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Rudolf Lindau

Als einer der Alten, Ältesten ist Rudolf Lindau uns in Erinnerung. Aber es zeigt sich, daß er im Gegenteil – dem Wesen, nicht der Form nach – Vorläufer einer kommenden Gattung deutscher Schriftsteller war. Das Zeitalter der Weltpolitik, der Weltwirtschaft wird uns mehr Erzähler geben, die wie er »Welt« haben: weiten Blick übers Spießbürgerliche wie übers Kunstzigeunerische hinaus, Kenntnis der Gesellschaft, des Lebens und Ringens in der Fremde. Dann wird man eindringlicher des weltbefahrenen Mannes und Dichters gedenken.

Rudolf war der ältere Bruder des beweglicheren, berühmter gewordenen Paul Lindau, der als nun bald 80jähriger unter uns lebt. Am 10. Oktober 1829 ist Rudolf Lindau zu Gardelegen geboren. Aus seinem eigenen knappen Bericht über seinen Lebensgang und freundlich ergänzenden Mitteilungen des Bruders gestaltet sich das Bild eines ungewöhnlich reichen Menschenlebens:

Schuljahre in Gardelegen, Naumburg, Magdeburg, Berlin, Hochschulstudien (Sprachen und Geschichte) 1849/1853 in Berlin, Göttingen, Paris, Montpellier. »Ein vielbewegtes Reiseleben in England, Italien, Frankreich folgte.« Vier Jahre war er Hauslehrer einer südfranzösischen Familie. Von 1859/1869 lebte er, zunächst als Delegierter des Schweizer Handelsdepartements, in Indien, Singapore, Cochin-China, China, Japan, Californien; ward Herausgeber einer englischen Zeitung in Yokohama und Teilhaber eines amerikanischen Geschäfts. 1862 machte er, als Gast des Generals Charner, den cochin-chinesischen Feldzug mit, 1870/71 als Sekretär des Prinzen August von Württemberg den deutsch-französischen Krieg und schildert diesen in sehr bekannt gewordenen Berichten für den Staatsanzeiger (als Buch: »Die Garde im Feldzug 1870/71«).

6 Jahre war er dann der deutschen Botschaft in Paris zugeteilt. Bismarck berief ihn 1878 nach Berlin ins Auswärtige Amt, wo er mit Bucher, Holstein u. a. zu den meistbeschäftigten Räten gehörte und zum Wirklichen Geheimrat aufstieg. Anfang der 90er Jahre ging er als Vertreter deutscher Interessen nach Konstantinopel. Nach mehrjähriger erfolgreicher Tätigkeit dort, als Präsident der Tabakregie und im Verwaltungsrat der Anatolischen Eisenbahn, trat er in den Ruhestand und schuf sich auf Helgoland ein Altersheim. Dort hat er, nach des Bruders Zeugnis, »seine letzten Lebensjahre in Frieden und Freuden verbracht«. Als 80jähriger, unvermählt Gebliebener, starb er auf einer Abschiedsreise zu fernen Freunden am 14. Oktober 1910 in Paris. Seine sterbliche Hülle noch fuhr übers Meer: auf Helgoland fand sie die Ruhestätte.

Ein Wort kennzeichnet sein dichterisches Lebenswerk: Reife. Mit beinah 40 Jahren schrieb er seine erste Novelle. Die meisten Erzählungen entstanden erst in den Mußestunden seiner Amtsjahre zu Paris und Konstantinopel, dann in seiner Helgoländer Einsiedelei. Da gestaltete er die Fülle des Erschauten. Und die Bilder aus fremden Weltbereichen (zuerst sogar gelegentlich in fremden Sprachen geformt) blieben Mittelpunkt seines Schaffens. Gewiß nicht vorbildlich für alle deutschen Dichter: doch hier im besonderen Fall ergibt es eine erfreuliche Bereicherung unseres erzählenden Schrifttums.

So entstanden namentlich Novellen und Charakterbilder aus Ostasien, darunter aus dem eben erschlossenen Japan die wertvolle, mittlerweile kulturgeschichtlich gewordene Erzählung » Sedschi«, die wir hier in unserer kleinen Auswahl wiedergeben, und die mit Recht gerühmte »Kleine Welt«. Und so entstanden die weltumspannenden Erzählungen, deren Fäden zwischen dem fernen Osten und England oder Frankreich oder Amerika hin und wider laufen. Die Pariser Amerikanerkolonie (so in »Gordon Baldwin«: ein schlicht aus Japan kommender Engländer hat Unglück in der Ehe mit einer kühlen amerikanischen Blenderin), die vornehmen Engländer (»Robert Ashton« u. a.), Russen und Italiener im Seine-Babel werden mit kundiger Hand dargestellt. Bloß sind, hier wie in Schanghai oder in Yokohama, die scharf erdhaft gesehenen Männergestalten durchgehend so erfüllt von Ehrenhaftigkeit, Freundestreue, Tiefgründigkeit der (spät erwachenden) Liebe, daß es am Ende mehr den vornehm empfindenden Verfasser und seine deutsche Betrachtungsweise kennzeichnet.

Zu seinen besten Stücken zählen ein paar, die in rein französischer Umwelt spielen, im Landadel (die verfeinerte Kriminalnovelle »Im Park von Villers« u. a.), im Provinz-Alltag (Mannes-Charakterstudien »Lebensmüde«, »Tödliche Fehde«), in der Pariser Gesellschaft, im Klubleben der »goldenen Jugend«, im Reich der typisch französischen Vernunftehe. Seine Lieblingsgestalten bleiben dennoch die unbeleckten germanischen Außenseiter, zumal jene, die sich in der Fremde ihr Dasein selbst geschmiedet haben. In den meisten seiner Erzählungen verfolgt er – grundsätzlich – die Schicksale seiner Menschen bis ans Lebensende. »Den wahren Kampf des Lebens kämpft nicht der Jüngling, sondern der gewappnete starke Mann.«

Eine Welt für sich, eine farbenreiche, sonnig-tiefsinnige, bedeuten die neuen und alten Mären aus dem näheren Orient, gesammelt in den »Türkischen Geschichten« und den »Erzählungen eines Effendi«. Diesen entliehen wir »Salihah«, eine Perle wirklichkeittreuer Novellendichtung.

Deutsche treten in den Auslandsgeschichten hie und da auf: der überehrenhafte »Lange Holländer« in Schanghai beispielsweise und der brave junge Gelehrte, der sich die Braut nach Japan nachholt und unterwegs mit ihr durch Schiffbruch umkommt. Rein deutsch, doch ohne bemerkenswerten Orts-Charakter sind u. a. die freudlose Altfrankfurter Geschichte »Getreu bis in den Tod«, die Weimarer Episode »Verkehrtes Leben«, (Ein harmloser Irrsinniger glaubt immer jünger zu werden), der in Berlin spielende Altersroman »Liebesheiraten«. In tieferem Sinn rein deutsch (ungeachtet der Auslandsberührung in der Vorgeschichte) und voll ergreifenden Zaubers ist die Lebensabendstimmung » Ein ganzes Leben«, die den Ausklang unseres Bändchens bildet; eine Erlebnisdichtung, Meister Wilhelm Raabes durchaus würdig.

Rudolf Lindau wird auch aus den knappen Proben dieses Buches zu erkennen sein als ein Erzähler von Rang, als ein Eigener von reifster Lebensweisheit und tiefem Empfinden, ein geborener Charakteristiker und Charakter.

Berlin

Wilhelm Rath


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