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Nikolai Ssemjónowitsch Ljeßków war zweifellos nicht nur einer der größten russischen Erzähler, sondern auch einer der großen russischen Dichter des 19. Jahrhunderts, wenn es uns gestattet ist, die Bezeichnung Dichter auf einen Prosaiker anzuwenden. Allein die dichtende Sphäre, die über Ljeßkows Erzählungen und kleinen Romanen ausgebreitet liegt, diese unfaßbaren Schleier über den allzu faßbaren Dingen, diese verschattete Unterstimme, die trotzdem deutlicher klingt als die sonore gemütliche Sprache des Erzählers, – all dies ist so stark und bestimmt für uns so sehr die Physiognomie des Dichters, daß es eben unmöglich erscheint, Ljeßkow nur unter die Schriftsteller einzureihen.
Nikolai Ssemjonowitsch Ljeßkow lebte von 1831 bis 1895. Er wurde im gleichen Jahre geboren, als Puschkin sein Lebenswerk, den »Eugen Onjegin«, vollendete, und starb im gleichen Jahre, als Leo Tolstois Schrift gegen die Kunst erschien. Die vierundsechzig Jahre seines Lebens umfassen den bedeutsamen europäischen Aufschwung der russischen Dichtung. Von allen russischen Dichtern dürfte Ljeßkow seine Heimat am besten kennengelernt haben, denn jahrelang bereiste er als Agent einer englischen Weltfirma das ganze russische Reich; von der Ukraine bis nach Nordrußland, aber auch von Polen bis nach Sibirien reicht der Bannkreis seiner Schriften. Sein Werk umfaßt eine ungewöhnlich große Anzahl von Erzählungen und Novellen, es sind auch einige Romane darunter, die freilich künstlerisch weniger Wert haben, als die kleinen Werke, obwohl auch sie sehr anziehend geschrieben und gut zu lesen sind. Es ist sonderbar genug, daß Ljeßkow bis vor kurzem in Rußland fast unbekannt war: es rührt daher, daß Ljeßkow von der russischen Presse stets vernachlässigt wurde, weil er konservativ war. Dostojewskij war es freilich auch, jedoch ihm verzieh man, Ljeßkow dagegen wurde in Acht und Bann erklärt, denn für seine innige und gemütvolle, gar nicht pathetische Art zu erzählen hatte das völlig politisch orientierte Rußland der damaligen und, wie es scheint, auch der heutigen Zeit kein Verständnis, und so geschieht denn vor unseren Augen das Kuriosum, daß in diesem Jahre gleichzeitig zwei deutsche Ljeßkow-Ausgaben erscheinen, während seit vielen Jahrzehnten keine russische mehr erschienen ist.
Ich beabsichtigte bereits 1912 eine mehrbändige deutsche Ljeßkow-Ausgabe ins Leben zu rufen. Der inzwischen verstorbene Übersetzer Feofanoff und ich verhandelten 1913 mit einem Berliner Verleger, der sich im Prinzip einverstanden erklärte. Allein da kam der Krieg. Und erst im vorigen Jahre gelang es mir, meinen lang gehegten Plan zur Ausführung zu bringen.
Die Auswahl war schwierig, sie beansprucht nicht etwa, vollendet zu sein, allein ich habe trotzdem versucht, in diesen drei Bänden das Schönste zu bringen, was Ljeßkow geschrieben hat. Ich weiß zwar, daß noch einige »Perlen« fehlen, aber ich hätte den mir zugebilligten Raum weit überschreiten müssen, um all das zu vereinigen, was mir vom höchsten dichterischen Belang schien.
Das Werk Ljeßkows überschauend, stellen sich dem Betrachter drei Grundzüge seines Schaffens alsbald vor Augen: vielleicht der markanteste ist Ljeßkows unablässig strebende Religiosität, seine heitere und christliche »Lust am Fabulieren«, die am deutlichsten aus seinen Legenden spricht: zwei davon, für mein Empfinden die schönsten, habe ich im ersten Band dieser Sammlung unter dem Titel »Altchristliche Legenden« vereinigt. Eine zweite Begabung scheint mir in dem Analysieren eigenartiger menschlicher Charaktere zu beruhen: hier gab es geradezu eine Überfülle an Stoff und es tat mir leid, daß ich mich nur auf drei Erzählungen beschränken mußte, die ich unter dem Titel »Psychopathen von dazumal« im zweiten Bande gesammelt habe. Allein jede dieser drei Erzählungen ist ein Meisterwerk und zumal den »Pawlin« wird keiner, der Ohren hat, keiner, der ein Herz hat, jemals wieder vergessen können; bei der Lektüre dieses kleinen Romanes wird es vielleicht auch klar werden, warum Leo Tolstoi in einem Gespräch mit Gorkij Ljeßkow sogar noch über Dostojewskij stellte. Endlich muß hervorgehoben werden, daß Ljeßkow als Milieu- und Sittenschilderer kaum seinesgleichen hat; sein Werk ist, wenn man so will, eine Kultur- und Sittengeschichte Rußlands bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die hierauf bezüglichen Erzählungen habe ich im vorliegenden dritten Band unter dem Titel »Der Alexandrit« gesammelt. Mehrere Geschichten zeigen die Vorliebe ihres Verfassers für dunkle und rätselhafte Vorgänge des Außen- und Innenlebens, ja sogar jener Welt zwischen Himmel und Erde, die wir nicht kennen.
Heute, da ich mit diesem Nachwort Abschied von meiner Ljeßkow-Ausgabe nehme und sie dem Urteil des freundlichen Lesers unterbreite, heute bedaure ich fast, daß es mir nicht möglich war, noch viel mehr der unvergleichlichen und trotz der stillen und graziösen Art, in der sie erzählt sind, erschütternden Novellen zu vereinigen. Allein wenn ich die Kraft, die von diesen elf Novellen ausstrahlt, zusammenfasse, will mir dennoch fast scheinen, daß sich einem jeden Leser das Bild einer ungeheuren Dichternatur darstellen wird, eines rührenden, reinen und frommen Menschen und eines Erzählers, wie es nur wenige vor ihm gab. Und wenn mir das gelungen ist, dann ist mir alles gelungen.
München, im November 1922.
J. v. G.
Dieses Buch wurde im Auftrag des Verlags Georg Müller in München von Mänicke und Jahn in Rudolstadt in Unger-Fraktur gedruckt.
Den Einband entwarf Heinrich Jost.