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»Ihre Seelen schweben zu den Guten«
Beerdigungslied.
Erstes Kapitel
Bei uns zu Hause glauben viele, daß lediglich Maler und Bildhauer als »Künstler« zu bezeichnen seien, und auch von diesen nur solche, denen dieser Titel von der Akademie verliehen wurde, die anderen will man nicht als Künstler ansehen, Ssásikow und Owtschínnikow sind für die meisten nicht viel mehr als Silberarbeiter. Bei den anderen Völkern ist es anders: Heine, zum Beispiel, gedachte eines Schneiders, der »ein Künstler war« und »Ideen hatte«, und die Damenkleider von Worth bezeichnet man gegenwärtig als »künstlerische Erzeugnisse«. Von einem solchen wurde noch kürzlich geschrieben, in seinem Schnitt vereinige es einen Abgrund von Phantasie.
In Amerika wird das Gebiet des Künstlerischen noch weiter ausgedehnt: der berühmte amerikanische Schriftsteller Bret Harte erzählte einmal, welchen außerordentlichen Ruhm ein »Künstler«, der »in Toten arbeitete«, dort erlangt hatte. Er verlieh nämlich den Gesichtern der Entschlafenen die verschiedenartigsten »trostreichen Ausdrücke«, die den mehr oder minder glückseligen Zustand ihrer vom Körper getrennten Seelen beweisen sollten.
Diese Kunst kannte mehrere Stufen, – an drei erinnere ich mich noch: »1) der Frieden, 2) die erhabene Betrachtung und 3) die Seligkeit unmittelbaren Gespräches mit Gott.« Der Ruhm dieses Künstlers entsprach der hohen Vollendung seiner Schöpfungen, das heißt, er war ungeheuer. Allein auch dieser Künstler mußte leider als ein Opfer der rohen Menge, die keine Freiheit des künstlerischen Schaffens achtet, untergehen. Man steinigte ihn zu Tode und zwar einzig, weil er dem Gesicht eines verstorbenen betrügerischen Bankiers, der die ganze Stadt ausgeplündert, den »Ausdruck seligen Gespräches mit Gott« verliehen hatte. Die lachenden Erben des Schuftes wollten sich durch diesen Auftrag ihrem verblichenen Verwandten erkenntlich erweisen, dem künstlerischen Ausüber jedoch kostete es das Leben …
Auch bei uns in Rußland gab es einen Meister ebenso ungewöhnlicher und künstlerischer Schöpfungen.
Zweites Kapitel
Die Kinderfrau meines jüngeren Bruders war eine magere, hohe, aber sehr gut gewachsene Alte, deren Namen Ljubówj Onissímowna war. Sie war vormals Schauspielerin im Theater des Grafen Kaménskij in Orjól gewesen, und mithin ging alles, was ich weiterhin erzählen werde, ebenfalls in Orjol vor sich und zwar in den Tagen meiner Kindzeit.
Mein Bruder war sieben Jahre jünger als ich und somit war ich, als er im Alter von zwei Jahren unter Ljubowj Onissimownas Obhut kam, schon mehr als neun Jahre alt und konnte den Geschichten, die man mir erzählte, vollkommen folgen.
Ljubowj Onissimowna war damals zwar noch nicht übermäßig alt, aber bereits schneeweiß, die Züge ihres Antlitzes waren zart und fein, ihr hoher Wuchs völlig grade und überraschend schlank, fast so, als wäre sie noch ein junges Mädchen.
Meine Mutter und die Tante sagten oft, wenn sie sie anblickten, sie müsse zweifellos zu ihrer Zeit eine Schönheit gewesen sein.
Sie war geradezu grenzenlos ehrlich, sanft und sentimental: sie liebte im Leben das Tragische … und manchmal trank sie ein wenig.
Sie ging oft mit uns auf den Dreifaltigkeitsfriedhof spazieren, und setzte sich hier immer vor ein einfaches Grab, auf dem ein altes Kreuz stand, und dann geschah es nicht selten, daß sie mir irgend etwas erzählte.
Und so hörte ich denn einmal von ihr die Geschichte von dem »Toupetkünstler«.
Drittes Kapitel
Er war mit unserer Kinderfrau im gleichen Theater gewesen, freilich hatte sie »auf der Bühne zu spielen und Tänze zu tanzen« gehabt, er aber war ein »Toupetkünstler«, das heißt ein Friseur und Schminkmeister, der alle die leibeigenen Künstlerinnen des Grafen »zu malen und coiffieren« hatte. Allein er war nicht etwa ein einfacher banaler Meister mit dem Kamm hinterm Ohr und einer Blechbüchse mit der auf Talg geriebenen Schminke, sondern dies war ein Mann mit Ideen, – mit einem Wort, ein Künstler.
Besser als er, meinte Ljubowj Onissimowna, verstand es keiner, »im Gesicht einen Ausdruck hervorzubringen«.
Welcher von den Grafen Kamenskij es war, unter dessen Regime diese zwei künstlerischen Naturen erblühten, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Drei Grafen Kamenskij sind bekannt, und alle drei werden von den alteingesessenen Bürgern Orjols als »unerhörte Tyrannen« bezeichnet. Michaíl Fedorówitsch, den Feldmarschall, ermordeten die eigenen Leibeigenen seiner Grausamkeit wegen im Jahre 1809, er hinterließ zwei Söhne: Nikolai, der 1811 starb, und Ssergej, der 1835 starb.
Aus meiner Kindzeit her, die in die vierziger Jahre fiel, kann ich mich noch gut an das riesige graue Holzgebäude mit seinen mit Asche und Ocker gemalten falschen Fenstern erinnern und an den ungewöhnlich langen und halbverfaulten Zaun, der es umgab. Das war das vermaledeite Gutshaus der Grafen Kamenskij; dortselbst befand sich auch das Theater. Es lag irgendwie so, daß man es vom Friedhof der Dreifaltigkeitskirche aus gut sehen konnte, und darum begann Ljubowj Onissimowna fast jedesmal, wenn sie etwas erzählen wollte, immer mit den gleichen Worten:
»Schau dorthin, Kindchen … Siehst du, wie schrecklich es ist?«
»Schrecklich, Kinderfrau.«
»Aber was ich dir jetzt erzählen werde, das ist noch viel schrecklicher.«
Hier folgt eine ihrer Erzählungen, und zwar die vom Toupetmacher Arkádij, einem empfindsamen und kühnen jungen Manne, der zudem ihrem Herzen sehr nahegestanden hatte.
Viertes Kapitel
Arkadij hatte nur die Künstlerinnen »zu frisieren und zu malen«. Für die Männer war ein anderer Coiffeur da und wenn es zuweilen vorkam, daß Arkadij in die »Männerabteilung« berufen wurde, geschah es nur auf Grund einer ausdrücklichen Verfügung des Grafen, »jemand auf eine noble Weise herzurichten«. Die Haupteigenart der Schminkkunst dieses Künstlers bestand in ihrer Gedanklichkeit, dank deren er allen Gesichtern die feinsten und verschiedenartigsten Ausdrücke zu verleihen vermochte.
»Man berief ihn zuweilen,« erzählte Ljubowj Onissimowna, »und sagte ihm, in dem und dem Gesicht hätte der oder jener Ausdruck zu sein. Dann trat Arkadij einige Schritte zurück, hieß den Schauspieler oder die Schauspielerin ein wenig still sitzen oder stehn, verschränkte die Arme auf der Brust und dachte nach. Und war dabei schöner als der Schönste, denn sein Wuchs war mittelgroß und dabei so schlank, daß man es gar nicht schildern kann, die Nase schmal und stolz, die Augen wahrhaft engelhaft und so gut, und eine dichte Locke hing überaus schön über seine Stirne und reichte bis ans Auge, – so daß man manchmal glauben konnte, als schaue er durch einen Nebelvorhang.«
Mit einem Worte, der Toupetkünstler war ein hübscher Bursche und »gefiel allen«. Der Graf selber hatte ihn sehr gern, zog ihn allen vor und kleidete ihn prächtig, hielt ihn aber gleichzeitig sehr streng.« Er gestattete um nichts in der Welt, daß Arkadij außer ihm noch irgend jemand das Haar schneide, oder gar einen Fremden rasieren oder frisieren dürfte, und befahl ihm darum, sich immer in der Nähe des gräflichen Ankleidezimmers aufzuhalten und das Herrenhaus nie zu verlassen, außer in den Fällen, in denen es sich um das Theater handelte.
Sogar in die Kirche durfte er nicht, nicht einmal zur Beichte oder zum Abendmahl, denn der Graf glaubte nicht an Gott, und die Geistlichen konnte er schon gar nicht leiden, und einmal um Ostern hatte er sogar die ganze Geistlichkeit von Borissogljébsk trotz ihrer Kreuze mit seinen Windhunden totgehetzt.
Der Graf selber war, nach den Worten Ljubowj Onissimownas, so abschreckend häßlich, daß er infolge seiner ewigen Wutanfälle gleichzeitig von allen Tieren etwas hatte. Arkadij aber wußte selbst dieser Tierheit gelegentlich einen solchen Ausdruck zu verleihen, daß der Graf, wenn er abends in seiner Loge saß, viel bedeutender als die anderen Personen aussah.
Dagegen war es, zum großen Kummer des Grafen, ganz und gar nicht gut um die Würde in seinem Charakter bestellt, denn sie fehlte, und ebenso fehlte die »militärische Denkart«.
Darum also, damit niemand die Dienste eines so unvergleichlichen Künstlers, wie Arkadij, in Anspruch nähme, »mußte er sein Lebtag ohne Ausgang sitzen und bekam von seiner Geburt an nie Geld in die Hand«. Er mochte damals bereits ein wenig älter als fünfundzwanzig sein, Ljubowj Onissimowna jedoch war erst neunzehn Jahre alt. Und natürlich waren die beiden miteinander bekannt geworden, zwischen ihnen entstand jenes, das in solchen Jahren zu geschehen pflegt, kurz, sie gewannen einander lieb. Allein keiner konnte von seiner Liebe dem anderen Mitteilung machen, es sei denn in Gegenwart all der andern in der Form von dunklen Andeutungen während des Frisierens.
Zusammenkünfte unter vier Augen waren völlig ausgeschlossen, sogar undenkbar …
»Wir Schauspielerinnen,« sagte Ljubowj Onissimowna, »wurden genau so gehütet, wie die vornehmen Herrschaften die Ammen hüten: ältere Frauen, die schon Kinder hatten, mußten Obacht auf uns geben, und Gnade Gott, wenn irgendeiner von uns etwas zustieß, dann mußten die Kinder eben dieser Frauen die furchtbarste Tyrannei ausstehen.«
Das Gebot der Keuschheit durfte nur »er selber« übertreten, – er nämlich, der es erlassen hatte.
Fünftes Kapitel
Ljubowj Onissimowna stand dazumal nicht nur in der Blüte ihrer jungfräulichen Schönheit, sondern war auch an dem interessantesten Punkte der Entwicklung ihres vielseitigen Talentes angelangt: sie sang »in den Potpourrichören«, sie tanzte die »ersten Pas in der Chinesischen Gärtnerin« und da sie eine Berufung zum Tragieren zu fühlen glaubte, »kannte sie alle Rollen auswendig«.
In welchem Jahr das war, weiß ich nicht genau, aber einst geschah es, daß der Zar (ich weiß nicht, ob es Alexander Pawlowitsch, oder Nikolai Pawlowitsch war) Orjol passierte und auch über Nacht dort blieb, abends aber war vorgesehen, daß er das Theater des Grafen Kamenskij besuchen würde.
Der Graf lud aus diesem Anlaß die ganze vornehme Gesellschaft ein, sein Theater zu besuchen (für Geld waren Plätze sowieso nicht zu haben) und ordnete an, daß das Allerbeste gegeben würde. Ljubowj Onissimowna hatte nicht nur im »Potpourri« zu singen und in der »Chinesischen Gärtnerin« zu tanzen, es kam auch noch etwas Besonderes dazu: noch während der letzten Probe fiel eine Kulisse um und verstauchte der Schauspielerin, welche in dem Stück »die Herzogin von Bourblan« zu spielen hatte, den Fuß.
Nie und nirgends sonst bin ich einer Rolle dieses Namens begegnet, Ljubowj Onissimowna jedoch sprach den Namen so und nicht anders aus.
Die Zimmerleute, die die Kulisse hatten fallen lassen, wurden zum Pferdestall geschickt, um dort ihrer Züchtigung entgegenzusehen, die Leidende wurde in ihre Kammer gebracht, allein niemand war da, der die Rolle der Herzogin von Bourblan hätte spielen können.
»Und da,« sagte Ljubowj Onissimowna, »der meldete ich mich, denn mir gefiel es zu gut, wie die Herzogin von Bourblan vor ihrem Vater kniend um Verzeihung bittet und darauf mit gelösten Haaren stirbt. Ich hatte erstaunlich viel Haar und blond war ich außerdem und Arkadij hatte mich hergerichtet, daß es einfach eine Pracht anzuschauen war.«
Der unerwartete Vorschlag des jungen Mädchens, die Rolle spielen zu wollen, erfreute den Grafen natürlich sehr, und da zudem der Regisseur ihm bestätigte, daß »Ljuba die Rolle nicht verpatzen würde«, entgegnete er:
»Verpatzt sie sie, so verantwortet mir dein Rücken, ihr aber sollst du von mir die Ohrringe bringen.«
»Die Ohrringe« – das war hergebrachtermaßen ein ebenso schmeichelhaftes wie widerwärtiges Geschenk. Es war das erste Anzeichen jener besonderen Ehre, auf eine kurze Weile den Rang der Odaliske des Herrschers bekleiden zu dürfen. Arkadij wurde stets der Befehl erteilt, das erkorene Mädchen nach der Vorstellung als »Heilige Cäcilie in ihrer Unschulds-Gestalt« herzurichten, und in weißen Gewändern, einen Kranz auf dem Haupt und eine Lilie in der Hand wurde die symbolisierte Innocence in die Appartements des Grafen gebracht.
»Das,« meinte die Kinderfrau, »erscheint dir heute, weil du noch sehr jung bist, vielleicht unverständlich, – aber es war wahrhaftig das Allerschrecklichste, zumal für mich, die ja nur von Arkadij träumte. Ich fing zu weinen an. Die Ohrringe warf ich auf den Tisch und weinte, und wie ich an dem Abend spielen sollte, das wollte mir nicht in den Kopf.«
Sechstes Kapitel
Die gleichen schicksalvollen Stunden brachten auch für Arkadij etwas, das nicht minder verhängnisvoll war und gefahrdrohend.
Es kam nämlich der Bruder des Grafen von seinem Gut, um sich dem Kaiser vorzustellen; er war womöglich noch häßlicher und lebte schon lange nur noch auf dem Lande und trug niemals Uniform und schor nie seinen Bart, da »sein ganzes Gesicht mit Pickeln übersät war«. Zu diesem besonderen Anlaß aber mußte er sich anständig anziehen und sein Äußeres in Ordnung bringen, sozusagen der »militärischen Denkart« entsprechend, wie die Vorschrift es verlangte.
Und diese verlangte eine ganze Menge.
»Jetzt kann man das kaum mehr verstehen, wie streng man damals darauf sah,« meinte die Kinderfrau: »Damals hielt man ungeheuer auf strengste Einhaltung der Formen, und wie die großen Herren auszusehen und wie sie frisiert zu sein hatten, das war alles vorgeschrieben und geregelt, manchen aber kleidete es ganz und gar nicht, und wenn so einer nach der Vorschrift hergerichtet war, mit einem aufgerichteten Haarschopf und die Haare in die Schläfen gebürstet, dann sah sein Gesicht nicht anders aus, als eine Bauern-Balalaika ohne Saiten. Die großen Herren hatten schreckliche Angst davor. Und natürlich hing hier viel von der Kunst des Haarschneidens und Frisierens ab, sehr viel davon, wie die Stellen zwischen Backen- und Schnurrbart reinrasiert wurden, und wie die Haarwickel angebracht und wie die Locken ausgekämmt wurden, – die kleinste Kleinigkeit konnte dem Gesicht einen ganz anderen Ausdruck verleihen.« Herren in Zivilkleidung hatten es, nach den Worten der Kinderfrau, leichter, denn sie wurden nicht so aufmerksam gemustert, – von ihnen verlangte man nur ein möglichst friedfertiges Aussehen, von den Militärs aber wurde viel gefordert, – vor den Rangälteren hatten sie respektvoll auszusehen, vor den anderen Leuten aber mußte ihr Antlitz eine ungemeine Verwegenheit zeigen. Und das eben verstand die erstaunliche Kunst Arkadijs dem häßlichen und nichtswürdigen Antlitz des Grafen zu verleihen.
Siebentes Kapitel
Der ländliche Bruder des Grafen war noch häßlicher als der städtische und zudem auf dem Lande vollkommen verbauert, er hatte »eine solche Wildheit in sein Gesicht bekommen«, daß er selber es sogar mit der Zeit bemerkte, aber es war niemand da, der sie ihm genommen hätte, denn er war ungewöhnlich geizig und hatte sogar seinen eigenen Haarschneider gegen eine jährliche Abgabe nach Moskau ziehen lassen, zudem war das Gesicht dieses zweiten Grafen voll von Hautunebenheiten, so daß man ihn gar nicht rasieren konnte, ohne ihn nicht gleichzeitig blutigzuschneiden.
Er kam nach Orjol und berief die gesamten Friseure der Stadt und sagte ihnen:
»Wer von euch mich so herrichten kann, daß ich meinem Bruder, dem Grafen Kamenskij, ähnlich sehe, der soll zwei Goldstücke haben, für den aber, der mich schneiden sollte, lege ich hier zwei Pistolen auf den Tisch. Hast du deine Sache gut gemacht, nimm das Gold und geh, schneidest du mich aber, und sei es nur ein Pickelchen, oder verschneidest du den Backenbart um ein Härchen, – dann schieß ich dich augenblicks tot.«
Das sagte er aber nur, um ihnen Angst zu machen, denn die Pistolen waren nur blind geladen.
In Orjol gab es dazumal nur wenige städtische Friseure, und auch die waren meist nur für die Badstuben, wohin sie mit ihren Becken gingen, um Schröpfköpfe und Blutegel zu setzen, – Geschmack aber und Phantasie besaß keiner von ihnen. Das wußten sie selber und darum lehnten es alle ab, den Kamenskij »umzugestalten«. »Gott mit dir,« dachten sie, »und mit deinem Golde.«
»Wir,« entgegneten sie, »wir können das, was Sie verlangen, gar nicht ausführen, denn wir sind völlig unwürdig, eine solche Persönlichkeit auch nur anzurühren, und außerdem haben wir auch nicht die nötigen Schermesser, wir haben nur die einfachen russischen Messer und für Ihr Gesicht braucht man ein englisches Rasiermesser. Diese Aufgabe kann nur der Arkadij des Grafen lösen.«
Der Graf befahl die städtischen Haarschneider hinauszuwerfen, diese aber freuten sich sogar darüber, denn nun hatten sie doch wenigstens ihre Freiheit wieder, – er selber begab sich gleich darauf zu dem älteren Bruder und sagte:
»So und so, Bruder, und ich komme zu dir mit einer großen Bitte, – schick mir doch noch vor dem Abend deinen Arkadij, damit er mich, wie es sich gehört, herrichtet. Meine Haare sind schon lange nicht mehr geschnitten worden und die hiesigen Friseure verstehen das nicht.«
Der Graf entgegnete seinem Bruder:
»Freilich sind die Friseure hier ein Dreck. Ich wußte nicht einmal, daß welche hier sind, denn sogar meine Hunde werden von meinen eigenen Leuten geschoren. Was aber deine Bitte anbelangt, so verlangst du etwas Unmögliches von mir, denn ich habe geschworen, daß mein Arkadij, solange ich lebe, niemand außer mir scheren dürfte. Wie denkst du darüber, – ist es denkbar, daß ich mein Wort vor meinem Sklaven zurücknehme?«
Jener meinte darauf:
»Warum denn nicht? Du hast es gesagt, du kannst es auch abändern.«
Doch der Graf und Hausherr erwiderte, daß ihm diese Auffassung höchst sonderbar vorkäme.
»Denn wenn ich,« sagte er, »so handeln wollte, was könnte ich da von meinen Leuten verlangen? Arkadij weiß, daß ich das befohlen habe, und alle wissen es, und deshalb halte ich ihn auch besser als die anderen, sollte er es aber jemals wagen und irgendeinem anderen seine Kunst zuteil werden lassen, – so werde ich ihn totprügeln lassen und ihn unter die Soldaten stecken.«
Darauf antwortete der Bruder:
»Es geht nur eines von beiden: entweder totprügeln oder unter die Soldaten stecken, – beides zusammen kannst du nicht.«
»Schön,« sagte der Graf, »du sollst recht haben: also nicht totprügeln, sondern nur halbtot, – und dann unter die Soldaten.«
»Und ist das dein letztes Wort, Bruder?«
»Mein letztes.«
»Und so liegt also die Sache?«
»Schön, ich dachte freilich, daß dir dein Bruder mehr wert wäre, als ein leibeigener Sklave. Du brauchst dein Wort nicht abzuändern, mir aber schick bitte deinen Arkadij, damit er mir meinen Pudel schere. Was er sonst noch tun wird, das ist dann schon meine Sache.«
Dem Grafen schien es nicht angängig, diese Bitte abzuschlagen.
»Gut,« sagte er, »ich will ihn dir schicken, damit er deinen Pudel schert.«
»Mehr will ich auch gar nicht.«
Er drückte dem Grafen die Hand und ging.
Achtes Kapitel
Es war im Winter, um die Zeit der Abenddämmerung, wenn die Lampen angezündet werden.
Der Graf ließ Arkadij rufen und sagte ihm:
»Geh ins Haus meines Bruders und scher ihm seinen Pudel.«
Arkadij fragte nur:
»Sonst keine Befehle?«
»Sonst nichts,« entgegnete der Graf, »kehr aber so schnell du kannst zurück, um die Schauspielerinnen fertigzumachen. Ljuba muß heute in drei verschiedenen Gestalten auftreten, nach der Vorstellung wird sie als heilige Cäcilie zu mir gebracht.«
Arkadij Iljitsch taumelte.
Der Graf fragte:
»Was hast du?«
Arkadij erwiderte:
»Verzeihung, ich stolperte auf dem Teppich.«
Der Graf darauf:
»Ob das was Gutes zu bedeuten hat?«
Arkadij hatte damals ein Gefühl, daß ihm alles gleich war, ob es gut ginge oder schlecht.
Er hatte vernommen, daß angeordnet worden war, mich als heilige Cäcilie herzurichten und ergriff, ohne zu hören noch zu sehen seinen ledernen Instrumentenkasten und eilte fort.
Neuntes Kapitel
Und kam zum Bruder des Grafen, dort aber brannten vor dem Spiegel die Kerzen und lagen die zwei Pistolen, und nebenan lagen nicht etwa zwei Goldstücke, sondern ihrer zehn, die Pistolen aber waren nicht etwa blind mit Pulver geladen, sondern mit tscherkessischen Kugeln.
Des Grafen Bruder sprach:
»Einen Pudel hab ich überhaupt nicht, und ich will von dir dies: mach meine Frisur so verwegen als du kannst, und nimm dann die zehn Goldstücke, wenn du mich aber schneidest, bist du tot.«
Arkadij schaute nur und schaute, und mit einem Male, – Gott allein weiß, was in ihn gefahren war, – begann er dem Bruder des Grafen Haar und Bart zu scheren. In einer Minute war das auf das beste geschehen, er schüttete das Gold in seine Tasche und sagte:
»Leben Sie wohl.«
Jener entgegnete:
»Du kannst gehn, aber das eine möchte ich noch wissen; woher hast du einen so tollkühnen Kopf, daß du dich dazu entschlossen hast?«
Und Arkadij antwortete:
»Wieso ich mich dazu entschlossen, das wissen nur meine Brust und die Vorsehung.«
»Oder bist du vielleicht kugelfest, daß du die Pistolen nicht scheutest?«
»Die Pistolen, vor denen hatte ich keine Furcht,« erwiderte Arkadij, »an die hab ich nicht einmal gedacht.«
»Wie das? wagtest du am Ende anzunehmen, daß das Wort deines Grafen mehr wiege als das meine, und daß ich dich, falls du mich geschnitten, nicht totgeschossen hätte? Wenn du nicht kugelfest bist, hättest du dein Leben lassen müssen.«
Als der Graf vor ihm erwähnt wurde, erbebte Arkadij und gab darauf wie ein Halbträumender zur Antwort:
»Kugelfest bin ich nicht, aber Gott hat mir Verstand gegeben: noch bevor du die Hand mit der Pistole erhoben hättest, um auf mich zu schießen, hätte ich dir mit dem Rasiermesser die Gurgel durchgeschnitten.«
Sagte es und stürzte hinaus und kam noch zur Zeit ins Theater, um mich herzurichten, aber er zitterte dabei heftig. Und wie er mir gerade eine Locke kräuselte und sich bückte, um mit dem Munde auf das Eisen zu blasen, flüsterte er mir mit eins zu:
»Keine Angst, ich entführe dich.«
Zehntes Kapitel
Die Vorstellung ging glatt, denn wir waren ja, wie Standbilder, an alles gewöhnt, an Angst gewöhnt und an Quälereien: gleichviel was jedes auch auf dem Herzen trug, seine Sache machte es so gut, daß man ihm nichts anmerken konnte.
Von der Bühne aus konnten wir sowohl den Grafen als auch seinen Bruder sehen, wie ähnlich sahen die beiden einander. Als sie dann hinter die Kulissen kamen, war es sogar schwer, sie voneinander zu unterscheiden. Nur daß der unsrige überaus still war, als sei er besser geworden. Das war mit ihm immer so, bevor er seine schrecklichsten Wutanfälle hatte.
Darum waren wir alle fast wie von Sinnen und bekreuzigten uns:
»Herr Gott! verschone uns und bewahre uns! Wen wird das Tier dieses Mal verschlingen?«
Arkadijs tolle Verzweiflungstat, die vorhin geschehen, war uns natürlich noch unbekannt, selber aber wußte Arkadij freilich sehr wohl, daß er keine Verzeihung zu erhoffen hatte, und wurde ganz blaß, als der Bruder des Grafen ihn ansah und dann unserm Grafen leise etwas ins Ohr knurrte. Ich aber, ich hatte ein gutes Gehör und so vernahm ich denn, was er sagte:
»Ich warne dich als Bruder: gib acht, wenn er mit dem Messer über dir ist.«
Und der unsrige lächelte nur still.
Wie es scheint, hatte auch Arkadij etwas gehört, denn als er mich zur letzten Vorstellung herrichtete, und zwar als Herzogin, schüttete er so viel Puder über mich, – was vordem niemals geschehen war, – daß der französische Kostümeur mich abschütteln mußte, wobei er sagte:
» Trop beaucoup, trop beaucoup!« und mit der Bürste das Überflüssige wegputzte.
Elftes Kapitel
Als darauf die Vorstellung zu Ende war, nahm man mir das Kostüm der Herzogin von Bourblan ab, und zog mich als heilige Cäcilie an, – ein weißes Kleid ohne Ärmel, auf den Schultern mit Schleifen lose zusammengehalten, – nicht ausstehen konnten wir dieses Kostüm. Und dann kam Arkadij, um mir eine möglichst unschuldige Frisur zu machen, so wie man sie auf den Bildern der heiligen Cäcilie sieht, und um einen schmalen Kranz, der wie eine Spange aussah, auf meinem Haar zu befestigen. Als Arkadij eintrat, sah er, daß sechs Mann vor der Türe, meiner Kammer Wache hielten. Das bedeutete, daß sie ihn, sobald er mich hergerichtet hatte und aus meiner Tür treten würde, packen und irgendwohin zur Folter schleppen würden. Die Foltern aber, die waren bei uns so furchtbar, daß es hundertmal besser war, lieber gleich den Tod zu erleiden. Da gab es die Folterbank und die Darmsaite, der Kopf wurde in enge Behälter gepreßt und verbogen, – ja, das alles gab es bei uns. Die gerichtliche Strafe, die darauf folgte, wurde von allen als eine Kleinigkeit angesehen. Unterhalb des ganzen Hauses erstreckten sich geheime Kellergewölbe, in denen lebende Menschen wie Bären an Ketten saßen. Und wenn man zufällig an so einem Orte vorüberging, konnte man von Zeit zu Zeit Ketten rasseln hören und Menschen in ihren Fesseln stöhnen. Sie wollten wahrscheinlich, daß davon gesprochen würde, oder daß die Obrigkeit es hören sollte, aber die Obrigkeit dachte nicht einmal daran, einzugreifen. Lange, lange wurden dort Menschen gepeinigt, und manch einer gar sein Leben lang. Einer, der dort ewig lang gesessen, hatte sich diesen Vers ausgedacht:
Es kommen die Schlangen, am Auge zu saugen,
Es spritzen ins Antlitz ihr Gift die Skorpione.
Diesen Vers pflegten wir oftmals heimlich vor uns hinzusagen und hatten große Furcht.
Manche waren sogar an Bären geschmiedet, so eng, daß nur ein halber Zoll zwischen des Bären Pfote und dem Menschen war.
Mit Arkadij Iljitsch freilich geschah nichts dergleichen, denn kaum war er in meiner Kammer, da packte er im gleichen Augenblick den Tisch und schlug das Fenster ein, – an mehr kann ich mich nicht mehr erinnern …
Als ich wieder zu mir kam, spürte ich, daß meine Füße eiskalt geworden waren. Ich bewegte mich und bemerkte, daß ich in einen Pelz eingehüllt war, ein Wolfspelz wars, oder ein Bärenpelz, – ringsum aber herrschte tiefste Dunkelheit und ein feuriges Dreigespann jagte dahin und ich wußte nicht wohin. Dicht aneinandergedrängt saßen zwei Menschen neben mir in dem breiten Schlitten, – der eine hielt mich, und das war Arkadij Iljitsch, der andere aber trieb was er konnte die Pferde an … Der Schnee stäubte nur so unter den Hufen und jeden Augenblick neigte sich der Schlitten bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Und wenn wir nicht ganz, in der Mitte auf dem Boden gesessen wären und uns mit den Händen festgeklammert hätten, es wäre unmöglich gewesen, sitzenzubleiben.
Ich hörte die beiden aufgeregt sprechen, wie es immer geschieht, wenn man etwas erwartet, – aber ich verstand nur das eine: »Sie kommen, sie kommen, schnell, schnell!« und nichts mehr.
Als Arkadij Iljitsch bemerkte, daß ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, beugte er sich zu mir und murmelte:
»Mein Täubchen, mein Liebchen! wir werden verfolgt … bist du bereit zu sterben, wenn wir nicht entkommen sollten?«
Ich antwortete, daß ich sogar mit Freuden damit einverstanden sei.
Er hoffte, ins türkische Chruschtschuk zu entkommen, wohin schon viele der Unsrigen vor Kamenskij geflohen waren.
Und plötzlich fegten wir über das Eis irgendeines Flüßchens, etwas wie ein Gebäude dämmerte vor uns auf, Hundegebell wurde hörbar, der Kutscher peitschte die Pferde noch heftiger, neigte dann den Schlitten mit einem Male heftig auf die eine Seite, so daß er ganz schief stand und plötzlich lagen Arkadij und ich im Schnee, er aber, der Schlitten und die Pferde waren in einem Nu verschwunden.
»Keine Angst, das mußte so sein, denn der Kutscher, der uns führte, kennt mich nicht und ich kenne ihn auch nicht. Ich habe ihn für drei Goldstücke bewogen, mir zu helfen, dich zu entführen, und jetzt versucht er, sich zu retten. Gottes Willen geschehe: vor uns liegt das Dorf Ssuchája Orlíza, – es wohnt dort ein unternehmender Priester, der auch die allertollsten Ehen schließt und der schon viele der Unsrigen gerettet hat. Wir wollen ihm ein Geschenk geben, er wird uns bis zum Abend verbergen und trauen, abends überkommt dann unser Kutscher wieder her und dann können wir flüchten.«
Zwölftes Kapitel
Als wir vor dem Hause waren, klopften wir und betraten den Hausflur. Der Priester selber öffnete uns, er war alt und gebeugt, ihm fehlte ein Vorderzahn, seine Frau, die ebenfalls schon überaus alt war, fachte das Feuer an. Er knieten vor ihnen hin.
»Rettet uns, erlaubt uns, uns zu wärmen, verbergt uns bis zum Abend.«
Hochwürden fragte:
»Meine Kinderchen, seid ihr mit Diebsgut zu mir gekommen, oder seid ihr gewöhnliche Flüchtlinge?«
Arkadij entgegnete:
»Niemand haben wir auch nur das geringste gestohlen, wir fliehen vor der Grausamkeit des Grafen Kamenskij, und wollen ins türkische Chruschtschuk, wo bereits nicht wenige von unseren Bekannten leben. Man wird uns nicht finden, wir haben unser eigenes Geld bei uns und werden Euch für die eine Nacht, die wir bei Euch übernachten, ein Goldstück geben und drei Goldstücke, wenn Ihr uns traut. Traut uns, wenn Ihr könnt, wenn es aber nicht geht, so werden wir uns dort in Chruschtschuk verehelichen.«
»Warum sollte es nicht gehen? – es geht. Wozu denn erst nach Chruschtschuk? Gebt mir für alles zusammen fünf Goldstücke – und ich füge euch hier zusammen.«
Arkadij gab ihm die fünf Goldstücke und ich nahm die Ohrringe aus dem Ohr und gab sie dem alten Mütterchen.
Der Priester nahm das Gold und sagte:
»Ach, Kinderchen, das ist ja nichts, ich habe nicht nur solche, wie ihr, zusammengefügt, – schlecht ist nur, daß ihr dem Grafen gehört. Und bin ich auch ein Priester, ich fürchte dennoch seine Grausamkeit. Aber mags denn sein, geschehe, was Gott will, – gebt mir noch einen Goldfuchs, und seis ein beschnittener, und verbergt euch.«
Arkadij gab ihm das sechste vollgewichtige Goldstück, jener aber sagte zu seiner Priestersfrau:
»Was gaffst du, Alte? Gib dem flüchtigen Mädchen doch ein Röckchen zum Überwerfen, man muß sich ja rein schämen, sie anzuschauen, – sie ist ja halb nackt.«
Und machte sich daran, uns in die Kirche zu führen, um uns dort im Schrank, in dem die Meßgewänder hingen, zu verbergen. Kaum jedoch hatte die Alte begonnen, mich hinter der Wand in andere Kleider zu stecken, da hörten wir hinter der Türe ein Geräusch: jemand schlug an den Türring.
Dreizehntes Kapitel
Die Herzen blieben uns stehen, Hochwürden flüsterte Arkadij zu:
»Jetzt, Kindchen, ist an den Schrank mit den Meßgewändern nicht mehr zu denken, jetzt kriech mal geschwind unter das Federbett dort.«
Zu mir aber sprach er:
»Und du, Kindchen, hierher.«
Und preßte mich in den Uhrkasten der Standuhr und schloß mich ein, den Schlüssel tat er in die Lasche und ging, den Klopfenden die Tür öffnen. Draußen waren mehrere Menschen, man konnte es hören, einige standen an der Tür, zwei jedoch hatten sich an die Fenster gemacht.
Sieben Verfolger traten ein, alles Jäger des Grafen. Sie trugen Jagdmesser und Hetzpeitschen, und um den Leib Koppelstricke, mit ihnen kam nach ein achter, ein Haushofmeister des Grafen, im langen Wolfspelz mit einer hohen Mütze.
Der Uhrkasten, in dem ich verborgen stand, war vorne von durchbrochener Schnitzarbeit und da nur ein altes und dünngewordenes Musselintuch davorhing, konnte ich alles sehen.
Der alte Priester war ganz verschüchtert, schlecht schien ihm die Sache zu stehen – er kam, als er den Haushofmeister erblickte, ordentlich ins Zittern, bekreuzigte sich und rief hastig:
»Ach, meine Kinderchen, ach, meine guten Kinderchen! ich weiß, ich weiß schon, wen ihr sucht, aber ich habe durchaus keine Schuld vor dem erlauchten Grafen, wahrhaftig keine Schuld, weiß Gott, keine Schuld! »
Und während er sich so bekreuzigte, wies er mit den Fingern über die linke Schulter auf den Uhrkasten, in dem ich verborgen war.
»Ich bin verloren,« dachte ich, als ich ihn dieses Wunder vollführen sah.
Der Haushofmeister bemerkte es ebenfalls und meinte:
»Wir wissen alles. Gib den Schlüssel von der Uhr da her.«
Und wieder fuhr der Priester mit seiner Hand durch die Luft:
»Ach, meine Kinderchen, meine guten! verzeiht mir und rechnet es mir nicht übel an: ich vergaß, wohin ich den Schlüssel getan, weiß Gott, ich vergaß es, weiß Gott, ich vergaß.«
Und strich währenddessen mit der anderen Hand immerzu über die Tasche.
Der Haushofmeister bemerkte auch dieses Wunder und hatte den Schlüssel bald aus der Tasche und schloß mich auf.
»Nur heraus,« sagte er, »mein Falkenweibchen, dein Falke wird sich jetzt wohl selber stellen.«
Und schon war auch Arkadij da; er warf das hochwürdige Federbett von sich und stand aufrecht inmitten der Häscher.
»Ja,« sagte er, »nichts zu machen, ihr habt gewonnen, – schleppt mich denn zur Folter, das Mädchen aber hat nicht die geringste Schuld: ich habe sie mit Gewalt von dannen geführt.«
Und wandte sich darauf zum Priester und tat nichts weiter, als daß er ihm ins Gesicht spie.
Jener rief:
»Kinderchen, seht Ihr, wie meine geistliche Würde und meine Treue beschimpft werden? Meldet das dem erlauchten Grafen.«
Der Haushofmeister entgegnete:
»Keine Sorge, keine Angst, es wird ihm alles angekreidet werden,« und befahl alsbald, Arkadij und mich abzuführen.
Drei Schlitten warteten auf uns, im ersten saß der gefesselte Arkadij mit den Jägern, ich wurde unter gleicher Bedeckung in den letzten gesteckt und im mittleren fuhren die anderen.
Die Leute, die unserem Zuge begegneten, machten uns Platz, – vielleicht dachten sie, es käme eine Hochzeit.
Vierzehntes Kapitel
Die Fahrt war schnell und bald schon waren wir wieder auf dem Hof des gräflichen Hauses, aber den Schlitten, in welchem sich Arkadij befand, sah ich nicht wieder, denn kaum war ich angekommen, als ich sogleich auf meinen alten Platz gebracht wurde, und nun ging es von Verhör zu Verhör: wie lange ich wohl mit Arkadij allein gewesen sei?
Ich entgegnete allen:
»Ach, nicht einmal ein bißchen!«
Es war wahrscheinlich mein Schicksal, nicht mit dem Liebsten sein zu dürfen, sondern mit dem Ungeliebten, – ich entging diesem Schicksal nicht, – aber als ich wieder in meiner Kammer war und den Kopf in die Kissen preßte, um mein Unglück zu beweinen, drang plötzlich vom Fußboden her ein furchtbares Stöhnen an mein Ohr.
Wir Mädchen bewohnten das zweite Stockwerk des Holzhauses, unter unseren Kammern befand sich ein großes und hohes Zimmer, in welchem unser Tanz- und Singunterricht vor sich ging, und was dort unten geschah, war oben alles hörbar. Der Herr der Hölle, Satanas, hatte ihnen, den Grausamen, den Gedanken eingegeben, Arkadij gerade unter meinem Gemach zu foltern …
Sobald ich merkte, daß er es war, den man dort quälte … flog ich auf … und riß an der Tür, um zu ihm zu eilen … aber die Türe war fest verschlossen … Ich wußte selber nicht, was ich wollte … ich stürzte nieder, aber auf dem Fußboden war es noch lauter zu hören … Kein Messer war da, kein Nagel – nichts, womit ich irgendwie ein Ende hätte machen können … Da ergriff ich meinen Zopf und schlang ihn um meine Gurgel … Schlang ihn um die Gurgel und zog daran und zog und vernahm ein Sausen in den Ohren und sah Kreise vor den Augen und dann schwand alles hin … Als ich wieder zu mir kam, war ich an einem unbekannten Orte, in einer großen und hellen Hütte … Junge Kinder waren dort … viele junge Kinder, mehr als zehn, – so zärtliche … sie näherten sich mir und schleckten mit ihren kalten Lippen an meiner Hand, sie dachten wohl, es wäre die Mutter, an der sie saugen … Und weil mich das kitzelte, war ich aufgewacht … Und sah mich um und dachte nach, wo ich wohl sei? Während ich so schaute, trat eine Frau ein, schon bei Jahren und von hohem Wuchse, ganz in blauen Kattun gekleidet, mit einer reinen Kattunschürze; diese Frau hatte ein freundliches Gesicht.
Kaum bemerkte sie, daß ich das Bewußtsein wieder hatte, da streichelte sie mich und erzählte mir, ich befände mich noch immer im Hause des Grafen, wenn auch jetzt im Rinderstall … »Das war dort,« erklärte Ljubowj Onissimowna, und wies mit der Hand auf die allerentfernteste Ecke der halbzerstörten grauen Umzäunung.
Fünfzehntes Kapitel
Sie war auf den Kinderhof geschickt worden, weil man nicht wußte, ob sie nicht am Ende den Verstand verloren hätte. Jene, die den Tieren ähnlich geworden waren, wurden immer auf den Viehhof geschickt, um dort beobachtet zu werden, denn man glaubte, daß die Viehhirten, gesetzte Männer und schon bei Jahren, am meisten dazu geeignet wären, Fälle von psychischen Störungen zu »beobachten«.
Die kattunene Alte, unter deren Dach Ljubowj Onissimowna zu sich gekommen, war sehr gut, sie hieß Drossída.
»Als sie ihr Nachtlager machte,« fuhr die Kinderfrau fort, »bereitete sie auch für mich ein Lager aus frischem Heu. Sie machte es so locker und weich, wie das weichste Federbett, und sagte darauf: ›Ich will dir, Mädchen, alles enthüllen. Geschehe, was wolle, wenn du mich preisgeben solltest, denn ich bin ja auch solch eine, wie du: auch ich habe nicht mein ganzes Leben lang Kattun getragen, auch ich habe ein anderes Leben gesehen, doch Gott soll mich bewahren, je daran zu denken, dir aber sage ich: verzweifle jetzt nicht, weil du in die Verbannung auf den Viehhof geraten bist, – die Verbannung ist besser als das andere, hüte du dich nur vor diesem furchtbaren Fläschchen …‹
Und mit diesen Worten zog sie aus ihrem Halstuch ein weißes Glasfläschchen und zeigte es mir.
Ich fragte:
›Was ist das?‹
Und sie antwortete:
›Ja, das ist eben das furchtbare Fläschchen, ein Gift ist drin, das vergessen macht.‹
Da sagte ich:
›Gib mir dein Gift des Vergessens, ich will alles vergessen.‹
Sie aber sagte:
›Trink nicht – es ist Branntwein. Eines Tages konnte ich nicht widerstehen, und trank, – gute Leute hatten mir den Schnaps gegeben … Und jetzt kann ich nicht mehr anders – jetzt brauche ich ihn. du aber trink nicht, solang es geht, und verurteil mich nicht, wenn ich jetzt ein Schlückchen nehmen werde – sehr weh ist mir ums Herz. Du aber hast doch noch einen anderen Trost auf der Welt: der Herr hat ihn aller Tyrannei entzogen! …‹
Ich schrie nur so heraus: ›Er ist tot!‹ Und fuhr in meine Haare, und sah plötzlich, daß es garnicht meine Haare waren, – denn die da waren weiß … Was war das nur?!
Und jene sprach weiter:
›Fürcht dich nur nicht, fürcht dich nicht, dein Haar war schon ganz weiß, als man dich aus dem Zopf herauswickelte, dein Freund aber lebt und ist von aller Tyrannei errettet, der Graf hat ihm eine Gnade geschenkt, wie noch keinem zuvor, – wenn die Nacht kommt, will ichs dir erzählen, zuvor jedoch muß ich noch an meinem Fläschchen saugen … Freisaugen muß ich mich … zu sehr brennt mir das Herz.‹
Und sog und sog und schlief endlich ein.
Nachts, als alle längst eingeschlafen waren, stand Tantchen Drossida leise auf und ging ohne Licht zu machen ans Fensterchen und ich sah, daß sie wiederum aus ihrem Fläschchen sog und es wiederum versteckte, dann aber fragte sie mich leise:
›Schläft der Kummer, oder schläft er nicht?‹
Ich entgegnete:
›Der Kummer schläft nicht.‹
Da kam sie dicht an mein Bett und erzählte mir, daß der Graf den Arkadij, nachdem dieser seine Strafe erhalten, vor sich befohlen und ihm gesagt hatte:
›All das, was ich bestimmt hatte, hast du durchgemacht, allein da du mein Favorit warst, so soll dir jetzt von mir eine Gnade werden: morgen wirst du unter die Soldaten gesteckt, und weil du meinen Bruder, den Grafen und Edelmann, samt seinen Pistolen nicht gefürchtet hast, so will ich dir die Bahn der Ehre öffnen, denn ich will nicht, daß deine stolze Gesinnung erniedrigt würde. Ich habe einen Brief geschrieben, daß man dich gradewegs in den Krieg schicken soll, und dort sollst du nicht etwa als gemeiner Soldat dienen, sondern als Regimentssergeant, und kannst also deine Tapferkeit zeigen. Von nun ab ist nicht mehr mein Gesetz über dir, sondern des Zaren Gesetz.‹
›Er,‹ meinte die kattunene Alte, ›er hat es jetzt leichter und braucht nichts mehr zu fürchten, jetzt kann ihm nur mehr das eine geschehen, daß er vielleicht in der Schlacht fällt, Herrentyrannei gibt es für ihn nicht mehr.‹
Ich glaubte ihr und sah drei Jahre lang nachts im Traume stets nur das eine, wie Arkadij Iljitsch in der Feldschlacht kämpfte.
So vergingen drei Jahre und all die Zeit über war Gott mir gnädig, ich mußte nicht mehr zum Theater zurück, und konnte ruhig im Rinderstall als Gehilfin von Tantchen Drossida leben. Dort hatte ich es wirklich sehr gut, denn die Frau tat mir sehr leid, und ich liebte es, nachts, wenn sie nicht zu viel getrunken hatte, ihr zuzuhören. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie damals der alte Graf von unseren eigenen Leuten erschlagen worden war, und zwar war sein Kammerdiener der Hauptanstifter, – denn keiner konnte seine höllische Grausamkeit mehr ertragen. Ich trank damals noch nicht und es machte mir große Freude, für Tantchen Drossida dies oder jenes verrichten zu können: die Kinderchen waren in meinen Augen ganz wie Kinder. Ich gewöhnte mich so sehr an die Kinderchen, daß wenn eines sein letztes Fressen bekam, um dann für den Tisch des Grafen geschlachtet zu werden, ich selber es zum letzten Male bekreuzigte und ihm drei Tage lang nachweinte. Theaterspielen konnte ich nicht mehr, meine Beine wollten nicht recht mit, sie schwankten etwas. Vormals hatte ich den leichtesten Gang gehabt, aber als ich damals von Arkadij Iljitsch bewußtlos durch den Frost entführt wurde, muß ich mir wohl die Beine erkältet haben, denn seit der Zeit hatte ich in meinen Zehenspitzen keine Kraft mehr zum Tanzen. Und so wurde ich denn genau solch eine Kattunene wie Drossida und Gott allein weiß, wie lange ich in solcher Verborgenheit noch gelebt hätte, – da, eines Abends war ich allein im Stall: die Sonne ging unter und ich war grade am Fenster damit beschäftigt, Garn aufzuwickeln, als plötzlich ein kleiner Stein durch mein Fenster flog, und der Stein steckte in einem Papier.
Sechzehntes Kapitel
Ich schaute mich um und blickte endlich auch zum Fenster hinaus, – es war niemand da.
Jemand hat, fuhr es mir durch den Kopf, das da sicherlich nicht ohne Absicht über den Zaun geworfen, aber sein Ziel verfehlt und so flog es zu mir herein. Und weiter dachte ich, ob ich das Papier vom Stein wickeln solle? Es wäre vielleicht gut, das zu tun, denn bestimmt war etwas draufgeschrieben. Und vielleicht sogar etwas Wichtiges und ich könnte erraten, wen es anginge, und das Geheimnis für mich behalten, den Stein aber und das Papier dorthin werfen, wohin die beiden bestimmt waren.
Und so wickelte ich denn das Papier herunter und wollte meinen Augen nicht trauen …
Siebzehntes Kapitel
Dort stand geschrieben:
›Meine getreue Ljuba! Gekämpft habe ich und dem Zaren gedient und mein Blut mehr als einmal vergossen und habe dafür den Offizier-Rang erhalten und bin in den wohlgeborenen Stand ausgenommen worden. Und bin hier in voller Freiheit auf Urlaub, um meine Wunden zu kurieren und logiere augenblicklich in der Vorstadt Puschkársk beim Hausmeister des Wirtshauses, morgen jedoch will ich meine Orden und Kreuze anlegen und zum Grafen gehen und ihm all das Geld anbieten, das mir zur Heilung gegeben worden ist, fünfhundert Rubel nämlich, und ihn bitten, ob ich Sie für diese Summe von ihm loskaufen kann, in der Hoffnung nämlich, daß wir alsdann vor dem Altar des Allerhöchsten Schöpfers getraut werden können.‹«
»Und weiter schrieb er:« fuhr Ljubowj Onissimowna mit gepreßter Stimme fort, »›Was alles Sie auch erlebt haben sollten und welche Not auch über Sie gekommen sei, ich werde es Ihnen nicht als Sünde, noch als Schwäche anrechnen, sondern Ihrem Leid zugut halten und alles Gott überlassen, für Sie aber fühle ich nichts als Verehrung.‹ Und unterschrieben: ›Arkadij Iljin.‹«
Ljubowj Onissimowna verbrannte das Schreiben augenblicks und sprach zu keinem ein Wort darüber, nicht einmal zu der kattunenen Alten, und betete die ganze Nacht über zu Gott, aber nicht etwa ihretwegen, sondern nur seinetwegen, denn schrieb er auch, sagte sie, daß er jetzt ein Offizier sei und mit Kreuzen und Wunden, immerhin wollte es mir nicht in den Kopf, daß der Graf ihn anders behandeln würde als früher.
Mit einem Wort, sie fürchtete, daß er ihn wieder prügeln könnte.
Achtzehntes Kapitel
Am frühen Morgen führte Ljubowj Onissimowna ihre Kinderchen in die Sonne und gab ihnen aus Näpfen, die sie aus einem großen Kübel füllte, Milch zu trinken, da hörte sie plötzlich, daß »Im Freien« hinterm Zaun die Menschen irgendwohin eilten und liefen und hastig miteinander sprachen.
»Was sie da miteinander sprachen,« sagte sie, »davon konnte ich kein Wort verstehen, aber wie ein Messer fuhr es mir durchs Herz. Und als grade um die Zeit Filípp mit seiner Mistfuhre durchs Tor fuhr, fragte ich ihn:
›Väterchen, Filjuschka, hast du nicht gehört, weswegen die Leute auf der Straße so laufen und so sonderbar miteinander reden?‹
›Sie eilen,‹ meinte er, ›anzuschauen, wie im Wirtshaus in der Vorstadt Puschkarsk nachts der Hausknecht einen schlafenden Offizier erstochen hat. Er hat ihm,‹ sprach er weiter, ›die Gurgel rein durchgeschnitten und ihm fünfhundert Rubel abgenommen. Erwischt hat man ihn bereits, und ganz blutig sei er noch gewesen und das Geld hätte man auch bei ihm gefunden.‹
Wie er mir das so sagte, war es mir, als wollten mir die Beine den Dienst versagen.
Und so war es wirklich: dieser Hausknecht hatte Arkadij Iljitsch ermordet … und beerdigt haben sie ihn hier, in demselben Grabe, auf dem wir jetzt eben sitzen … In diesem gleichen Augenblick liegt er unter uns, hier unter diesem bißchen Erde … Oder hast du vielleicht gedacht, daß ich aus einem anderen Grunde immer mit euch hierher spazieren gehe … Es ist nicht etwa, weil ich dorthin schauen möchte (und sie zeigte auf die düsteren und grauen Trümmer), sondern, weil ich hier in seiner Nähe sitzen möchte … und seinem Andenken ein Tröpfchen weihen will …«
Neunzehntes Kapitel
Ljubowj Onissimowna schwieg und zog, da sie offenbar ihre Erzählung für beendet hielt, ein Fläschchen aus der Tasche und »gedachte« oder »sog«, wenn man will, ich aber fragte derweilen:
»Und wer beerdigte ihn denn, den berühmten Toupetkünstler?«
»Der Gouverneur, mein Täubchen, der Gouverneur selber kam zur Beerdigung. Freilich! War er doch ein Offizier, – und während des Gottesdienstes nannten ihn der Meßner und auch Hochwürden selber stets den ›Edelmann‹ Arkadij, und die Soldaten gaben, als der Sarg in die Erde gesenkt wurde, blinde Schüsse in die Luft ab. Den Wirtshaus-Hausknecht aber bestrafte ein Jahr darauf der Henker auf der Iljínka mit der Peitsche. Dreiundvierzig Peitschenhiebe erhielt er für Arkadij Iljitsch, und hielts aus, und blieb am Leben und wurde gebrandmarkt und zur Strafarbeit in den Bergwerken verurteilt. Alle unsere Burschen strömten, soweit es ihnen gestattet war, zusammen, um zuzuschauen, die älteren aber, die sich noch daran erinnern konnten, wie seinerzeit der Mord des grausamen Grafen bestraft worden war, meinten, daß dreiundvierzig Peitschenhiebe zu wenig wären, denn Arkadij wäre zwar einfacher Herkunft gewesen, für den Grafen jedoch hätte man hundertundeinen Hieb ausgeteilt. Bei einer geraden Zahl durfte man dem Gesetz nach nicht aufhören, und es war vorgeschrieben, immer eine ungerade Zahl von Schlägen auszuteilen. Damals hatte man zu der Urteilsvollstreckung einen Henker aus Lula herbeigeschafft und ihm, so sagte man, vor der Exekution drei Glas Rum zu trinken gegeben. Er peitschte so eigenartig, daß die hundert Schläge nur der Folter wegen geschlagen schienen. Denn der Gepeitschte lebte immer noch, wenn aber dann der hundertunderste Schlag niederklatschte, da war mit einem Male das Rückgrat des Bestraften zersplittert. Man hob ihn von der Bank, da lag er schon im Sterben … Man bedeckte ihn mit einer Matte und trug ihn zum Gefängnis zurück, – und unterwegs verschied er. Der Henker aus Lula aber, sagt man, schrie immer weiter: ›Gebt mir noch wen zu peitschen, alle die Orlower schlage ich tot‹.«
»Nun, und Sie selber,« fragte ich, »waren Sie bei der Beerdigung zugegen?«
»Gewiß war ichs. Ich war in der Schar all der andern, denn der Graf hatte befohlen, daß das ganze Theaterpersonal zu erscheinen hatte, um zu sehen, wie hoch es einer der Unsrigen gebracht hätte.«
»Und nahmen Sie von ihm Abschied?«
»Gewiß doch! Alle traten ja zu ihm heran und nahmen Abschied von ihm und mit ihnen auch ich … so verändert hatte er sich, ich hätte ihn gar nicht wiedererkannt. Mager war er und furchtbar blaß, – sie sagten, er hätte sein ganzes Blut verloren, denn jener hatte ihn bereits um Mitternacht abgestochen … Ach, wieviel Blut er wohl verloren haben mag …«
Sie schwieg und dachte nach.
»Und Sie,« fragte ich, »wie haben Sie es überstanden?«
Da war es, als wachte sie auf, sie fuhr mit der Hand über die Stirn.
»Wie es anfangs war, weiß ich nimmer recht,« entgegnete sie, »und auch nicht, wie ich nach Hause kam … Mit den anderen zusammen, – vermutlich hat mich jemand geführt … Abends aber sagte Drossida Petrowna zu mir:
›So geht das nicht, – du schläfst nicht, und doch liegst du da, als wärest du erstarrt. Das ist gar nicht gut, – weinen solltest du, damit das Herz dir leichter würde.‹
Ich entgegnete:
›Es geht nicht, Tantchen, mein Herz brennt wie eine Kohle und hat keinen Abfluß.‹
Sie aber sagte:
›Nun, dann kommen wir also nicht um das Fläschchen herum.‹
Und goß mir aus ihrer Flasche etwas ein und meinte:
›Ich selber ließ dich vormals nicht dran und redete es dir aus, aber jetzt bleibt nichts mehr übrig: also begieß denn die Flamme, nipp mal dran.‹
Ich erwiderte:
›Ich hab keine Lust.‹
›Närrchen.‹ sagte sie, ›wer hatte denn anfangs Lust dazu. Bitter ist es ja, so bitter, aber das Gift des Kummers ist noch bitterer, begieß die Kohle mit diesem Gift – und sie wird auf einen Augenblick erlöschen. Saug schneller dran, so saug doch!‹
Und so trank ich denn mit einem Zuge das ganze Fläschchen leer. Widerwärtig war es, aber ohne das hätte ich nicht schlafen können, und die andere Nacht genau so … wieder getrunken … und jetzt kann ich ohne das überhaupt nicht mehr schlafen, und habe schon selber mein Fläschchen und kaufe mir meinen Branntwein … Du bist ein guter Junge, du wirst es der Mama niemals sagen, verrat niemals die einfachen Menschen: einfache Menschen muß man sorgsam hüten, die einfachen Menschen sind ja alle Dulder – Und wenn wir jetzt wieder nach Hause gehen, dann werde ich wieder bei der Schenke an der Ecke ans Fenster pochen … Hineingehn brauchen wir nicht, ich gebe mein leeres Fläschchen ab und man reicht mir ein volles heraus.«
Ich war gerührt und versprach, niemals und um keinen Preis je von ihrem »Fläschchen« zu erzählen.
»Danke, mein Täubchen, – erzähls niemand, denn ich brauche es ja so sehr.«
Ich kann sie auch heute noch vor mir sehen und hören, als wäre alles erst vor kurzem geschehen; jede Nacht, wenn alles im Hause schlief, stand sie leise von ihrem Bettchen auf, so behutsam, daß auch nicht ein Knöchelchen knackte, und horchte, und schlich dann auf ihren langen und erkälteten Beinen zum Fenster … Und stand dort eine Minute und blickte sich um und horchte, ob nicht am Ende die Mutter aus dem Schlafzimmer käme, und klirrte dann leise mit den Zähnen an den Hals des Fläschchens, setzt die Lippen an und ›nippt‹ … Ein Schluck, ein zweiter, ein dritter – Die Kohle ist ausgelöscht, Arkadijs Angedenken geweiht, und nun gehts wieder leise ins Bett zurück, – schnell unter die Decke und bald darauf ein stilles, stilles Schnarchen und Pfeifen. – Sie ist eingeschlafen!
Schrecklichere und heftiger die Seele zerreißende Gedächtnisfeiern habe ich mein Lebtag nicht zu Gesicht bekommen.