langsam die Anhöhe hinaufarbeitete, und hier stieß ich auf ein halbes Dutzend Landstreicher, die gleich mir warteten. Ein paar von ihnen spielten mit einem alten Spiel Karten, Ich machte mit. Ein Neger sollte mischen. Er war dick und jung und hatte ein rundes Gesicht. Er strahlte vor Wohlwollen. Er triefte förmlich davon. Als er mir die erste Karte gab, hielt er inne und sagte: »Sag', Kamerad, hab' ich dich nicht schon mal gesehen?«

»Ja, darauf kannst du Gift nehmen!« antwortete ich. »Und damals hattest du auch nicht dieselben Fetzen an.«

Er wurde verlegen.

»Erinnerst du dich an Buffalo?« fragte ich.

Da erkannte er mich und begrüßte mich mit Lachen und Ausrufen als alten Kameraden, denn in Buffalo war sein Zeug gestreift gewesen, denn er verbüßte eine Strafe im Zuchthaus. Im übrigen war mein Zeug auch gestreift gewesen.

Das Spiel ging weiter, und ich erfuhr, um was wir spielten. Zum Flusse ging ein schmaler, steiler Pfad hinunter. Ungefähr fünfundzwanzig Fuß unterhalb der Stelle, wo wir saßen, führte er an einer Quelle vorbei. Wer verlor, sollte in einer kleinen Dose, in der sich kondensierte Milch befunden hatte, Wasser für die Gewinner holen.

Das erste Spiel wurde zu Ende gespielt, und der Neger verlor. Er nahm die kleine Milchdose und kroch den Abhang hinunter, während wir oben saßen und uns über ihn lustig machten. Wir tranken wie die Schwämme. Für mich allein mußte er den Weg viermal machen, und die andern waren ebenso verschwenderisch mit der Flüssigkeit. Der Abhang war sehr steil, und manchmal stolperte der Neger, wenn er schon halb oben war, vergoß das Wasser und mußte wieder zurück und mehr holen. Aber er wurde nicht ärgerlich. Er lachte ebenso herzlich wie wir – daher stolperte er immer wieder. Und immer wieder versicherte er uns, welche ungeheure Menge Wasser er trinken wollte, wenn einer von uns verlieren würde.

Als unser Durst gelöscht war, begannen wir ein neues Spiel. Wieder verlor der Neger, und wieder tranken wir, soviel wir konnten. Ein drittes und viertes Spiel endete auf dieselbe Weise, und jedesmal lachte sich der rundgesichtige Neger halbtot bei dem Gedanken an das Schicksal, das der Zufall beständig ihm zuteil werden ließ. Und wir waren auch halbtot vor Lachen, so amüsierten wir uns. Wir lachten wie frohe, sorglose Kinder oder Götter, während wir am Rande des Abhanges lagen. Ich weiß noch, daß ich lachte, bis ich ein Gefühl hatte, als ob mein Kopf in Stücke gehen sollte, und ich trank aus der Milchdose, bis ich so voller Wasser war wie ein leckes Boot. Wir begannen ernsthaft zu diskutieren, ob wir noch aufspringen könnten, wenn der Zug die Anhöhe heraufkam, soviel Wasser hatten wir getrunken. Dieser Gedanke war zuviel für den Neger. Er mußte mindestens fünf Minuten aufhören mit dem Wasserholen, legte sich auf den Boden und wand sich vor Lachen.

Die Schatten wurden tiefer und reichten immer weiter über den Fluß hinaus; die milde, kühle Dämmerung kam, und immer noch saßen wir da und tranken Wasser, und immer noch mußte unser schwarzer Mundschenk uns mehr holen. Vergessen war die Frau, die ich vor einer Stunde hatte gepeitscht werden sehen. Diese Seite im Buche des Lebens war umgeblättert; ich war dabei, ein neues Blatt zu lesen, und wenn die Lokomotive sich pfeifend die Anhöhe heraufarbeitete, war auch diese Seite beendet, und wieder eine neue begann. Und so liest man das Buch des Lebens Blatt für Blatt, zahllose Blätter – solange man jung ist.

Aber dann kam ein Spiel, das der Neger einmal nicht verlor. Das Opfer war ein magerer Landstreicher, der aussah, als wäre er magenleidend. Er hatte am wenigsten gelacht. Wir sagten, daß wir kein Wasser mehr haben wollten, was auch vollkommen der Wahrheit entsprach. Nicht für alle Schätze Indiens, und wenn es mit der Luftpumpe in mich hineingepumpt worden wäre, hätte ich meinen sündigen, überfüllten Leib zwingen können, auch nur noch einen einzigen Tropfen aufzunehmen.

Der Neger machte ein enttäuschtes Gesicht, dann aber faßte er Mut und sagte, er möchte gern noch etwas Wasser haben. Und er meinte es auch so. Er verlangte Wasser, mehr und immer mehr Wasser.

Immer wieder mußte der melancholische Landstreicher den steilen Abhang auf und nieder klettern, und immer verlangte der Neger noch mehr. Er trank mehr Wasser als wir andern alle zusammen. Die Dämmerung wich der dunklen Nacht. Die Sterne kamen zum Vorschein, und er trank immer weiter. Ich glaube, wenn der Güterzug nicht gepfiffen hätte, so würde er noch dasitzen und sich mit Wasser und Rache berauschen, während sich der melancholische Landstreicher mühselig den Abhang hinauf und wieder hinunter schleppte.

Aber der Zug pfiff. Diese Seite war fertig. Wir sprangen auf und stellten uns in einer Reihe am Bahndamm auf. Der Zug kam fauchend und schnaubend die Höhe herauf, die Laterne auf der Lokomotive machte die Nacht zum Tage und warf unsere Gestalten als dunkle Silhouetten auf den Abhang. Die Lokomotive kam vorüber, und wir liefen alle in der Richtung des Zuges, um mitzukommen. Einige erkletterten die eisernen Leitern an der Seite des Zuges, andere ›sprengten‹ die Seitentüren leerer, geschlossener Güterwagen und krochen hinein. Ich selbst erwischte einen offenen Güterwagen mit Stückgut und fand einen netten, geschützten Winkel. Ich lag auf dem Rücken, eine Zeitung als Kopfkissen unter dem Kopfe. Über mir schimmerten die Sterne wie Heerscharen, sie schwangen hin und her, wenn der Zug die Kurven nahm, und während ich so dalag und sie betrachtete, schlief ich ein.

Der Tag war vorbei – einer von allen meinen Tagen. Morgen kam wieder ein anderer Tag, und ich war jung.

 


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