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Es wurde Frühling und plötzlich Sommer. Ich sah den König häufig, wenn auch nicht mehr so regelmäßig wie im vergangenen Jahre. – Da wurde mir eines Tages wieder ein Brief von ihm gebracht. Wieder ein Gedicht! Er kündete mir »die Rückkehr der Nachtigall« an. »Glücklicher Freund, wie wirst du es tragen?«
Meine Liebe erwachte, wie aus dem Schlafe geweckt, mit neuen Kräften. Der Tag war noch nicht so weit vorgerückt, daß ich nicht, wenn ich sogleich fortritt, Grara eine Stunde vor Sonnenuntergang hätte erreichen können. Ich war schon früher dort und begab mich, ohne vor dem Schloß Halt gemacht zu haben, nach dem Brunnen. Der Platz war leer. Ich stieg ab, stellte mein Pferd in den Schatten der Bäume und wartete.
Da sah ich Salihah, den Wasserkrug auf der Schulter, sich mir nahen. Sie schritt langsam, in der ihr eigenen feierlichen Weise. Ich wagte nicht, meinen Platz im Dunkel der Bäume zu verlassen, aus Furcht, von denen gesehen zu werden, die dem Mädchen möglicherweise nachblicken konnten. Mein Pferd wieherte leise, aber Salihah beeilte den Schritt nicht. Und erst, als sie den Brunnen und dessen schützenden Schatten erreicht hatte, stellte sie den Wasserkrug hastig auf den Boden, und mit leisem Aufschrei der Freude, die Arme weit ausgebreitet, eilte sie auf mich zu, und zum erstenmale umfingen mich ihre Arme, und sie küßte mich.
Lange Zeit konnten wir nicht sprechen: nur kurze Worte der Zärtlichkeit kamen über unsere Lippen. Dann sagte ich:
»Wie unglücklich bin ich gewesen. Nun sollst du mich nicht wieder verlassen.«
Sie nickte.
»Wirst du mir folgen, wenn ich dich hole?«
»Ja, ich folge dir.«
»Wann?«
»Wann du willst.«
»Morgen?«
»Morgen.«
Darauf verabredeten wir, daß sie in der nächsten Nacht, zur Stunde, wo sie nach vollendeter Arbeit im Tigris zu baden pflegte, so also, daß ihre Bewegungen keinen Argwohn erregen würden, nach dem Brunnen kommen sollte. Dort wollte ich sie erwarten und zu den Pferden führen, die auf der entgegengesetzten Seite des Paiks, von einem Diener gehalten, auf uns warten würden. – Es war eine Entführung nach allen Regeln.
»Weshalb ich die Sache nicht einfacher gemacht und das Mädchen nicht von ihrem Vater gefordert hätte?«
Er würde seine Tochter niemals einem verächtlichen Stadtbewohner, einem »Vavi«, gegeben haben. Ich wußte das von Salihah aus früheren Gesprächen.
Ich bewohnte in Bagdad ein geräumiges, allein stehendes Haus. Unter der zahlreichen Dienerschaft, die ich nach den Sitten des Landes unterhielt, befand sich auch eine ältere Frau, eine Christin, Namens Tusa, ein ruhiges, kluges, stilles Wesen, der ich die Aufsicht über meine Wäsche und Kleidungsstücke überlassen hatte. Sie war mir von meinem Vorgänger, der sie seinerseits von seinem Vorgänger übernommen hatte, als eine ganz zuverlässige, verschwiegene Person empfohlen worden, und sie hatte sich, seitdem ich sie kannte, als eine solche bewährt.
Ich ließ Tusa zu früher Stunde zu mir rufen und sagte ihr, ich würde am nächsten Morgen, vor Tagesanbruch, mit einem arabischen Mädchen eintreffen, in dem sie ihre zukünftige Herrin zu erblicken habe. Es sei mein Wunsch, daß der Aufenthalt des jungen Mädchens in meinem Hause geheim gehalten werde, ich überließe es ihr, die dazu nötigen Vorkehrungen zu treffen. Das ganze Haus, mit Ausnahme der wenigen Zimmer, die ich bewohnte, stehe zu ihrer Verfügung, sie solle sich bemühen, zu meiner Befriedigung zu handeln.
»Ich habe wohl verstanden,« antwortete sie und entfernte sich.
Als ich gegen vier Uhr von meinem Bureau zurückkam, trat sie in mein Zimmer und bat mich, ihr zu folgen. – Sie hatte in einem Teile des Hauses, in dem, außer ihr, niemand etwas zu suchen hatte, und der von den anderen Dienern nicht betreten wurde, zwei Zimmer für Salihah in einer Weise eingerichtet, die alle Ansprüche des Mädchens, das sicherlich nicht verwöhnt war, vollkommen zu befriedigen geeignet erschienen.
»Das ist gut,« sagte ich. »Nun sorge dafür, daß du allein diesen Raum betrittst, und niemand im Hause bemerkt, daß deine Herrin hier lebt.«
»Ich werde dafür sorgen,« antwortete Tusa. Sie schien einige Erfahrung zu besitzen in solchen Sachen, und das wunderte mich nicht, wenn ich daran dachte, wer meine Vorgänger gewesen waren.
Darauf beschied ich den ersten Stallknecht zu mir, einen Mann, der seit einer Reihe von Jahren in meinen Diensten stand, und den ich aus Stambul nach Bagdad mitgebracht hatte. Ich sagte ihm, er solle um zehn Uhr abends drei Pferde bereit halten. Er würde mich auf einem Ritt zu begleiten und ein Pferd ledig mitzuführen haben.
»Niemand darf wissen, daß wir heute abend reiten,« sagte ich.
»Niemand wird es erfahren, Herr.«
Zur bestimmten Stunde war alles bereit, und wir setzten uns zu Pferde. Ich hatte berechnet, daß Salihah gegen ein Uhr frei sein werde. Aber ich wollte bis Grara langsam reiten, um die Pferde frisch zur Stelle zu bringen, damit ich sie auf dem Rückweg nicht zu schonen haben würde. Während des Ritts gab ich dem Diener zu verstehen, worum es sich handelte. – »Niemand weiß von diesem Ritt,« sagte ich. »Wenn jemand es erfährt, so strafe ich dich und entlasse dich aus meinen Diensten.«
»Niemand wird es erfahren, Herr.«
In geringer Entfernung von Grara ließ ich den Mann mit den drei Pferden unter einem Baum zurück. Der Himmel war bedeckt, doch drang genug Sternenlicht durch die Wolken, um den Weg, den ich Hunderte von Malen zurückgelegt hatte, für mich genügend erkennbar zu machen. Ich ging, wie ich es mit Salihah verabredet hatte, nach dem Brunnen, und ich vernahm das schleifende Geräusch der Mahlsteine, das, wie gewöhnlich, Salihahs ruhiger Gesang begleitete. Sie sang mein Lieblingslied: die Heldentaten Antaras. Sehen konnte ich sie nicht, dazu war die Nacht zu dunkel. Nach einer Weile, gegen ein Uhr, wurde es still. Ich lauschte aufmerksam. Und plötzlich, schneller als ich gedacht hatte, tauchte des Mädchens hohe Gestalt aus der Nacht hervor und trat auf mich zu. Ich ergriff ihre schmale Hand, die regungslos und kühl in der meinen ruhen blieb. Ich schritt schnell; – aber kein Mensch geht einem Araber zu schnell. Sie folgte mir ohne Hast und ohne Mühe.
Der Diener löste die Tücher, die er um die Köpfe der Pferde gebunden hatte, und gleich darauf saßen wir alle drei im Sattel und ritten schnell davon. Salihah saß zu Pferde wie eine Amazone, rittlings, ohne die Steigbügel zu gebrauchen, als wäre sie eins mit dem Tiere unter ihr.
Nachdem wir etwa eine Viertelstunde, nur wenige Worte wechselnd, neben einander hingaloppiert waren, während der Diener uns in gemessener Entfernung folgte, sagte Salihah:
»Ich bin des Sattels nicht gewöhnt. Nimm ihn ab und gieb mir eine Decke. Es ist mir bequemer.«
Sobald wir Halt machten, eilte der Stallknecht auf uns zu, um meine Befehle zu empfangen. Salihah sprang vom Pferde, der Mann nahm den kleinen englischen Sattel ab, faltete eine Decke zusammen, die auf seinem Pferde gelegen hatte, befestigte diese mit einem Gurt, und Salihah schwang sich wieder auf den Rücken des guten Tieres, das sich der leichten Last, die es zu tragen hatte, zu freuen schien.
»Nun befinde ich mich erst wohl,« sagte sie.
Wir galoppierten weiter, Seite an Seite. »O, mein Liebling,« flüsterte Salih mir zu. »O, mein Liebling!«
Zwischen drei und vier Uhr morgens langten wir in Bagdad an. In der Nähe meiner Wohnung stiegen wir von den Pferden. In meinem Hause erschien alles dunkel, aber sobald wir vor der Tür angelangt waren, wurde diese geräuschlos von Tusa geöffnet, die, eine Ampel in der Hand, Salihah in die für sie bestimmten Gemächer führte.
Diesem Abend folgten fünf kurze Monate, die ich wohl als die glücklichsten meines Lebens bezeichnen möchte. Ich wurde Salihah nicht etwa nach einiger Zeit müde, nein, sie wurde mir mit jedem Tage teurer. Was ihre Gesellschaft so angenehm machte, die Eigenschaften, denen ich in erster Linie zuschrieb, daß Salihah mich niemals ermüdete, waren: eine Anspruchslosigkeit, von der man sich in zivilisierten Ländern keinen richtigen Begriff machen kann, eine eigentümliche, stille, gleichmäßige Heiterkeit des Gemüts, die in ihrer Ruhe und Natürlichkeit etwas unbeschreiblich Wohltuendes hatte und endlich – so unwahrscheinlich dies auch klingen mag – eine Art geistreichen Verständnisses für alles Neue. Ihre Bemerkungen über dies oder jenes, was sie an mir beobachtet oder was Tusa, ihre einzige Gesellschaft, ihr erzählt hatte, überraschten mich nicht selten durch ihre Schärfe und Richtigkeit. Ich konnte mich in Salihahs Gesellschaft nicht nur ausruhen und erfreuen, ich konnte mich auch sehr gut unterhalten.
Über Salihahs Zimmer war eine Terrasse, die ich von der über meiner Wohnung erreichen konnte. Ich hatte diesen Teil des Dachs abschließen lassen, und dort erging sich Salihah des Abends. Einigemale forderte ich sie auf, mit Tusa einen Spaziergang zu machen; aber gewöhnlich lehnte sie dies ab. Sie hatte Furcht, sich zu zeigen und sie befand sich am wohlsten auf der hohen, weiten Terrasse, wo sie von niemand als von Tusa oder mir gesehen werden konnte. Manchmal, in tiefer Nacht, wenn alles rings umher ruhte, sang sie mir, mit halber Stimme, mein Lieblingslied vom schwarzen Helden Antara vor.
Im Hause mochte wohl der eine oder andere Diener, auch außer den zwei wissenden, ahnen, daß etwas Neues, verborgen Gehaltenes in mein Leben getreten sei, aber niemals wurde ich durch fremde Neugier im Genuß meines stillen Glücks gestört, und in Bagdad selbst blieb mein Verhältnis zu Salihah ein Geheimnis.
Der König Ikbal, der erkennen mochte, was geschehen sei, sprach mir nie davon. Auch schien er nicht, wie es unter gewöhnlichen Verhältnissen geschehen sein würde, zu bemerken, daß meine Besuche selten geworden waren, und daß ich, wenn ich zu ihm kam, nach dem Essen nach Bagdad zurück ritt, mochte das Wetter gut oder schlecht sein.
Seit fünf Monaten wohnte Salihah bei mir. Der Sommer nahte seinem Ende, als mir eines Nachmittags gemeldet wurde, ein Beduine wünsche mich zu sprechen. Das war nichts Ungewöhnliches. Ich ließ den Mann in mein Zimmer treten. Er begrüßte mich kurz, wie es die Art der Beduinen ist und kauerte sich dann sofort nieder. Es war ein hagerer, großer Mann, von etwa fünfzig Jahren, finsteren, gebieterischen Angesichts, harter, rauher Stimme. In der Hand trug er die kurze Keule, die die Männer seines Stammes nur selten verläßt.
»Ich bin Machmud,« sagte er, »der Vater deines Weibes Salihah. Führe mich in ihre Gegenwart oder bescheide sie hierher.«
Ich war bestürzt. »Ich will sehen, ob Salihah zu Hause ist,« sagte ich. »Ist sie nicht ausgegangen, so magst du mit ihr sprechen.«
»Sie ist zu Hause, ich weiß es; aber sprich nur mit ihr, ehe du mich zu ihr führst. Ich bin ihr Vater, und sie wird sich mir nicht entziehen wollen.«
Ich eilte zu Salihah. »Dein Vater ist hier,« sagte ich, »er will dich sprechen.«
»Das hatte ich immer gefürchtet ... O, die schöne Zeit! – Laß ihn eintreten.«
Ich führte Machmud zu seiner Tochter und ließ die beiden allein.
Nach einer halben Stunde konnte ich meine Unruhe nicht mehr bekämpfen und kehrte nach der Tür zurück, die in Salihahs Zimmer führte. Ich hörte niemand sprechen und öffnete die Tür. Salihah saß auf der Erde, das Haupt gebeugt, und ich sah, daß sie geweint hatte.
»Nun?« fragte ich, »was wollte dein Vater?«
»Er wollte mich sehen.«
»Wie hatte er erfahren, daß du hier bist?«
»Er wußte es schon längst, durch einen Diener von Grara.«
»Was hat er dir gesagt?«
Sie sann eine Weile nach, dann antwortete sie: »Es würde dich nicht erfreuen, es zu hören, und du kannst nichts zum Besseren wenden. – Laß nur!«
»Du weißt nicht, was ich vermag. Ich habe wohl mehr Macht, als du glaubst; vielleicht könnte ich doch noch alles zum Guten wenden.«
»Nein, du kannst es nicht. – Laß nur!«
»Du willst nicht sprechen?«
»Es ist besser, daß ich schweige.«
»Hast du kein Vertrauen zu mir?«
»Ich habe Vertrauen zu dir, das weißt du. – Habe du Vertrauen zu mir. Ich sage dir: es ist besser, daß ich schweige.«
»Ist das dein letztes Wort?«
»Ach, Geliebter, zürne mir nicht, quäle mich nicht, behalte mich lieb ... Es ist besser, daß ich schweige.«
Ich kannte von den Arabern nun schon genug, um zu wissen, daß auch weiteres Drängen in Salihah fruchtlos geblieben sein würde. Die Araber sind nicht Freunde von Kraftvergeudung. Einem schwachen Angriff setzen sie nicht mehr als schwachen Widerstand entgegen, aber dieser wächst mit der Stärke des Angriffs, und bei einigen Arabern wird er zuletzt zu unbeugsamen Trotz. – Salihah wollte mir nicht antworten, und würde mir nicht antworten, auch wenn ich alle Mittel, die mir zur Verfügung standen: fortgesetztes Bitten, Versuche der Überredung, ja Drohung, angewandt hätte. Im äußersten Falle würde sie mich eher verlassen, als mir nachgegeben haben. Ich sah zu Boden und schwieg.
»Zürnst du mir, Lieber?« fragte sie zärtlich.
»Ich zürne dir nicht,« antwortete ich? »aber du machst mich sehr unglücklich.«
»Auch ich bin unglücklich,« sagte sie entmutigt.
Seit jenem Tage ging eine auffallende Veränderung in Salihahs Wesen vor. Ihre Heiterkeit war verschwunden, sie erschien niedergeschlagen und leidend. Etwas, was ich nicht erkennen konnte, hatte sich zwischen uns geschoben. Aber ihre Zärtlichkeit war unverändert; ja, ihre Traurigkeit verlieh ihren Gefühlen für mich noch größere Wärme, so daß ich ihr nicht zürnen konnte und nur beunruhigt war.
Und dann kam das Schlimmste, das ich dunkel geahnt hatte. Gegen Ende des Sommers wurde mir eines Tages, als ich auf meinem Zimmer im Gouvernementsgebäude arbeitete, gemeldet, einer meiner Diener wünsche mich zu sprechen. Ich ließ den Mann eintreten. Er bestellte mir, Tusa lasse mich bitten, sogleich nach Hause zu kommen, sie habe mir etwas mitzuteilen, das keinen Aufschub dulde. Ich begab mich eilig nach meiner Wohnung. Tusa trat mir bleich und zitternd entgegen und flüsterte mir zu: »Salihah hat das Haus vor einer halben Stunde verlassen: ihr Vater hat sie abgeholt. Sie hat die Straße nach dem Tigris eingeschlagen. Ihr Pferd, Herr, steht gesattelt vor der Tür. Sie können sie noch leicht einholen.«
Ich richtete einige schnelle Fragen an Tusa, dann schwang ich mich aufs Pferd und ritt den Flüchtigen nach. Ich erblickte sie jenseits des Tigris, in der Nähe des Grabmals der Sitté Zubeïdah; – aber ich hielt mein Pferd an, ehe ich sie überholt hatte.
Der Vater und die Tochter gingen, weit und regelmäßig ausschreitend, wie Fußgänger, die ein fernes Ziel vor sich haben, das sie erreichen wollen; sie gingen jedoch nicht neben einander, sondern in gleicher Höhe, auf der rechten und linken Seite der breiten Straße.
In wenigen Minuten konnte ich sie überholt haben ... Sollte ich ihnen weiter folgen? Salihah war gegangen, ohne mir die leiseste Andeutung zu machen, daß sie gehen werde. Ich hatte am Morgen in üblicher Weise von ihr Abschied genommen, und sie hatte keine innere Erregung zu erkennen gegeben. Sie war mir sehr traurig erschienen, als sie mich umarmt hatte, aber daran hatte ich mich leider gewöhnen müssen. – Sie hatte mich gewissermaßen freiwillig verlassen, denn bei der Stellung, die ich im Lande einnahm, hätte ihr Vater sie nicht zwingen können, von mir zu gehen, wenn sie nicht darin gewilligt hätte. Salihah war nicht wankelmütig. Sie würde jetzt noch gerade ebenso denken, wie vor einer Stunde, als sie mein Haus verlassen hatte. Sie würde ihrem Vater, nicht mir, auch ferner folgen. Mein Erscheinen würde zwecklos einen für sie und für mich schmerzvollen Auftritt heraufbeschwören. Ich ritt nicht weiter. Ich blieb neben dem alten Grabmal stehen und sah den Davonschreitenden lange, lange nach. Sie schritten, immer durch die Straße von einander getrennt, desselben festen Schrittes weiter. Die großen Gestalten wurden kleiner, undeutlicher und plötzlich waren sie, wie im Boden versunken, in einer Vertiefung der Ebene verschwunden. Ich sah sie nach geraumer Zeit am entgegengesetzten Rande derselben wieder auftauchen, aber nun kaum noch erkennbar, zwei schmalen, starren Strichen gleich. Und bald darauf verschwanden sie meinen Blicken vollständig. Da erst wandte ich den Kopf meines Pferdes nach Bagdad zurück.
Sobald ich auf meinem Zimmer war, rief ich Tusa. Sie konnte mir wenig erzählen. Machmud sei erschienen und habe sich in das Gemach seiner Tochter begeben. Salihah sei noch einmal, auf einige Minuten, in mein Zimmer gegangen, und gleich darauf hätten die beiden das Haus verlassen. Salihah sei wohl darauf vorbereitet gewesen, daß ihr Vater sie abholen werde, denn sonst hätte sie kaum so schnell reisefertig sein können. Sie hätte übrigens nichts von den ihr geschenkten Sachen mitgenommen. Alles sei am alten Platze, nur die Herrin fehle.
Ich fragte Tusa, ob Salihah ihr keinen Auftrag für mich gegeben hätte.
»Nein, sie hat kein Wort gesprochen, sie hat auch mir nicht Lebewohl gesagt, obwohl sie sonst stets freundlich und aufmerksam gegen mich gewesen ist.«
Ich ging in das öde Zimmer. Ich hoffte mit der Zähigkeit der Hoffnung Liebender, dort irgend ein Zeichen von ihr zu finden. Nichts ... Nichts! Da wurde mir so weh ums Herz, und mein Leben erschien mir so arm, daß ich es nicht beschreiben kann.
Zu später Stunde begab ich mich zur Ruhe. Als ich den Fuß ausstreckte, fühle ich am Ende des Bettes einen weichen elastischen Körper. Ich griff darnach und zog ihn hervor. Es waren, in einen großen, losen Knoten zusammengeschürzt, die langen, schwarzen Haare Salihahs. Sie sagten mir: »Ich werde um dich trauern wie um den dahingeschiedenen Gatten.« Das Andenken beruhigte mein Herz und machte es noch trauriger.
Herbst und Winter gingen wie im vorigen Jahre, als Salihah mich zum erstenmale verlassen hatte, einförmig und freudenlos dahin, und wie damals gewöhnte ich mich auch diesmal wieder an meine Einsamkeit. Sie mußte ertragen werden – und ich ertrug sie.
Im Frühjahr beauftragte mich der Gouverneur, die Arbeiten an dem großen Kanal von Saklavié in Augenschein zu nehmen und darüber zu berichten. Der französische Ingenieur, der jene Arbeiten leitete, sollte mich begleiten. Wir machten uns am nächsten Morgen vor Tagesanbruch auf den Weg und gelangten gegen Sonnenuntergang in die Nähe des Ziels unserer Reise. Als wir, von des Tages Hitze ermüdet, langsam durch ein Gehölz hochstämmiger Bäume litten, gewahrte ich vor mir eine langsam dahinschreitende Frauengestalt, die auf der linken Schulter ein kleines, rittlings sitzendes Kind trug. Es war Salihah. Ich erkannte sie sogleich. Ich bat meinen Begleiter, mich zu verlassen und näherte mich der, die ich so heiß geliebt hatte und um die mein Herz noch immer trauerte. Sie wandte sich mit der ihr eigentümlichen Gelassenheit um, als sie Aufschlag hinter sich vernahm, und auch sie erkannte mich auf der Stelle. Sie setzte das Kind, das sie getragen hatte, zur Erde und ich hörte, wie sie ihm sagte, nach Hause zu gehen. Und dann blieb sie ruhig stehen und erwartete mich.
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich betrachtete sie liebevoll; aber in meinem Blick lag wohl auch eine bittere Anklage. Da hob sie das Tuch, das ihr das Haupt und den Nacken bedeckte und zeigte auf ihr kurzes Haar:
»Ich traure noch immer um dich,« sagte sie leise.
»Warum hast du mich verlassen?« fragte ich.
Sie erzählte in kurzen Worten, ihr Vater habe ihr bei seinem ersten Besuche gesagt, ihre Schwester sei krank, deren Kinder mangelten der nötigen Pflege; sie, Salihah, sollte kommen und ihnen die Mutter ersetzen. Sie hätte versprechen müssen, es später zu tun. – »Was vermochte ich gegen den Willen meines Vaters? Er befahl mir, mich jeden Tag bereit zu halten – und eines Tages kam er, um mich zu holen. Meine Schwester war gestorben, ich sollte sie bei den verwaisten Kindern ersetzen. Ich folgte meinem Vater, schweren Herzens. Er führte mich zwei Tagereisen südwärts. Dann kamen wir an unser Lager, und ich zog in mein altes Zelt ... Glaubst du, daß ich an dich dachte, daß ich um dich weinte? ... Ich sorgte für die Kinder und hatte schwere Arbeit zu verrichten für meinen Vater und für Hussëin. Mein Vater war finster und sprach nie freundlich mit mir. Große Mühe hatte ich, um ihn nicht durch kleine Versehen zu jähem Zorn zu reizen. Einmal wollte er mich schlagen, aber ich sagte, dann würde ich sterben oder zu dir entfliehen. Da ließ er mich in Ruhe. Drei Monate später packte ihn das Fieber des Teufels. Wir machten eine Grube und legten ihn in heißen Sand, damit er genese. Aber die Grube wurde sein Grab. Als er den Tod nahen fühlte, befahl er mir, wenn er gestorben sei, die Gattin meines Schwagers zu werden. Und ich mußte es ihm versprechen. Und am nächsten Tage verschied er. Ich aber zog bald darauf in Hussëins Zelt, und bin jetzt dessen Frau.«
Was konnte, was sollte ich tun? – Salihah war für mich verloren.
»Bist du glücklich?« fragte ich.
»Ich habe viel Arbeit,« antwortete sie. »Hussëin ist reich, und ich muß auch für seine Kinder sorgen.«
»Ich möchte dir so gern noch eine Freude machen, ehe wir uns trennen ... Ist es in meiner Macht?«
»Sag mir, wenn du es in Wahrheit sagen kannst, daß du mich lieb gehabt hast und mich nicht vergessen wirst.«
»Ich habe dich über alles geliebt, und ich werde dich nie vergessen.« Da leuchteten ihre Augen in glücklichem Schimmer und sie sagte leise: »Nun hast du mir große Freude gemacht, und nun will ich gehen. Möge dein Leben lang und glücklich sein!«
Sie wandte sich ab und schritt davon. Ich blickte ihr nach, ich hoffte, sie würde mir ihr Antlitz noch einmal zuwenden, mir ein letztes Lebewohl zuwinken. Sie tat es nicht. Aber plötzlich vernahm ich ihre Stimme, ihre geliebte Stimme. Antaras Lied war es, das sie sang. Es erklang laut und herrlich, meine Brust mit namenlosem Sehnen füllend – wurde schwächer und schwächer – war verhallt. – Die Sonne war unter dem Horizont verschwunden. Ein kalter Wind, der mich erschauern machte, fegte durch die Bäume. Es wurde schnell dunkel, und ich fühlte, daß das milde Licht, das meine Jugend erwärmt und erhellt hatte, für immer erloschen sei.