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Es war um die Weihnachtszeit, am Vorabend des Wassilijtages. Das Wetter ließ sich sehr ungnädig an. Einer der grausamen Landstürme, welche die Winter in den Wolgasteppen berüchtigt machen, hatte eine Menge Leute in den abgelegenen Gasthof getrieben, ein Bauernhaus inmitten der flachen, unabsehbaren Steppe. Dort hatten sich auf einem Haufen Adelige, Kaufleute, Bauern zusammengefunden, Russen, Mordwinen und Tschuwaschen. Auf Rang und Würden konnte man in einem solchen Nachtquartier keine Rücksicht nehmen: Wohin man sich wendet, alles ist gedrängt voll, die einen trocknen sich, die anderen wärmen sich, die dritten suchen ein wenn auch noch so kleines Plätzchen, auf dem sie bleiben können. In der dunklen, niederen, mit Menschen überfüllten Stube herrscht eine schwere Schwüle und der dichte Dampf der nassen Kleider. Nirgends ist ein unbesetzter Fleck zu sehen: Auf den Pritschen, dem Ofen, den Bänken, und selbst auf dem schmutzigen Erdboden, überall liegen Menschen.
Der Hauswirt, ein mürrisch blickender Bauer, zeigt weder über seine Gäste noch über den Verdienst irgendwelche Freude. Zornig schlägt er das Tor hinter den zwei Kaufleuten zu, die als letzte auf Schlitten in den Hof gekommen sind. Er schließt die Pforte ab, hängt den Schlüssel unter den Heiligenschrank und erklärt entschieden: »Nun kann kommen wer will, und wenn er mit dem Kopf ans Tor schlägt, ich mach' nicht auf!«
Aber kaum hatte er es gesagt, seinen weiten Schafspelz abgelegt, sich mit breiter Gebärde auf Raskolniki-Art bekreuzigt und sich fertig gemacht, auf den heißen Ofen zu klettern, als jemand zaghaft an die Scheibe klopfte.
»Wer ist dort?« rief der Hauswirt mit lauter, ärgerlicher Stimme.
»Wir!« antwortete es dumpf hinter dem Fenster.
»Nun, was wollt ihr noch?«
»Laß uns herein, um Christi willen, wir haben uns verirrt, sind ganz erstarrt.«
»Seid ihr viele?«
»Nicht viele, nicht viele, achtzehn im ganzen, achtzehn«, sagte stammelnd und mit den Zähnen klappernd ein anscheinend ganz erfrorener Mensch hinter der Scheibe.
»Ich kann euch nicht einlassen, die ganze Stube ist mit Menschen ausgelegt.«
»Laß uns nur ein wenig in die Wärme!«
»Wer seid ihr denn?« – »Fuhrleute.«
»Mit oder ohne Fuhrwerk?«
»Mit Fuhrwerken, Lieber, Felle führen wir.«
»Felle! Felle führt ihr, und da wollt ihr in der Stube übernachten. Was es jetzt für Leute in Rußland gibt. Schert euch fort!«
»Aber was sollen sie tun?« fragte ein Durchreisender, der auf der obersten Pritsche unter einem Bärenpelz lag.
»Die Felle herunterwerfen und unter ihnen schlafen, das sollen sie tun«, antwortete der Wirt, schimpfte noch kräftig auf die Fuhrleute, legte sich auf den Ofen und rührte sich nicht mehr.
Der Reisende unter dem Bärenpelz warf dem Wirt seine Härte vor, aber der würdigte seine Bemerkungen gar keiner Antwort. Da ließ sich aus einer entfernten Ecke ein kleiner rothaariger Mensch mit einem Spitzbärtchen vernehmen.
»Verurteilen Sie den Wirt nicht, bester Herr«, begann er, »er weiß das aus Erfahrung und hat es ganz richtig gesagt: Unter Fellen ist es ungefährlich.«
»Wirklich?« fragte der Reisende unter dem Bärenpelz.
»Ganz ungefährlich, und es ist sogar für sie selbst besser, daß er sie nicht hereinläßt.«
»Warum das?«
»Weil sie eine nützliche Lehre erhalten haben, und wenn jetzt jemand hilflos hierherkommt, findet er noch ein Plätzchen.«
»Wen soll der Teufel jetzt noch herbringen?« sagte der Pelz.
»Hör, du«, mischte sich der Wirt ein, »schwatz kein so dummes Zeug. Soll vielleicht der Widersacher jemand hierherbringen, wo ein solches Heiligtum ist? Siehst du nicht dort das Erlöserbild und das Antlitz der Gottesgebärerin?«
»Das ist wahr«, bekräftigte der Rothaarige, »einen erlösten Menschen führt nicht der Teufel, sondern ein Engel geleitet ihn.«
»Den habe ich noch nicht gesehen, und weil es mir hier sehr widerwärtig ist, so will ich auch nicht daran glauben, daß mich mein Engel hergeführt hat«, antwortete der gesprächige Pelz.
Der Wirt spuckte wütend aus, aber der Rote erklärte gutmütig, daß der Engelsweg nicht für jeden sichtbar sei und daß nur der ihn begreifen könne, der darin Erfahrung habe.
»Sie reden, als ob Sie selbst eine solche Erfahrung hätten?« sagte der Pelz.
»Ja, ich habe sie.«
»Wollen Sie sagen, daß Sie einen Engel gesehen haben und er Sie geführt hat?«
»Ja, ich habe ihn gesehen, und er hat mich geleitet.«
»Scherzen Sie oder machen Sie sich lustig?«
»Gott behüte mich, über eine solche Sache zu scherzen!«
»So haben Sie also wirklich etwas Derartiges gesehen: Wie ist Ihnen der Engel erschienen?«
»Bester Herr, es ist eine sehr lange Geschichte.«
»Wissen Sie, es ist entschieden unmöglich, hier einzuschlafen. Sie tun gut, wenn Sie uns jetzt diese Geschichte erzählen.«
»Nun schön!«
»So erzählen Sie, bitte, wir hören Ihnen zu. Warum hocken Sie aber dort auf den Knien! Kommen Sie zu uns her, wir rücken etwas zusammen.«
»Nein, ich danke Ihnen! Warum soll ich Sie beengen, und zudem ist es schicklicher, wenn ich Ihnen meine Erzählung auf den Knien berichte, denn die Sache ist sehr heilig und sogar schrecklich.«
»Nun, wie Sie wollen, erzählen Sie aber schneller, wie Sie einen Engel sehen konnten und was er mit Ihnen getan hat.«
»Schön, ich beginne.«
Ich bin, wie Sie mir zweifellos ansehen können, ein ganz unbedeutender Mensch, ich bin nur ein Bauer und habe den Umständen gemäß eine ländliche Erziehung erhalten. Ich bin kein hiesiger, sondern von weit weg, von Beruf bin ich Maurer und im alten russischen Glauben geboren. Als Waise bin ich von Kind auf mit meinen Landsleuten auf Wanderarbeit gegangen und habe an verschiedenen Orten gearbeitet, aber immer mit derselben Gesellschaft, bei meinem Landsmann Luka Kirillow. Dieser Luka Kirillow lebt heute noch: Er ist unser größter Bauunternehmer. Sein Geschäft hatte er von altersher, es war schon von seinen Vätern gegründet, und er hatte es nicht vergeudet, sondern vergrößert, und sich einen großen und reichen Besitz geschaffen, aber er war und ist ein prächtiger Mensch, der niemand etwas zuleide tut. Und wo sind wir mit ihm nicht gewesen? Ich glaube, wir haben ganz Rußland durchzogen, und nirgends habe ich einen besseren und würdigeren Brotherrn getroffen. Und wir lebten bei ihm ganz friedlich und patriarchalisch, er war Bauunternehmer und unser Leiter wie im Handwerk so auch im Glauben. Wir zogen mit ihm unsern Weg zu den Arbeiten, wie die Juden auf ihren Wüstenwanderungen mit Moses, und sogar unsere heilige Stiftshütte führten wir mit uns, von der wir uns nie trennten: Das heißt, wir hatten unseren »Gottessegen« bei uns. Luka Kirillow war ein großer Verehrer gemalter Ikonen und besaß, beste Herren, ganz wunderbare alte, sehr kunstvolle, teils echt griechische, teils von den ersten Nowgoroder oder Stroganower Malern. Ein Bild strahlte schöner als das andere, aber nicht nur durch die Beschläge, sondern durch die Klarheit und Gewandtheit der wunderbaren Kunst. So Erhabenes sah ich später nirgends mehr! Er hatte Bilder mit Jesus in zwei Gestalten, ein nicht von Menschenhänden gefertigtes Erlöserbild mit feucht glänzenden Haaren, Heilige, Märtyrer, Apostel, und wunderbarer als alles andere waren vielgestaltige Bilder aus der Heiligengeschichte, die zum Beispiel die Feiertage darstellten, das Jüngste Gericht, Heilige, Konzile, die Schöpfungswoche, die Dreifaltigkeit mit Abrahams Gebet im Haine Mamre, mit einem Wort, all diese Pracht kann man gar nicht beschreiben, und solche Bilder malt man jetzt nirgends mehr, weder in Moskau noch in Petersburg, noch in Palichow; von Griechenland gar nicht zu reden, wo diese Kunst längst untergegangen ist. Wir alle liebten unser Heiligtum mit leidenschaftlicher Liebe, wir zündeten vor ihm die heiligen Lampen an und hielten uns auf gemeinsame Kosten ein Pferd und ein besonderes Fuhrwerk, auf dem wir den Gottessegen in zwei großen Kisten überall mit uns führten. Zwei Bilder waren von besonderem Wert; das eine von alten Moskauer Meistern, die für den Zaren arbeiteten, den Griechen nachgebildet: Die allerheiligste Himmelskönigin betet im Garten, und vor ihr neigen sich alle Zypressen und Oliven bis zur Erde; das andere aber war ein Schutzengel, eine Stroganower Arbeit. Es läßt sich gar nicht sagen, was für eine Kunst in diesen beiden Bildern war! Du schaust auf die Himmelskönigin, wie sich vor ihrer Reinheit die seelenlosen Bäume neigen, und das Herz schmilzt dir im Leibe und zittert, du schaust auf den Engel ... und wirst voller Freude! Dieser Engel war wirklich unbeschreiblich! Sein Gesicht, ich sehe es auch jetzt vor mir, leuchtet himmlisch und so gütig: Sein Blick ist mild, an den Ohren hat er ein weißes Band als Zeichen des Allhörens, seine Kleidung glänzt, die Gewänder sind mit Gold durchwirkt, die Rüstung ist gefiedert, die Schultern gepanzert; auf der Brust trägt er das Antlitz des Erlöserkindes, in der rechten Hand hält er das Kreuz, in der Linken das Flammenschwert. Wunderbar! Wunderbar! ... Die Kopfhaare sind blond gelockt, fallen über die Ohren, und Härchen an Härchen ist wie mit der Nadel gezogen. Die Flügel sind breit und weiß wie Schnee, der Untergrund leuchtender Lasur; Feder sitzt an Feder, und im Flaum jeder Feder Härchen an Härchen. Du schaust auf die Flügel, und wohin ist deine ganze Angst verschwunden? Du betest: Beschatte mich! Und sogleich wirst du ganz still, und in deine Seele kehrt der Friede ein. Was war das für ein Bild! Diese beiden Bilder waren für uns dasselbe wie für die Juden ihr Allerheiligstes, das Bezaleel mit wunderbarer Kunst ausgeschmückt hatte. Alle anderen Bilder, von denen ich eben erzählte, führten wir in besonderen Kasten auf dem Wagen, aber diese beiden legten wir nicht einmal auf das Fuhrwerk, sondern trugen sie: Das der Himmelskönigin trug Michailiza, Luka Kirillows Frau, die Darstellung des Engels aber verwahrte Luka selbst auf seiner Brust. Er hatte für dieses Bild ein Säckchen aus dunklem Brokat machen lassen mit einem Knopf und mit einem scharlachroten Kreuz aus Stoff an der Vorderseite; oben war eine dicke grüne Seidenschnur angenäht, um das Bild um den Hals zu hängen. So trug Luka die Ikone immer auf der Brust, und wenn wir gingen, zog er voraus, daß der Engel uns voranschritte. Wir gingen auf Suche nach neuer Arbeit von Ort zu Ort durch die Steppen. Allen voran schwingt Luka Kirillow ein Klaftermaß anstelle eines Steckens, hinter ihm fährt im Wagen Michailiza mit dem Bild der Gottesmutter, und hinter ihnen zieht unsere ganze Gesellschaft. Um uns her auf den Feldern Gras, Blumen auf den Wiesen, wo die Herden weiden und der Hirt die Flöte bläst ... für Herz und Seele ist es eine Wonne! Immer ging es uns prächtig, und wunderbar war unser Erfolg bei jeder Sache: Stets fanden wir gute Arbeit, unter uns herrschte Eintracht, von zu Hause kamen immer beruhigende Nachrichten. Und dafür segneten wir unseren Engel, der uns voranschritt, und ich glaube, wir hätten uns leichter von unserem Leben getrennt als von seinem wunderbaren Bild.
Und kann man es sich ausdenken, daß wir irgendwie durch irgendeine Schickung unseres kostbarsten Heiligtums beraubt werden würden? Doch dieses Leid erwartete uns, und es wurde uns, wie wir später einsahen, nicht durch menschliche Hinterlist bereitet, sondern nach dem Willen unseres Wegführers selbst. Er begehrte für sich selber diese Kränkung, um uns durch Kummer das Heilige begreifen zu machen und uns den wahren Weg zu zeigen, vor dem alle Wege, die wir bis zur Stunde gewandert waren, durch eine dunkle, pfadlose Schlucht liefen. Aber gestatten Sie die Frage, ob meine Erzählung Sie interessiert oder ob ich Ihre Aufmerksamkeit unnütz in Anspruch nehme?«
»Nein, wieso denn: Fahren sie gütigst fort!« riefen wir, voll Anteilnahme für seine Erzählung.
»Schön, ich gehorche Ihnen und beginne, so gut ich es kann, von dem Wunder zu berichten, das sich mit dem Engel zutrug.«
»Wir kamen vor eine große Stadt, an ein großes fließendes Wasser, den Dnjeprstrom, um dort eine große und jetzt sehr berühmte Brücke zu bauen. Die Stadt erhebt sich auf dem rechten steilen Ufer, während wir auf dem linken flachen Wiesenufer standen, und vor uns lag die ganze wundervolle Landschaft: alte Kirchen, heilige Klöster mit vielen heiligen Reliquien, dichte Gärten und Bäume, wie man sie in alten Büchern abgebildet findet, spitzwipfelige Pappeln. Du schaust auf all das, und dein Herz brennt in dir, so herrlich ist es! Sehen Sie, wir sind natürlich einfache Leute, aber wir fühlen doch die Pracht der gottgeschaffenen Natur! Der Ort hier gefiel uns so sehr, daß wir am ersten Tag mit dem Bau einer vorläufigen Unterkunft für uns begannen; zuerst schlugen wir hohe Pfähle ein, da die Stelle nieder gelegen war, ganz neben dem Wasser. Dann errichteten wir auf diesen Pfählen eine Stube und daneben einen Schuppen. In der Stube stellten wir unser ganzes Heiligtum auf, wie es sich nach dem Gesetz der Väter gehört: Längs der einen Wand stellten wir die zusammenlegbare dreiteilige Heiligenwand auf, zuunterst die großen Bilder, darauf zwei Tafeln für die kleineren Bilder, und so errichteten wir eine Art Treppe bis hinauf zum Kruzifix; den Engel aber stellten wir auf das Chorpult, auf dem Luka Kirillow die Heilige Schrift vorlas. Luka Kirillow wohnte mit Michailiza im Schuppen, während wir uns daneben einen Schlafraum errichteten. Andere, die ebenfalls gekommen waren, um hier zu arbeiten, sahen uns zu und begannen auch hier zu bauen, so daß bei uns, der großen Stadt gegenüber, ein kleines Städtchen auf Pfählen entstand. Wir arbeiteten, und alles ging ganz nach Wunsch. Das Geld zur Auszahlung lag immer pünktlich im Kontor der Engländer bereit, und Gott schenkte uns solch eine Gesundheit, daß es den ganzen Sommer über keinen einzigen Kranken gab; Lukas Michailiza begann sogar zu klagen, daß sie gar nicht froh werden könne, so dick werde sie überall. Uns Altgläubigen gefiel besonders gut, daß wir, die wir damals überall wegen unserer Bräuche verfolgt wurden, hier volle Freiheit hatten: Es gab keine Stadt- und keine Kreisobrigkeit und keinen Popen; wir sahen niemanden, und niemand kümmerte sich um unseren Glauben oder behinderte uns ... Wir beteten, soviel wir wollten. Wenn wir unsere Stunden abgearbeitet hatten, versammelten wir uns in der Stube, wo schon das ganze Heiligtum im Licht der Lämpchen glänzte, so daß einem das Herz erglühte. Luka Kirillow stimmte das Segenslied an, und wir fielen ein, so daß unser Gesang manchmal bei ruhigem Wetter weit von unserer Ansiedlung zu hören war. Unser Glaube störte niemanden, vielen gefiel es sogar, und zwar nicht nur den einfachen Leuten, die Gott nach russischem Brauch verehren, sondern auch Andersgläubigen. Viele fromme kirchlich Gesinnte, die nicht Zeit hatten, zur Kirche jenseits des Flusses zu gehen, standen bei uns an den Fenstern, hörten zu und beteten mit. Wir trieben sie von da nicht weg, es wäre auch nicht möglich gewesen, alle fortzujagen, weil auch hin und wieder die Ausländer kamen, die sich für die alten russischen Bräuche interessierten und unserem Gesang mit Vergnügen zuhörten. Der Oberbaumeister der Engländer, Jakow Jakowlewitsch, stand manchmal sogar mit einem Stück Papier hinter dem Fenster und wartete, um unsern Gesang in Notenschrift aufzuzeichnen, und wenn er dann zur Arbeit kam, summte er nach unserer Weise vor sich hin: ›Herr Gott, erscheine uns.‹ Nur geriet es bei ihm, versteht sich, in einem anderen Stil, weil dieses Lied in der alten kirchlichen Notenschrift aufgezeichnet ist und sich mit den westlichen Noten nicht vollkommen aufzeichnen läßt. Die Engländer, man muß ihnen die Ehre lassen, sind umgängliche und gottesfürchtige Leute, sie hatten uns sehr gern und schätzten und lobten uns als gute Menschen. Mit einem Wort, der Engel Gottes hatte uns an einen guten Ort geführt und vor uns die Herzen der Menschen und die ganze Natur aufgetan. In solch friedlicher Stimmung, wie ich sie Ihnen geschildert habe, lebten wir fast drei Jahre. Alles glückte uns, und die Erfolge strömten über uns wie aus einem Zauberhorn, als wir plötzlich sahen, daß unter uns zwei Gefäße waren, die Gott zu unserer Bestrafung auserwählt hatte. Der eine war der Schmied Maroi, der andere der Rechnungsführer Pimen Iwanow. Maroi war ein ganz einfacher Mann, der weder lesen noch schreiben konnte, was unter den Altgläubigen selten vorkommt, aber doch auffallend: Von außen plump wie ein Kamel und wild wie ein Eber, seine Brust war um die Hälfte breiter als bei einem anderen Menschen, seine Stirn war mit dichten Haarbüscheln bewachsen, aber auf dem Scheitel hatte er sich eine Tonsur geschoren. Seine Sprache war dumpf und schwer verständlich, weil er immer mit den Lippen schmatzte, und sein Verstand war so beschränkt, daß er nicht einmal aus dem Gedächtnis beten konnte, sondern nur immer dasselbe Wort vor sich hersagte. Aber er sah in die Zukunft, besaß die Gabe der Weissagung und konnte Andeutungen über kommende Dinge geben. – Pimen dagegen war ein stutzerhafter Mensch, der sich gern wichtig machte und seine Worte so schlau setzte, daß man seine Reden bewundern mußte, aber er hatte einen leichtfertigen und beeinflußbaren Charakter. Maroi war ein bejahrter Mann, schon über die Siebzig, Pimen war mittleren Alters und ansehnlich: Er hatte krause, in der Mitte gescheitelte Haare, starke Brauen, eine gesunde Gesichtsfarbe und war mit einem Wort ein strammer Mensch. Und siehe: In diesen beiden Gefäßen gärte der bittere Trank, den wir trinken mußten.
Die Brücke, die wir auf sieben Granitjochen bauten, war schon weit über das Wasser hinausgewachsen, und im Sommer des vierten Jahres begannen wir die eisernen Ketten über die Pfeiler zu spannen. Da wurden wir aber in unserer Arbeit etwas aufgehalten: Als wir die Kettenglieder nach ihrer Größe aneinander paßten und mit stählernen Nieten zusammenfügten, zeigte es sich, daß viele Bolzen zu lang waren und daß man sie abschneiden mußte. Aber jeder dieser Bolzen war eine englische Stahlstange und in England hergestellt, aus härtestem Stahl gegossen und stark wie der Arm eines erwachsenen Mannes. Man konnte diese Bolzen nicht glühen, weil der Stahl darunter gelitten hätte, und kein Instrument griff den Stahl an. Da fand plötzlich unser Schmied Maroi ein Mittel: Er verklebte den Bolzen, an der Stelle, wo man ihn abschneiden mußte, mit dickem Wagenteer, den er mit Sand bedeckte, steckte dann das ganze Stück in den Schnee, streute Salz herum und drehte und wendete es. Dann zog er es mit einem Ruck heraus, glühte es, und wenn er dann mit dem Hammer draufschlug, sprang es auseinander, wie eine Wachskerze, die man mit der Schere durchschneidet.
Alle die Engländer und Deutschen kamen, um die schlaue Erfindung unseres Marois zu sehen; sie schauen und schauen, plötzlich lachen sie, sprechen zuerst untereinander in ihrer Sprache und sagen dann in unserer Sprache: ›So, Ruß; bist ein tüchtiger Kerl. Verstehst gut Physik.‹
Aber was für eine ›Physik‹ konnte unser Maroi kennen! Er hatte ja von der Wissenschaft keine Ahnung und tat nur, wie ihn Gott erleuchtete. Aber unser Pimen Iwanow brüstete sich damit. So war es nach beiden Seiten schlecht: Die einen glaubten an die Wissenschaft, von der unser Maroi nicht das geringste wußte, und die anderen sagten, daß Gottes Segen über uns sichtbar Wunder wirkte, von denen wir niemals etwas sahen. Und das letzte war für uns schlimmer als das erste. Ich erklärte Ihnen also, daß Pimen Iwanow ein schwacher Mensch und ein Prahler sei, und jetzt muß ich erzählen, weshalb wir ihn doch in unserer Gesellschaft duldeten. Er fuhr für uns in die Stadt, um Lebensmittel zu holen, und besorgte die notwendigen Einkäufe; wir schickten ihn auf die Post, um Geld und die Pässe heimzuschicken und die neuen Pässe wieder abzuholen. Er erledigte alle solche Angelegenheiten und war uns, die Wahrheit zu sagen, in dieser Beziehung sogar sehr nützlich. Ein wirklich würdiger Altgläubiger meidet natürlich diese Eitelkeiten und flieht den Verkehr mit den Beamten, von denen wir außer Ärger nichts hatten; Pimen aber freute sich über diese Eitelkeiten und hatte in der Stadt auf dem anderen Ufer eine sehr ausgedehnte Bekanntschaft. Händler, Herrschaften, mit denen er in unseren Geschäften in Berührung kam, alle kannten ihn und hielten ihn für den Ersten bei uns. Natürlich lachten wir darüber, aber er liebte es sehr, mit den Herrschaften Tee zu trinken und groß daherzureden. Sie nennen ihn unseren Ältesten, und er lächelt nur, und in seinem Innersten schmeichelt es ihm. Mit einem Wort: Hohlheit! So kam unser Pimen auch zu einer nicht unwichtigen Persönlichkeit, die eine Frau aus unserer Gegend hatte. Sie war ebenfalls redselig und hatte irgendwelche neue Bücher über uns gelesen, in denen, wir wissen nicht, was alles, über uns geschrieben stand. Auf einmal erklärte sie, ich weiß nicht, wie es ihr in den Sinn kam, daß sie die Altgläubigen sehr liebe. Das war eine ganz wundersame Sache. Nun, sie liebt uns halt, und so oft Pimen wegen irgend etwas zu ihrem Mann kommt, läßt sie ihn sofort niedersetzen, traktiert ihn mit Tee, und er freut sich darüber und setzt ihr seine Geschichten vor.
Bei solchem Weibergeschwätz erzählt er ihr, was wir Altgläubige für Menschen wären; wir seien wie die Heiligen, rechtschaffen und gesegnet, und unser Großsprecher schlägt die Augen nieder, legt den Kopf auf die Seite, streicht sich den Bart und sagt süßlich: »Ja, Gnädige, wir halten eben das väterliche Gesetz und sind so, daß wir das Herkommen beobachten und einer für den anderen über die Reinheit der Sitten wacht.« Mit einem Wort, er sagt ihr lauter Dinge, die durchaus nicht zum Gespräch mit einer weltlichen Frau gehören. Aber denken Sie sich nur: Sie interessiert sich dafür.
»Ich habe gehört«, sagt sie, »daß sich Gottes Segen sichtbar bei euch offenbart.«
Und er bestätigt es ihr sofort: »Nun ja, Mütterchen«, antwortet er, »offenbart sich; ganz sichtlich offenbart er sich.«
»Sichtlich?«
»Sichtlich«, sagte er, »Gnädige, sichtlich. Gerade dieser Tage hat einer unserer Leute den mächtigen Stahl wie ein Spinngewebe durchschnitten.«
Die Gnädige klatscht vor Überraschung in die Hände.
»Ach«, sagt sie, »wie interessant! Ich glaube an Wunder und liebe sie schrecklich! Wissen Sie, sagen Sie bitte Ihren Altgläubigen, sie möchten beten, daß Gott mir eine Tochter schenke. Ich habe zwei Söhne und möchte unbedingt eine Tochter. Ist das möglich?‹
›Ja, das ist möglich‹, antwortete Pimen, ›warum nicht? Es ist sehr wohl möglich! Nur ist es in solchen Fällen notwendig, daß Sie für die Öllämpchen opfern.‹
Zu seiner großen Befriedigung gibt sie ihm zehn Rubel für Öl, er steckt das Geld in die Tasche und sagt: ›Schön, seien Sie guten Mutes, ich werde es ausrichten.‹
Pimen erzählte uns natürlich nichts davon, aber der Gnädigen wurde eine Tochter geboren.
Nun war sie vor Freude außer sich und ließ gleich nach der Geburt unseren Hohlkopf rufen; sie feiert ihn, als ob er selbst der Wundertäter wäre, und er nimmt das alles hin. So leichtfertig wird ein Mensch, sein Verstand verdunkelt sich, und sein Gefühl erstarrt. Nach einem Jahr hat die Herrin wieder eine Bitte an unseren Gott, daß nämlich ihr Mann ihr ein Landhaus mieten solle – und wieder geht es nach ihrem Wunsch, und Pimen verwendet das Geld, das sie für Kerzen und Öl spendete, wie er es für zweckmäßig hält; zu uns gelangte aber nichts. Und tatsächlich ereigneten sich unerklärliche Wunder. Der älteste Sohn der Gnädigen war in der Schule der größte Taugenichts und ein fauler Schlingel, der nichts lernen wollte; als es zum Examen kam, ging sie zu Pimen und beauftragte ihn zu beten, daß ihr Sohn in die andere Klasse versetzt werde.
Pimen sagte: ›Das ist eine schwere Sache. Ich muß alle meine Leute die ganze Nacht beim Gebet zusammenhalten, damit sie bei Kerzen bis zum Morgen flehen.‹
Aber sie besteht auf ihrem Willen und händigt ihm dreißig Rubel ein: ›Betet nur!‹ Und was denken Sie? Ihr nichtsnutziger Sohn hat solches Glück, daß man ihn in die nächste Klasse versetzt. Die Gnädige kommt fast von Sinnen darüber, daß Gott ihr solche Gefälligkeiten erweist. Sie gibt Pimen Auftrag auf Auftrag, und er hat schon bei Gott für sie Gesundheit erwirkt, eine Erbschaft, einen hohen Rang für ihren Mann und so viele Orden, daß sie auf seiner Brust keinen Platz mehr finden und er einen, wie man sagt, in der Tasche trägt. Es war einfach ein Wunder, aber wir erfuhren nichts davon. Es kam jedoch die Zeit, wo alles offenbar wurde und ein Wunder die anderen ablöste.
In einer jüdischen Stadt des Gouvernements war bei den Juden im Handel eine schmutzige Geschichte passiert. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, ob sie falsches Geld gehabt oder ein unredliches Geschäft gemacht hatten, jedenfalls mußte die Obrigkeit die Sache aufdecken und hatte eine bedeutende Belohnung dafür ausgesetzt.
Die Gnädige ging also zu unserem Pimen und sagte: ›Pimen Iwanowitsch, hier gebe ich Ihnen zwanzig Rubel für Kerzen und Öl. Befehlen Sie den Ihrigen, so eifrig wie möglich zu beten, daß man meinen Mann mit dieser Sache beauftragt.‹
Das machte ihm wenig Kummer! Er hatte schon Geschmack an diesen Opfergaben gefunden und antwortete: ›Gut, Gnädige, ich werde es befehlen.‹
›Aber daß sie auch tüchtig beten, die Sache ist für mich sehr wichtig.‹
›Die werden sich nicht unterstehen, schlecht zu beten, wenn ich es befehle‹, beruhigt Pimen, ›ich werde ihnen Fasten auferlegen, bis sie es erfleht haben.‹ Er nahm das Geld und ließ es dabei bewenden. Ihr Gemahl aber erhielt noch in derselben Nacht den von ihr gewünschten Auftrag. Bei diesem Segen genügte ihr unser Gebet nicht mehr, und sie wollte unserem Heiligtum selber ihre Lobpreisung darbringen. Sie sagte es Pimen, und er bekam Angst, weil er wußte, daß wir sie nicht in unser Heiligtum einlassen würden. Die Gnädige gab jedoch nicht nach.
›Ich werde‹, sagte sie, ›was Sie auch sagen mögen, heute gegen Abend ein Boot nehmen und mit meinem Sohn zu Ihnen kommen.‹
Pimen redet ihr zu: ›Es ist besser‹, sagt er, ›wenn wir selber beten. Wir haben einen Schutzengel, dem weihen Sie ein Licht, und wir werden ihm den Schutz Ihres Gemahls anvertrauen.‹
›Ach, das ist vortrefflich‹, antwortet sie, ›ganz vortrefflich! Ich bin sehr froh über diesen Engel; hier ist etwas Geld für Öl, zünden Sie drei Lämpchen vor ihm an, und ich werde dann kommen, um es mir anzusehen.‹
Pimen gefiel das gar nicht; er kam zu uns und begann zu jammern, daß die Sache so und so stünde.
›Ich habe‹, sagte er, ›der abscheulichen Ketzerin nicht widersprochen, als sie ihr Begehren äußerte, weil wir ihren Mann notwendig brauchen.‹ Und so log er uns ganze Körbe voll vor, aber von all dem, was er getan hatte, sagte er nichts. Nun, so unangenehm es uns auch war, es war nichts zu machen. Wir nahmen unsere Heiligenbilder möglichst schnell von der Wand und legten sie in ihre Kisten, aus denen wir die Ersatzbilder holten, die wir aus Furcht vor Beamtenüberfällen bei uns hatten. Die setzten wir nun auf die Gestelle und erwarteten unseren Gast. Sie kam und war so aufgeputzt, daß es zum Erschrecken war. Sie fegte mit ihren langen, breiten Bändern nur so hin, schaute alle unsere vertauschten Heiligenbilder durch die Lorgnette an und fragte: ›Sagen Sie, bitte, welcher ist hier der wundertätige Engel?‹
Wir wissen schon nicht mehr, wie wir sie von dem Gespräch abbringen sollen.
›Wir haben keinen solchen Engel‹, sagen wir.
Und wie sie auch in uns drang und Pimen schalt, wir zeigten ihr den Engel nicht, sondern führten sie möglichst schnell zum Teetisch und setzten ihr vor, was wir hatten.
Sie mißfiel uns schrecklich, Gott weiß warum: Sie sah irgendwie abstoßend aus, obwohl man sie sonst für schön hielt. Wissen Sie, so eine Lange, Hagere, mit zusammengewachsenen Augenbrauen.«
»Solch eine Schönheit gefällt Ihnen nicht?« unterbrach der Bärenpelz den Erzähler.
»Erlauben Sie, was kann einem an einer solchen schlangenähnlichen Gestalt gefallen?« antwortete jener.
»Bei euch hält man wohl eine Frau für schön, wenn sie wie ein Erdhaufen aussieht?«
»Ein Erdhaufen!« wiederholte unser Erzähler lächelnd und ohne gekränkt zu sein. »Warum nehmen Sie das an? Nach unserer echt russischen Auffassung bevorzugen wir einen Typus, der, unserer Meinung nach, viel ansprechender ist, als der, den die jetzige Leichtfertigkeit schätzt, aber durchaus nicht, was man einen Erdhaufen nennen kann. Wir schätzen nur die Langen, Mageren nicht, sondern lieben es, wenn die Frau nicht auf langen, sondern auf kräftigen Beinen steht, damit sie nicht konfus herumrennt, sondern wie eine Kugel überall hinrollt und auch hinkommt, während die Lange hin und her läuft und stolpert. Die schlangenhafte Schlankheit schätzen wir ebenso wenig, sondern fordern, daß die Frau erdhafter sei und einen Busen habe, denn wenn er auch für die Figur nicht so schön ist, so spricht er doch von der Mutterschaft; die Stirne muß bei der echten russischen Frauenart voll und fleischig sein, weil in ihr dann mehr Lust und Freundlichkeit liegt. Ähnlich ist es mit der Nase. Wir mögen die Hakennasen nicht, sondern die Nase soll wie ein Pfeifchen sein, denn so ein Pfeifchen ist, wenn Sie erlauben, für die Familie viel freundlicher als eine trockene, stolze Nase. Und ganz besonders die Brauen: Die Brauen offenbaren den Ausdruck im Gesicht, und deshalb dürfen sie bei der Frau nicht zusammenstoßen, sondern müssen einen offenen Bogen bilden, weil man mit einer solchen Frau viel umgänglicher sprechen kann und sie auf jeden einen ganz anderen, für das Haus einnehmenden Eindruck macht. Freilich, der jetzige Geschmack ist von diesem guten Typus abgekommen und bevorzugt beim Frauengeschlecht ätherische Luftigkeit, aber das ist eben schade.
Aber, gestatten Sie, wir sprachen nicht davon, und ich fahre lieber in meiner Erzählung fort: Als wir die Frau hinausbegleitet hatten, merkt unser Pimen als eitler Mensch, daß wir sie abfällig kritisieren, und sagt: ›Was habt ihr denn? Sie ist doch gut.‹
Aber wir antworten: ›Die soll gut sein, wo sie schon im Gesicht nichts Gutes hat! Aber Gott sei mit ihr: Wie sie ist, so wird sie auch bleiben.‹ Wir waren schon froh, daß wir sie hinausbegleitet hatten, und räucherten gleich mit Weihrauch, damit bei uns auch kein Hauch von ihr zurückbleibe. Danach befreiten wir das Stübchen von den letzten Spuren des Gastes. Die Ersatzbilder legten wir in die Kisten zurück und holten unsere richtigen Bilder wieder hervor. Wir hoben sie auf die Gestelle und besprengten sie mit Weihwasser. Dann ging ein jeder zu seinem Schlafplatz, und wir legten uns nieder. Aber Gott allein weiß, warum wir alle in dieser Nacht nicht schlafen konnten und wie ängstlich und unruhig es uns zumute war.
Am Morgen gingen wir alle an unsere Arbeit, nur Luka Kirillow nicht. Das war in Anbetracht seiner Pünktlichkeit erstaunlich, noch erstaunlicher aber war, daß er um acht Uhr ganz verstört und bleich zu uns kam.
Ich wußte, daß er ein Mann war, der sich in der Hand hatte und es nicht liebte, sich unnütz zu grämen, und darum wurde ich aufmerksam und fragte: ›Was hast du, Luka Kirillow?‹
Aber er sagt: ›Später sage ich es.‹
Jung, wie ich damals war, war ich schrecklich neugierig, zudem hatte mich eine Vorahnung gepackt, daß sich irgend etwas Unheilvolles für unseren Glauben ereignet habe. Ich hielt aber den Glauben hoch und war niemals kleingläubig.
Ich konnte es nicht länger aushalten, verließ unter irgendeinem Vorwand die Arbeit und lief nach Hause. Ich dachte mir: Solange niemand zu Hause ist, kann ich von Michailiza etwas erfahren. Wenn ihr Luka Kirillow auch nichts eröffnet hat, so durchschaut sie ihn, trotz ihrer Einfalt, und vor mir wird sie nichts verheimlichen, da ich, schon als Kind verwaist, bei ihr an Sohnes Statt aufgewachsen bin und sie mir wie eine zweite Mutter gewesen ist.
Ich eile zu ihr und sehe sie in einem alten offenen Halbpelz auf dem Freitreppchen sitzen; aber sie ist krank und traurig und ganz fahl im Gesicht.
›Warum sitzen Sie hier, Pflegemutter?‹ frage ich.
Und sie antwortet: ›Wo soll ich denn sonst bleiben, Marotschka?‹
Ich heiße Mark Alexandrow, aber sie nannte mich in ihrer mütterlichen Zärtlichkeit Marotschka.
Was sind das für Dummheiten, denke ich mir, daß sie nicht weiß, wo sie sonst bleiben soll?
›Aber warum‹, sage ich, ›legen Sie sich denn nicht ein wenig im Schuppen hin?‹
›Ich kann nicht, Marotschka‹, antwortet sie, ›in der großen Stube betet der alte Maroi.‹
Aha, denke ich mir, es wird schon so sein, daß sich irgend etwas mit unserm Glauben zugetragen hat; und nun beginnt auch Tante Michailiza: ›Marotschka, du weißt sicher nichts, Kind, von dem, was sich heute nacht bei uns ereignet hat?‹
›Nein, Pflegemutter, ich weiß nichts.‹
›Ach, es ist schrecklich.‹
›Erzählen Sie doch schneller, Pflegemutter!‹
›Ich weiß nicht, ob ich es erzählen darf.‹
›Warum wollen Sie nicht erzählen?‹ sage ich. ›Bin ich denn für Sie ein Fremder und nicht an Sohnes Statt?‹
›Ich weiß, mein Lieber, daß du mir wie ein Sohn bist‹, antwortet sie, ›aber ich habe kein Vertrauen, daß ich es dir auseinandersetzen kann, denn ich bin dumm und einfältig. Warte doch, nach Feierabend kommt der Onkel, und der wird dir gewiß alles erzählen.‹
Aber ich konnte nicht warten und drang in sie: ›Erzähle doch, erzähle doch gleich, was alles geschehen ist.‹
Ich sehe, wie sie mit den Lidern blinzelt und wie sich ihre Augen mit Tränen füllen, die sie mit dem Brusttuch abwischt; dann flüstert sie mir leise zu: ›Kind, der Schutzengel ist heute Nacht von uns fortgegangen.‹
Diese Eröffnung machte mich zittern.
›Sagen Sie doch bitte schnell, wie das Wunder geschehen ist und wer es gesehen hat!‹
›Das Wunder, Kind, ist unerklärlich, und niemand außer mir hat es gesehen, weil es tiefe Mitternacht war, als es geschah, und ich allein nicht schlief.‹
Und dann, meine werten Herren, erzählte sie mir folgende Geschichte: ›Nachdem ich gebetet hatte, war ich eingeschlafen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schlief, aber plötzlich sehe ich im Traum eine Feuersbrunst, eine ganz große Feuersbrunst. Es war, als ob alles bei uns verbrannt wäre, und der Fluß führe die Asche mit sich fort, aber an den Strudeln um die Brückenjoche kreist sie noch, und dann schluckt sie der Fluß in die Tiefe.‹ Und Michailiza träumt, sie sei hinausgelaufen und stehe in einem alten zerrissenen Hemd ganz unten am Wasser, aber ihr gegenüber am anderen Ufer erhebe sich eine hohe, rote Säule, und oben auf der Säule stehe ein kleiner, weißer Hahn, der in einem fort mit den Flügeln schlage. Michailiza fragt: ›Wer bist du?‹, denn das Gefühl sagt ihr, daß dieser Vogel ein Vorzeichen sei. Der Hahn aber ruft plötzlich mit menschlicher Stimme ›Amen‹, sonst nichts, und damit ist er verschwunden, aber um Michailiza herum herrscht eine große Stille, und die Luft ist so dünn, daß sie keinen Atem mehr bekommt und es ihr schrecklich zumute wird. Dann wacht sie auf, liegt da und vernimmt deutlich, wie vor der Tür ein Lämmchen blökt. Und an der Stimme merkt sie, daß es ein neugeborenes Lämmchen ist. Mit hellem silbernen Stimmchen macht es bä-ä-äh, und plötzlich hört Michailiza, daß es durch die Gebetsstube geht, mit seinen kleinen Hufen auf den Boden klopft und hin und wieder stehenbleibt, als ob es etwas suche. Michailiza überlegt: Herr Jesu Christ, was soll das bedeuten? In unserer ganzen Ansiedlung gibt es kein Schaf, und woher ist uns jetzt dieses Lämmchen zugelaufen? Nun wird sie ganz wach: Aber wie ist es denn in die Stube gekommen? In der gestrigen Hast haben wir also vergessen, das Hoftor zu schließen, Gott sei Dank, daß nur ein Lämmchen hereingesprungen und nicht der Hofhund in das Heiligtum eingedrungen ist. Und nun beginnt sie Luka zu wecken: ›Kirillytsch‹, ruft sie, ›Kirillytsch, steh schnell auf! Unsere Tür ist offen, und irgendein Jungtier ist zu uns in die Hütte gesprungen.‹ Aber zum Unheil schläft Luka Kirillow wie ein Toter. Und wie ihn auch Michailiza zu wecken versucht, es will ihr auf keine Weise gelingen. Luka brummt nur und sagt kein Wort. Michailiza schüttelt ihn stärker, aber er brummt nur noch lauter. Sie beginnt ihn zu bitten: ›Gedenk des Namen Jesu!‹ Aber kaum hat sie das Wort ausgesprochen, als in der Stube etwas winselt, und in dem Augenblick springt Luka vom Bett auf, stürzt nach vorn und prallt plötzlich mitten in der Stube wie vor einer ehernen Wand zurück. ›Mach Licht, Weib, mach schneller Licht!‹ ruft er Michailiza zu, er selbst aber rührt sich nicht von der Stelle. Sie zündet eine Kerze an und läuft herzu, aber er ist bleich wie ein zum Tode Verurteilter und bebt, daß das Kreuz an seinem Hals, ja selbst die Fußlappen an seinen Füßen zittern. Die Frau spricht wieder zu ihm: ›Ernährer, was hast du?‹ sagt sie. Er aber zeigt mit dem Finger, daß dort, wo der Engel war, eine leere Stelle ist und daß der Engel selbst vor Lukas Fuß auf dem Boden liegt.
Luka Kirillow geht jetzt unverzüglich zum alten Maroi und sagt ihm, wie alles gewesen sei, was seine Frau gesehen habe und was bei uns geschehen war: ›Komm und schau!‹ Maroi kommt, kniet vor dem auf der Erde liegenden Engel nieder und bleibt vor ihm lange unbeweglich, wie ein marmornes Grabbild, liegen, dann hebt er aber die Hand, streicht sich über die Tonsur auf dem Scheitel und sagt leise: ›Bringt zwölf reine, neugebrannte Ziegelplatten her!‹
Luka Kirillow bringt sie sogleich, Maroi schaut sie an und sieht, daß sie alle rein sind und gerade aus dem Brennofen kommen, und er befiehlt Luka, eine auf die andere zu legen und so eine Art Säule aufzuführen, sie mit einem reinen Handtuch zu bedecken und darauf das Heiligenbild zu legen. Dann verneigt sich Maroi bis zur Erde, und ruft: ›Engel Gottes, streu deine Spuren aus, wohin du willst!‹
Er hat diese Worte kaum ausgesprochen, als an der Tür geklopft wird und eine unbekannte Stimme ruft: ›He, ihr Altgläubigen, wer ist euer Ältester?‹
Luka Kirillow öffnet die Tür und sieht einen Soldaten mit einer Medaille vor sich stehen.
Luka fragt, was für einen Ältesten er wolle. Und der antwortet: ›Den, der oft zur Gnädigen kam und den sie Pimen nennen.‹
Luka schickt seine Frau gleich zu Pimen und fragt weiter, worum es sich handle und wer ihn in der Nacht nach Pimen gesandt habe.
Der Soldat sagt: ›Etwas Genaues weiß ich nicht, aber ich habe so etwas gehört, als ob die Juden dort eine schlimme Geschichte mit unserem Herrn angestellt hätten!‹
Aber was es eigentlich sei, kann er nicht erzählen.
›Ich habe gehört‹, sagt er, ›daß der Herr erst sie versiegelt hätte und dann sie ihn.‹
Aber darüber, wie sie einander versiegelt haben, weiß er nichts Verständliches zu sagen.
Währenddes war Pimen gekommen; er schielt selbst wie ein Jude, bald dorthin, bald dahin, und weiß nicht, was er sagen soll. Und Luka spricht ihn an: ›Was hast du da gemacht, Spielmann? Geh jetzt und spiel dein Stück nur zu Ende!‹
Der setzte sich mit dem Soldaten ins Boot, und sie fahren ab.
Nach einer Stunde kommt unser Pimen zurück, stellt sich munter, aber man sieht, daß es ihm durchaus nicht so zumute ist. Luka fragt ihn:
›Sprich‹, sagt er, ›du Windbeutel, und sag ganz aufrichtig, was du dort getan hast.‹
Aber jener erwiderte: ›Nichts‹.
Nun, bei dem Nichts blieb es, obwohl es durchaus kein Nichts gewesen war.
Mit dem Herrn, für den unser Pimen gebetet hatte, war eine erstaunliche Geschichte geschehen. Er war, wie ich Ihnen berichtet habe, in die jüdische Stadt gefahren, war dort spät in der Nacht angekommen, als niemand an ihn dachte, hatte sofort alle Läden unter Siegel genommen und die Polizei verständigt, daß er am nächsten Morgen mit der Revision beginnen werde. Die Juden erfuhren es natürlich sofort und gingen gleich, noch in der Nacht, zu ihm, um ihn um ein Übereinkommen zu bitten, da sie große Vorräte von gesetzwidrigen Waren auf Lager hatten. Sie kamen zu ihm und steckten ihm auf einmal zehntausend Rubel zu. Er sagte: Ich kann nicht, ich bin ein hoher Beamter, genieße Vertrauen und nehme keine Bestechungsgelder. Die Juden schnattern untereinander: ›Fünfzehntausend‹. Er wieder: ›Ich kann nicht.‹ Sie: ›Zwanzig‹. Er darauf: ›Versteht ihr denn nicht, daß ich nicht kann: Ich habe schon die Polizei verständigt, daß ich morgen mit ihr zusammen revidieren werde‹.
Sie schnattern wieder und sagen dann: ›Ach, Eure Durchlaucht, das macht nichts, daß Sie die Polizei verständigt haben, wir geben Ihnen fünfundzwanzigtausend, und Sie geben uns dafür bloß bis zum Morgen Ihr Petschaft und legen sich ruhig schlafen: Wir brauchen nichts mehr.‹
Der Herr überlegt hin und her: Wenn er sich auch für eine hohe Person hält, so scheint auch bei den hohen Personen das Herz nicht von Stein zu sein; er nahm die fünfundzwanzigtausend, gab ihnen das Petschaft, mit dem er siegelte, und legte sich schlafen. Die Juden holten, versteht sich, in der Nacht alles Notwendige aus ihren Lagern heraus und versiegelten sie wieder mit demselben Petschaft. Der Herr schlief noch, als sie am Morgen schon wieder in seinem Vorzimmer lärmten.
Er geht zu ihnen hinaus; sie danken ihm und sagen: ›Nun, Euer Hochwohlgeboren, nun halten Sie bitte Revision.‹
Er scheint es aber zu überhören und sagt: ›Gebt mir schnell mein Siegel.‹
Aber die Juden sagen: ›Ja, geben Sie uns unser Geld.‹
Der Herr: ›Was? Wie?‹
Aber sie bleiben dabei: ›Wir haben‹, sagen sie, ›Ihnen das Geld als Pfand zurückgelassen.‹
Er wieder: ›Was, als Pfand?‹
›Freilich‹, sagen sie, ›als Pfand.‹
›Ihr lügt‹, sagt er, ›ihr Halunken, ihr Christusverkäufer, ihr habt mir das Geld ganz gegeben.‹
Sie stoßen einander an und lachen.
›Hörst du‹, sagen sie, ›hörst, wir haben ihm das Geld ganz gegeben ... Hm, hm, ai, ai, wie könnten wir so dumm sein und so unpolitisch, einer so hohen Persönlichkeit Chabar geben.‹ (So nennen Sie Bestechungsgelder.)
Nun, können Sie sich etwas Schöneres vorstellen als diese Geschichte? Der Herr, versteht sich, hätte nun das Geld zurückgeben sollen, und die Sache wäre zu Ende gewesen, aber er war eigensinnig und wollte sich davon nicht trennen. So verging der Morgen. Der ganze Handel in der Stadt ist gesperrt. Die Leute kommen und wundern sich. Die Polizei fordert das Siegel, und die Juden schreien: ›Ai wai, was ist das für eine staatliche Regierung! Die hohe Obrigkeit will uns ruinieren.‹ Ein schreckliches Durcheinander. Der Herr sitzt eingeschlossen zu Hause und hat bis Mittag schier den Verstand verloren. Am Abend ruft er dann die listigen Juden zu sich und sagt: ›Hier, ihr Verfluchten, nehmt euer Geld und gebt mir nur mein Petschaft wieder!‹ Aber sie wollen nicht und sagen: ›Ja, wenn das so ginge! Wir haben den ganzen Tag nicht gehandelt: Jetzt müssen Euer Wohlgeboren uns fünfzehntausend dazu geben!‹ Sehen Sie, so kam es! Und die Juden drohen: ›Wenn Sie uns jetzt nicht die fünfzehntausend geben, kostet die Sache morgen fünfundzwanzigtausend Rubel mehr.‹ Der Herr schlief die ganze Nacht nicht, am Morgen schickte er wieder zu den Juden, gab ihnen das ganze Geld, das er von ihnen erhalten hatte, zurück und unterschrieb einen Wechsel auf fünfundzwanzigtausend; dann begann er so eine Art Revision. Natürlich fand er nichts, fuhr so schnell wie möglich nach Hause und tobte vor seiner Frau, woher er die fünfundzwanzigtausend Rubel nehmen solle, um den Juden den Wechsel zu bezahlen. ›Wir müssen dein Gut, das du in die Ehe mitgebracht hast, verkaufen‹, sagt er. Aber sie erwidert: ›Um nichts in der Welt, ich bin mit ihm verwachsen.‹ Er sagt: ›Du bist schuld, du hast mir mit deinen Altgläubigen diesen Auftrag erbetet und warst überzeugt, daß mir ihr Engel helfen würde; so schön hat er mir nun geholfen!‹ Aber sie antwortet darauf: ›Du bist selber schuld, warum bist du so dumm und hast die Juden nicht verhaftet und erklärt, daß sie dir das Petschaft gestohlen haben? Aber im übrigen‹, sagt sie, ›macht es nichts, folge nur mir, ich werde die Sache schon wieder einrichten, und für deine Unvernunft werden andere zahlen.‹ Und mit einem Male plärrt sie: ›Sofort, schnell den Dnjepr hinunterfahren und mir den Ältesten der Altgläubigen herholen!‹
Der Bote kam, brachte unseren Pimen, und die Frau sagte ihm ohne Umschweife: ›Hören Sie, ich weiß, daß Sie ein verständiger Mensch sind und daß Sie verstehen werden, was ich brauche: Meinem Mann ist eine kleine Unannehmlichkeit widerfahren. Nichtswürdige haben ihn ausgeraubt, die Juden ... Sie verstehen ... und wir brauchen unbedingt dieser Tage fünfundzwanzigtausend Rubel, die ich nirgends so schnell auftreiben kann. Aber ich habe Sie gerufen, und da ich weiß, daß ihr Altgläubige kluge und reiche Leute seid, und weil ich mich selbst überzeugt habe, daß Gott euch in allen Dingen hilft, bin ich sicher, daß ihr mir den Gefallen tun und die fünfundzwanzigtausend geben werdet. Ich werde dafür meinerseits allen Damen von euren wundertätigen Heiligenbildern erzählen, und ihr werdet sehen, wieviel ihr für Wachs und Öl erhalten werdet.‹ Ich glaube, meine werten Herren, daß Sie sich ohne Mühe vorstellen können, was unser Spielmann bei dieser Wendung empfand. Ich weiß nicht, was er alles sagte, aber ich glaube es ihm, daß er nun anfing, sich zu winden und zu schwören und sie unserer Dürftigkeit zu versichern; aber sie, die neue Herodias, wollte davon nichts wissen. ›Nein‹, sagte sie, ›ich weiß sehr gut, daß die Altgläubigen reich sind und daß fünfundzwanzigtausend Rubel für euch nichts bedeuten. Als mein Vater in Moskau Beamter war, haben ihm die Altgläubigen mehrmals solche Gefälligkeiten erwiesen; und fünfundzwanzigtausend Rubel sind gar nicht der Rede wert.‹ Pimen versuchte natürlich, ihr vorzustellen, daß die Moskauer Altgläubigen kapitalskräftige Leute seien, wir aber einfache Bauern und Taglöhner ... Aber sie hatte anscheinend sehr gute Moskauer Erfahrungen und fiel auf einmal über ihn her: ›Warum erzählen Sie mir das? Als ob ich nicht wüßte, wie viele wundertätige Heiligenbilder ihr habt! Haben Sie mir nicht selbst erzählt, wieviel man euch aus ganz Rußland für Wachs und Öl schickt? Nein, ich will nichts hören, entweder bekomme ich sofort Geld, oder mein Mann fährt gleich zum Gouverneur und erzählt ihm alles, wie ihr betet und die Leute verführt, und es wird euch schlecht gehen.‹ Der arme Pimen fiel schier die Treppe hinunter; er kam nach Hause und sagte, wie ich Ihnen berichtet habe, nur das eine Wort: ›Nichts‹. Dabei war er aber rot, als käme er aus dem Dampfbad, ging gleich in einen Winkel und schneuzte sich in einem fort.
Schließlich nahm ihn Luka Kirillow ein wenig ins Verhör. Pimen gestand ihm natürlich nicht alles, sondern enthüllte ihm nur ganz wenig und sagte: ›Die Gnädige hat von mir verlangt, daß ich ihr von euch fünftausend Rubel Bestechungsgelder bringe.‹ Daraufhin braust Luka natürlich auf: ›Ach du Spielmann‹, sagt er, ›was brauchtest du mit den Leuten verkehren und sie auch noch herbringen? Sind wir denn reiche Leute, haben wir soviel Geld zu verschenken? Wofür sollen wir es denn geben? Und wo ist es? Wie du alles angestellt hast, so bringe es auch wieder in Ordnung, aber wir können die fünftausend Rubel nirgends hernehmen.‹ Damit ging Luka an seine Arbeit und kam, wie ich berichtete, bleich wie ein zum Tode Verurteilter zu uns, weil das nächtliche Ereignis ihn ahnen ließ, daß die Sache uns Unannehmlichkeiten bringen werde. Pimen aber ging ans andere Flußufer. Wir alle sahen, wie er mit einem Boot aus dem Schilf herausfuhr und sich der Stadt zuwandte. Als mir Michailiza dies alles jetzt der Reihe nach erzählte, wie er sich um die fünftausend Rubel bemüht hatte, dachte ich mir, daß er nun bestimmt zur Gnädigen gefahren sei, um sie zu besänftigen. Mit solchen Gedanken stand ich neben Michailiza und dachte nach, ob aus all dem nicht ein Schaden für uns erwachsen könne und ob es nicht notwendig sei, irgendwelche Maßnahmen dagegen zu ergreifen, als ich plötzlich sah, daß alle Maßnahmen schon zu spät waren. Ein großes Boot legte am Ufer an, und ich hörte hinter mir den Lärm vieler Stimmen. Ich drehte mich um und erblickte einige Beamte in allerlei Uniformen und mit ihnen eine erhebliche Anzahl von Gendarmen und Soldaten. Meine werten Herren, ich kann Michailiza kaum einen Blick zuwerfen, als sie alle an uns vorbei zu Lukas Stube gehen und an der Tür zwei Posten mit bloßen Säbeln aufstellen. Michailiza stürzt auf die Posten zu, nicht nur, um in die Stube zu kommen, sondern auch, um zu eifern. Natürlich stoßen sie sie zurück, und wie sie noch wilder auf sie eindringt und mit ihnen ins Handgemenge kommt, versetzt ihr einer der Gendarmen einen solchen Stoß, daß sie kopfüber die Treppe hinunterstürzt. Ich schicke mich an, zu Luka auf die Brücke zu rennen; aber ich sehe schon, wie Luka mir entgegenläuft und hinter ihm unsere ganze Gesellschaft, alle in Aufruhr, jeder mit dem Werkzeug in der Hand, mit dem er eben gearbeitet hat; der eine mit einer Brechstange, der andere mit einem Hammer, und alle laufen, um ihr Heiligtum zu verteidigen. Alle, die im Boot keinen Platz gefunden und kein anderes Mittel hatten, das Ufer zu erreichen, waren in den Kleidern, wie sie bei der Arbeit gewesen waren, von der Brücke ins Wasser gesprungen und schwammen nun einer hinter dem anderen durch den kalten Fluß. Stellen Sie sich vor, es war schrecklich auszudenken, wie das enden sollte. Die Soldatenabteilung war etwa zwanzig Mann stark, und wenn sie auch alle mehr oder weniger kriegerisch ausgerüstet waren, so waren die Unseren mehr als ein halbes Hundert und alle von glühendem Glaubenseifer beseelt. Jetzt schwimmen sie wie die Seehunde durch das Wasser, und man hätte sie mit einem Knüppel auf den Kopf schlagen können, sie hätten die Absicht, ihr Heiligtum zu beschützen, nicht aufgegeben. Nun stürmen sie, naß wie sie sind, vorwärts, als hätten Steine plötzlich Leben bekommen.
Gestatten Sie mir jetzt, daran zu erinnern, daß der alte Maroi sich in der Stube im Gebet befand, wo ihn die Herren Beamten bei ihrem Eindringen auch vorfanden. Er erzählte später, daß sie, gleich als sie hereingekommen waren, die Tür zugeschlagen hätten und gerade auf die Heiligenbilder zugegangen wären. Die einen löschen die Lämpchen aus, die anderen reißen die Bilder von der Wand, legen sie auf den Boden und schreien ihn an: ›Bist du der Pope?‹
Er sagt: ›Nein, ich bin kein Pope.‹
Sie: ›Wer ist denn euer Pope?‹
Aber er antwortet: ›Wir haben keinen Popen.‹
Sie darauf: ›Ihr werdet keinen Popen haben! Wie wagst du zu sagen, daß ihr keinen Popen habt!‹
Er begann ihnen zu erklären, daß wir keine Popen haben, aber weil er so unverständlich sprach, daß sie nicht begriffen, wovon die Rede war, sagten sie: ›Bindet ihn, er ist verhaftet.‹
Maroi läßt sich binden, als gehe es ihn nichts an, daß ihm ein Dutzend Soldaten mit einem Strickende die Hände binden. Er steht da und sieht zu, was weiter geschieht. Die Beamten hatten inzwischen Kerzen angezündet und die Bilder zu versiegeln begonnen. Der eine legte die Siegel an, die anderen machten ein Verzeichnis, die dritten bohrten Löcher in die Bilder und reihten sie auf eine Eisenstange aneinander. Maroi sah diesem gotteslästerlichen Treiben zu und zuckte nicht einmal mit den Schultern, weil er bei sich dachte, daß es wohl Gott gefalle, diese Schändung des Heiligtums zuzulassen. Im selben Augenblick hört Maroi draußen einen Gendarmen aufschreien, und dann einen zweiten. Die Tür fliegt auf, und unsere Seehunde stürzen naß, wie sie aus dem Wasser gestiegen sind, herein.
Glücklicherweise war ihnen jedoch Luka Kirillow zuvorgekommen; er schrie sie an: ›Haltet ein, Christenmenschen! Ereifert euch nicht!‹ Dann wendet er sich an die Beamten, weist auf die an die Eisenstange aufgespießten Ikonen und spricht: ›Weshalb beschädigt ihr so das Heiligtum, ihr Herren Beamten? Wenn ihr das Recht habt, es uns zu nehmen, dann werden wir der Gewalt keinen Widerstand leisten – nehmt es nur. Aber weshalb müßt ihr so seltene, von den Vätern ererbte Kunstwerke beschädigen?‹
Aber der Mann der Bekannten Pimens, der die ganze Sache leitete, schrie Luka an: ›Still, Halunke! Du wagst noch zu räsonieren!‹
Luka war ein stolzer Bauer, aber er demütigte sich und antwortete leise: ›Erlauben, Euer Hochwohlgeboren, wir kennen diesen Brauch, wir haben in der Stube anderthalb Hundert Ikonen. Wenn Sie wünschen, geben wir Ihnen für jede Ikone drei Rubel, nehmen Sie sie mit, aber beschädigen Sie die alten Kunstwerke nicht.‹
In den Augen des Herrn blitzte es, und er schrie ihn an: ›Hinaus!‹ Ganz leise setzte er aber hinzu: ›Gib hundert Rubel für das Stück, sonst stecke ich sie alle in den Ofen.‹
Luka konnte eine solche Summe weder geben noch sie sich überhaupt vorstellen und sagte: ›Gott sei mit euch, vernichtet alles, wie ihr wollt, aber wir haben das Geld nicht.‹
Aber der Herr schrie ihn wütend an: ›Ach du bärtiger Ziegenbock, wie wagst du es, mit uns von Geld zu sprechen?‹
Er wurde plötzlich ganz wild, ließ alles, was er an heiligen Darstellungen in der Stube fand, auf die Stange spießen, schraubte dann Muttern an beide Enden und versiegelte sie, so daß niemand die Bilder herunternehmen oder vertauschen konnte. Sie hatten bereits alle Ikonen gesammelt und schickten sich an fortzugehen. Die Soldaten nahmen die Stange mit den Bildern auf die Schultern und trugen sie zu den Booten. Michailiza hatte sich indes mit dem übrigen Volk unbemerkt in die Stube gedrängt, heimlich das Engelsbild vom Chorpult heruntergestohlen und trug es unter der Schürze in die Kammer. Ihre Hände zitterten dabei aber so, daß sie es fallen ließ.
Ihr Heiligen, wie da der Herr in Wut geriet, uns Diebe und Betrüger nannte und schrie:
›Aha, ihr Betrüger, ihr wolltet das Bild stehlen, damit es nicht auf die Stange kommt? Nun, da soll es auch nicht hinkommen, aber so werde ich es machen!‹ – Mit diesen Worten zündete er die Siegellackstange an und drückte das brennende Harz mitten auf das Gesicht des Engels!
Meine besten Herren, seien Sie nicht böse, wenn ich nicht versuche, Ihnen zu beschreiben, was in uns vorging, als der Herr das kochende Harz auf das Antlitz des Engels goß und als dann der grausame Mensch das Bild auch noch emporhob, um sich damit zu rühmen, wie gut er es verstanden hatte, uns zu kränken. Ich entsinne mich nur noch, daß das helle heilige Antlitz rot und versiegelt war, daß das brennende Harz unter dem Petschaft in zwei Strömen, wie Blut mit Tränen gemischt, herabfloß.
Wir seufzten alle auf, bedeckten unsre Augen mit den Händen und stöhnten, als lägen wir auf der Folter. Dann verloren wir uns in Wehklagen, so daß uns die einbrechende Nacht noch immer weinend und jammernd um unseren versiegelten Engel antraf. Da kam uns, in dem Dunkel und der Ruhe, die über dem zerstörten Heiligtum lag, der Gedanke, ausfindig zu machen, wohin man unseren Beschützer gebracht hatte, und wir gelobten, ihn selbst unter Lebensgefahr zu rauben und zu entsiegeln. Zur Ausführung dieses Entschlusses wählte man mich und den jungen Lewontij. Er zählte kaum siebzehn Jahre, war fast noch ein Knabe, aber kräftigen Wuchses und guten Herzens, von Rind auf gottesfürchtig, gehorsam und gutartig, wie ein weißes Roß mit Silberzaum.
Für das gefährliche Unternehmen, den versiegelten Engel, dessen erblindetes Antlitz wir nicht ertragen konnten, aufzufinden und zu rauben, konnte ich mir gar keinen besseren Gefährten und Helfer wünschen.
Ich will Sie nicht mit Einzelheiten aufhalten, wie ich und mein Gefährte durch alle Nadelöhre schlüpften und überall hinkamen; ich will Ihnen gleich von der Trauer berichten, die uns ergriff, als wir erfuhren, daß man unsere von den Beamten durchbohrten Ikonen, so wie sie auf die Stange aufgespießt waren, in den Keller des Konsistoriums geworfen hatte. Damit war die Sache für uns verloren und wie im Sarge begraben; es war vergeblich, noch weiter an sie zu denken. Erfreulich dagegen war, daß man sich erzählte, der Erzbischof selbst habe diese barbarische Handlungsweise nicht gebilligt, sondern im Gegenteil gesagt: ›Wozu das?‹ Er sei sogar für das alte Kunstwerk eingetreten und habe erklärt: ›Es ist ein altes Stück, das man schützen muß.‹ Schlimm dagegen war, daß uns ein neues, größeres Unheil durch diesen neuen Verehrer traf: Derselbe Erzbischof nahm, was man hinzufügen muß, nicht in schlimmer, sondern in guter Absicht unseren versiegelten Engel in die Hand und betrachtete ihn lange, dann legte er ihn zur Seite und sagte: ›Das verstörte Antlitz! Wie schrecklich hat man es zugerichtet! Man tue dieses Bild nicht in den Keller, sondern stelle es in meine Kapelle aufs Fenster neben den Opfertisch.‹
Die Diener des Erzbischofs führten den Befehl aus, und wenn uns einerseits, wie ich gestehen muß, diese Aufmerksamkeit des Hierarchen sehr angenehm berührte, so sahen wir andererseits doch ein, daß dadurch jede Aussicht, unseren Engel zu rauben, vereitelt war. Es blieb nur ein Mittel übrig: die Diener des Erzbischofs zu bestechen und mit ihrer Hilfe das Bild mit einem kunstvoll ähnlich gemalten zu vertauschen. Das hatten unsere Altgläubigen schon oft mit Erfolg gemacht, aber dazu wäre vor allen Dingen ein kunstfertiger Heiligenbildmaler mit einer erprobten Hand nötig gewesen, der es verstanden hätte, heimlich ein genaues Abbild herzustellen. Einen solchen Maler gab es jedoch in dieser Gegend nicht. Zudem befiel uns seit dieser Zeit doppelte Trauer, die wie Wassersnot über uns kam. In der Stube, in der man früher nur Lobsingen hörte, vernahm man nichts als Schluchzen, und in kurzer Zeit hatten wir uns so krank geweint, daß wir mit unseren tränenerfüllten Augen den Boden nicht mehr sehen konnten, und dadurch, oder aus einem anderen Grunde, entstand dann bei uns eine Augenkrankheit, die mit der Zeit alle ergriff. Was es bisher nicht gegeben hatte, geschah jetzt: Wir hatten Kranke ohne Zahl. Das ganze Arbeitervolk fand dafür die Deutung, daß es nicht ohne Grund geschehe, sondern wegen des Engels der Altgläubigen. ›Man hat ihn‹, sagten sie, ›durch das Siegel geblendet, und jetzt müssen wir alle erblinden.‹ Diese Auslegung fand nicht nur bei uns allein Glauben, sondern auch alle kirchlich Gesinnten waren aufgebracht.
Obwohl unsere Brotgeber, die Engländer, Ärzte kommen ließen, ging niemand zu ihnen hin, und auch ihre Arzneien wollte niemand nehmen, sondern wir alle flehten nur um das eine: ›Bring uns den versiegelten Engel. Wir wollen vor ihm einen Bittgottesdienst halten, er allein kann uns helfen!‹
Unser Engländer Jakow Jakowlewitsch nahm sich der Sache an, fuhr selbst zum Erzbischof und sagte ihm: ›So steht es, Eminenz: Der Glaube ist eine große Sache, und einem jeden wird alles nach seinem Glauben gegeben; geben Sie uns doch den Engel aufs andere Ufer!‹
Der Erzbischof aber wollte davon nichts wissen und sagte: ›Dem darf kein Vorschub geleistet werden.‹
Damals erschien uns dieses Wort grausam, und wir verurteilten den Erzbischof leichtfertig, später aber wurde uns offenbar, daß das alles nicht aus Hartherzigkeit, sondern durch Gottes Vorsehung geschah. Indessen nahmen die Zeichen kein Ende, und der strafende Finger traf auch den Hauptschuldigen in dieser Sache, Pimen selbst, der nach diesem Unheil von uns geflohen war, auf dem anderen Ufer lebte und der Staatskirche beitrat.
Ich begegnete ihm einmal dort in der Stadt, er begrüßte mich, und ich grüßte ihn wieder. Dann sagte er mir: ›Ich habe gesündigt, Bruder Mark, daß ich mich von eurem Glauben abgeschieden habe.‹
Ich antwortete ihm: ›Was einer glaubt, das ist Gottes Sache, aber daß du den Armen um ein Paar Stiefel verkauft hast, das war nicht gut gehandelt; verzeih mir, daß ich dir, wie es der Prophet Arnos befiehlt, brüderliche Vorwürfe mache.‹
Bei der Nennung des Propheten überlief ihn ein Schauder.
›Sprich mir nicht von den Propheten‹, sagte er, ›ich kenne die Schrift selbst und fühle, wie die Propheten die auf der Erde Lebenden strafen. Ich selbst habe dafür ein Zeichen.‹ Und er klagte mir, daß er, als er neulich im Fluß gebadet hatte, am ganzen Körper fleckig geworden sei; er machte seine Brust frei und zeigte mir auf ihr Flecken, wie bei einem gescheckten Pferd, die sich von der Brust bis hinauf zum Halse zogen.
Ich sündiger Mensch hatte schon im Sinne, ihm zu sagen, daß ›Gott den Schelm zeichne‹, aber ich unterdrückte diese Worte und sagte: ›Nun, was hat das zu bedeuten? Bete nur und sei froh, daß du auf dieser Welt gezeichnet bist, vielleicht wirst du dann in der kommenden rein dastehen.‹ 37
Aber er klagte mir, wie unglücklich er darüber sei und was er einbüße, wenn die Flecken auch das Gesicht ergreifen würden. Der Gouverneur selbst habe, als er ihn, Pimen, bei seinem Übertritt in die Kirche sah, große Freude an seiner Schönheit gehabt und dem Stadthauptmann gesagt, er solle Pimen beim Empfang vornehmer Personen unbedingt ganz vorne mit der silbernen Schüssel in den Händen aufstellen. Aber einen fleckigen Menschen könne man doch nicht aufstellen! – Was brauchte ich aber seine eitlen und hohlen Worte weiter anzuhören? Ich drehte mich um und ging.
Seit der Zeit waren wir von ihm geschieden. Seine Flecken wurden immer sichtbarer, aber auch bei uns hörten die Zeichen nicht auf. Schließlich setzte im Herbst, als der Fluß kaum zugefroren war, plötzlich Tauwetter ein, das das ganze Eis auseinanderriß und unsere Behausungen zerstörte. Und jetzt folgte Schaden auf Schaden, bis einmal sogar einer der Granitpfeiler unterspült wurde und der Strudel das Werk vieler Jahre, das viele Tausende gekostet hatte, verschlang.
Das machte sogar unsere Brotgeber, die Engländer, bestürzt, und irgend jemand riet ihrem Ältesten, Jakow Jakowlewitsch, uns Altgläubige wegzuschicken, um von all dem Übel wieder erlöst zu werden. Der Engländer aber war ein Mensch mit rechtschaffenem Herzen und hörte nicht darauf; er ließ sogar mich und Luka Kirillow zu sich rufen und sagte: ›Kinder, gebt mir selbst einen Rat: Kann ich euch nicht irgendwie helfen und euch trösten?‹
Wir antworteten ihm, daß es für uns keinen Trost gebe, solange das heilige Antlitz des Engels, das uns überall begleitet hat, mit Feuerharz versiegelt ist, und daß wir vor Leid vergingen. – ›Was gedenkt ihr zu tun?‹ fragte er.
›Wir wollen ihn einmal vertauschen und sein reines Antlitz, das die gottlose Hand des Beamten unter dem Siegel verborgen hat, entsiegeln.‹
›Warum ist euch der Engel so teuer. Kann man euch nicht einen anderen verschaffen?‹ 33
›Er ist uns deshalb so teuer‹, antworteten wir, ›weil er uns beschützt hat; einen anderen können wir aber nicht bekommen, weil jener Engel in schwerer Zeit von gottesfürchtiger Hand gemalt und von einem Priester des alten Glaubens nach dem Brevier des Pjotr Mogila geweiht worden ist. Jetzt aber haben wir weder Priester noch jenes Brevier.‹
›Aber wie wollt ihr ihn entsiegeln, wo doch der Siegellack das ganze Gesicht ausgebrannt hat?‹
Wir antworteten: ›Euer Gnaden, was das anbelangt, so haben Sie keine Sorge: Wenn wir ihn nur in unsere Hände bekommen, wird er, unser Beschützer, schon selbst für sich sorgen. Er ist keine Handelsware, sondern eine echte Stroganower Arbeit, und die Stroganower wie die Kostromaer Lacke sind so zubereitet, daß das Bild nicht einmal den Feuerbrand zu fürchten braucht, er läßt das Harz an die zarten Farben nicht einmal heran.‹ – ›Seid ihr davon überzeugt?‹
›Ja, das sind wir: Dieser Lack ist so stark wie der alte russische Glaube selbst.‹
Er schimpfte noch auf jene, die ein solches Kunstwerk nicht zu schätzen verstanden hatten, gab uns die Hand und sagte nochmals: ›Nun, verzagt nicht, ich bin euer Helfer, wir werden euern Engel bekommen. Braucht ihr ihn für lange?‹
›Nein‹, antworteten wir, ›für ganz kurze Zeit.‹
›Nun, dann sage ich den Leuten, daß ich für euren versiegelten Engel kostbare goldene Beschläge machen lassen will, und wenn man ihn mir dann gibt, vertauschen wir ihn. Gleich morgen will ich mich daran machen.‹
Wir dankten ihm und erwiderten: ›Herr, unternehmen Sie bitte morgen und auch übermorgen noch nichts.‹
›Warum das?‹ fragte er.
Wir antworteten: ›Weil wir, Herr, vor allen Dingen ein Bild zum Vertauschen haben müssen, das dem echten wie ein Wassertropfen dem andern gleicht. Solche Meister gibt es hier aber nicht und werden auch in der Nähe nicht zu finden sein.‹
›Das ist eine Kleinigkeit‹, sagte er, ›ich werde euch selbst aus der Stadt einen Künstler mitbringen, der nicht nur 'Kopien malt, sondern sogar vortreffliche Porträts.‹
›Nein‹, antworteten wir, ›tun Sie das bitte nicht: Erstens würde durch diesen weltlichen Maler vielleicht ein unziemliches Gerede entstehen, zweitens kann ein Maler diese Aufgabe gar nicht erfüllen.‹
Der Engländer glaubte es nicht, und so trat ich vor und legte ihm den ganzen Unterschied klar: Daß die jetzigen weltlichen Maler eine andere Kunstart haben, daß sie nämlich mit Ölfarben malen, während dort die Farben mit Eiweiß angerieben werden und ganz zart sind. In der neuen weltlichen Malerei ist die Darstellung hingeschmiert und erscheint nur in einiger Entfernung natürlich, während hier alles fließend und noch in der Nähe deutlich ist. Einem weltlichen Maler würde selbst die Wiedergabe der Zeichnung nicht gelingen, weil sie nur gelernt haben, den irdischen Körper abzubilden und was den körperlichen Menschen ausmacht, während in der heiligen russischen Ikonenmalerei der verklärte himmlische Leib dargestellt wird, den sich der materielle Mensch nicht einmal vorstellen kann.
Das interessierte ihn, und er fragte: ›Aber wo gibt es denn solche Meister, die sich heute noch auf diese besondere Art verstehen?‹
›Sie sind heute‹, berichtete ich ihm weiter, ›sehr selten, und selbst damals lebten sie in tiefer Verborgenheit. Im Dorfe Mstera lebt ein Meister namens Chochlow, aber er ist schon hoch in den Jahren und kann die weite Reise nicht machen. Auch in Palichow leben zwei, aber auch die werden die Reise nicht unternehmen, zudem taugen uns weder die Msterer noch die Palichower Meister.‹
›Weshalb denn das?‹ forschte er weiter.
›Weil sie‹, antwortete ich, ›eine andere Manier haben: Bei den Msterern ist die Zeichnung schwerfällig und der Farbton trüb, bei den Palichowern dagegen ist der Ton türkisfarbig, alles schimmert bei ihnen bläulich.‹
›Was soll man nun machen?‹ fragte er.
›Ich weiß es selbst nicht‹, antwortete ich. ›Ich habe zwar gehört, es gäbe in Moskau noch einen guten Meister, namens Ssilatschow. Er hat in ganz Rußland, auch bei den Unsrigen einen guten Namen, aber er entspricht mehr der Nowgorodschen und der Zarisch-Moskowitischen Art. Unsere Ikone aber ist Stroganower Zeichnung mit den klarsten heiligsten Farben, so daß uns einzig der Meister Ssewastian von der Wolga helfen könnte, aber der ist ein leidenschaftlicher Wanderer und zieht durch ganz Rußland, macht bei den Altgläubigen Ausbesserungen, und niemand weiß, wo er zu finden ist.‹
Der Engländer hatte meinen ganzen Bericht mit Vergnügen angehört, lächelte ein wenig und antwortete: ›Ihr seid sehr wunderliche Leute‹, sagte er, ›aber wenn man euch zuhört, wird es einem wohl, denn ihr scheint alles, was euch angeht, gut zu kennen und sogar in der Kunst Bescheid zu wissen.‹
›Warum sollen wir denn von der Kunst nichts erfaßt haben, Herr?‹ sage ich. ›Hier handelt es sich doch um Gotteskunst, und bei uns gibt es unter den ganz einfachen Bauern so große Liebhaber dieser Kunst, daß sie nicht nur alle Schulen auseinanderhalten, wodurch sich zum Beispiel eine von der anderen unterscheidet, die Ustjuger oder die Nowgoroder, die Moskauer oder die Wologdaer, die Sibirische oder die Stroganower, sondern die sogar in derselben Schule die Werke der berühmten, alten russischen Meister fehlerlos unterscheiden.‹
›Kann denn das sein?‹
›Genau so, wie Sie die Handschrift eines Menschen von der eines anderen unterscheiden, so auch jene‹, antwortete ich. ›Sie schauen nur hin und sehen gleich, ob es Kusjma, Andrej oder Prokofij gemalt hat.‹
›An welchen Merkmalen?‹
›Es gibt Unterschiede in der Zeichnung, im Ton, in der Raumverteilung, in den Gesichtszügen und in den Bewegungen.‹
Er hörte immerfort zu, und ich erzählte ihm, was ich über
die Malerei eines Uschakow und eines Rubljow wußte, und vom ältesten russischen Maler Paramschin, dessen Heiligenbilder unsere gottesfürchtigen Fürsten und Zaren ihren Kindern zum Segen schenkten, denen sie sogar in ihren Vermächtnissen befahlen, diese Ikonen wie ihren Augapfel zu hüten.
Der Engländer zog gleich sein Notizbuch heraus, ließ mich den Namen dieses Malers wiederholen und fragte, wo man Arbeiten von ihm sehen könnte. Aber ich antwortete: ›Sie werden vergeblich suchen, Herr. Nirgends ist eine Erinnerung an sie zurückgeblieben.‹
›Wo sind sie denn geblieben?«
›Ich weiß nicht‹, sagte ich, ›ob man sie zum Pfeifenreinigen verwendet oder bei den Deutschen gegen Tabak eingetauscht hat.‹
›Es kann nicht sein!‹
›Im Gegenteil‹, antwortete ich, ›es kann sehr wohl sein, es gibt Beispiele dafür: Der römische Papst hat im Vatikan ein Triptychon, das unsere russischen Ikonenmaler Andrej, Ssergej und Nikita im dreizehnten Jahrhundert gemalt haben. Diese vielfigurigen Miniaturen sollen so wunderbar sein, daß selbst die größten ausländischen Maler, die sie sahen, vor diesem wundervollen Werk in Begeisterung gerieten.‹
›Aber wie ist es nach Rom gekommen?‹
›Peter der Erste hat es einem ausländischen Mönch geschenkt, und der hat es verkauft.‹
Der Engländer lächelte ein wenig, wurde dann nachdenklich und sagte leise, daß bei ihnen in England jedes Bildchen von Geschlecht zu Geschlecht bewahrt werde und daß es so für seine Herkunft selbst Zeugnis ablege.
›Nun, bei uns herrscht wahrhaftig eine andere Sitte‹, sagte ich, ›das Band der Überlieferungen der Vorfahren ist zerrissen, damit alles neu erscheine, als sei das ganze russische Geschlecht erst gestern von der Henne in den Nesseln ausgebrütet worden.‹
›Wenn die bei euch gezüchtete Unwissenheit so groß ist, warum bemühen sich dann nicht wenigstens diejenigen, die die Liebe zum Heimatlichen bewahrt haben, die einheimische Kunst zu erhalten?‹
Ich antwortete: ›Es ist niemand da, Herr, der uns unterstützen würde, denn in den neuen Kunstschulen verfault allerorts das Gefühl, und der Verstand unterwirft sich der Eitelkeit. Die Fähigkeit zur hohen Begeisterung ist verlorengegangen, alles wird vom Irdischen abgeleitet und atmet irdische Leidenschaft. Unsere neuesten Maler haben damit begonnen, den Erzengel Michael nach dem Bildnis des Fürsten Potjomkin von Taurien darzustellen, und jetzt sind sie so weit, daß sie Christus den Erlöser als Juden abbilden. Was soll man von solchen Menschen erwarten? Ihre unbeschnittenen Herzen werden schließlich noch andere Dinge malen und verlangen, daß man sie als Gottheit verehre. Hat man doch in Ägypten einen Stier und eine rotgefiederte Zwiebel angebetet; nur wir werden uns nicht vor den fremden Göttern beugen und werden das Judengesicht nicht als das Antlitz des Erlösers anerkennen. Ja, so kunstfertig diese Bilder auch sein mögen, wir halten sie für eine herzlose Frechheit und wollen von ihnen nichts wissen, weil es in der Überlieferung der Väter heißt, daß die Ergötzung der Augen die Reinheit der Vernunft zerstört, wie ein schadhafter Wasserspeier das Wasser trübt.‹
Damit schloß ich und schwieg, aber der Engländer sagte: ›Fahre fort, mir gefällt es, wie du urteilst!‹
Ich antwortete: ›Ich habe schon alles erzählt.‹
Er aber erwiderte: ›Nein, erzähle mir noch, was ihr unter einem beseelten Bilde versteht.‹
Diese Frage, meine werten Herren, war für einen einfachen Menschen ziemlich schwierig, aber es war nichts zu machen, und ich begann zu erzählen, wie in Nowgorod der Sternenhimmel gemalt ist, und dann berichtete ich von dem Kiewer Bild in der Sophienkathedrale, wo zu Seiten des Herrn Zebaoth sieben geflügelte Erzengel stehen, die natürlich keine Ähnlichkeit mit dem Fürsten Potjomkin haben, und auf den Stufen der Vorhalle die Erzväter und Propheten dargestellt sind, unter ihnen Moses mit der Gesetzestafel, noch tiefer Aaron mit Mitra und Stab, und auf der anderen Seite der Stufen König David mit der Krone, der Prophet Jesaias mit der Schriftrolle, Hesekiel mit der Geschlossenen Pforte, Daniel mit dem Stein, und um diese Fürbitter, die den Weg zum Himmel weisen, sind die Gaben abgebildet, durch die der Mensch diesen Ruhmesweg erklimmen mag, wie das Buch mit den sieben Siegeln als die Gabe der All Weisheit, der siebenarmige Leuchter als die Gabe der Vernunft, die sieben Augen als die Gabe des Rates, die sieben Posaunen als die Gabe der Kraft, die Hand Gottes inmitten von sieben Sternen als die Gabe der Gesichte, die sieben Räucherbecken als die Gabe der Frömmigkeit und die sieben Blitze als die Gabe der Gottesfurcht. ›Sehen Sie‹, sagte ich, ›eine solche Darstellung ist erhebende
Der Engländer antwortete: ›Verzeih mir, mein Lieber, ich verstehe nicht, weshalb du dies erhebend nennst.‹
›Weil eine solche Darstellung uns klar sagt, daß es dem Christenmenschen ansteht, zu beten und darnach zu lechzen, sich von dieser Welt zu Gottes unsagbarem Glanz zu erheben.‹
›Ja‹, erwiderte er, ›das kann aber doch ein jeder aus der Schrift und aus dem Gebet erfassend
›Nein, durchaus nicht‹ antwortete ich, ›es ist nicht jedem gegeben, die Schrift zu verstehen, und dem, der sie nicht versteht, gibt auch das Gebet nur Finsternis. Mancher hört die Verheißung der großen und reichen Gnade und schließt daraus, daß damit Geld gemeint sei, und betet vor Habsucht; sieht er aber vor sich den himmlischen Glanz dargestellt, so vergißt er darüber das höchste irdische Glück und sieht ein, daß er dieses Ziel erreichen müsse, weil dort alles so klar und einleuchtend geschildert ist. Hat dann der Mensch für seine Seele zunächst die Gabe der Gottesfurcht erbetet, so erhebt sie sich gleich, von der irdischen Schwere befreit, von Stufe zu Stufe und erringt mit jedem Schritt mehr vom Überfluß der göttlichen Gaben. Und von der Zeit an erscheint dem Menschen im Gebet das Geld und aller irdischer Ruhm nur als verabscheuungswürdig vor dem Herrn.‹
Der Engländer erhob sich von seinem Platz und sagte lächelnd: ›Und ihr, Sonderlinge, was erbetet ihr euch?‹
›Wir beten‹, antwortete ich, ›um ein christliches Ende und um ein mildes Gericht am Jüngsten Tag.‹
Er lächelte wieder und zog plötzlich an einer goldgelben Schnur; ein grüner Vorhang ging auf, und hinter ihm saß seine Frau, die Engländerin, auf einem Sessel und strickte vor einer Kerze mit langen Stricknadeln. Sie war eine schöne freundliche Dame, und wenn sie auch nur wenig russisch sprechen konnte, so verstand sie doch alles und hatte gewiß unser Gespräch mit ihrem Mann über die Religion mit anhören wollen.
Und was denken Sie wohl? Kaum war der Vorhang, der sie verdeckt hatte, zurückgezogen, als die Gute sogleich wie erschrocken aufstand, an mich und Luka herantrat und uns Bauern ihre beiden Händchen entgegenstreckte. In ihren Augen blinkten Tränen, und sie sagte: ›Gute Menschen, gute russische Menschen!‹
Ich und Luka küßten ihr für dieses gute Wort beide Hände, aber sie drückte ihre Lippen auf unsere Bauernköpfe.«
Der Erzähler hielt inne, bedeckte die Augen mit dem Ärmel, wischte sie still und flüsterte dann: »Sie war eine rührende Frau.«
Nachdem er sich gefaßt hatte, fuhr er fort: »Nach ihrer freundlichen Tat begann die Engländerin ihrem Mann etwas in ihrer Sprache auseinanderzusetzen. Wenn wir es auch nicht verstanden, so hörten wir an der Stimme, daß sie ihn für uns bat. Und der Engländer freute sich über die Güte seiner Frau, strahlte vor Stolz, streichelte der Frau immerfort das Köpfchen und girrte in seiner Sprache wie eine Taube: ›Gut, gut‹, oder was er ihr sonst gesagt haben mag; aber es war ersichtlich, wie er sie lobte und sie in etwas bestärkte.
Dann trat er an seinen Schreibtisch, nahm zwei Hundertrubelscheine heraus und sagte: ›Luka, hier hast du Geld, geh und suche den kunstfertigen Heiligenbildermaler, wo du ihn zu finden meinst, damit er euch anfertigt, was ihr braucht. Er kann auch für meine Frau etwas in eurer Art malen; sie will ihrem Sohn eine solche Ikone schenken und gibt euch für eure Bemühungen und Auslagen das Geld.‹
Sie aber lächelte durch die Tränen und entgegnete rasch: ›Nein, nein, nein, das ist von ihm, aber, ich will von mir extra.‹ Und mit diesen Worten geht sie zur Tür hinaus und bringt einen dritten Hunderter.
›Mein Mann‹, sagt sie, ›hat mir das für ein Kleid geschenkt, aber ich will kein Kleid, ich stifte es euch.‹
Wir weigern uns natürlich, es anzunehmen, aber sie will davon gar nichts hören und läuft hinaus, während er sagt: ›Nein, wagt nicht, es ihr zu verweigern, und nehmt, was sie euch gibt.‹ Damit wendet er sich weg und sagt: ›Geht jetzt, ihr Sonderlinge!‹
Wir waren durch diese Verabschiedung natürlich nicht beleidigt, weil wir wohl bemerkt hatten, daß sich der Engländer von uns weggewandt hatte, nur um seine Rührung vor uns zu verbergen.
So haben uns, meine werten Herren, unsere eigenen Landsleute in ihrer Herzensfinsternis verurteilt, und die englische Nation hat uns getröstet und unserer Seele den Eifer wiedergegeben.
Nun wendet sich, meine besten Herren, meine Erzählung dem Ende zu, und ich will Ihnen in Kürze berichten, wie ich meinen lieben, ›silbergezäumten‹ Lewontij mitnahm, wie wir nach dem Ikonenmaler auszogen, welche Ortschaften wir durchwanderten, was für Leute wir sahen, welche neuen Wunder sich uns offenbarten, wie wir zu guter Letzt fanden, was wir verloren hatten, und womit wir zurückkehrten.
Für einen Menschen, der eine Wanderschaft unternimmt, ist der Weggefährte die wichtigste Angelegenheit. Mit einem guten und klugen Kameraden sind selbst die Kälte und der Hunger leichter zu ertragen. Mir ward diese Gabe durch den wunderbaren Jüngling Lewontij zuteil. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg. Wir trugen unsere Bündel, hatten eine hinreichende Summe Geldes bei uns und nahmen zum Schutz unseres Lebens und auch des Geldes einen alten kurzen Säbel mit breiter Klinge mit, der uns für den Fall einer Gefahr immer begleitet hatte. Wir zogen wie Handelsleute unseres Weges und hatten für alle Fälle Ausflüchte bereit, hatten aber natürlich stets nur unsere Sache im Auge.
Zu allererst waren wir in Klinzy und Slynka, kehrten dann bei einem der Unsern in Orjol ein, aber nirgends hatten wir ein brauchbares Resultat, nirgends fanden wir einen guten Ikonenmaler. So erreichten wir schließlich Moskau. Was soll ich sagen! Heil dir, Moskau! Heil dir, ruhmvolle Zarin des alten Rußlands! Aber wir Altgläubigen haben in dir keinen Trost gefunden!
Ich spreche ungern davon, aber ich kann nicht verschweigen, daß wir in Moskau nicht den Geist antrafen, den wir erwartet hatten. Wir überzeugten uns mit jedem Tag mehr davon, daß die Altgläubigkeit dort nicht auf Liebe zum Guten und zur Wohlanständigkeit begründet ist, sondern auf purem Eigensinn, und Lewontij und ich begannen uns zu schämen, weil wir dort nur Dinge sahen, die für den friedlichen Gläubigen beleidigend sind. Aber wir schwiegen darüber.
Es gab natürlich in Moskau Ikonenmaler, und sogar recht kunstfertige, aber was nützte uns das, wenn alle diese Leute nicht den Geist hatten, von dem die väterlichen Überlieferungen berichten. Bevor sich die gottesfürchtigen Maler der alten Zeiten an die heilige Kunst machten, fasteten und beteten sie, und sie leisteten für viel und für wenig Geld das Gleiche, wie es die Ehre der heiligen Darstellung erforderte. Aber jene malen nur für eine kurze Zeit, nicht mehr für die Dauer, grundieren nur schwach mit Kreidefarben, statt mit alabasternen, und tragen in ihrer Faulheit die Farbe mit einemmal auf, statt wie damals vier- und selbst fünfmal mit wasserdünner Farbe zu malen, wodurch jene die wundervolle Zartheit erreichten, die den jetzigen mangelt. Und über der Liederlichkeit in der Kunst sind sie selbst alle schwach geworden, so daß sich jeder vor dem anderen rühmt und einer den anderen zu erniedrigen sucht. Aber noch schlimmer ist, daß sie sich in den Schenken zu Haufen herumtreiben, dort die schlauesten Betrügereien verüben, Wein trinken und ihre Kunst schreierisch loben, das Werk der anderen aber gotteslästerlich und ›Teufelsmalerei‹ nennen. Und um sie herum sitzen die Altertumshändler wie die Sperlinge hinter den Eulen, lassen die altgemalten Heiligenbilder von Hand zu Hand gehen, sie tauschen und fälschen, räuchern sie im Kamin und machen Risse und Wurmfraß hinein. Aus Kupfer gießen sie alle möglichen Beschläge, nach den Vorbildern der alten getriebenen Originale, und legen Emaille nach der altüberlieferten Art auf. Aus gewöhnlichen Schüsseln schmieden sie Taufbecken mit den alten gerupften Adlern, wie man sie zur Zeit Iwans des Grausamen herstellte. Sie stellen sie aus und verkaufen sie an unerfahrene Leichtgläubige als echte Taufbecken ›aus den Zeiten des Grausamem‹. Solcher Taufbecken gibt es jetzt viele in Rußland, aber es ist alles Betrug und gewissenloser Schwindel. Mit einem Wort, die Leute betrügen einander mit Heiligtümern, wie die schwarzen Zigeuner mit Pferden, und treiben es so, daß man sich für sie schämen muß, wenn man überall die Sünde, die Versuchung und den Verrat am Glauben sieht. Wer sich diese Schamlosigkeit zu eigen gemacht hat, dem geht es nicht schlecht; selbst unter den Moskauer Liebhabern finden sich viele, die sich für diesen unehrlichen Handel interessieren und sich damit brüsten: Hier habe einer einen mit einem Christusbild betrogen, dort ein anderer einen andern mit einem Nikolai geprellt oder einem auf irgendeine niederträchtige Weise ein gefälschtes Muttergottesbild untergeschoben. All dies wurde ganz offen betrieben, man eiferte sogar darin, die unerfahrenen Gläubigen mit den Heiligtümern zum Narren zu halten.
Aber mir und Lewontij als bäuerisch einfachen Gottesverehrern erschien dies alles so unerträglich, daß wir uns darüber grämten und erschraken: Ist es denn möglich, denken wir uns, daß unser alter unglücklicher Glaube derartig entstellt worden ist? Und als ich mir das denke, sehe ich, daß auch er dasselbe in seinem betrübten Herzen trägt. Aber wir sprachen nicht miteinander darüber, und ich bemerkte nur, wie sich mein Jüngling immer mehr in die Einsamkeit flüchtete.
Einmal schaue ich ihn an und habe Sorge, daß er jetzt in der Verwirrung seines Herzens nur nicht auf unnötige Gedanken kommen möge, und ich sage ihm: ›Was hast du, Lewontij, worüber grämst du dich?‹
Und er antwortet: ›Nichts, Onkel, nichts; ich bin einmal so.‹
›Komm, gehen wir in die Boscheninstraße, in die Eriwaner Schenke und versuchen dort einen Ikonenmaler zu überreden. Heute haben zwei versprochen, hinzukommen und alte Ikonen mitzubringen. Ich habe schon eine eingehandelt und will heute noch eine bekommen.‹
Aber Lewontij antwortet: ›Nein, Onkelchen, geh du allein, ich gehe nicht mit.‹
›Warum gehst du nicht mit?‹ frage ich.
›So‹, antwortet er, ›mir ist heute nicht ganz wohl.‹
Einmal, zweimal nötigte ich ihn nicht, aber das drittemal fordere ich ihn wieder auf: ›Gehen wir, Lewontjuschka, gehen wir, Junge.‹
Aber er verneigt sich rührend und bittet: ›Nein, Onkelchen, weißes Täubchen, laß mich zu Hause bleiben.‹
›Aber was ist denn das, Ljowa, du bist doch mit mir als Helfer mitgekommen und sitzt immer zu Hause. So habe ich nicht viel von deiner Hilfe, mein Täubchen.‹ ›Nun, du Teurer, Väterchen Mark Alexandrowitsch, Gebieter, fordere mich nicht auf, dorthin zu gehen, wo man ißt und trinkt und unziemliche Reden über das Heilige führt, ich könnte der Versuchung unterliegen.‹
Das war das erste bewußte Wort über seine Gefühle, und es traf mich ins Herz, aber ich stritt nicht mit ihm und ging allein. An jenem Abend hatte ich ein langes Gespräch mit zwei Ikonenmalern, und durch sie widerfuhr mir ein schreckliches Leid. Es ist entsetzlich, was sie mit mir gemacht haben.
Der eine hatte mir für vierzig Rubel eine Ikone verkauft und ging weg; der andere aber sagte: ›Schau zu, Mensch, daß du vor dieser Ikone nicht betest.‹
Ich frage: ›Warum?‹
Er antwortet: ›Weil es Teufelsmalerei ist.‹ Damit kratzt er mit dem Nagel an dem Bild, an der einen Ecke fällt die Farbschicht ab, und auf dem Grund darunter ist ein Teufelchen mit einem Schwanz gemalt. Er kratzt an einer anderen Stelle die Schicht herunter, und unter ihr ist wieder ein Teufelchen.
›Großer Gott, was ist denn das?‹ Ich begann zu weinen.
›Das bedeutet, daß du nicht bei ihm, sondern bei mir bestellen sollst.‹
Da sah ich klar, daß sie derselben Bande angehörten und verabredet hatten, an mir schlecht und unehrlich zu handeln. Ich ließ ihnen die Ikone zurück und ging fort, die Augen voller Tränen, und lobte Gott, daß mein Lewontij, dessen Glaube eben im Gären war, dies nicht gesehen hatte. Wie ich nach Hause komme, sehe ich in den Fenstern des Stübchens, das wir gemietet hatten, kein Licht, sondern höre von dort ein leises, zartes Singen. Sogleich erkenne ich Lewontijs angenehme Stimme, und er singt mit einem Ausdruck, als ob er jedes Wort in Tränen badete. Ich trete leise ein und bleibe, damit er mich nicht hört, vor der Türe stehen und höre, wie er die Josephsklage singt:
›Wem soll ich meine Trauer sagen,
Wen rufe ich zum Weheklagen?‹
Dieser Vers, wenn Sie ihn zu kennen geruhen, ist ohnedies so klagevoll, daß man ihn nicht gleichgültig anhören kann, und Lewontij singt ihn und weint und schluchzt dabei:
›Meine Brüder haben mich verkauft.‹
Er weint und weint, als ob er am Grabe seiner Mutter stehe, und singt weiter und ruft die Erde an zur Weheklage über die Sünde der Brüder.
Diese Worte können einen Menschen immer erregen, mich erregten sie aber jetzt besonders, da ich doch eben von ähnlich streitenden Brüdern weggegangen war. Die Worte hatten mich so gerührt, daß ich selbst aufschluchzte. Lewontij hört es, verstummt und ruft: ›Onkel, hör Onkel!‹
›Was denn, mein guter Junge?‹ sage ich.
›Weißt du, wer unsere Mutter ist, von der hier gesungen wird?‹ fragt er. – ›Rahel‹, antworte ich.
›Nein‹, entgegnet er, ›in alter Zeit war es die Rahel, jetzt hat es aber eine andere, geheimnisvolle Bedeutung.‹
›Wieso geheimnisvoll?‹ frage ich.
›Nun, dieses Wort hat einen verwandelten Sinn.‹
›Du Kind‹, sage ich, ›paß auf: Ist es nicht gefährlich, was du hier grübelst?‹
›Nein‹, erwidert er, ›ich fühle es in meinem Herzen, daß unser Erlöser sich unseretwegen kreuzigen läßt, weil wir ihn nicht mit einigen Herzen und einigen Lippen suchen.‹
Ich erschrak noch mehr: wohin will der Junge nur damit hinaus? Und ich sage ihm: ›Weißt du, Lewontjuschka, gehen wir lieber schneller aus Moskau fort in die Gegend von Nischnij-Nowgorod, um dort den Ikonenmaler Ssewastjan zu suchen; ich habe heute gehört, daß er dort umherzieht.‹
›Gut, gehen wir‹, antwortet er, ›hier in Moskau quält mich schmerzhaft ein böser Geist, aber dort sind Wälder, die Luft ist reiner, und dort, hörte ich, lebt auch der Starez Pamwa, ein Einsiedler ganz ohne Neid und Zorn, den ich gern gesehen hätte.‹
›Der Einsiedler Pamwa‹, erwiderte ich ihm streng, ›dient der herrschenden Kirche, was haben wir mit ihm zu schaffen?‹
›Nun, was ist das für ein Unglück?‹ antwortet er. ›Ebendeshalb will ich ihn ja sehen, um zu begreifen, was für ein Segen auf der herrschenden Kirche ruht.‹
Ich wasche ihm den Kopf und sage: ›Was ist denn das für ein Segen?‹, aber ich fühle selbst, daß er mehr Recht hat als. ich, da er darnach drängt, zu erforschen, während ich einfach verwerfe, was ich nicht kenne, und in meinem Widerstand trotzig bin, ihm also nur Unsinn entgegne.
›Die Angehörigen der herrschenden Kirche‹, sage ich, ›richten sich in ihrem Glauben nicht nach dem Himmel, sondern nach dem Tor des Aristoteles und bestimmen den Weg auf dem Meer nach dem Stern des heidnischen Gottes Remphan, du aber willst mit ihnen den Blickpunkt gemeinsam haben?‹
Aber Lewontij antwortet: ›Du fabelst, Onkel: Es hat nie einen Gott Remphan gegeben, sondern alles ist durch die eine Allweisheit geschaffen.‹
Daraufhin werde ich noch dümmer und sage: ›Die Kirchlichen trinken Kaffee‹.
›Nun, was ist das für ein Unglück?‹ antwortet Lewontij. ›Der Kaffee ist eine Bohne und wurde dem König David als Geschenk dargebracht,‹
›Woher‹, sage ich, ›weißt du denn das alles?‹
›Ich hab es in Büchern gelesen.‹
›Nun, wisse dann: Alles steht in den Büchern nicht geschrieben.‹
›Was ist dort nicht geschrieben?‹ fragt er.
›Was? Was dort noch nicht geschrieben ist?‹ Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll, und poltere los: ›Die Kirchlichen essen Hasen, und der Hase ist unrein.‹
›Beschimpfe nicht, was Gott geschaffen hat, es ist Sünde.‹
›Wie soll ich den Hasen nicht beschimpfen, wo er doch unrein ist, von Eselsart, Zwittereigenschaften hat und beim Menschen dickes, melancholisches Blut erzeugt?‹
Aber Lewontij lacht nur und sagt: ›Schlaf, Onkel, du redest ungereimtes Zeug.‹
Ich muß Ihnen gestehen, daß ich damals noch nicht klar wußte, was in der Seele dieses gesegneten Jünglings vorging; ich war nur sehr erfreut, daß er nicht weitersprechen wollte, denn ich sah selbst ein, daß mein Herz nichts von dem wußte, was ich sprach, und so schwieg ich denn und dachte mir nur, während ich mich niederlegte: Nein, diese Zweifel sind bei ihm aus Gram entstanden. Morgen werden wir aufstehen und uns auf den Weg machen; dann wird sich alles in ihm zerstreuen. Für alle Fälle aber hatte ich in meinem Sinn beschlossen, einige Zeit schweigend neben ihm einherzugehen, um ihm zu zeigen, daß ich noch sehr zornig auf ihn sei.
Nur brachte ich in meinem wetterwendischen Charakter nicht die Kraft auf, mich böse zu stellen, und so begannen wir bald wieder miteinander zu sprechen, und nicht über göttliche Dinge, weil er viel belesener war als ich, sondern über die Gegend, wozu uns die riesigen dunklen Wälder anregten, durch die unser Weg führte. Ich bemühte mich, mein Moskauer Gespräch mit Lewontij zu vergessen, und entschloß mich, auf der Hut zu sein und nicht irgendwie auf den Starez Pamwa, den Einsiedler zu stoßen, der Lewontij so begeistert hatte und über dessen erhabenen Lebenswandel ich selbst unfaßbare Wunder von kirchlich Gläubigen gehört hatte.
Nun, ich denke mir, was soll ich mir große Sorgen machen, wenn ich ihm aus dem Weg gehe? Er selbst wird uns doch gewiß nicht suchen.
Und so wandern wir wieder friedlich und wohlbehalten und kommen schließlich in Ortschaften, in denen wir Kunde davon erhalten, daß der Ikonenmaler Ssewastjan die Gegend durchziehe. Nun beginnen wir, ihn von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf zu suchen, wir folgen ihm schon auf frischer Fährte, wir erreichen ihn fast und können ihn doch nicht einholen. Wir laufen wie gekoppelte Hunde, legen Strecken von zwanzig bis dreißig Werst ohne Rast zurück, aber wenn wir irgendwohin kommen, so sagt man uns: ›Er ist hier gewesen und ist eben, vor einer Stunde, weggegangen.‹
Wir eilen ihm nach, aber es gelingt uns nicht, ihn einzuholen.
Einmal an einer Wegkreuzung gerate ich mit Lewontij in Streit. Ich sage: ›Wir müssen rechts gehen‹, und er sagt: ›links‹. Schließlich hätte er mich beinahe überredet, aber ich beharrte auf meiner Meinung. Wir gehen also und gehen, und schließlich merke ich, daß ich nicht mehr weiß, wohin wir geraten sind, und daß weder ein Pfad noch eine Spur weiterführt.
Ich sage dem Jüngling: ›Kehren wir um, Ljowa!‹
Aber er antwortet: ›Nein ich kann nicht mehr weitergehen, Onkel, ich habe keine Kraft mehr.‹
Ich frage besorgt: ›Kindchen, was fehlt dir denn?‹
Und er erwidert: ›Siehst du denn nicht, wie mich der Frost schüttelt?‹
Ich sehe, wie er am ganzen Körper zittert und wie seine Augen umherirren. So plötzlich war es geschehen, meine werten Herren. Er hat über nichts geklagt, ist flink einhergegangen, und nun setzt er sich mit einem Male in einem Wäldchen aufs Gras, lehnt seinen Kopf an einen hohlen Baumstumpf und sagt: ›Oh, mein Kopf, oh mein Kopf! Mein Kopf brennt wie Feuerflammen. Ich kann nicht weitergehen, ich kann keinen Schritt mehr machen.‹ Und damit neigt sich der Arme zur Erde und fällt hin. Das geschah gegen Abend.
Ich war sehr erschrocken, und während ich wartete, ob sein Anfall nicht nachlassen würde, brach die Nacht herein. Es war Herbstzeit und trüb, die Gegend war unbekannt, ringsum nichts als Fichten und alte Tannen, und der Knabe starb einfach hin. Was sollte ich tun? Unter Tränen sagte ich ihm: ›Ljowuschka, Väterchen, raff dich zusammen, vielleicht erreichen wir ein Nachtlager.‹
Aber er neigt das Köpfchen zur Seite, wie eine abgemähte Blume, und spricht wie im Fiebertraum: ›Rühr mich nicht an, Onkel Marko, rühr mich nicht an und fürchte dich nicht.‹
Ich sage: ›Ich bitte dich, Ljowa, wie soll man sich in solch einer unwegsamen Einöde nicht fürchten?‹
Aber er sagt: ›Wache, und du wirst behütet werden.‹
Ich denke: Herrgott, was ist denn mit ihm los? Trotz meiner Angst beginne ich zu horchen, und es scheint mir, als hörte ich tief im Wald etwas knistern. Gnadenreicher Herr! denke ich mir. Das ist gewiß ein wildes Tier, das uns gleich zerreißen wird! Lewontij kann ich schon nichts mehr zurufen, denn ich sehe, daß er aus sich selbst herausgeflogen ist und mir enteilt, und so bete ich nur noch: ›Engel Christi, beschütze uns in dieser schrecklichen Stunde!‹ Das Knistern kommt immer näher und ist schon dicht bei uns. Ich muß Ihnen hier, meine werten Herren, eine große Gemeinheit gestehen: Ich war so verzagt, daß ich den kranken Lewontij an der Stelle, an der er lag, zurückließ, schneller als eine Eichkatze auf einen Baum kletterte, mich auf einen Ast setzte, mein Säbelchen zog und, mit den Zähnen wie ein erschreckter Wolf klappernd, wartete, was da kommen würde.
Plötzlich sehe ich aus der Dunkelheit, an die sich meine Augen schon gewöhnt haben, etwas heraustreten, aber ich kann nicht erkennen, ob es ein Tier oder ein Räuber ist. Aber wie ich genauer hinschaue, kann ich sehen, daß es weder das eine noch das andere ist, sondern ein kleiner Greis in einer Kutte; ja, ich kann sogar das Beil erkennen, das er im Gürtel stecken hat, und das große Holzbündel auf seinem Rücken. Er kommt auf die Lichtung heraus, atmet hastig, als wolle er die Luft von allen Seiten her einsammeln, wirft dann mit einem Mal sein Bündel zur Erde und geht sofort, als habe er die Nähe eines Menschen gewittert, gerade auf meinen Gefährten zu. Er tritt an ihn heran, beugt sich über ihn, schaut ihm ins Gesicht, nimmt ihn dann bei der Hand und sagt: ›Steh auf, Bruder.‹ Und was glauben Sie? Ich sehe, wie er Lewontij aufstehen hilft, ihn zu seinem Bündel führt, es ihm auf die Schultern legt und sagt: ›Trag es hinter mir her!‹ Und Lewontij trägt es.
Sie können sich vorstellen, meine werten Herren, wie ich vor solch einem Wunder erschrecken mußte. Woher war dieser stille, gebieterische Alte gekommen, und wie hatte mein Ljowa, der noch eben dem Tode nahe schien, die Kraft gewonnen, gleich das Holzbündel zu tragen!
Ich stieg, so schnell ich vermochte, vom Baum herunter, warf mein Säbelchen an seinem Strick auf den Rücken, brach mir für alle Fälle einen verläßlichen kräftigen Knüppel und eilte ihnen nach. Ich hatte sie bald eingeholt und sah: Der Alte ging voran und war genau so, wie er mir im ersten Augenblick erschienen war – klein und bucklig, das Bärtchen auf beiden Wangen buschig und weiß wie Seifenschaum, und mein Lewontij folgte schnell seiner Spur und blickte mich dabei unverwandt an. Aber wenn ich ihn ansprach und mit der Hand berührte, schenkte er mir nicht die geringste Aufmerksamkeit und ging wie im Schlaf daher.
Ich trat an den Alten heran und rief: ›Verehrter!‹
Und er erwiderte: ›Was willst du?‹
›Wohin führst du uns?‹
›Ich führe niemanden,‹ sagte er, ›alle führt Gott.‹
Bei diesen Worten blieb er stehen, und ich sah, daß sich vor uns eine niedrige Mauer mit einem Tor erhob und in dem Tor ein kleines Pförtchen angebracht war. Der Alte begann daran zu klopfen und rief: ›Bruder Miron! Bruder Miron!‹
Aber von drinnen antworte eine grobe Stimme: ›Wieder hast du dich nachts herumgetrieben. Bleib im Wald zu Nacht! Ich lasse dich nicht herein!‹
Doch der kleine Greis begann zu flehen und freundlich zu bitten: ›Laß ein, Bruder!‹
Plötzlich riß der Grobian von innen die Türe auf, und ich sah einen Menschen in der gleichen Kutte, wie sie der Alte trug, vor mir. Er war ein roher Kerl, und kaum hatte der Alte die Füße über die Schwelle gesetzt, als jener ihm einen Stoß versetzte, daß er beinahe zur Erde gefallen wäre. Aber er sagte: ›Segne dich Gott, mein Bruder, für diesen Dienst.‹
Heiland, denke ich mir, wohin sind wir geraten!
Und plötzlich erleuchtet und entsetzt es mich wie ein Blitz: Gott sei mir gnädig! Wenn es nur nicht Pamwa, der zornlose Einsiedler ist. Dann wäre es besser gewesen, ich wäre im dunklen Wald umgekommen oder hätte mir bei einem wilden Tier oder einem Räuber ein Lager gesucht, als unter diesem Dache!
Kaum hatte er uns in seine kleine Hütte hineingeführt und ein gelbes Wachslicht angezündet, als ich schon erriet, daß wir uns wirklich in einer Waldeinsiedelei befanden. Und ich kann mich nicht mehr beherrschen und frage: ›Verzeih mir, gottesfürchtiger Mann, wenn ich dich frage, ob es sich für mich und meinen Gefährten geziemt, hier zu bleiben, wohin du uns geführt hast?‹
Er aber antwortet: ›Gottes ist die ganze Erde, und gesegnet sind alle Lebenden. – Leg dich hin und schlafe!‹
›Nein‹, erwidere ich, ›erlaube, daß ich dir sage: Wir gehören dem alten Glauben an.‹
›Wir sind alle vom Leibe Christi, er umfängt uns alle.‹
Und damit führt er uns in einen Winkel, wo auf dem Boden eine dürftige Lagerstatt aus Matten hergerichtet ist und am Kopfende ein mit Stroh bedeckter Holzklotz liegt, und sagt zu uns beiden: ›Schlaft!‹
Mein Lewontij legt sich als gehorsamer Junge gleich hin, während ich meine Vorsicht beibehalte und frage: ›Verzeih, Mann Gottes, noch eine Frage ...‹
Er antwortet: ›Wozu fragen? Gott weiß alles.‹
›Nein, sage mir: Wie heißt du?‹
Aber er erwidert mit dem für ihn ganz unpassenden Weiberspruch: ›Man nennet mich den Enterich, wie man mich heißt, das weiß ich nicht.‹ Und mit diesen leeren Worten kriecht er mit seinem Lichtlein in eine kleine Kammer, eng wie ein Holzsärglein, aber hinter der Wand vernimmt man wieder die Stimme des Grobians: ›Untersteh dich nicht, Licht zu brennen: Du zündest noch die Zelle an. Aus dem Büchlein kannst du am Tage beten, jetzt aber bete im Dunkeln.‹
›Ich werde nicht, Bruder Miron‹, antwortet jener, ›ich werde nicht.‹ Und bläst das Lichtlein aus.
Ich flüstere: ›Vater, wer ist es, der Euch so barsch bedroht?‹
›Es ist mein Diener Miron, ein guter Mensch ... er behütet mich.‹
Nun ist es aus, denke ich mir, es ist der Einsiedler Pamwa. Es kann niemand anders sein als er, der Zorn- und Neidlose. Jetzt ist das Unglück da! Er hat uns hieher gebracht und sengt uns jetzt wie der Feuerbrand das Fett. Das einzige, was übrigbleibt, ist, Lewontij beim Morgengrauen von hier zu entführen und zu fliehen, damit er nicht wisse, wo wir sind. Ich klammerte mich an diesen Plan und beschloß, nicht zu schlafen, um den Jüngling beim ersten Morgenschimmer zu wecken und zu fliehen.
Um nicht einzuschlafen und womöglich zu verschlafen, liege ich da und spreche in einem fort das Glaubensbekenntnis, wie es der alte Glaube vorschreibt, und wenn ich damit fertig bin, setze ich gleich hinzu: ›Dieser Glaube ist der Apostolische, dieser Glaube ist der Katholische, dieser Glaube hält das All ...‹ und ich beginne von neuem. Ich weiß nicht, wie oft ich das Glaubensbekenntnis wiederholt habe, um nicht einzuschlafen, aber gewiß waren es viele Male. Und auch der Alte betet noch immer in seinem Sarg, und mir scheint, als zeige mir das Licht in den Balkenritzen, wie er sich immer von neuem verneigt. Und plötzlich meine ich ein Gespräch zu hören, und was für eines ... ein ganz unerklärliches ... als sei Lewontij beim Starez eingetreten und spräche mit ihm über den Glauben ... aber ohne Worte, sondern sie sehen einander nur an und verstehen sich. Dieses Bild stand mir lange vor Augen, und ich hatte darüber schon vergessen, mein Glaubensbekenntnis zu wiederholen. Da glaube ich zu hören, wie der Starez dem Jüngling sagt: ›Gehe und entsündige dich!‹ Und jener antwortet: ›Ja, ich will mich entsündigen.‹ Auch jetzt kann ich Ihnen nicht sagen, ob es im Traume oder in der Wirklichkeit geschehen ist, aber sicher habe ich darauf lange geschlafen. Wie ich endlich erwache, sehe ich: Es ist heller Tag, und der Starez, unser Wirt, der Einsiedler, sitzt da und zieht eine Ahle durch einen Lindenbastschuh, den er auf seinen Knien hält. Ich beginne ihn aufmerksam zu betrachten:
Ach, wie schön ist er! Wie vergeistigt! Als wenn ein Engel vor mir säße und für seine Erdenwandlung in unscheinbarer Gestalt Bastschuhe flechte. Ich betrachte ihn und sehe, daß auch er mich anschaut, lächelt und sagt: ›Hast du genug geschlafen, Mark? Es ist Zeit, ans Werk zu gehen.‹
Ich erwidere: ›Was ist denn mein Werk, gottesfürchtiger Mann? Oder weißt du alles?‹
›Ich weiß, ich weiß‹, sagt er, ›macht denn der Mensch einen weiten Weg ohne Zweck? Alle, Bruder, alle suchen die Wege Gottes. Helfe dir Gott in deiner Demut.‹
›Was sagst du, heiliger Mann, meine Demut? Du bist demütig, aber was habe ich in meiner Eitelkeit für eine Demut?‹
Aber er antwortet: ›Ach nein, Bruder, nein, ich bin nicht demütig, ich bin ein großer Sünder, denn ich wünsche teilzuhaben am Himmelreich.‹
Und im Bewußtsein dieser Sünde faltet er mit einem Male die Hände und beginnt wie ein kleines Kind zu weinen.
›Herr!‹ betet er, ›zürne mir nicht für diesen Eigenwillen, werfe mich auf den Grund der Hölle und befiehl deinen Teufeln, mich zu quälen, wie ich es verdient habe!‹
›Nein‹, denke ich mir, ›nein, es ist, Gott sei Dank, nicht der scharfsichtige Einsiedler Pamwa, es ist einfach ein geistesumnachteter Greis.‹ Ich dachte mir, daß doch niemand bei gesundem Verstand auf das Himmelreich verzichten und beten könne, Gott möge ihn zur Peinigung den Teufeln geben. Einen solchen Wunsch hatte ich in meinem ganzen Leben noch von niemand gehört, und so wandte ich mich von der Klage des Greises ab, da ich sie für eine Verrücktheit und eine von den Teufeln geschickte Versuchung hielt. Dann dachte ich mir, daß ich noch immer hier liege, während es doch Zeit zum Aufstehen sei; plötzlich sehe ich aber, wie sich die Türe öffnet und mein Lewontij hereintritt, den ich ganz vergessen hatte. Er tritt ein, fällt vor dem Starez nieder und sagt: ›Vater, ich habe alles vollbracht, jetzt segne mich!‹
Der Starez sieht ihn an und antwortet: ›Friede sei mit dir. Ruhe dich aus!‹
Und ich sehe, wie sich mein Jüngling vor ihm wieder bis zur Erde verneigt, hinausgeht und der Einsiedler wieder an seinen Bastschuhen arbeitet.
Da springe ich mit einem Male auf und denke: ›Nein, jetzt nehme ich schnell meinen Ljowa, und fort von hier!‹ Damit trete ich in den kleinen Vorraum und sehe dort meinen Jüngling ausgestreckt auf der Holzbank daliegen, die Hände auf der Brust gefaltet.
Um meine Unruhe nicht zu verraten, frage ich ihn laut: ›Weißt du vielleicht, wo ich Wasser schöpfen kann, um das Gesicht zu waschen?‹ Und ich setze flüsternd hinzu: ›Beim lebendigen Gott beschwöre ich dich, laß uns so schnell wie möglich von hier gehen!‹
Dabei sehe ich ihn genauer an und merke, daß Ljowa nicht atmet ... Er ist dahingegangen ... Gestorben ...
Und ich schreie mit einer Stimme, die wie eine fremde klingt: ›Pamwa, Vater Pamwa, du hast meinen Knaben getötet!‹
Aber Pamwa tritt leise auf die Schwelle und sagt freudig: ›Fortgeflogen ist unser Ljowa!‹
Mich packt der Zorn: ›Ja‹, antworte ich unter Tränen, ›er ist fortgeflogen. Du hast seine Seele hinausgelassen, wie eine Taube aus dem Käfig.‹
Und dann werfe ich mich zu den Füßen des Entschlafenen nieder und stöhne und weine, bis am Abend die Mönche aus dem kleinen Kloster kommen, seinen Leichnam waschen, in einen Sarg legen und davontragen, denn er war am Morgen, während ich schlief, zur herrschenden Kirche übergetreten.
Mit dem Vater Pamwa sprach ich kein Wort mehr. Was hätte ich ihm auch sagen können: Beschimpfte man ihn, so segnete er – hätte man ihn geschlagen, so würde er sich bis zur Erde verneigt haben. Unüberwindlich war dieser Mensch in seiner Demut! Wovor sollte er auch erschrecken, wenn ihm selbst die Hölle begehrenswert erschien? Nein, ich hatte nicht umsonst vor ihm gezittert und gefürchtet, daß er uns ansengen werde wie der Feuerbrand das Fett. Mit seiner Demut würde er selbst alle Teufel aus der Hölle vertreiben oder zu Gott bekehren. Wenn sie anfingen ihn zu quälen, würde er sie bitten: ›Peinigt mich grausamer, ich habe es verdient.‹ Nein, nein, solche Demut kann nicht einmal der Satan ertragen. Er würde sich beide Hände an ihm wundschlagen, würde sich die Nägel abreißen und dann selber seine ganze Ohnmacht vor Dem, der solche Liebe erschaffen, erkennen und in Scham vor Ihm vergehen!
So sagte ich mir denn, daß dieser Greis mit den Lindenbastschuhen der Hölle zum Verderben geschaffen sei. Und ich streifte die ganze Nacht im Wald umher, wußte selbst nicht, weshalb ich nicht das Weite suchte, und dachte unablässig: Wie mag er wohl beten, auf welche Weise, nach welchen Büchern? Und dabei fiel mir ein, daß ich bei ihm kein einziges Heiligenbild gesehen hatte, bloß ein Kreuz aus zwei mit Lindenbast aneinander gebundenen Stäbchen, und auch keine dicken Bücher.
›Gott!‹ erdreiste ich mich zu urteilen, ›wenn die herrschende Kirche nur zwei solche Menschen hat, so sind wir verloren, denn dieser Mensch ist ganz beseelt von Liebe.‹
Immer wieder muß ich an ihn denken, und gegen Morgen ergreift mich ein heftiges Verlangen, ihn vor meinem Weggang, wenn auch nur für einen Augenblick, wiederzusehen.
Kaum habe ich es gedacht, als ich wieder dasselbe Knistern vernehme, und der Vater Pamwa wieder mit Beil und Holzbündel aus dem Wald heraustritt und sagt: ›Was säumst du so lange? Beeile dich, dein Babylon zu errichten!‹
Dieses Wort schien mir bitter, und ich sagte: ›Weshalb machst du mir diesen Vorwurf? Ich errichte kein Babylon und scheide mich vom babylonischen Pfuhl.‹
Aber er antwortet: ›Was ist Babylon? Eine Säule des Dünkels, schmeichle dir nicht mit deiner Rechtschaffenheit, sonst verläßt dich dein Engel.‹
Ich sage: ›Vater, weißt du denn, weshalb ich wandere?‹ Und ich erzähle ihm unser ganzes Leid.
Und er hört alles an, hört und antwortet: ›Der Engel ist geduldig, der Engel ist mild; wie es der Herr ihm befiehlt, so kleidet er sich, was er ihm befiehlt, das wirkt er. Also ist der Engel! Er lebt in der Seele des Menschen, die Unwissenheit hat ihn versiegelt, aber die Liebe wird das Siegel zerbrechen.‹
Damit entfernte er sich von mir, aber ich kann die Augen nicht von ihm wenden, kann mich nicht bezwingen, falle nieder und verneige mich vor ihm bis zur Erde. Als ich das Gesicht erhebe, ist er nicht mehr da, ob ihn nun die Bäume verdeckten, oder ... Gott weiß, wohin er verschwunden ist.
Ich begann über seine Worte nachzudenken: Der Engel lebt in der Seele des Menschen und ist versiegelt, aber die Liebe wird ihn befreien, und plötzlich kommt mir in den Sinn: Wenn er selbst der Engel war, und Gott ihm befohlen hat, mir in dieser Gestalt zu erscheinen – so werde ich nun wie Lewontij sterben!
Von diesem Gedanken erfaßt, entsinne ich mich kaum mehr, wie ich auf einem Baumstamm über den Bach komme und zu laufen beginne: Sechzig Werst ohne Rast, immer in der Angst und der Vorstellung, den Engel gesehen zu haben, bis ich auf einmal ein Dorf erreiche und dort den Ikonenmaler Ssewastjan finde. Wir verständigten uns bald, besprachen alles und beschlossen, uns schon am nächsten Tag auf den Weg zu machen. Aber unsere Vereinbarung war ohne jede Wärme, und unsere Reise noch weniger, einmal weil der Ikonenmaler Ssewastjan ein nachdenklicher Mensch war, und dann wohl noch mehr, weil ich nicht mehr derselbe war wie zuvor. Vor meiner Seele stand der Einsiedler Pamwa, und meine Lippen flüsterten die Worte des Propheten Jesajas: ›Der Geist Gottes spricht aus dem Munde dieses Menschen.‹
Der Ikonenmaler Ssewastjan und ich legten den Rückweg rasch zurück und fanden, nachts bei unserer Baustelle angelangt, alles wohlbehalten vor. Nachdem wir die Unsrigen begrüßt hatten, gingen wir gleich zu Jakow Jakowlewitsch. Der verlangte voll Neugierde gleich, den Ikonenmaler zu sehen; er betrachtete dann in einem fort dessen Hände und zuckte nur mit den Achseln, weil seine Hände übergroß, wie Harken waren und ganz schwarz, wie auch Ssewastjan selbst schwarz wie ein Zigeuner aussah. Jakow Jakowlewitsch sagte ihm: ›Ich wundere mich, Bruder, wie du mit diesen Riesenhänden zeichnen kannst!‹
›Warum denn? Warum sollen meine Hände nicht dazu taugen?‹
›Du kannst doch‹, sagt er, ›etwas Kleines mit ihnen gar nicht ausführen?‹
Jener fragt: ›Warum?‹
›Ja, weil deinen Gelenken die Geschmeidigkeit fehlt.‹
Aber Ssewastjan erwidert: ›Das ist Unsinn! Können mir denn meine Finger etwas erlauben oder nicht erlauben? Ich bin ihr Herr, und sie sind meine Diener, die mir gehorchen.‹
Der Engländer lächelt: ›Also wirst du unseren versiegelten Engel nachbilden?‹
›Warum denn nicht?‹ antwortete jener. ›Ich gehöre nicht zu den Meistern, die ihr Werk fürchten, sondern mich fürchtet das Werk. So genau werde ich ihn nachbilden, daß Sie ihn vom echten nicht werden unterscheiden können.‹
›Gut‹, sagte Jakow Jakowlewitsch, ›wir werden uns unverzüglich bemühen, die echte Ikone herbeizuschaffen, in der Zwischenzeit beweise mir aber, um mich zu überzeugen, deine Kunstfertigkeit. Male meiner Frau eine Ikone nach altrussischer Art und so, daß sie ihr auch gefällt.‹
›Welchem Heiligen zu Ehren soll sie sein?‹
›Ja, das weiß ich nicht‹, antwortete er, ›ihr ist das gleich, nur daß es ihr gefällt.‹
Ssewastjan dachte nach und fragte: ›Worum betet denn deine Gemahlin am meisten zu Gott?‹
›Ich weiß nicht, mein Freund, ich weiß es nicht, aber ich denke, wahrscheinlich daß aus den Kindern ehrliche Menschen werden.‹
Ssewastjan dachte wieder nach und antwortete: ›Gut, ich werde ihren Geschmack treffen.‹
›Wie willst du ihn treffen?‹
›Ich werde etwas darstellen, was die Beschaulichkeit vertieft und dem Geist des Gebetes Ihrer Gemahlin wohlgefällig ist.‹
Der Engländer ließ für ihn im Dachstübchen seines eigenen Hauses alles herrichten, aber er arbeitete nicht dort, sondern setzte sich an das Fensterchen auf dem Dachboden über Luka Kirillows Stube und begann dort seine Tätigkeit.
Aber was er da gemacht hat, meine werten Herren, das hatten wir uns gar nicht vorgestellt. Als das Gespräch auf die Kinder kam, da dachten wir, er werde Roman den Wundertäter darstellen, zu dem man wegen Unfruchtbarkeit betet, oder den Kindermord in Jerusalem, was den Müttern, die ihre Fruchtbarkeit verloren haben, immer gefällt, weil Rahel dort mit ihnen über die Kinder weint und sich nicht trösten kann. Aber dieser kluge Ikonenmaler hatte erwogen, daß die Engländerin schon Kinder habe und nicht darum bete, daß der Himmel ihr welche schenke, sondern daß er den Charakter der Kinder festige, und malte etwas ganz anderes, was ihrem Streben nach mehr entsprechen mußte. Er wählte dazu ein altes Holztäfelchen, so groß wie eine Handfläche, und begann darauf seine Kunst zu zeigen. Vor allen Dingen trug er natürlich den Grund mit starkem Kasanschen Alabaster auf, daß er glatt und hart wie Elfenbein wurde; darauf teilte er das Täfelchen in vier gleiche Flächen und zeichnete auf jede eine besondere kleine Ikone, die er nochmals mit einer goldgemalten Fassung umrahmte. Das erste Quadrat stellte dar: die Geburt Johannes des Täufers mit acht Figuren, dem neugeborenen Kind und dem Gemach; das zweite die Geburt der hochheiligen Gottesmutter mit sieben Figuren, dem Kind und dem Gemach; das dritte die unbefleckte Geburt des Erlösers, den Stall und die Krippe, und davor stehend die Himmelskönigin, Joseph, die gottesfürchtigen Hirten, Salome und allerlei Vieh: Ochsen, Schafe, Ziegen und Esel, und die Möwe, die den Juden verboten ist, zum Zeichen, daß das Ganze nicht vom Judentum kommt, sondern von der Gottheit, die alles geschaffen hat. Auf dem vierten Bildchen ist die Geburt Nikolai des Wundertäters zu sehen; der Heilige wieder als neugeborenes Kind, das Gemach und viele Umherstehende. Soviel Sinn war darin enthalten, daß man vor sich die Erzieher so vieler guter Kinder sah, und soviel Kunst in all den stecknadelgroßen Figuren in ihrer Beseeltheit und Bewegung! So liegt bei der Geburt der Muttergottes die heilige Anna, wie es im griechischen Original dargestellt ist, auf dem Lager, und vor ihr stehen zymbelschlagende Mädchen und andere, die Gaben halten, und solche mit Sonnenschirmen in den Händen und wieder andere, die Lichter tragen. Die eine Frau hält die heilige Anna unter den Schultern, Joachim späht in die vorderen Gemächer; eine zweite Frau wäscht die heilige Gottesgebärerin bis zu den Lenden, ein danebenstehendes Mädchen gießt aus einem Gefäß Wasser in das Becken. Die Räume sind alle mit dem Zirkel voneinander getrennt, und in dem äußersten Gemach sitzen Joachim und Anna auf dem Thron, und Anna hält die hochheilige Gottesgebärerin; aber um das Gemach herum erheben sich steinerne Pfeiler mit roten Vorhängen, und draußen ist eine weiße und gelbe Mauer. Wunderbar, wunderbar hatte Ssewastjan das alles dargestellt, und in jedem kleinsten Gesichtchen hatte er das ganze Schauen Gottes ausgedrückt! Er nannte das Bild ›Fruchtbarkeit‹ und brachte es den Engländern. Die betrachteten es und schlugen die Hände zusammen: Niemals, sagten sie, hätten sie solche Phantasie erwartet und solche Feinheit der Kleinmalerei geahnt. Sie betrachteten es dann sogar noch mit dem Vergrößerungsglas und fanden auch damit keinen Fehler. Sie gaben Ssewastjan für die Ikone zweihundert Rubel und sagten: ›Kannst du noch kleiner darstellen?‹ – Ssewastjan antwortete: ›Ja.‹
›Dann kopiere mir auf meinen Fingerring das Porträt meiner Frau.‹
Aber Ssewastjan antwortet: ›Nein, das kann ich nicht.‹
›Warum denn nicht?‹
›Weil ich mich in dieser Kunst noch nie versucht habe, und dann auch weil ich meine Kunst nicht erniedrigen will, um nicht den Unwillen der Väter auf mich zu ziehen.‹
›Was ist das für ein Unsinn!‹
›Das ist durchaus kein Unsinn‹, antwortet er. ›Wir haben aus gottesfürchtiger Zeit eine Bestimmung, die auch in einem Patriarchenbrief bestätigt wird: Wenn einer zu einem so heiligen Werk wie die Ikonenmalerei berufen ist, so ist es einem geziemend lebenden Ikonenmaler geboten, nichts denn heilige Darstellungen zu malen.‹
Jakow Jakowlewitsch sagt darauf: ›Und wenn ich dir fünfhundert Rubel dafür gebe?‹
›Und wenn Sie mir fünfhunderttausend bieten würden, es wäre ganz gleich, Sie würden sie behalten.‹
Das Gesicht des Engländers strahlte, aber er sagte im Scherz zu seiner Frau: ›Wie gefällt dir das, daß er es für eine Erniedrigung hält, dein Gesicht zu malen?‹
Aber auf englisch fügte er hinzu: ›Oh, ein guter Charakter.‹
Und dann sagt er: ›Nun seht zu, Brüder, jetzt bringen wir die Sache zum Abschluß. Wie ich sehe, habt ihr für alles Regeln: Also nehmt euch jetzt in acht, um nichts zu versäumen oder zu vergessen, was irgendwie stören könnte.‹
Wir antworteten, daß wir nichts Derartiges voraussähen.
›Nun, dann gebt acht‹, sagt er, ›ich beginne.‹ Und dann fährt er zum Erzbischof mit der Bitte, er möge ihm erlauben, um seinen Eifer zu beweisen, die Beschläge des versiegelten Engels vergolden und den Rahmen neu malen zu lassen. Der Erzbischof will weder zusagen noch ihn abweisen, aber Jakow Jakowlewitsch gibt nicht nach und erreicht es endlich. Wir warteten indes schon, wie Pulver aufs Feuer.
Erlauben Sie, meine werten Herren, hier daran zu erinnern, daß seit dem Beginn meiner Geschichte ziemlich viel Zeit verflossen war und es schon auf Weihnachten ging. Aber dort ist das Wetter um diese Zeit mit dem unsrigen nicht zu vergleichen; es ist launisch, und einmal verbringt man diesen Feiertag bei Winterwetter, das anderemal vom Regen durchnäßt; den einen Tag friert es, den nächsten taut es; bald ist der Fluß mit schmutzigem Eise bedeckt, bald schwillt er an und führt Eisschollen wie beim Hochwasser im Frühling. Mit einem Wort, es herrscht dort um diese Zeit ganz unbeständiges Wetter, oder, wie man es in der Gegend nennt, Schlackwetter – und so war es auch jetzt.
In dem Jahr, in das meine Erzählung fällt, war diese Unbeständigkeit sehr verdrießlich. Während ich mit dem Ikonenmaler auf dem Weg war, hatten wir, ich weiß nicht wie oft, bald Winter-, bald Sommerwetter. Was unseren Bau betrifft, war die Zeit sehr dringend, da die sieben Pfeiler fertig waren und eben die Ketten von einem zum anderen Ufer gespannt wurden. Unsere Arbeitgeber wollten natürlich die Ketten so schnell wie möglich miteinander verbinden, um an ihnen eine Notbrücke zur Materialbeschaffung während des Hochwassers aufzuhängen. Es gelang aber nicht, denn kaum hatte man die Ketten gespannt, als ein derartiger Frost einsetzte, daß man die Arbeit an der Brücke einstellen mußte. So blieb es auch, die Ketten hingen ohne Brücke. Dafür schuf Gott eine andere Brücke: Der Fluß war zugefroren, und unser Engländer fuhr über das Eis des Dnjepr, um sich um unsere Ikone zu bemühen. Als er zurückkam, sagte er zu mir und Luka: ›Wartet, Kinder, morgen bringe ich euch euren Schatz.‹
Herrgott, was empfanden wir bei dieser Nachricht! Zuerst wollten wir es geheim halten und nur dem Ikonenmaler mitteilen; aber kann denn das Menschenherz so etwas für sich behalten? Anstatt das Geheimnis zu wahren, liefen wir zu allen Unsrigen, klopften an die Fensterchen, flüsterten miteinander und bemerkten gar nicht, daß wir von Hütte zu Hütte liefen. Der Schnee erstrahlte im Frost wie Edelsteine, und am klaren Himmel funkelte der Hesperus.
In dieser freudigen Hast verbrachten wir die ganze Nacht, und in der gleichen begeisterten Stimmung erwarteten wir den Tag. Vom frühen Morgen ab wichen wir keinen Schritt von unserem Ikonenmaler und wußten kaum, wohin wir ihm die Stiefel nachtragen sollten, denn jetzt war die Stunde da, in der alles von seiner Kunst abhing. Er brauchte nur einen Wunsch über eine Handreichung oder etwas Ähnliches laut werden zu lassen, als schon gleich zehn davonrannten und in ihrem Eifer übereinander stolperten. Selbst der alte Maroi lief sich die Absätze von den Stiefeln weg. Nur der Ikonenmaler selbst war ruhig, da er ähnliches schon mehr als einmal erlebt hatte, und bereitete sich ohne alle Hast zu seiner Arbeit vor: Er rührte Eiklar mit Kwas an, prüfte den Lack, legte ein altes Brettchen in der Größe der Ikone zurecht, richtete eine scharfe, haarfeine Säge her, spannte sie in einen starken Bogen, setzte sich dann an das Fensterchen und verrieb die voraussichtlich notwendigen Farben auf der Handfläche mit den Fingern. Wir hatten uns alle vor dem Ofen gewaschen, reine Hemden angezogen, und standen nun am Ufer und schauten nach der Stadt hinüber, aus der unser segenbringender Gast kommen sollte. Unsere Herzen schlugen bald hoch, bald verzagt.
Ach, was waren es für Augenblicke, und sie dauerten vom Morgengrauen bis gegen Abend. Endlich sehen wir, wie von der Stadt her der Schlitten des Engländers auf dem Eis daherjagt, gerade auf uns zu ... Uns alle überläuft ein Schauer, wir werfen die Mützen zur Erde und beten: ›Gott, Vater der Geister und der Engel, sei Deinen Knechten gnädig!‹ Und während des Gebetes fallen wir nieder auf den Schnee und breiten voll Verlangen die Hände aus, als wir plötzlich über uns die Stimme des Engländers hören: ›He, ihr Altgläubigen, da habe ich euch was mitgebracht!‹ Und er übergibt uns ein kleines Bündel in einem weißen Tuch.
Luka empfängt es und erstarrt: Er fühlt etwas zu Kleines und zu Leichtes darin. Er lüftet die eine Ecke des Tuches und sieht, daß es nur der Beschlag von unserer Ikone ist und nicht der Engel selbst.
Wir stürzen auf den Engländer zu und sagen ihm unter Weinen: ›Man hat Euch betrogen, Euer Gnaden, das ist nicht die Ikone, man hat Euch nur ihren silbernen Beschlag mitgegeben.‹
Aber der Engländer ist auf einmal nicht mehr derselbe, der er bis jetzt zu uns gewesen ist. Sicher hat ihn die Langwierigkeit der Sache verärgert, und er schreit uns an: ›Was faselt ihr da? Ihr habt mir doch selbst gesagt, daß ich nur um den Beschlag bitten solle, und den habe ich auch erbeten, aber ihr wißt einfach nicht, was ihr wollt!‹
Wir sehen, daß er aufgebracht ist, und versuchen ganz vorsichtig, ihm klarzumachen, daß wir die Ikone selbst brauchen, um eine Kopie von ihr herzustellen. Aber er hört uns nicht mehr an, jagt uns davon und erweist uns einzig die Gnade, zu befehlen, ihm den Ikonenmaler zu schicken.
Ssewastjan begibt sich zu ihm, und der Engländer fährt auch ihn auf ähnliche Weise an: ›Deine Bauern‹, sagt er, ›wissen nicht, was sie wollen, sie haben nur um den Beschlag gebeten und erklärt, daß du, um einen Abriß zu machen, nur die Maße brauchtest. Jetzt heulen sie, daß er ihnen nichts nütze. Aber ich kann weiter nichts tun, weil der Erzbischof das Bild selbst nicht hergibt. Also fälsche rasch das Bild, wir wollen es mit dem Beschlag bekleiden, und dann stiehlt mir der Sekretär das echte Bild.‹
Der Ikonenmaler Ssewastjan versucht, als verständiger Mensch, ihn mit milder Rede umzustimmen, und antwortet: ›Nein, Euer Gnaden, unsere Bauern verstehen ihre Sache schon; wir brauchen wirklich das Bild selbst. Das hat man nur zu unserer Kränkung ausgedacht, daß wir angeblich nur feststehende Nachahmungen malen könnten. Wir haben zwar Vorschriften, aber ihre Ausführung ist der freien Kunst überlassen. So ist uns beispielsweise vorgeschrieben, die Heiligen Sossima oder Gerassim mit dem Löwen abzubilden; der Phantasie des Heiligenmalers aber ist es freigestellt, den Löwen nach seiner Auffassung darzustellen. Ebenso wird der heilige Neophit mit einer Taube abgebildet. Konon Gradarij mit einem Blümchen, Timofej mit einem Heiligenschrein, Georgij und Ssawwa der Stratilate mit Lanzen und Kondrat mit Wolken, weil er die Wolken abgerichtet hat, aber jeder Ikonenmaler hat die Freiheit darzustellen, wie die Phantasie seiner Kunstfertigkeit es ihm erlaubt, und so kann ich wiederum nicht wissen, wie dieser Engel gemalt ist, den man vertauschen will.‹
Der Engländer hörte sich das alles an, aber dann jagte er den Ssewastjan wie uns hinaus; wir hören auch keine weiteren Entschlüsse mehr von ihm, und so sitzen wir, meine werten Herren, wie die Krähen am Flusse und wissen nicht, ob wir ganz verzweifeln oder ob wir noch hoffen sollen. Zum Engländer wagen wir uns nicht mehr, und nun beginnt auch noch das Wetter mit unsrer Stimmung wesenseins zu werden. Ein entsetzliches Tauwetter bricht an, es regnet ohne Unterlaß, der Himmel sieht tagsüber wie eine Rauchwolke aus und ist nachts so finster, daß der Hesperus, der doch sonst im Dezember kaum vom Himmelsbogen verschwindet, kein einziges Mal aufglänzt. Alles war düster wie in einem Gefängnis. Und ebenso begingen wir auch das Weihnachtsfest. Am Heiligenabend aber brach ein Gewitter los, und dann setzte ein Gußregen ein, der zwei Tage und zwei Nächte unaufhörlich niederströmte. Er schwemmte den ganzen Schnee weg und spülte ihn in den Fluß, auf dem das Eis blau zu werden und sich zu blähen begann, um am letzten Jahrestag zu bersten und stromabwärts zu treiben. In den trüben Wellen schiebt sich Scholle auf Scholle, und alles staut sich bei unseren Bauten. Berstend und krachend türmt sich das Eis zu Bergen und dröhnt – Gott verzeih es mir! – wie entfesselte Höllengeister. Daß die Pfeiler diesen Druck aushielten und stehen blieben, war erstaunlich. Millionen hätten verlorengehen können. Aber uns war es nicht darum zu tun: Unser Ikonenmaler Ssewastjan wurde ungeduldig, packte seine Sachen und wollte in andere Gegenden ziehen, weil er sah, daß er hier keine Arbeit erhalten werde, und wir konnten ihn durch nichts zurückhalten.
Auch der Engländer hatte anderes zu tun; das Unwetter hatte auf ihn solchen Eindruck gemacht, daß er fast von Sinnen gekommen ist: Er ging, wie man sich erzählte, immer umher und fragte alle, denen er begegnete: ›Wohin bloß, wohin?‹ Dann hatte er sich plötzlich beherrscht, ließ Luka zu sich rufen und sagte: ›Weißt du was, Bauer: Gehen wir deinen Engel stehlen!‹
Luka antwortete: ›Einverstanden!‹
Aus Lukas Erzählung war zu entnehmen, daß der Engländer geradezu danach dürstete, Gefahren auszukosten. Er hatte also vor, morgen zum Erzbischof in das Kloster zu fahren, den Ikonenmaler als einen Vergolder mitzunehmen und zu bitten, man möge ihm die Ikone zeigen, damit sein Begleiter eine genaue Kopie für die Beschläge anfertigen könne. Währenddessen würde Ssewastjan Gelegenheit haben, sich den Engel deutlich einzuprägen, um dann zu Hause eine Nachahmung herzustellen. Wenn dann der wirkliche Vergolder die Beschläge fertig hat, wird man sie zu uns über den Fluß herüberbringen, und Jakow Jakowlewitsch wird wieder ins Kloster fahren und den Wunsch äußern, dem festtäglichen Gottesdienst des Erzbischofes beizuwohnen. Er würde im Mantel in die Kapelle treten, sich in dem dunklen Altarraum an den Opfertisch stellen, hinter dem unsere Ikone auf dem Fenster steht, das Bild stehlen, es unter den Mantel stecken und jemandem befehlen, den Mantel, angeblich wegen der Hitze, hinauszutragen. Auf dem Hofe hinter der Kirche würde dann einer der Unsrigen das Bild aus dem Mantel in Empfang nehmen und mit ihm auf das andere Ufer eilen, und hier würde dann unser Ikonenmaler das alte Bild während des Gottesdienstes aus dem Rahmen lösen und das gefälschte hineinstellen, dann sollte es jemand so zurückschaffen, daß Jakow Jakowlewitsch es wieder aufs Fenster stellen könne, als sei nichts geschehen.
›Warum nicht?‹ sagten wir. ›Wir sind mit allem einverstandenen.‹
›Nur gebt acht‹, sagte er, ›und denkt daran, daß ich sonst als Dieb dastehe; aber ich will euch glauben, daß ihr mich nicht preisgebt.‹
Luka Kirillow antwortete: ›Wir sind nicht, Jakow Jakowlewitsch, solchen Geistes, daß wir unsere Wohltäter verraten. Ich werde die Ikone in Empfang nehmen und Ihnen die beiden zurückbringen, die echte und die Kopie.‹
›Nun, und wenn du durch etwas daran verhindert wirst?‹
›Was soll mich verhindern können?‹
›Nun, du stirbst plötzlich oder ertrinkst?‹
Luka dachte nach: Wie soll plötzlich ein derartiges Hindernis eintreten? Aber dann bedenkt er, daß etwas Derartiges in der Tat vorkommen könne, daß der Schatzgräber den Schatz finde, aber auf dem Weg zum Markt einem tollen Hund begegne – und er antwortete: ›Für diesen Fall, gnädiger Herr, lasse ich Ihnen einen Menschen zurück, der die ganze Schuld auf sich nimmt und selbst den Tod erduldet, Sie aber nicht preisgibt.‹
›Und wer ist es, auf den du dich so verläßt?‹
›Der Schmied Maroi‹, antwortete Luka.
›Dieser Alte?‹ – ›Ja, er ist nicht jung.‹
›Aber er sieht gar zu einfältig aus!‹
›Wir brauchen auch seinen Verstand nicht. Aber er ist ein Mensch, der würdigen Geist in sich trägt.‹
›Was für ein Geist kann denn in einem dummen Menschen wohnen?‹
›Der Geist, Herr‹, antwortete Luka, ›wird nicht nach dem Verstand bemessen, der Geist atmet, wo er will, und wächst gleich dem Haar bei dem einen lang und üppig und bei dem andern spärlich.‹
Der Engländer überlegte: ›Gut, gut. Das sind alles interessante Empfindungen. Aber wie soll er mir heraushelfen, wenn ich in die Patsche gerate?‹
›Das macht er so‹, antwortete Luka. ›Sie werden in der Kirche am Fenster und Maroi draußen vor dem Fenster stehen. Bin ich dann bis zum Schluß des Gottesdienstes nicht mit dem Bild gekommen, so wird Maroi die Scheibe einschlagen, durch das Fenster steigen und alle Schuld auf sich nehmen.‹
Das gefiel dem Engländer: ›Interessant‹, sagte er, ›interessant. Aber warum soll ich dem dummen Menschen mit dem Geist glauben, daß er nicht selbst davonläuft?‹
›Nun, das ist eben Sache des gegenseitigen Vertrauens.‹
›Gegenseitiges Vertrauen‹, wiederholte er .... ›Hm, gegenseitiges Vertrauen! Soll ich für einen dummen Bauern nach Sibirien oder er für mich unter die Knute? Hm, hm, wenn er sein Wort hält ... unter die Knute .... Das ist interessant.‹
Man schickte nach Maroi, erklärte ihm, worum es sich handle, und er sagte, ›Nun, was ist dabei?‹
›Und du wirst nicht davonlaufen?‹ fragte der Engländer.
Maroi antwortete: ›Warum denn?‹
›Damit man dich nicht peitscht und nach Sibirien verschickt.‹
Aber Maroi erwiderte: ›Nun, weiter nichts?‹
Der Engländer ist vor Freude lebendig geworden: ›Reizend‹, sagt er, ›wie interessant!‹
Gleich nach der Unterredung begann die Aktion. Am Morgen setzten wir die große herrschaftliche Barkasse in Stand und fuhren den Engländer ans andere Ufer. Dort setzte er sich mit dem Ikonenmaler Ssewastjan in eine Kalesche und fuhr zum Kloster. Nach einer guten Stunde sehen wir unseren Ikonenmaler dahereilen mit einem Blatt in den Händen.
Wir fragen: ›Hast du sie gesehen, Teurer, und kannst du sie jetzt nachmachen?‹
›Ich habe sie gesehen‹, antwortet er, ›und werde sie genau treffen, vielleicht wird sie etwas lebhafter in den Farben, aber das ist kein Unglück, denn wenn die echte Ikone herkommt, werde ich in einem Nu das Leuchten der Farben dämpfen.‹
›Väterchen‹, bitten wir, ›gib dir Mühe!‹
›Schon gut‹, erwiderte er, ›werde mich schon bemühen.‹
Und kaum hatten wir ihn zurückgerudert, als er sich auch gleich an seine Arbeit setzte, und um die Dämmerung war der Engel auf dem Täfelchen fertig und glich unserem versiegelten wie ein Tropfen Wasser dem andern, nur die Farben schienen etwas frischer.
Gegen Abend schickte der Vergolder die neuen Beschläge, und nun kam die gefährliche Stunde unseres Diebstahls.
Wir hatten, wie es sich versteht, alles vorbereitet und warteten auf den gegebenen Augenblick. Kaum ließen sich vom anderen Ufer her die ersten Glockenklänge zur Abendmesse vernehmen, als wir zu dritt ein Boot bestiegen, ich, Luka und der alte Maroi, der ein Beil, einen Meißel, eine Brechstange und ein Seil mitgenommen hatte, um mehr einem Dieb zu gleichen. Wir steuerten gerade auf die Klostermauer zu.
Die Dämmerung bricht um diese Jahreszeit früh an, und obwohl es Vollmondwoche war, blieb die Nacht pechschwarz, eine richtige Diebesnacht. Am anderen Ufer angelangt, ließen Maroi und Luka mich im Boot zurück und schlichen zum Kloster hinauf. Ich wartete voll Ungeduld. Die Ruder hatte ich ins Boot genommen, das ich an einem Strickende am Ufer festhielt, und war bereit abzustoßen, sobald Luka seinen Fuß ins Boot setzen würde. In der Besorgnis, wie alles gelänge und ob wir die Spuren unseres Diebstahls rechtzeitig verwischen könnten, erschien mir die Zeit schrecklich lang. Es dünkte mir, es sei schon viel Zeit verstrichen. Die Dunkelheit war entsetzlich, der Wind fegte nun statt Regen nassen Schnee daher. Das Boot schaukelte, und ich treuloser Knecht begann, mich allmählich in meinem Mantel erwärmend, einzuschlummern. Plötzlich beginnt das Boot unter einem Stoß zu schwanken, ich zucke zusammen und sehe den Onkel Luka im Boot stehen, der mit fremder, gepreßter Stimme sagt: ›Rudere!‹
Ich ergreife die Ruder, kann sie aber vor Schreck nicht in die Dollen einlegen. Schließlich gelingt es mir, ich stoße vom Ufer ab und frage: ›Onkel, habt ihr den Engel bekommen?‹
›Ich habe ihn, rudere stärker!‹
›Erzähle doch‹, forsche ich weiter, ›wie habt ihr ihn bekommen?‹
›Genau wie es geplant war.‹
›Werden wir noch rechtzeitig zurückkommen können?‹
›Wir müssen es können: Eben erst haben sie mit der großen Litanei begonnen. Rudere! Wohin ruderst du?‹
Ich sehe mich um: Großer Gott, ich rudere wirklich nicht in unsere Richtung, und doch scheint es mir, als ob ich quer über die Strömung hielte, aber unsere Siedlung ist nicht zu sehen, weil Schnee und Sturm schrecklich daherfegen und mich blind machen. Ringsum heult der Wind und schaukelt das Boot, und oben vom Fluß weht es wie von Eis her.
Aber mit Gottes Gnade erreichen wir das Ufer, springen beide aus dem Boot und laufen, was wir laufen können. Der Ikonenmaler ist schon bereit; er handelt kaltblütig und entschlossen. Vor allem nimmt er die Ikone, und als alle vor ihr niederfallen und sich verneigen, läßt er sie den versiegelten Engel küssen und schaut selbst bald auf ihn, bald auf die Kopie und sagt: ›Sie ist gut! Man muß sie nur ein wenig mit Safran dämpfen und etwas mit schmutziger Farbe tönen.‹ Damit nimmt er die Ikone, spannt sie in den Schraubstock, richtet die Säge her ... und dann fliegt sie nur. Wir alle stehen herum und schauen voller Angst zu, ob er die Ikone nicht beschädige. Stellen Sie sich vor, wie er mit seinen übergroßen Händen das Bild, das kaum stärker als ein Blättchen dünnsten Schreibpapieres ist, vom Brett abtrennt. Wie leicht ist da ein Unglück geschehen: Wenn die Säge nur um ein Haar schief geht, so schneidet sie es durch und zerreißt das Antlitz! Der Ikonenmaler Ssewastjan aber verrichtete die schwierige Arbeit mit solcher Kaltblütigkeit und Kunstfertigkeit, daß es einem, wenn man ihn dabei betrachtete, gleich ruhig ums Herz wurde. Wie er das Bild als dünnste Schicht abgetrennt hat, schneidet er in einem Augenblick das Ausgesägte aus den Rändern heraus, nimmt seine Kopie, zerknittert sie in der Faust und schlägt sie dann auf die Tischkante, als wolle er sie zerreißen und vernichten; schließlich betrachtet er die Leinwand gegen das Licht, und nun ist das neue Bildchen voller Sprünge wie ein feines Sieb, Ssewastjan klebt es nun auf das alte Brett, nimmt dunkle Schmutzfarbe auf die Hand, mischt sie mit dem Finger mit Safran und altem Firnis zu einer Art Kitt und reibt damit kräftig, mit der vollen Handfläche das zerknitterte Bildchen ein. Dies alles hatte er mit großer Schnelligkeit vollführt, und nun sah die neue Ikone aus wie eine alte und glich aufs genaueste der echten.
Dann wurde die Kopie in einem Nu mit Lack bedeckt, und wir setzten sie in den Rahmen. Nun nahm Ssewastjan das echte, vom Brett abgetrennte Bild und verlangte so schnell wie möglich einen Fetzen von einem alten Filzhut.
Damit begann der äußerst schwierige Prozeß der Entsiegelung.
Man gab dem Ikonenmaler einen Hut, und er zerriß ihn sofort über dem Knie in zwei Teile, bedeckte mit dem einen den versiegelten Engel und schrie: ›Das heiße Plätteisen!‹
Im Ofen lag auf sein Geheiß ein schweres Schneiderbügeleisen. Michailiza packte es mit der Ofengabel und reichte es Ssewastjan. Jener umwickelte den Griff mit einem Lappen, spuckte auf das Eisen und legte es auf den Filzfetzen. Von dem Filz steigt ein böser Gestank auf, aber der Ikonenmaler wiederholt es noch und noch einmal und nimmt es dann plötzlich weg. Seine Hand fliegt wie der Blitz; der Rauch steigt schon in einer Säule hoch, aber Ssewastjan versteht zu backen: Mit der einen Hand dreht er langsam den Filzlappen und mit der anderen führt er geschickt das Eisen. Mit jedem Mal fährt er langsamer, aber fester darüber und dann wirft er plötzlich den Fetzen und das Eisen weg und hält die Ikone ans Licht: Das Siegel ist fort, als wäre es nie dagewesen! Der starke Stroganower Lack hat standgehalten, der Siegellack ist vollständig verschwunden, nur ein schwacher roter Tau ist zurückgeblieben, aber das leuchtende, heilige Antlitz ist jetzt ganz zu sehen.
Der eine weint, der andere betet, der dritte beugt sich über die Hände des Ikonenmalers, um sie zu küssen, nur Luka Kirillow vergißt seine Aufgabe nicht, sondern kargt mit jeder Minute. Er reicht Ssewastjan die Kopie und sagt: ›Nun, mach schneller fertig!‹
Aber jener antwortet: ›Mein Werk ist beendet, ich habe alles getan, was ich übernommen habe.‹
›Und das Siegel aufdrücken?‹
›Wohin?‹
›Ja hierher, auf das Gesicht des neuen Engels, wie es bei jenem alten war.‹
Aber Ssewastjan schüttelt den Kopf und antwortet: ›Nein, ich bin kein Beamter, daß ich mich erfrechen würde, so etwas zu tun.‹
›Was sollen wir nun anfangen?‹
›Ja, das weiß ich doch nicht. Ihr hättet dafür einen Beamten oder einen Deutschen herbitten sollen. Das habt ihr jetzt versäumt, nun tut es selbst.‹
Luka erwidert: ›Was glaubst du wohl! Um nichts in der Welt werden wir uns dazu erfrechen.‹
Und der Ikonenmaler antwortet: ›Auch ich werde mich nicht erfrechen.‹
Während der wenigen Minuten dieses Streites stürzt die Frau Jakow Jakowlewitschs totenbleich ins Zimmer und spricht: ›Seid ihr denn noch nicht fertig?‹
Wir antworten, wir seien fertig und auch wieder nicht fertig: Das Wichtige sei vollbracht, aber eine Kleinigkeit vermöchten wir nun nicht.
Sie erwidert: ›Auf was wartet ihr denn? Hört ihr denn nicht, was sich draußen tut?‹
Wir horchen und erbleichen noch mehr als sie. In unserer Sorge hatten wir dem Wetter keine Aufmerksamkeit geschenkt, und nun hören wir es draußen toben: Das Eis geht!
Ich springe hinaus und sehe, wie das Eis schon über den ganzen Fluß treibt, wie die Schollen krachend und berstend übereinander springen. Besinnungslos stürze ich zu den Booten ... Kein einziges ist mehr da, alle sind fortgeschwemmt. Mir stockt die Zunge im Mund, so daß ich kein Wort über die Lippen bringe, und mir scheint es, ich versinke in die Erde ... Ich stehe da ... rühre mich nicht ... und gebe keinen Laut von mir.
Aber während wir hier im Dunkeln umherirren, hatte die Engländerin, die mit Michailiza in der Stube zurückgeblieben war, die Ursache der Verzögerung erfahren, die Ikone ergriffen ... und einen Augenblick später eilt sie, in der einen Hand eine Laterne haltend, mit dem Bild auf die Treppe hinaus und schreit: ›Nehmt! Fertig!‹ Wir schauen hin: Auf dem Antlitz des neuen Engels ist das Siegel!
Luka steckt die beiden Ikonen sofort in den Busen und schreit: ›Das Boot!‹
Ich eröffne ihm, daß kein Boot da ist, daß alle fortgetrieben sind. Und ich sage Ihnen, das Eis treibt daher wie eine Herde, zerschellt an den Pfeilern und erschüttert die Brücke, so daß die armdicken Ketten dröhnen.
Wie die Engländerin das hört, wirft sie die Hände empor und schreit mit unmenschlicher Stimme: ›James!‹ Und sie fällt in Ohnmacht.
Und wir stehen dabei und fühlen nur das eine: ›Wo bleibt jetzt unser Wort? Was wird jetzt mit dem Engländer, was mit dem alten Maroi?‹
Eben ertönt vom Glockenturm des Klosters das dritte Läuten.
Da rafft sich Onkel Luka auf und ruft der Engländerin zu: ›Komm zu dir, Gnädige, deinem Mann wird nichts geschehen. Vielleicht wird der Henker das alte Fell unseres Maroi peitschen und sein ehrliches Gesicht mit dem Brandzeichen entehren, aber das soll erst nach meinem Tod geschehen.‹ Dabei bekreuzigt er sich und geht.
Ich schreie ihm zu: ›Onkel Luka, wo willst du hin? Lewontij ist umgekommen, auch du wirst es!‹ Und ich eile ihm nach, um ihn aufzuhalten. Allein er hebt das vor seinen Füßen liegende Ruder auf, das ich bei unserer Ankunft auf die Erde geworfen habe, schwingt es über mich und schreit: ›Fort, oder ich schlage dich tot!‹
Meine werten Herren, ich habe mich in meiner Erzählung offen genug als kleinmütig bekannt, als ich den verstorbenen Knaben Lewontij auf der Erde seinem Schicksal überließ und selbst auf einen Baum kletterte; aber ehrlich und offen sage ich Ihnen, daß ich hier vor dem Ruder Onkel Lukas nicht erschrocken und auch nicht zurückgewichen wäre ... aber, ob Sie es mir glauben oder nicht, in dem Augenblick, als ich mich des Namens Lewontijs erinnerte, sah ich, wie die Gestalt des Jünglings zwischen mir und Luka in der Dunkelheit erstand und drohend gegen mich die Hand erhob. Diesen Schrecken konnte ich nicht ertragen, und ich wich zurück. Aber Luka stand schon am Ende der Kette und rief uns plötzlich, den einen Fuß auf die Kette setzend, zu: ›Stimmt den Chor an!‹
Unser Vorsänger Arefa steht bei uns, vernimmt es und beginnt sogleich: ›Ich öffne die Lippen.‹ Die anderen fallen ein, und so schreien wir den Chor dem Sturmgeheul entgegen, und Luka bangt nicht vor den Todesschrecken und schreitet über die Brückenketten weiter. Binnen einer Minute hat er das erste Joch zurückgelegt und steigt zum zweiten nieder ... Und weiter? Die Dunkelheit umfängt ihn, er ist nicht mehr zu sehen: Ob er noch geht oder schon herabgestürzt ist und von den verfluchten Schollen in den Strudel getrieben wird, wir wissen es nicht, wir wissen nicht, ob wir für seine Rettung oder für die ewige Ruhe seiner starken, liebenswerten Seele beten sollen.
Was war inzwischen am anderen Ufer geschehen? Seine Eminenz der Erzbischof zelebrierte wie gewöhnlich die Abendmesse und ahnte nicht, daß inzwischen am Nebenaltar ein Diebstahl ausgeführt wurde. Unser Engländer Jakow Jakowlewitsch, der mit seiner Erlaubnis an diesem Altar stand, stahl den Engel und schickte ihn, wie er es geplant hatte, mit seinem Mantel hinaus, wo Luka mit ihm davoneilte. Der alte Maroi blieb seinem Worte getreu vor demselben Fenster stehen und wartete bis zur letzten Minute. Kehrte Luka nicht zurück, so würde er, gleich nachdem sich der Engländer zurückgezogen hätte, das Fenster einschlagen und mit der Brechstange und dem Meißel wie ein wirklicher Dieb durch das Fenster in die Kirche steigen. Der Engländer wendet kein Auge von ihm und sieht, wie der alte Maroi, gehorsam und seinem Versprechen getreu, dasteht und ihm zunickt, wenn er das Gesicht des Engländers dem Fenster zugewendet erblickt, als ob er sagen wollte: ›Hier bin ich, der verantwortliche Dieb‹.
So beweisen sie einander ihren Edelmut, und keiner will dem anderen gestatten, ihn im gegenseitigen Vertrauen zu übertreffen. Aber zu ihrer beider Glauben gesellt sich noch ein dritter, stärkerer, von dessen Wirken sie jedoch nichts wissen. Als der letzte Glockenschlag der Nachtmesse verklungen war, öffnet der Engländer leise das Klappfenster, damit der alte Maroi hereinsteige, und war schon im Begriff, sich zurückzuziehen, als er plötzlich bemerkte, daß sich der alte Maroi abgewendet hatte, ihn nicht mehr ansah, sondern gespannt nach dem Fluß hinüberschaute und in einem fort wiederholte: ›Helfe ihm Gott herüber, helfe ihm Gott herüber, helfe ihm Gott herüber!‹
Dann sprang er plötzlich auf, tanzte wie betrunken und schrie: ›Gott hat ihm herübergeholfen, Gott hat ihm herübergeholfen!‹
Jakow Jakowlewitsch geriet in helle Verzweiflung und dachte: ›Jetzt ist es zu Ende: Der dumme Alte ist verrückt geworden, ich bin verloren!‹ Da sieht er auf einmal, wie Maroi den Luka umarmt.
Der alte Maroi stammelt: ›Ich habe geschaut, wie du mit Laternen über die Ketten gingst.‹
Luka erwidert: ›Ich hatte keine Laterne dabei.‹
›Woher kam das Leuchten?‹
Luka antwortet: ›Ich weiß nicht, ich habe kein Leuchten gesehen, ich bin so schnell gelaufen, wie ich konnte, und weiß nicht einmal, wie ich herübergekommen und nicht gefallen bin.‹
›Das waren Engel ... ich habe sie gesehen, und darum überlebe ich diesen Tag nicht und sterbe noch heute.‹
Luka aber hat keine Zeit, viel zu reden, und so antwortet er dem Alten nicht, sondern reicht dem Engländer beide Ikonen durch das Fenster.
Der nimmt sie und fragt: ›Warum ist kein Siegel darauf?‹
Luka fragt: ›Wieso ist keines?‹
›Ja, es ist keines.‹
Da bekreuzigt sich Luka und sagt: ›Nun ist es aus. Jetzt ist keine Zeit, es auszubessern. Dieses Wunder hat der Engel der herrschenden Kirche vollbracht, und ich weiß weshalb.‹
Damit stürzt Luka in die Kirche, drängt sich in den Altarraum, wo man den Erzbischof eben entkleidet, wirft sich ihm zu Füßen und spricht:
›Ich bin ein Gotteslästerer, und das habe ich getan!‹ Und er erzählt ihm alles. ›Nun befehlen Sie, daß man mich in Ketten legt und ins Gefängnis abführt.‹
Der Bischof hört voll Würde alles an und antwortet: ›Durch Betrug habt ihr das Siegel von eurem Engel genommen, unser Engel hat es selbst von sich genommen und dich hergeführt.‹
Luka erwidert: ›Ich sehe es, Eminenz, und erbebe. Befehlen Sie nur rasch, daß man mich dem Strafgericht überliefert.‹
Aber der Erzbischof antwortet in vergebendem Ton: ›Kraft der mir von Gott gegebenen Gewalt vergebe ich dir und spreche dich los. Bereite dich vor, morgen Christi allerreinsten Leib zu empfangen.‹
Nun, und weiter, meine werten Herren, glaube ich, daß ich Ihnen nichts mehr zu erzählen habe. Luka Kirillow und der alte Maroi kehrten am nächsten Morgen zurück und sagten: ›Väter und Brüder, wir haben die Herrlichkeit des Engels der herrschenden Kirche gesehen, die Vorsehung Gottes über ihr und die Güte ihres Hierarchen; wir sind selbst von ihm mit dem heiligen Öl gesalbt worden und haben heute bei der Messe den Leib und das Blut des Erlösers empfangen.‹
Ich trug in mir schon lange, seit dem Besuch beim Starez Pamwa, das Verlangen, mich im Geiste mit ganz Rußland zu vereinigen und rief: ›Und wir gehen mit dir, Onkel Luka!‹
Und so versammelten wir uns alle zu einer Herde, wie Schäflein unter einem Hirten, und hatten kaum begriffen, wozu und wohin der versiegelte Engel uns alle geführt hatte, warum seine Wege zu Beginn verworren waren, und wie er sich dann der Menschenliebe willen entsiegelte, die sich in jener schrecklichen Nacht offenbarte.«
Der Erzähler war zu Ende. Die Hörer schwiegen; schließlich aber räusperte sich jemand und bemerkte, daß in dieser Geschichte alles zu erklären sei: Michailizas Träume, die Erscheinung, die sie im Halbschlaf erblickte, das Herunterfallen des Engels, den eine hereingelaufene Katze oder ein Hund herabgestoßen hatte, auch Lewontijs Tod, der schon vor seiner Begegnung mit Pamwa krank gewesen war, das alles sei erklärlich. Zu erklären sei schließlich auch die zufällige Erfüllung der Worte des in Rätseln sprechenden Pamwa.
»Begreiflich ist auch«, fügte der Hörer hinzu, »daß Luka mit dem Ruder über die Ketten gegangen ist: die Maurer sind bekannt als Meister im Steigen und Klettern, und mit dem Ruder hatte er das Gleichgewicht gehalten. Es ist schließlich auch begreiflich, daß Maroi um Luka ein Leuchten gesehen hat, das er für Engel hielt. Einem aufs äußerste gespannten, vor Kälte erstarrten Menschen mag allerlei vor den Augen flimmern! Ich würde es selbst noch begreiflich finden, wenn zum Beispiel der alte Maroi, seiner Voraussage nach, den Tag nicht überlebt hätte ...«
»Er hat ihn nicht überlebt«, erwiderte Mark.
»Vortrefflich! Auch hierin ist nichts Verwunderliches, wenn ein achtzigjähriger Greis nach solchen Aufregungen und einer derartigen Erkältung stirbt. Aber was mir in der Geschichte ganz unerklärlich bleibt, ist, wie das Siegel, das die Engländerin auf den neuen Engel gedrückt hatte, verschwinden konnte?«
»Nun, das ist gerade das Allereinfachste«, sagte Mark heiter und erzählte, wie man bald darauf das Siegel zwischen Beschlag und Bild gefunden habe.
»Wie konnte das geschehen?«
»Nun so: Auch die Engländerin wollte sich nicht erdreisten, das Gesicht des Engels zu beschädigen, und so befestigte sie das Siegel auf einem Papier, das sie unter den Beschlag schob. Das war sehr klug und kunstfertig von ihr gehandelt, als aber Luka die Heiligenbilder auf seiner Brust beim Tragen erschütterte, fiel das Siegel ab.«
»Nun, jetzt ist also die ganze Geschichte einfach und natürlich.«
»Ja, so schließen viele, daß hier alles auf ganz gewöhnliche Weise vor sich gegangen sei, und nicht nur die gebildeten Herrschaften, denen sie bekannt geworden ist, sondern auch die Unsrigen, die im Schisma verblieben sind, lachen darüber, daß uns eine Engländerin mit einem Papierchen der Kirche zugeschoben habe. Aber wir streiten nicht gegen solche Beweise. Jeder beurteilt es so, wie er es glaubt, uns aber ist es gleich, auf welchen Wegen der Herr den Menschen zu finden weiß und aus welchem Gefäß er ihn tränkt, wenn er ihn nur sucht und seinen Durst nach Vereinigung mit dem Vaterlande stillt. – Aber da kommen schon die Fell-Bauern aus dem Schnee gekrochen. Haben sich anscheinend ausgeruht, die Herzigen, und werden gleich weiterfahren. Vielleicht nehmen sie mich ein Stück mit. Die Wassilijnacht ist vorbei. Ich habe Sie ermüdet und Ihnen vielerlei von mir berichtet. Dafür habe ich die Ehre, Sie zum neuen Jahr zu beglückwünschen, und verzeihen Sie mir Unwissendem um Christi Willen!«