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Anläßlich der Kreutzersonate

Aus dem Nachlaß

 

»Jedes Mädchen steht moralisch höher als der Mann, weil es unvergleichlich reiner ist. Ein Mädchen, das geheiratet hat, steht immer höher als sein Mann. Sie steht höher als er, als Mädchen und auch als Frau in unserm Leben.«

L. Tolstoi

 

Erstes Kapitel

Man begrub Fjodor Michailowitsch Dostojewskij. Das Wetter war rauh und trübe. Ich fühlte mich an diesem Tage krank und vermochte dem Sarg nur mit Mühe bis zum Tor des Newskij-Klosters zu folgen. Vor dem Tor herrschte ein großes Gedränge. In der Menge hörte man Stöhnen und Schreien. Auf einer Erhöhung erschien der Dramendichter Awerkijew und schrie irgend etwas. Er hatte eine laute Stimme, aber man konnte seine Worte nicht verstehen. Die einen sagten, er wolle Ordnung schaffen, und lobten ihn dafür, die anderen ärgerten sich über ihn. Ich war unter denen, die keinen Einlaß gefunden hatten, und da ich keinen Sinn sah, noch länger hier zu bleiben, ging ich nach Hause, trank heißen Tee und schlief ein. Von der Kälte und den verschiedenartigen Eindrücken fühlte ich mich sehr müde. Ich schlief lange und so fest, daß ich zum Mittagessen nicht aufstand. So kam ich an jenem Tag nicht dazu, zu Mittag zu essen, weil zu der Summe verschiedenartiger Eindrücke noch ein neuer, unerwarteter hinzu kam, der mich äußerst erregte.

In der späten Dämmerung weckte mich mein Mädchen und sagte, daß eine unbekannte Dame gekommen sei, die nicht weggehen wolle und beharrlich bitte, ich möge sie empfangen. Damenbesuche bei unsereinem, einem bejahrten Schriftsteller, sind eine ganz gewöhnliche Sache. Zahlreiche Damen und Mädchen kommen zu uns, um sich mit uns über ihre literarischen Versuche zu beraten oder uns um unsere Unterstützung beim Unterbringen ihrer Erzeugnisse bei ihnen unbekannten Redaktionen zu bitten. Deshalb kamen mir der Besuch der Dame und ihre Hartnäckigkeit durchaus nicht erstaunlich vor. Wenn das Leid groß ist und die Not nicht weichen will, ist es nicht verwunderlich, wenn man hartnäckig wird.

Ich sagte dem Mädchen, sie solle die Dame ins Arbeitszimmer bitten, und machte mich zurecht. Als ich mein Kabinett betrat, brannte auf dem großen Tisch die Arbeitslampe. Ihr heller Schein beleuchtete nur ihn und ließ das Zimmer im Halbdunkel. Die unbekannte Dame, die mich diesmal besuchte, war mir in der Tat nicht bekannt.

Als ich sie genauer betrachtete und sie bitten wollte, im Sessel Platz zu nehmen, schien es mir, als wiche sie den erleuchteten Zimmerstellen aus und trachte danach, im Schatten zu bleiben. Das kam mir sonderbar vor. Auf solche Weise zieren und genieren sich manchmal schüchterne, ungewandte Leute, aber am sonderbarsten erschien mir die bevorzugte gesellschaftliche Stellung der Dame, die sich mir irgendwie fühlbar mitteilte. Sie war entzückend gekleidet, ganz einfach, aber alles an ihr war kostspielig und elegant: der reizende Plüschmantel, den sie nicht im Vorzimmer abgelegt hatte und während unseres ganzen Gespräches anbehielt; das elegante schwarze Hütchen, anscheinend kein russisches Erzeugnis, sondern Pariser Modell; der hinten geknotete schwarze Schleier, durch dessen doppeltes Netz ich nur das weiße, runde Kinn und manchmal das Aufleuchten der Augen sehen konnte. Statt mir ihren Namen und den Zweck ihres Besuches zu sagen, begann sie mit folgenden Worten: »Darf ich darauf rechnen, daß Sie sich für meinen Namen nicht interessieren werden?«

Ich antwortete ihr, daß sie durchaus darauf rechnen dürfe. Darauf bat sie, ich möchte mich auf den Stuhl vor der Lampe setzen, und schob dann ungeniert den grünen Taftschirm so zurecht, daß das ganze Licht auf mich fiel und ihr Gesicht im Schatten blieb.

Dann setzte sie sich an das andere Ende des Tisches und fragte von neuem: »Sie haben keine Familie?«

Ich antwortete, sie irre sich nicht, ich sei alleinstehend.

»Kann ich ganz offen mit Ihnen sprechen?«

Ich antwortete, daß ich keinen Grund sähe, der sie hindern könnte, zu sprechen, wie es ihr beliebe, wenn sie Vertrauen zu mir habe.

»Wir sind hier allein?« – »Ganz allein!«

Die Dame stand auf und machte zwei Schritte in der Richtung des Zimmers, in dem sich meine Bibliothek befand und hinter dem mein Schlafzimmer lag. In der Bibliothek brannte eine matte Lampe, bei deren Schein man das ganze Zimmer überschauen konnte. Ich rührte mich nicht von der Stelle, sagte aber zur Beruhigung der Dame, sie sähe doch selbst, daß bei mir niemand sei, außer der Bedienung und einer kleinen Waise, die bei ihren Erwägungen keinerlei Rolle spielen könnten. Hierauf setzte sie sich von neuem auf ihren Platz, rückte wieder an dem grünen Schirm und sagte: »Sie entschuldigen mich, ich bin in großer Erregung, und mein Benehmen mag sonderbar erscheinen, aber haben Sie Mitleid mit mir!«

Ihre Hand, die sie wieder zum Taftschirm der Lampe erhoben hatte, stak in einem schwarzen Glacéhandschuh und zitterte heftig.

Statt zu antworten, bot ich ihr Wasser an. Sie hielt mich zurück und sagte: »Es ist nicht nötig, ich bin nicht so nervös, ich bin zu Ihnen gekommen, weil dieses Begräbnis, diese Menschenketten ..., dieser Mensch, der auf mich einen so außergewöhnlich starken, zwingenden Eindruck gemacht hat, dieses Gesicht und die Erinnerung an all das, was ich zweimal im Leben erzählen mußte, alle meine Gedanken verwirrt haben. Wundern Sie sich nicht, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Ich werde Ihnen erzählen, warum ich es getan habe; es macht nichts, daß wir einander nicht kennen: Ich habe viel von Ihnen gelesen, und vieles war mir so sympathisch, so verwandt, daß ich es mir nicht versagen kann, mit Ihnen zu sprechen. Vielleicht ist das, was ich vorhabe, eine ganz große Dummheit. Ich will Sie vorher fragen, und Sie müssen mir aufrichtig antworten. Was Sie mir raten, das werde ich tun.«

Ihre tiefe Altstimme bebte, und ihre Hände, für die sie keinen Platz fand, zitterten.

Zweites Kapitel

Besuche und Anliegen dieser Art waren im Laufe meines literarischen Lebens zwar nicht gerade häufig, kamen aber doch vor.

Am häufigsten waren es Menschen mit politischem Temperament, die ziemlich schwer zu beruhigen sind und denen zu helfen doppelt riskant und unangenehm ist, um so mehr, als man in solchen Fällen fast nie weiß, mit wem man es zu tun hat. Auch diesmal ging mir zuerst durch den Kopf, die Dame möge von politischen Leidenschaften umstürmt sein und habe irgend etwas vor, was sie unglücklicherweise mir anvertrauen wolle. Die Einleitung klang ganz danach, und darum sagte ich unangenehm berührt: »Ich weiß nicht, worüber Sie sprechen werden. Ich wage nicht, Ihnen etwas zu versprechen, aber wenn Sie Ihre Gefühle hergeführt haben, in dem Vertrauen, das Ihnen mein Leben und mein Ruf einflößen, so werde ich keinenfalls Mißbrauch davon machen, was Sie mir anscheinend als Geheimnis anvertrauen wollen.«

»Ja«, sagte sie, »als Geheimnis, als absolutes Geheimnis, und ich bin überzeugt, daß Sie es für sich behalten werden. Ich brauche Ihnen nicht zu wiederholen, warum es geheim bleiben muß. Ich weiß, daß Sie es fühlen, ich kann mich nicht täuschen; Ihr Gesicht sagt es mir deutlicher als alle Worte, und außerdem habe ich keine andere Wahl. Ich wiederhole Ihnen, daß ich bereit bin, eine Handlung zu begehen, die mir in diesem Augenblick ehrenhaft erscheint, und doch gleich wieder als eine Taktlosigkeit: Die Wahl muß sofort getroffen werden, in diesem Augenblick, sie hängt von Ihnen ab.«

Ich zweifelte nicht, daß nun ein politisches Geständnis folgen würde, und sagte unwillig: »Ich höre zu.«

Trotz des doppelten Schleiers fühlte ich den aufmerksamen Blick meines Gastes auf mir ruhen, sie sah mich unverwandt an und sagte fest: »Ich bin eine ungetreue Frau! Ich betrüge meinen Mann.«

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß mir bei diesem Geständnis eine schwere Last vom Herzen fiel; von Politik war anscheinend nicht die Rede.

»Ich betrüge meinen prächtigen, gütigen Mann. Und das sind nun sechs – nein, mehr! ... Ich muß die Wahrheit sagen, sonst lohnt es sich nicht, zu sprechen ... Es sind jetzt acht Jahre her – und dauert noch an ... Es begann im dritten Monat meiner Ehe. Etwas Schmählicheres gibt es in der Welt nicht. Ich bin nicht alt, aber ich habe Kinder, verstehen Sie?«

Ich nickte zustimmend.

»Sie verstehen, was das heißt. Zweimal in meinem Leben kam ich zu ihm, wie heute zu Ihnen, den wir heute begraben haben und dessen Tod mich ganz durchwühlt, und gestand ihm, was mich bewegte. Einmal behandelte er mich barsch, das andere Mal zart, wie ein Freund. Wenn ich jetzt auch nicht mehr in der Verfassung bin, in der ich zu ihm kam, so bitte ich Sie schließlich doch, mir den Rat zu geben, den ich brauche. Das schlimmste im Leben ist der Betrug, und ich glaube zu fühlen, daß es besser ist, seine Niedrigkeit zu bekennen, die Strafe zu tragen, demütig und zerknirscht auf die Straße geworfen zu sein – ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird, aber ich fühle das unbezwingbare Verlangen, hinzugehen und meinem Manne alles zu erzählen. Ich fühle dieses Bedürfnis seit sechs Jahren. Nach dem Beginn meines Verbrechens waren zwei Jahre vergangen, in denen ich ihn nicht sah. Dann begann es von neuem, wie früher. Sechs Jahre habe ich die Absicht, es zu sagen, und habe es doch nicht gesagt, aber heute, als ich dem Sarg Dostojewskijs folgte, beschloß ich, ein Ende zu machen, und zwar so, wie Sie mir raten werden.«

Da ich die Geschichte nicht verstanden hatte, schwieg ich und konnte ihr durchaus keinen Rat erteilen. Sie sah es an meinem Gesichtsausdruck.

»Sie müssen natürlich mehr wissen. Ich bin nicht gekommen, um Rätsel aufzugeben, sondern um zu sprechen, um alles auszusprechen. Ich müßte schamlos lügen, wenn ich mich rechtfertigen wollte. – Ich habe niemals Not gekannt, ich bin im Wohlstand geboren und lebe im Wohlstand. Die Natur hat mir meinen Anteil Verstand nicht versagt. Man gab mir eine gute Bildung, und ich hatte die Freiheit, meinen Ehegenossen selbst zu wählen – ich brauche darüber keine Worte zu verlieren. Ich heiratete einen Mann, der bis zur Stunde seinen guten Ruf mehr als bewahrt hat. Meine Lage war vortrefflich, als dieser Mensch, das heißt, ich wollte sagen, mein legitimer Gatte, mir seinen Antrag machte. Mir schien es, als gefalle er mir, und ich glaubte, daß ich ihn lieben könnte; keinenfalls dachte ich, daß ich ihn betrügen würde, ihn auf die niedrigste Weise betrügen, während ich den Ruf einer ehrenhaften Frau und guten Mutter genieße. Zu dem Betrug hat mich der Teufel selbst gebracht: Wenn Sie wollen, glaube ich an den Teufel ... Im Leben hängt so viel von den Umständen ab. Man sagt, in den Städten sei viel Schmutz, auf dem Land dagegen Reinheit: Aber es war auf dem Lande geschehen, wo ich mit diesem Menschen, mit diesem verfluchten Menschen allein zusammen war, den mein Mann selbst zu mir gebracht und meiner Sorge überlassen hatte. Wenn Reue nicht nutzlos wäre, so müßte ich bereuen, müßte endlos diese Tat bereuen, die ich meinem Mann zu verdanken habe. Aber die Sache trug sich so zu, daß ich mich nicht an den Augenblick erinnere, ich erinnere mich nur an ein Gewitter, an eines der schrecklichen Gewitter, die ich seit meiner Kindheit immer gefürchtet habe. Ich liebte ihn damals nicht, ich hatte einfach Angst, und als uns in dem großen Saal ein Blitz erhellte, ergriff ich seine Hand ... Später, ich habe keine Erinnerung daran, ging es weiter. Dann machte er eine Weltreise, kehrte zurück, und es begann von neuem: Aber jetzt will ich, daß es ein Ende nimmt, und diesmal für immer. Ich wollte es schon mehrmals, aber nie reichte mein Wille aus, es zu ertragen. Die Entschlüsse, die ich gefaßt hatte, verflogen immer eine Stunde nach seinem Erscheinen, und das Schlimmste ist – ich will nichts verheimlichen –, daß nicht er, sondern ich die Ursache war: Ich selbst sagte und erreichte es und ärgerte mich, wenn es mir schwerfiel, es zu erreichen – und wenn ich es weiter fortsetze, so wird der Betrug, meine Erniedrigung niemals ein Ende haben ...«

»Was wollen Sie nun tun?« fragte ich.

»Ich will meinem Mann alles bekennen, ich will es noch heute tun, wenn ich von Ihnen nach Hause komme.«

Ich fragte sie, wie ihr Mann sei und was für einen Charakter er habe.

»Mein Mann«, antwortete die Dame, »genießt den besten Ruf, hat einen guten Posten und ist ziemlich bemittelt; alle halten ihn für einen ehrenwerten und edlen Menschen.«

»Und Sie teilen diese Meinung?« fragte ich.

»Nicht ganz, man schreibt ihm zu viel zu. Er ist allzu verständig und ordentlich, aber er hat wenig von dem, was man Herz nennt, so ungeschickt diese Bezeichnung auch ist, die an die sogenannte Seelenharmonie erinnert, aber ich kann es nicht anders sagen. Seine Herzensregungen sind abgezirkelt, geregelt, korrekt und eintönig.«

»Und jener, den Sie lieben?«

»Was wollen Sie über ihn wissen?«

»Flößt er Ihnen Achtung ein?«

»Oh!« rief die Dame und machte eine Bewegung mit der Hand.

»Ich verstehe nicht ganz, was ich von dieser Bewegung denken soll?«

»Sie sollen denken, daß er der herzloseste, elendeste Egoist ist, der niemanden Achtung einflößt, sich nicht einmal die Mühe gibt, es zu tun.«

»Sie lieben ihn?«

Sie zuckte die Achseln und sagte: »Ich liebe ihn. Wissen Sie, es ist ein seltsames Wort, das auf aller Lippen ist und das nur sehr wenige verstehen. Lieben ist dasselbe wie zur Poesie bestimmt sein oder zur Rechtschaffenheit. Nur sehr wenige sind zu diesem Gefühl befähigt. Unsere Bäuerinnen gebrauchen an Stelle des Wortes lieben das Wort bemitleiden und sagen nicht: Er liebt mich, sondern: Er bemitleidet mich. Das ist, meiner Ansicht nach, eine viel bessere und auch viel einfachere Erklärung. Das Wort lieben-bemitleiden heißt eben lieben im alltäglichen Sinn. Und dann gibt es noch: sich sehnen. Man sagt: mein Ersehnter, mein lieber Ersehnter ... verstehen Sie – sich sehnen ...«

Sie hielt inne und atmete schwer. Ich reichte ihr ein Glas Wasser, das sie diesmal aus meinen Händen nahm und sich dabei nicht fortwandte, aber sie war anscheinend dankbar, daß ich sie nicht genauer anblickte.

Wir schwiegen beide. Ich wußte nichts zu sagen. Sie hatte anscheinend alles Wesentliche gesagt, es konnten nur mehr Details folgen. Sie erriet meinen Gedanken genau und sagte mit leiser Stimme: »Nun denn, wenn Sie mir raten, daß ich es meinem Mann gestehen soll, so werde ich es tun, aber vielleicht können Sie mir etwas anderes sagen? Abgesehen von dem, was mir an Ihnen Sympathie und Vertrauen einflößt, haben Sie auch Erfahrung, ich bin Ihre aufmerksame Leserin. Wir Frauen fühlen auch das, was die berufsmäßigen Kritiker nicht fühlen. Sie können, wenn Sie wollen, Ihre aufrichtige Meinung sagen: Soll oder soll ich nicht zu meinem Mann gehen und ihm meine schmachvolle, langjährige Sünde gestehen?«

Drittes Kapitel

Wie interessant diese Geschichte auch war, ich fühlte doch meine schwierige Lage. Wenn es auch viel leichter wäre, eine solche Antwort zu geben, wie sie mein Gast forderte, als einen politisch Tätigen zu beruhigen oder ihm einen gewünschten Dienst zu erweisen, so fühlte ich doch mein Gewissen hier zu einer sehr ernsten Entscheidung berufen. Ich hatte lange genug gelebt und genug Frauen gesehen, die ihre Sünden dieser Art kunstvoll zu verbergen wußten, oder sie jedenfalls nicht eingestanden. Ich habe auch zwei oder drei aufrichtige Frauen gekannt und entsinne mich, daß sie mir weniger wahrheitsliebend als grausam und affektiert erschienen. Ich fand dabei immer, daß die Frau mit ihrer ganzen Aufrichtigkeit voreilig sei und daß sie es sich ordentlich überlegen solle, bevor sie ihr Verbrechen dem mitteilt, dem sie damit vielleicht schweres Leid zufügt. Ich kümmerte mich niemals darum, wie sich die Welt zum Innenleben des Einzelnen verhält. Nicht die Welt, sondern der Mensch selbst ist mir teuer, und wenn ein Leid nicht unbedingt verursacht werden muß, warum es dann tun? Wenn die Frau ebensolch ein Mensch ist wie der Mann, ein gleichberechtigtes Glied der Gemeinschaft, und ihr dieselben Empfindungen zugänglich sind, dasselbe menschliche Gefühl wie dem Mann, was auch Christus sagt und was die Besten meines Jahrhunderts gesagt haben, was jetzt auch Leo Tolstoi sagt und worin ich eine unumstößliche Wahrheit fühle – weshalb kann dann die Frau nicht dasselbe tun wie der Mann, der das Gelübde der Keuschheit der Frau gegenüber, der er durch Treue verbunden ist, bricht und schweigt, schweigt, obwohl er sein Vergehen fühlt und dadurch manchmal die ganze Unwürdigkeit seiner Verfehlungen fast ungeschehen macht? Ich bin überzeugt, daß die Frau es ebenso tun kann. Zweifellos übersteigt die Zahl der Männer, die ihren Frauen untreu sind, die Zahl der untreuen Frauen, und die Frauen wissen es. Es gibt nicht eine, oder kaum eine Frau, die nach einer mehr oder weniger langen Trennung von ihrem Mann die Überzeugung hätte, daß der Mann ihr während dieser Trennung treu geblieben sei. Dessen ungeachtet vergibt sie ihm nach seiner Rückkehr großmütig. Die Vergebung drückt sich darin aus, daß sie gar nicht danach fragt, und seine Aufrichtigkeit würde für sie keinen Dienst, sondern eine Kränkung bedeuten. Es wäre eine Handlung, durch die etwas an den Tag gebracht wird, was sie gar nicht wissen will. In der Ungewißheit findet sie die Kraft, ihre Beziehungen fortzusetzen, als seien sie nur versehentlich unterbrochen gewesen. Ich sehe ein, daß in meinen Betrachtungen mehr praktischer Sinn steckt als abstrakte Philosophie oder hohe, Moral, aber ich bin trotzdem geneigt, so zu denken, wie ich eben denke.

In dieser Richtung setzte ich also die Unterhaltung mit meinem Gaste fort und fragte: »Die schlechten Eigenschaften des Menschen, den sie lieben, flößen Ihnen doch Verachtung ein?«

»Eine sehr starke und beständige.«

»Aber Sie geben sich doch die Mühe, ihn manchmal zu rechtfertigen?«

»Zu meinem Bedauern ist das unmöglich: Es gibt für ihn keine Rechtfertigung.«

»Dann erlaube ich mir die Frage: Wie steht es mit Ihrer Entrüstung über ihn? Bleibt sie stets gleich, oder nimmt sie manchmal ab und manchmal zu?«

»Sie wird immer stärker.«

»Nun will ich Sie fragen – Sie erlauben doch, daß ich Sie frage?« – »Bitte sehr.«

»Wo befindet sich jetzt ihr Mann, während Sie bei mir sitzen?«

»Zu Hause.«

»Was tut er?«

»Er schläft in seinem Zimmer.«

»Und dann, wenn er aufsteht?«

»Er steht um acht Uhr auf.«

»Und was tut er dann?«

Mein Gast lächelte. »Er wird sich waschen, sich anziehen, zu den Kindern gehen und mit Ihnen eine halbe Stunde spielen, dann bringt man den Samowar, aus dem ich ihm ein Glas Tee einschenke.«

»So«, sagte ich, »ein Glas Tee, der Samowar, die Hauslampe, das sind prächtige Dinge, bei denen wir bleiben wollen.«

»Gut gesagt.«

»Und das verläuft mehr oder weniger – angenehm?«

»Für ihn schon, glaube ich.«

»Verzeihen Sie, in dieser Angelegenheit, die Sie die Liebenswürdigkeit hatten, mir aufzudecken, hat er allein Recht auf Rücksicht – nicht die Kinder, die niemals etwas erfahren sollen, und schließlich auch nicht Sie. Nein, auch Sie nicht, weil Sie ihm das Leid zugefügt haben, während er der leidende Teil ist. Deshalb muß man an ihn denken, daß er nicht leide; nun stellen Sie sich vor, daß er, statt seiner Gewohnheit gemäß, Tee zu trinken und vielleicht respektvoll Ihre Hand zu küssen ...«

»Nun?«

»... und dann an seine Geschäfte zu gehen, zu Abend zu essen und Ihnen eine gute Nacht zu wünschen – stellen Sie sich vor, wenn er statt dessen Ihr Geständnis hört, aus dem er erfährt, daß sein ganzes Leben vom ersten Monat an oder vielleicht sogar vom ersten Tag der Ehe an in einen derartig sinnlosen Rahmen gestellt war? Sagen Sie, erweisen Sie ihm damit einen guten oder schlechten Dienst?«

»Ich weiß es nicht. Wenn ich das wüßte, wenn ich diese Entscheidung treffen könnte, so wäre ich nicht hier und würde nicht darüber sprechen. Ich frage Sie um Rat, was ich tun soll.«

»Einen Rat kann ich Ihnen nicht geben, aber ich kann Ihnen die Meinung sagen, die ich mir gebildet habe. Damit sie aber eine Form annimmt, erlaube ich mir, eine Frage an Sie zu richten: Die Gefühle bleiben im Menschen nie in ein und derselben Stärke ... Vermindert sich ihre Abneigung gegen jenen?«

»Nein, sie verschärft sich.«

Sie schrie es förmlich aus ihrem wehen Herzen, ja, sie schien aufspringen zu wollen, um etwas aus dem Weg zu gehen, was ich in meiner Vorstellung sah. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, fühlte ich, daß sie entsetzlich litt und daß ihr Schmerz einen Grad erreicht hatte, dem eine Entspannung folgen mußte.

»Folglich«, sagte ich, »verurteilen Sie ihn immer strenger ...«

»Ja, immer mehr und mehr.«

»Schön«, sagte ich, »jetzt erlaube ich mir Ihnen zu sagen, daß ich es für das Verständigste hielte, wenn Sie sich, nach Hause zurückgekehrt, an Ihren Samowar setzen würden wie bisher.«

Sie hörte schweigend zu. Ihre Augen waren auf mich gerichtet, ich sah sie durch den Schleier glänzen und hörte ihr Herz laut und schnell schlagen.

»Sie raten mir, mein Schweigen fortzusetzen?«

»Ich rate Ihnen nicht, aber ich denke, daß es für Sie, für ihn und für Ihre Kinder das beste wäre.«

»Aber warum das beste? Das heißt doch, es endlos in die Länge ziehen?«

»Darum das beste, weil durch Offenheit alles nur noch schlimmer würde, und diese Endlosigkeit wäre noch trauriger als jene, von der Sie sprachen.«

»Meine Seele würde durch Leiden geläutert werden.«

Mir schien, als sähe ich ihre Seele: Sie war lebendig und triebhaft, aber keine von jenen, die vom Leid geläutert werden. Deshalb sagte ich nichts mehr über ihre Seele, sondern erwähnte wieder die Kinder.

Sie rang die Hände, daß die Finger knackten, und senkte langsam den Kopf.

»Und was wird das Ende dieses Liedes sein?«

»Ein gutes Ende.«

»Auf was hoffen Sie?«

»Darauf, daß Ihnen dieser Mensch, den Sie lieben, oder, Ihren Worten nach, nicht lieben, aber an den Sie sich gewöhnt haben, von Tag zu Tag verhaßter werden wird.«

»Ach, er ist mir schon so verhaßt.«

»Er wird es noch mehr werden, und dann ...«

»Ich verstehe Sie.«

»Ich bin sehr froh darüber.«

»Sie wollen, daß ich ihn schweigend fallenlasse?«

»Ich glaube, daß es der glücklichste Ausweg aus Ihrem Leid wäre.«

»Und dann ...«

»Und dann werden Sie alles wieder gutmachen ...«

»Wieder gutmachen ... Das ist unmöglich.«

»Verzeihen Sie, ich wollte damit sagen, Sie werden ihre Sorgfalt für Ihren Mann und Ihre Kinder verdoppeln. Sie sollen die Vergangenheit nicht vergessen, sondern die Erinnerung an das Vergangene bewahren und darüber genügend Anlaß finden, für andere zu leben.«

Sie stand auf, stand unerwartet auf, zog ihren Schleier noch tiefer, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Ich danke Ihnen, ich bin froh, daß ich meinem inneren Gefühl gefolgt habe, das mir riet, zu Ihnen zu gehen, als mich der schreckliche Eindruck der Beerdigung so erregt hatte. Ich kam wie eine Verrückte nach Hause, und wie gut ist es, daß ich nichts von all dem getan habe, was ich tun wollte. Leben Sie wohl.« Sie gab mir wieder die Hand und drückte sie so fest, als wolle sie mich auf dem Platz zurückhalten, auf dem wir standen. Dann verneigte sie sich und ging.

Viertes Kapitel

Ich wiederhole, daß ich das Gesicht dieser Frau nicht gesehen habe; nur nach dem Kinn und dem durch den Schleier wie durch eine Maske verhüllten Gesicht zu urteilen war schwierig, aber von ihrer Gestalt hatte ich, trotz des Plüschmantels und des Hütchens, den Eindruck von etwas Graziösem. Es war eine elegante, leichte Gestalt, die einen ungewöhnlich lebhaften und starken Eindruck in meinem Gedächtnis hinterließ.

Ich hatte diese Dame bisher noch nirgends getroffen, und auch der Stimme nach war sie mir unbekannt. Sie sprach mit ihrer unverstellten Stimme, einem klangvollen, tiefen, sehr angenehmen Alt. Ihre Bewegungen waren elegant, man konnte annehmen, daß sie den hohen Gesellschaftskreisen angehörte, noch genauer, dem höchsten Beamtenkreis, daß sie die Frau eines Direktors oder Vize-Direktors eines Departements war oder etwas in dieser Art. Mit einem Wort, die Dame war und blieb mir unbekannt.

Seit dem Begräbnis Dostojewskijs und der von mir erzählten Begebenheit waren drei Jahre vergangen. In diesem Winter war ich erkrankt und im Frühjahr darauf reiste ich in ein ausländisches Bad. Ein Freund und eine meiner Verwandten begleiteten mich zum Bahnhof. Wir fuhren in einem Wagen, ich hatte mein Gepäck bei mir. An der Kreuzung einer der in den Newskij-Prospekt mündenden Straßen vor der Auffahrt eines großen staatlichen Gebäudes erblickte ich eine Dame. Trotz meiner Kurzsichtigkeit erkannte ich meine Unbekannte. Ich war ganz unvorbereitet, dachte gar nicht an sie, und deshalb frappierte mich diese Begegnung. Mich durchzuckte der Gedanke, aufzustehen, an sie heranzutreten, sie etwas zu fragen, aber da fremde Leute dabei waren, tat ich es zum Glück nicht und rief nur aus: »Bei Gott, das ist sie!« und gab damit meinen Begleitern Anlaß zur Heiterkeit. Sie war es in der Tat gewesen.

Nach der Gewohnheit aller Russen oder wenigstens der meisten Russen machte ich eine Rundreise. Zunächst fuhr ich nach Paris, im Juli trank ich Heilquellen, und erst später im August erschien ich dort, wo ich im Juni hätte sein sollen. Ich lernte bald die übrigen dort zur Kur weilenden Russen kennen, so daß mir die Ankunft neuer Landsleute auffiel. Als ich eines Tages auf einer Parkbank saß, an der die Straße zum Bahnhof vorüberführte, erblickte ich eine Kalesche, in der ein Herr in hellem Überzieher und Hut, eine Dame mit Schleier und ihnen gegenüber ein neunjähriger Knabe saßen.

Und wieder geschah mir dasselbe, wie bei meiner Abreise aus Petersburg: »Mein Gott, das ist sie!«

Sie war es in der Tat.

Am anderen Tag im Parkhotel sah ich beim Kaffee ihren wohlanständig, aber etwas abgelebt aussehenden Mann und ihr ungewöhnlich schönes Kind. Der Knabe hatte etwas Zigeunerhaftes, er war gebräunt, hatte schwarze Locken und große, himmelblaue Augen.

Ich erlaubte mir eine kleine Keckheit und bestach den Kellner, damit er mir einen Tisch in ihrer Nähe gebe. Ich wollte ihr Gesicht betrachten. Sie war hübsch und hatte weiche, angenehme Züge, die aber einen etwas unbedeutenden Ausdruck zeigten. Sie erkannte mich zweifellos und gab sich zwei-, dreimal Mühe, sich so zu setzen, daß ich sie nicht beobachten konnte. Später stand sie auf, blieb neben einer mir bekannten Dame stehen, sprach mit ihr und ging zu ihrem Mann zurück.

Abends, nach dem Nachtischkaffee, sagte mir meine Bekannte, an die die Dame herangetreten war, daß sie mich Frau N. vorstellen wolle, was sie auch gleich tat. Ich sagte ihr eine herkömmliche Phrase, die sie mit ebenso herkömmlichen Worten beantwortete, aber an diesen Worten, an dieser Stimme, an ihren Bewegungen erkannte ich sie wieder. Sie war es zweifellos, und sie war klug genug, zu begreifen, daß ich sie erkannt hatte; trotzdem entschloß sie sich, meine Bekanntschaft zu machen. Sie konnte mit meiner Anständigkeit rechnen und auf das Versprechen, das ich ihr damals gegeben hatte, bauen.

Seit der Zeit trafen wir uns und unternahmen sogar einige gemeinsame Ausflüge mit bekannten Damen und mit ihrem Sohn. Ihr Mann liebte diese Unternehmungen nicht, er hatte Schmerzen im Knie und hinkte leicht. Ich hatte keine Vorstellung davon, was mit ihm vorging: Entweder war ihm seine Frau lästig, oder er wollte frei sein und sich einer, vielleicht mehr als einer der zugereisten Damen zweifelhaften Rufes widmen.

Bei allen unseren Begegnungen und Gesprächen machte sie nie eine Andeutung, doch ich fühlte wohl, daß wir einander verstünden. In dieser Situation trat mit einem Mal ein ganz unvorhergesehener Fall ein.

An einem prächtigen Morgen war sie nicht erschienen, um ihren Mann zum Brunnen zu begleiten. Er war auch beim Kaffee allein und erzählte, daß ihr Anatol erkrankt und seine Frau vor Kummer außer sich sei.

Um acht Uhr abends brachte mir mein Portier die erschreckende Nachricht, daß in einem der Hotels ein Kind an Diphtherie gestorben sei. Es war natürlich der Sohn meiner Unbekannten.

Ich gehöre nicht zu den überängstlichen Menschen, nahm also gleich meinen Hut und ging in das Hotel. Mir schien aus irgendeinem Grund, daß sich ihr Gemahl allzu teilnahmslos verhalte, und dachte, wenn das kranke Kind ihr Sohn sei, könne ihr vielleicht meine Hilfe oder mein Beistand dienlich sein.

Ich kam in ihr Hotel. Niemals werde ich vergessen, was ich dort sah. Sie hatte zwei Zimmer. In dem ersten, dem Empfangszimmer mit den roten Plüschmöbeln stand mit aufgelöstem Haar und starren Augen meine Unbekannte. Sie streckte ihre beiden Hände mit gespreizten Fingern vor sich hin und verteidigte mit ihrem Körper den Diwan, auf dem etwas mit einem weißen Laken Bedecktes lag. Aus dem Laken sah ein kleiner, blau angelaufener Fuß hervor, das war er – der tote Anatol. An der Tür standen zwei Männer in grauen Mänteln, vor ihnen eine Kiste, kein Sarg, sondern eine Kiste von etwa zwei Arschin Tiefe, die bis zur Hälfte mit etwas Weißem angefüllt war, das ich erst für Milch oder Stärke hielt. Vor ihr standen ein Polizeikommissar und ein Bürger mit irgendeinem Abzeichen. Alle sprachen laut. Der Gatte der Dame war nicht zu Hause, sie war allein, stritt, leistete Widerstand und rief, als sie mich sah: »Mein Gott! Schützen Sie mich! Helfen Sie mir! Sie wollen mir das Kind nehmen, sie wollen es nicht beerdigen lassen. Es ist eben gestorben.«

Ich wollte für sie eintreten, aber es wäre ganz zwecklos gewesen, auch wenn wir die vier Menschen hätten überwältigen können, die sie nun ohne alle Umstände und ziemlich grob in das andere Zimmer stießen und die Tür abschlossen, gegen die sie dann vergeblich unter entsetzlichem Stöhnen mit den Fäusten schlug. Inzwischen nahmen die Männer das Kind, das noch eben so blühend gewesen war, versenkten es in die Kalklauge und gingen eilig mit der Kiste fort.

Fünftes Kapitel

In den kleinen Badeorten und Städtchen sind Todesfälle äußerst unbeliebt. Die Inhaber der Hotels und möblierten Zimmer suchen solche Mieter zu meiden, deren Gesundheitszustand sie einen baldigen Tod befürchten läßt.

In keinem dieser Städtchen sind Beerdigungsprozessionen gestattet, und wenn ein Todesfall eintritt, so wird er vor allen Unbeteiligten verheimlicht, und der Tote wird ohne jede Beerdigungsfeier mit der Bahn fortgebracht.

Ansteckende Krankheiten mit tödlichem Ausgang kommen nur sehr selten vor, und in dem Ort, wo der Sohn meiner Bekannten gestorben war, geschah es zum erstenmal. Die Nachricht darüber verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit unter dem Publikum und rief, besonders unter den Damen, panischen Schrecken hervor.

Die Ärzte des Ortes, die an einem solchen Platz stets den führenden Stand ausmachen, gaben sich alle Mühe, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, überboten einander an Eifer, verzankten sich und bildeten zwei Lager. Die einen, zu denen die beiden Ärzte gehörten, die das Kind behandelt hatten, gaben zu, daß die Todesursache tatsächlich Diphtherie gewesen sei, erklärten aber, daß gegen die Ansteckungsgefahr alle notwendigen Maßnahmen getroffen worden, daß sie in besonderen Kleidern zu dem Kind gegangen seien und daß sie sich nachher sorgfältig desinfiziert hätten. Zwei von ihnen ließen sich sogar die Bärte abnehmen, um zu beweisen, wie ernst sie die Sache nähmen. Die anderen aber, die überwiegende Mehrzahl, behaupteten, der Fall sei ziemlich zweifelhaft gewesen, führten sogar Gegenbeweise an und beschuldigten ihre Kollegen, die Krankheit des Kindes übertrieben zu haben. Daraus entstand eine große, nutzlose Unruhe, die die Kranken um ihre Ruhe brachte und mehr als alles andere die wirtschaftlichen Interessen der Einwohner bedrohte. Diese zweite medizinische Fraktion mißbilligte das rücksichtslose und schroffe Vorgehen der Stadtverwaltung gegen Frau N., der man das Kind mit räuberischer Gewalt entrissen hatte, fast noch im Augenblick des Todes, ja vielleicht noch früher, noch bevor die letzten Lebensfunken erloschen waren. Mit dem Hinweis auf diese Rücksichtslosigkeit wollten die Ärzte die Aufmerksamkeit des Publikums von sich auf die anderen ablenken, deren Benehmen in der Tat ungewöhnlich roh gewesen war. Aber das gelang ihnen nicht. Der menschliche Egoismus pflegt in Augenblicken der Gefahr besonders widerwärtig zu werden. Unter dem Publikum fand sich niemand, der der traurigen Lage der unglücklichen Mutter auch nur ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätte. – War es tatsächlich Diphtherie gewesen, so waren keine Umstände am Platz, und je entschlossener und fester die Beamten gehandelt hatten, um so besser war es. Man darf doch nicht die anderen der Gefahr aussetzen! Man interessierte sich nur für das eine: Wohin hatte man die Kiste mit dem gefährlichen Toten gebracht. Aber die Nachricht darüber war beruhigend. Man hatte die Kiste in den schwarzen Sumpf gebracht, aus dem man früher den Heilschlamm für die Bäder holte. Sie war an einer der tiefen Stellen des Sumpfes versenkt, mit Steinen überschüttet und nochmals mit Kalklauge übergossen worden. Sorgfältiger und energischer konnte man wohl mit einer solchen Leiche kaum verfahren. Nun begann aber die Vergeltung an dem Hotel, aus dem fast die gesamten Insassen geflüchtet waren, mit Ausnahme der Ärmeren, die sich den Luxus nicht leisten konnten, das für den Monat vorausbezahlte Zimmer aufzugeben. Das ganze Hotel mußte desinfiziert werden, jedenfalls die Zimmer, die die Familie N. bewohnt hatte, sowie die anstoßenden Räume. Ebenso mußte der Korridor desinfiziert werden, durch den der Knabe gelaufen war, und die Ecke des Speisesaales, in der die Familie N. ihre Mahlzeiten eingenommen hatte. Das alles machte eine sehr bedeutende Rechnung, wenn ich nicht irre, über dreihundert Gulden, weil man es auch für notwendig hielt, die Polstermöbel der drei Appartements zu verbrennen und in den anderen Räumen die Gardinen, Teppiche und Portieren durch neue zu ersetzen. Aus diesem Anlaß wurden an Herrn N. vom Hotelinhaber Geldforderungen gestellt. Die Stadtvertreter unterstützten die Rechte des Besitzers und behaupteten, daß er trotz der geforderten Entschädigung einen Verlust erleiden werde, da viele Räume während der ganzen Saison leer stehen würden. Auch für die Zukunft verliere der Wirt einen großen Teil seiner Gäste, da die meisten Besucher das Hotel meiden würden, weil in dem Haus ein Diphtheriefall vorgekommen sei.

Forderungen dieser Art waren für die Kurgäste neu, und alle interessierten sich für den Ausgang dieser Angelegenheit. Die einen fanden die Forderung schikanös, die anderen gerecht, jedoch viel zu hoch. Überall sprach man darüber, und Herr N. wurde zu einer interessanten Persönlichkeit. Es war erstaunlich, daß man ihn nicht fürchtete. Aber man sprach mit ihm, weil man wußte, daß er als kranker Mann sofort nach der Erkrankung seines Sohnes sein Zimmer verlassen hatte und bis zu dessen Tode nicht zurückgekehrt war. Nach seiner Frau erkundigte sich niemand, und sie war einige Tage lang nicht zu sehen. Man nahm an, daß sie abgereist oder krank sei. Für die Leute, die sich für die Sitten des Auslandes interessierten, war Herr N. eine sehr interessante Persönlichkeit. Jeden Tag berichtete er, welche Forderungen an ihn gestellt wurden und was er auf sie geantwortet hätte. Er stellte nicht in Abrede, daß der Hotelinhaber Verluste erlitten habe und daß der Tod des Knaben tatsächlich die Ursache dieser Verluste sei, aber er bestritt das Recht einer willkürlichen Zahlungsforderung an ihn, die er nicht ohne Gerichtsbeschluß begleichen wolle.

»Nehmen wir an«, sagte er, »daß ich bezahlen muß, aber das darf mir nicht durch irgendeinen Kommissar und drei Kleinbürger erklärt werden, sondern durch einen formellen Gerichtsbeschluß, dem ich mich unterwerfen kann. Und außerdem, was bedeutet dieses Urteil: zahlen – schön, wenn ich die Mittel habe zu zahlen. Man kann mir meinen Koffer nehmen, aber nicht mehr. Wäre ein Armer an meiner Stelle gewesen, so würde man mit ihm überhaupt nicht reden.«

Alle waren mit dieser komplizierten Frage beschäftigt, und um Herrn N. bildeten sich in einem fort Kreise, die über seine Rechte und seine Unannehmlichkeiten diskutierten. Die Angelegenheit aber wurde bald darauf friedlich beigelegt. Die Stadt wollte die Sache nicht vor Gericht kommen lassen, weil dadurch das Gerede über den Diphtheriefall noch größeren Umfang angenommen hätte, und man entschloß sich, die Angelegenheit durch ein Übereinkommen zu erledigen, nach dem Herr N. nur die Rechnung des Desinfektionsunternehmers bezahlen sollte. Damit wäre die Angelegenheit erledigt gewesen, doch da trat plötzlich ein neues Ereignis ein: Frau N., die acht Tage in dem großen Hotelzimmer verbracht hatte, ging täglich an den Sumpf, in den man die Kiste mit dem Körper ihres Kindes geworfen hatte. Am neunten Tag kehrte sie von diesem Gang nicht zurück. Man suchte sie vergeblich, niemand hatte sie im Park oder im Wald gesehen. Sie kam zu keiner ihrer Bekannten, trank in keinem der Restaurants ihren Tee, sondern war einfach verschwunden. Mit ihr waren auch die gußeisernen Hanteln verschwunden, mit denen ihr Mann Zimmergymnastik trieb. Vergeblich suchte man sie drei, vier Tage und begann dann Verdacht zu schöpfen, sie habe sich vielleicht im Sumpfe ertränkt. Wie es heißt, hat sich diese Annahme später auch bestätigt. Ihren Leichnam, als er an die Oberfläche gekommen war, hatte der Sumpf wieder hinuntergezogen. So kam sie um.

Das Ereignis war durch seine Tragik bemerkenswert, vor allem durch die Ruhe, mit der alles vor sich gegangen war. Die verschwundene Frau N. hatte weder etwas Schriftliches noch sonst irgendwelche Anzeichen ihres Entschlusses hinterlassen; Herr N. erregte viel Mitgefühl. Er selbst hüllte sich bescheiden in ein kaltes und verschlossenes Schweigen. Er sagte, es sei am besten für ihn, wenn er abreise, reiste aber seiner schwachen Gesundheit halber, die die Fortsetzung der Kur an dieser Heilquelle erforderte, nicht ab.

Wir vertrugen uns nur schlecht miteinander, wahrscheinlich waren wir Menschen mit sehr ungleichen Charakteren. Ungeachtet dessen, daß ich um das Geheimnis seiner Ehe wußte, das mich hätte veranlassen sollen, ihn zu bemitleiden, war er mir weit widerwärtiger als seine Frau, die sich an ihm als Ehemann vergangen hatte. Ich hatte keinen Grund, eine Annäherung mit ihm zu wünschen, aber in einer für mich unverständlichen Anwandlung würdigte er mich plötzlich seiner Aufmerksamkeit und erwähnte in den Gesprächen, die sich zwischen uns entspannen, oft und gern seine verstorbene Frau.

 

ENDE


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