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Zu der von Leonie bestimmten Nachmittagsstunde begab sich Hugo am anderen Tage – es war ein Freitag – nach dem Hause in der Victoriastraße, in dem er die glücklichsten und auch die unglücklichsten Stunden seines Lebens verbracht hatte. Er hatte die bestimmte Empfindung, daß er es heute zum letzten Male betreten würde. Jede Stufe, die er überschritt, die Glocke, die er zog, die Thür, die sich ihm öffnete, betrachtete er nun als etwas Merkwürdiges, bei jeder gleichgiltigen Einzelheit, die er als etwas Selbstverständliches bisher übersehen hatte, vergegenwärtigte er sich, daß er sie nicht wiedersehen würde, daß er Abschied auf ewig von ihr zu nehmen habe.
Selbst Jean, der ihm meldete, daß die gnädige Frau ihn im Erker erwarte, betrachtete er heute mit anderen Augen als sonst, mit dem Ausdruck eines gewissen wehmüthigen Bedauerns. Und sonderbar! auch Jean, der dem Doctor immer sehr ergeben gewesen war, hatte, als er die Meldung machte, etwas Gedrücktes, Verlegenes. Dem klugen Diener hatte die Thatsache, daß Herr Vallini von der gnädigen Frau unter besonderen Anempfehlungen empfangen und der Herr Doctor auf Befehl abgewiesen worden war, vollauf genügt, um die Situation zu überblicken. Der gute Doctor, der immer so freundlich zu ihm gewesen war, that ihm leid!
Leonie, die ein dunkles stumpffarbiges Kleid von ausgesuchter Einfachheit angelegt hatte, war sehr blaß. Sie sah übernächtig und nervös aus. Sie erhob sich, als Hugo eintrat, und ging ihm einige Schritte entgegen. Sie neigte ein wenig den Kopf und reichte ihm die Hand, artig, aber kühl.
»Verzeihe,« sagte sie ruhig, aber mit leiserer Stimme, als sie sonst zu sprechen pflegte, »daß ich Dich gestern und vorgestern nicht habe empfangen können. Ich war wirklich sehr unwohl. Ich bin es noch. Und ich möchte Dich deshalb vor Allem bitten: mach mir keine Scene! Sage mir, was Du mir zu sagen hast, ruhig, ohne Gehässigkeit, – ich kann Alles ertragen, nur keine Scenen … wegen Dinge, die ich nicht ändern kann, die ich auch nicht ändern mag, weil sie völlig harmlos sind. Du weißt gar nicht, wie Du Dir schadest, daß Du beständig das Unverfänglichste aus thörichter Eifersucht zu Unstatthaftem stempeln willst. Sei vernünftig! Ueberlege Dir, was ich Dir gewesen bin, was ich Dir noch bin, wenn Du es nur willst … und nun sprich!«
»Was Du mir noch bist?« wiederholte Hugo. »Ist Dir denn das ernst gemeint? Wie soll ich denn Alles das, was in den zwei überlangen Tagen geschehen ist, in Übereinstimmung bringen mit dem, was Du mir warst?«
»Was ist denn geschehen?« fragte Leonie kampfbereit.
»Nun, weshalb hast Du mich gestern abgewiesen?«
»Weil ich krank war! Ich hab's Dir ja schon gesagt!«
»Aber doch nicht so krank, um auch dem Anderen die Thür zu weisen.«
»Ich verstehe Dich nicht. Welchem Anderen?«
»Vallini, wenn Du den Namen denn durchaus hören willst.«
»Ich habe ihn nicht empfangen!« erklärte Leonie mit trotziger Bestimmtheit.
»Ich habe ihn ja aus dem Hause treten sehen.«
»Hast Du ihn hier gesehen? Hier im Hause, wo ich ihn empfangen habe? Ach! Du zweifelst wohl an meinen Worten? Frage doch die Dienstboten aus … es würde mich kaum noch in Erstaunen versetzen können!«
»Also Du willst mich glauben machen …«
»Nicht das Geringste, mein Lieber!« unterbrach Leonie mit schneidender Kälte. »Glaube, was Dir Spaß macht! Quäle Dich, wenn es Dir beliebt, mich aber quäle nicht, darum bitte ich Dich sehr ernsthaft … Ich habe mich nicht vor Dir zu rechtfertigen, und ich will es nicht.«
»So erkläre mir nur das Eine: hast Du Dir nicht vergegenwärtigt, daß es mich auf das Tiefste kränken würde, Euch im Theater zusammen zu sehen, bei der zweiten Aufführung meines Stückes, wo ich Euch zusammen sehen mußte? Weshalb hast Du nur das angethan?«
»Daran war ich vollkommen unschuldig! Die Herren wollten nun einmal durchaus gehen, und ich bin mit meinem Widerspruche nicht durchgedrungen … Lächele nicht so malitiös, wenn ich bitten darf! Es ist so. Gerade in solchen Kleinigkeiten habe ich den Willen meines Mannes zu respectiren, um … Anderes wieder gut zu machen. Es thut mir leid, daß ich gerade Dir das sagen muß. Aber immer der alte beleidigende Argwohn! Niemals das geringste Verständniß für gewisse Ansprüche, die mein Leben, wie es nun einmal ist, an mich stellt! Mit solchen Ungerechtigkeiten und Sinnlosigkeiten schadest Du Dir mehr, als Du ahnst. Du tyrannisirst mich. Du quälst mich ohne Grund. Glaubst Du, daß es eine Frau giebt, die das auf die Dauer ertrüge? Ich bin eine selbstständige Natur und an gute Behandlung gewöhnt. Du liebst mich. Du liebst mich – Du sagst es mir, und ich will es Dir auch glauben. Aber damit glaubst Du auch Alles gesagt zu haben! Du marterst mich bis auf's Blut, und Deine einzige Entschuldigung ist: Du liebst mich! Nein, mein Freund, das ist nicht die rechte Liebe! Die wahre Liebe ist langmüthig und freundlich, sie eifert nicht und stellt sich nicht ungeberdig, sie verträgt Alles, sie glaubt Alles, sie hofft Alles, sie duldet Alles! – Wenn ich an dieses herrliche Wort des Apostels denke, wahrhaftig, dann muß ich zweifeln, ob Du mich wirklich jemals geliebt hast!«
»Du zweifelst?! Nun, dann sieh mich an! Du bist mein Alles mir gewesen, meine Luft, die ich athmete, mein Licht, das mich erhellte und durchwärmte, und seitdem ich Dich verloren zu haben fürchte, schleiche ich als Schatten durch Nacht und Kälte … Nein, dies Dasein ist schlimmer als das Nichts! … Du darfst Dich nicht von mir wenden! Du darfst es nicht!«
Hugo hatte die letzten Worte in dumpfer Verzweiflung hervorgestoßen. Er drückte die beiden Hände an die Schläfen und stöhnte.
Als Leonie den kräftigen Mann, den sie niemals schwach gesehen, völlig gebrochen vor sich erblickte, überkam sie Mitleid und Rührung. Jetzt hätte sie ihm um den Hals fallen und ihm in einem innigen Kusse zuhauchen mögen: »Vergieb mir! Ich habe mich wiedergewonnen und gebe mich Dir auf's Neue! Streichen wir die letzten entsetzlichen Tage aus unserem Leben, vertilgen wir das Gedenken daran; denken wir nur daran, wie glücklich wir gewesen sind, und versuchen wir es redlich und entschlossen, wieder glücklich zu werden!« Aber die Erinnerung an den Anderen, die sie nicht bannen konnte, drängte sich gewaltsam zwischen sie und den Armen, den sie da vor sich sah. Sie seufzte leise auf und sagte mit wirklichem Mitgefühl: »Sei doch vernünftig, mein Kind!«
Hugo blickte fragend zu ihr auf. Sie vermochte seinen Blick nicht zu ertragen und senkte die Lider.
»In Deine Hand ist es gegeben,« entgegnete Hugo nach einer kurzen Pause, »mich so vernünftig zu machen, wie Du es nur irgend wünschen magst. Werde wieder, was Du mir warst! Was Du mir nicht mehr bist, Leonie! Mein Gefühl täuscht mich nicht! Habe den Muth, aus dem Taumel, der Dich umfangen hält, zu erwachen, rüttle Dich auf und erkenne Deine Verirrung! Mißverstehe mich nicht!« fuhr er eifriger fort, als er sah, wie sich Leonie auf die Lippe biß. »Ich will Dir keine Vorwürfe machen! Ich will Dich nur zum Erkennen Deiner selbst zurückführen. Und ich will Dir zeigen, daß, um Alles zu verzeihen, es nicht einmal erforderlich ist, Alles zu begreifen. Auch das Unbegreifliche will ich verzeihen! Nie soll Dich ein Wort, ein Blick von mir daran gemahnen! Ich will es auslöschen aus meinem Gedächtniß! Ich will mir einreden, von einem heimtückischen Traum genarrt zu sein, und will Dich lieben so heiß, so wahr, so zärtlich wie nur je! Wahrhaftig, ich will's! Und nun sage mir, Leonie, zweifelst Du noch?«
Sie hatte ihn jetzt scharf angeblickt aus weitgeöffneten Augen. Es war ihr unheimlich, wie Hugo ihre geheim gehaltenen inneren Regungen durchschaut, ihre nicht gesprochenen Worte gehört und darauf so geantwortet hatte, wie sie es erwartete. Ja, der verstand sie! Und ihn hatte sie wirklich verlassen wollen, verlassen können um jenes Anderen willen! Ja, es war unbegreiflich! Aber er wollte ihr sogar das Unbegreifliche vergeben. Er liebte sie wahrhaft, und seine Liebe war langmüthig, duldete Alles und hoffte Alles!
Sie lächelte beschämt, dankbar, herzlich. Sie wollte ihm die Hand zur Versöhnung reichen. Eine gewisse Befangenheit machte sie zögern. Sie wartete darauf, daß Hugo, der ja ganz genau fühlen mußte, welche Wandlung jetzt in ihr vorging, ihre Hand ergreifen würde. Wie verlangte es sie danach, ihm diese Hand zu überlassen, den Druck der seinigen feurig zu erwidern und in zärtlicher Umarmung den Bund neu zu besiegeln! Und auch Hugos Lippen umflog jetzt ein glückseliges Lächeln, und wie sie es gehofft, wie sie es gewußt hatte, tastete suchend seine Rechte nach der ihrigen …
Da trat bedächtig und ausdruckslos wie immer Jean in das Zimmer und überreichte der Herrin eine Karte; darauf trat er sogleich mit gemessenem Anstand an den Thürpfosten zurück und harrte da in militärischer Haltung des Bescheides.
Leonie war erbleicht. Hugo hatte sogleich errathen, wer der Störenfried da draußen war. Er hätte es nicht einmal zu errathen brauchen, ein flüchtiger Blick auf die unverhältnißmäßig große Visitenkarte genügte, um den in schweren gothischen Buchstaben auffällig hergestellten Namen: »Ernst Vallini« zu lesen.
Hugo beugte sich discret zu Leonie und flüsterte ihr leise mit flehender Innigkeit zu: »Ich beschwöre Sie, empfangen Sie ihn jetzt nicht!«.
Leonie zuckte die Achseln, streifte mit einem flüchtigen Blick Jean, der theilnahmlos in die Leere starrte, sah dann Hugo unwillig an und sagte leise und scharf: »Sie sind nicht recht gescheidt! … Ich lasse bitten!« fügte sie, sich Jean zuwendend, laut und in gleichgiltigem Tone hinzu.
Jean machte eine kaum wahrnehmbare Verneigung und verschwand.
»Nun? wohin wollen Sie?« fragte sie Hugo, der seinen Hut genommen hatte und sich ihr näherte.
»Ich will gehen … wohin weiß ich nicht!«
»Jetzt dürfen Sie nicht gehen! Warten Sie noch zehn Minuten! Wie würde es aussehen, wenn Sie jetzt davonliefen!«
»Lassen Sie mich gehen! Ich bitte Sie! Es ist besser so!« stieß Hugo zwischen den Zähnen hervor.
»Sie dürfen mich nicht compromittiren!«
»Weil ich Sie nicht compromittiren will … lassen Sie mich gehen. Ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann!«
»Bleiben Sie!« befahl Leonie.
»Auf Ihre Gefahr!« keuchte Hugo, während sich seine Nasenflügel blähten.
Mit der Rose im Knopfloch, mit süßlichem Lächeln und strahlender Stirn, sorglos und selbstzufrieden wie immer, trat jetzt Vallini ein, verneigte sich gegen Leonie, küßte ihre Hand und sagte, nachdem er mit Hall einen flüchtigen Gruß ausgetauscht hatte: »Hoffentlich wird meine allergnädigste und allerschönste Gönnerin mir nicht gezürnt haben, daß ich gestern …«
»Ihr Instinct hat Sie gut berathen,« fiel ihm Leonie in's Wort. »Gestern hätte ich Sie gar nicht empfangen können. Ich war unwohl!«
»Ah! Ah!« rief Vallini mit dem Ausdruck schmerzlichster Ergriffenheit, als ob er ein tiefes Weh empfände. »Sie waren leidend?«
»Nur nicht ganz wohl. Es hat gar nichts auf sich!«
»Und heute?«
»Ich danke! Vollkommen wohl! Und gute Laune dazu! Meine guten Freunde sorgen ja dafür, daß ich nicht Grillen fange,« setzte sie lächelnd hinzu, in dem Bestreben, Hugo, der mit gefurchten Brauen, etwas abseits saß und auf den Teppich starrte, in die Unterhaltung zu ziehen.
»Ja, ja!« versetzte Vallini gedankenlos, blos um die Pause zu füllen. Denn Hugo blieb unbeweglich und schwieg. Er blickte nach wie vor auf das bunte Muster zu seinen Füßen und schien sich um die Beiden und um das, was sie sagten, nicht zu kümmern. Er bemerkte auch nicht, wie Vallini ihn mit flüchtigem Lächeln betrachtete und dann mit kecker Pfiffigkeit Leonie ansah.
Leonie gerieth nicht leicht in Verlegenheit, jetzt aber fühlte sie sich befangen, und es wollte ihr in der schwülen Atmosphäre, die sie bedrückte, nicht gelingen, irgend ein unverfängliches Gesprächsthema anzuschlagen. Es entstand eine Pause. Zum ersten Male hörte sie das leise Ticken ihrer kleinen Schreibtischuhr.
»Es macht auf mich beinahe den Eindruck,« sagte Vallini nach einer Weile unbehaglicher Stille, »als ob ich hier irgend eine interessante Unterhaltung unterbrochen hätte …«
»Aber ganz und gar nicht,« entgegnete Leonie in leichtem Ton. »Sie wundern sich über die Schweigsamkeit des Doctors? Ja, die Herren Dichter … sie wollen eben ganz besonders beurtheilt sein. Sehen Sie, lieber Freund,« fuhr sie, sich an Hugo wendend fort, »zu welchen Mißverständnissen die Originalität verleiten kann. Ihre Nachdenklichkeit hat Herrn Vallini glauben machen, daß er uns stört!«
»So?« erwiederte Hugo schleppend. »Ueber die Frage, ob hier Jemand stört, hat Niemand anders zu entscheiden als Sie, die Wirthin.«
»Sehr beruhigend klingt das allerdings nicht!« versetzte Vallini mit boshaftem Lächeln. »Aber Ihre Entscheidung, meine Gnädigste, genügt mir vollkommen. Und ich kann Ihnen nur beipflichten: die Herren Dichter sind ein Völkchen eigener Art … gerade wie wir Künstler.«
Jetzt hob Hugo den Kopf und maß Vallini vom Wirbel bis zur Sohle.
»Ich habe niemals eine Ausnahmestellung beansprucht,« erwiderte er kalt, obwohl es in ihm flammte und kochte, »und ich verlange von keinem Menschen, daß er auf meinen Beruf besondere Rücksicht nimmt.«
Von Vallinis rosigen Lippen war das Lächeln geschwunden.
»Sie beanspruchen keine Rücksichten,« fiel Leonie ein, die das nahende Unheil aufzuhalten bemüht war, »aber man erweist sie Ihnen gern … Lassen wir das! … Und ist es denn wahr?« wandte sie sich an Vallini mit vortrefflich gespielter Lebhaftigkeit. »Ist es denn wahr, was heute früh in den Zeitungen steht, daß Sie als Arnold im ›Tell‹ die Wintercampagne eröffnen werden? Wie ich mich darauf freue, kann ich Ihnen garnicht sagen. Das ist eine Partie, für Ihre herrliche Stimme und Ihre Individualität wie geschaffen!«
»Ich soll als Arnold in der That nicht ganz schlecht sein, sagen die Leute. Jedenfalls habe ich in der letzten Saison damit in Petersburg einen Erfolg gehabt – kolossal! Ich fasse nämlich die Rolle ganz anders auf, als die Anderen. Für mich ist Arnold der Patriot, der Sohn, der Liebhaber … so suche ich ihn darzustellen im Spiel und Gesang,« versetzte er mit Wichtigkeit.
»Das ist auch unzweifelhaft das allein Richtige!« bekräftigte Leonie höflich. Es war ihr peinlich, daß Vallini gerade vor Hugo so thöricht sprach. Sie schämte sich beinahe und schlug die Augen nieder, als Hugo malitiös zu ihr hinüberblickte. Vallini war dieses stumme Zwiegespräch nicht entgangen, und er verstand ungefähr dessen Sinn. Wenn seine Eitelkeit in's Spiel kam, war er ziemlich feinfühlig.
»Nun … es scheint mir,« sagte er mit affectirter Hoheit, »als ob nicht Jedermann von der Richtigkeit meiner Auffassung überzeugt wäre. Mein Ehrgeiz geht aber auch gar nicht so weit, Jedermann zu befriedigen.«
Er hatte offenbar Freude daran, diesen Satz gefunden zu haben.
Hugo lehnte sich etwas im Sessel zurück, klopfte langsam taktirend mit beiden Händen gleichmäßig die gepolsterten Lehnen und versetzte mit lässigem Ausdruck: »Wenn Sie auf mich anspielen, so darf ich Sie beruhigen. Auch mir erscheint Ihre Auffassung des Arnold ebenso originell wie unanfechtbar. So würde ich auch, wenn mir der gütige Himmel eine schöne Stimme verliehen hätte, den Trovatore als den Geliebten seiner Geliebten und als den Sohn seiner Mutter auffassen. Es liegt vielleicht nicht ganz fern, aber ein Jeder kommt doch nicht gleich darauf.«
Vallini gebrauchte einige Secunden, um sich darüber klar zu werden, daß Hall ihn zur Zielscheibe seines Spottes gemacht hatte. Es empörte ihn auf's Aeußerste, es machte ihn auf einen Augenblick ganz fassungslos. Seitdem er auf der Höhe seines Ruhmes und seiner Triumphe stand, seit länger als drei Jahren, war er daran gewöhnt, im Theater der gefeierte, der vergötterte Künstler, im Salon der verhätschelte und bevorzugte Liebling zu sein. Wenn es hinter den Coulissen einmal mit irgend einem gekränkten Collegen zu einem unliebsamen Wortwechsel gekommen war, so hatte er der Scene im Vollbewußtsein seiner Ausnahmestellung und Unentbehrlichkeit jedesmal durch eine kräftige Grobheit ein schnelles Ende gemacht und den schwächeren Gegner niedergedonnert. Und nun sollte er, der gottbegnadete Künstler, dem die Größten dieser Welt zujubeln, sich von so einem Dichter, dessen Namen er vor acht Tagen zum ersten Mal gehört hatte, verhöhnen lassen? Verhöhnen lassen in Gegenwart einer Dame, vor der er um keinen Preis der Welt lächerlich erscheinen durfte? Als er sich die Situation vergegenwärtigte, fand er die richtige Erklärung: es war die Eifersucht des gekränkten, des abgethanen Liebhabers, die sich an ihm, dem Beglückten, rächen wollte! Da fand er auch die Waffe zur Abwehr.
»Einstweilen hatte ich nur mit der gnädigen Frau gesprochen,« sagte er mit erzwungenem Lächeln. »Und das scheint Ihnen besonders unangenehm zu sein.«
Hugo erhob sich schnell.
»Ich möchte die dringliche Aufforderung an Sie richten, die gnädige Frau hier aus dem Spiele zu lassen!« sagte er in gedämpftem Ton, aber mit sehr scharfer Betonung.
»Aber, meine Herren!« fiel Leonie ein. »Ich begreife nicht …«
»Verzeihen Sie, meine Gnädigste!« rief Vallini, der Hugos Haltung vollkommen mißverstand und für einen Rückzug hielt. »Ich kann es unmöglich dulden, daß jener Herr in Ihrer Gegenwart …«
»Wir können die Unterhaltung an jedem anderen Orte und zu jeder Zeit fortsetzen, wann und wo es Ihnen beliebt,« warf Hugo ein.
»Darum wollte ich allerdings gebeten haben,« entgegnete Vallini, vor Erregung bebend.
»Es wird mir eine wahre Freude sein,« versetzte Hugo, »Ihren Wunsch sogleich zu erfüllen.«
»Und ich verbiete es Ihnen!« rief Leonie mit erhobener Stimme. »Ihnen Beiden! – Ist es denn erhört? Machen Sie sich denn nicht klar, zu welcher Rolle Sie mich in Ihrer thörichten Komödie verurtheilen? Bin ich nicht ohnehin durch meine ungezwungene Freundlichkeit gegen Leute, die mir sympathisch sind, den beleidigendsten Verdächtigungen ausgesetzt? Wollen Sie durch einen Krakehl, den kein Mensch begreifen kann, dem Skandal die Thür angelweit öffnen? Sie haben auch verstanden! Ich verbiete es Ihnen!«
Vallini kam dies Verbot sehr gelegen. Als er merkte, wie Hugo ihm auf Schritt und Tritt folgte, hatte er ganz im Geheimen schon ein wenig bereut, so weit vorgegangen zu sein.
»Sie haben Recht, verehrteste Gönnerin,« sagte er mit würdiger mannhafter Haltung, während er seinen zweireihigen Rock über der Brust straff anzog. »Verzeihen Sie, daß ich mich habe hinreißen lassen! Sie verlangen von mir ein Opfer, das nur weiß Gott nicht leicht wird. Aber ich, weiß, was ich meiner Cavalierpflicht schulde, und mit Rücksicht auf Sie – lediglich mit Rücksicht auf Sie …« er betonte diese Wiederholung sehr stark und warf auf Hugo einen drohenden Blick, der weniger für diesen, als für Leonie bestimmt war.
»Ach!« fiel Hugo ein, »wenn es Ihnen wirklich ernst gemeint ist, dann werden wir schon Mittel und Wege finden, unsere Angelegenheit von der Person der gnädigen Frau vollkommen zu trennen.«
»Ich verbiete es Ihnen!« wiederholte Leonie mit blitzenden Augen und häßlich klingender, schriller Stimme. »Haben Sie mich denn nicht verstanden? Wollen Sie mich nicht verstehen?« Sie zitterte vor Zorn. »Mit Ihnen bin ich fertig!« hauchte sie fast athemlos, und sich an den Sänger wendend, fügte sie lauter hinzu: »Aber Sie, mein lieber Herr Vallini, – Sie haben mehr Verständniß für die Unerträglichkeit der Situation, in die mich ein Skandal versetzen würde. An Sie wende ich mich, bittend! Geben Sie mir Ihr Wort darauf, daß Sie sich von dem Herrn nicht provociren lassen – weder hier noch anderwärts! Und unter keinem Vorwande! Ich werde Sie dafür um so höher achten und wissen, auf welcher Seite der wahre Heldenmuth zu suchen ist. Ihr Wort darauf!«
Vallini machte eine Kunstpause. Leonies Verlangen deckte sich zwar durchaus mit seinen geheimsten Wünschen, aber er hielt es für angemessen, einen harten inneren Kampf mit dem Triumphe des Edlen und Schönen mimisch zu veranschaulichen. Er hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen, den Mund fest geschlossen und blickte finster und drohend in die Leere. Dann sah er Leonie an. Seine Stirn glättete sich, sein Auge entdüsterte sich, die Lippen öffneten sich und ließen in holdseligem Lächeln die glänzenden Zähne durchschimmern. Zuerst etwas zögernd, dann mit kräftiger Entschlossenheit streckte er Leonie seine Rechte entgegen und rief, nachdem er tief Athem geschöpft hatte: »Mein Wort darauf! Hier ist meine Hand!«
Leonie schlug ein und dankte ihm mit einem warmen Blicke.
Ein guter Abgang war gefunden, und der Sänger beeiferte sich, die günstige Gelegenheit zu ergreifen, um aus der schwülen Atmosphäre herauszukommen.
»Sie verzeihen, wenn ich mich jetzt schon empfehle,« sagte er, indem er seinen Hut ergriff. »Der Zweck meines heutigen Besuchs, mein Ausbleiben zu entschuldigen und mich von Ihrem Befinden zu überzeugen, ist erreicht. Ich habe noch unaufschiebbare Geschäfte zu erledigen. Ich werde mit Ihrer gütigen Erlaubniß das heute Versäumte so bald wie möglich nachzuholen suchen.«
»Sie sind mir jederzeit herzlich willkommen! Also auf Wiedersehen!« versetzte Leonie in herzlichem Tone und mit freundlichstem Gesichte und überließ ihm die Hand zum Kusse. Er sah nach der Richtung hinüber, wo Hugo stand, Hugo erwiderte den Blick, den man für einen Gruß halten konnte, in derselben Weise, und von Leonie bis an die Schwelle begleitet, entfernte sich Vallini. Sie lächelte ihm nach, bis sich die Thür hinter ihm schloß.
Ohne sich von der Thür zu entfernen, wandte sie sich um, ihr Blick traf Hugo, und blitzschnell vollzog sich an ihr eine wahrhaft fürchterliche Wandlung. Das erkünstelte Lächeln war dem wahren Zorne, der äußersten Wuth schon gewichen. Sie hatte sich entfärbt, die fahle Farbe ihres Gesichts mit dem grünlich schimmernden Schatten unter den weitgeöffneten flammenden Augen hatte etwas Erschreckliches. Ihre Lippen bebten, an dem sonst so schönen Halse sprang eine dicke bläuliche Ader hervor. Alles Weibliche, alles Anmuthige war wie durch einen tückischen Zauber verschwunden; es war eine unschöne, rasende Frauensperson, eine Fremde, die Hugo mit unheimlichem Erstaunen vor sich sah. Noch war sie keines Wortes mächtig. Die Wuth schnürte ihr die Kehle zu. Sie drückte die zitternden Lippen fest aufeinander, stieß den Athem durch die sich hastig aufblähenden und einsinkenden Nasenflügel und nickte grausig automatenhaft einige Mal mit dem Kopfe.
Dann endlich trat sie an Hugo heran, ganz dicht, und keuchte, während ihr Busen stürmisch auf- und niederwogte: »Du hast etwas Schönes angerichtet! Ich danke Dir! … Schäme Dich!« stieß sie mit dem Ausdruck der tiefsten Verachtung hervor. Und als Hugo etwas erwidern zu wollen schien, schrie sie mit kreischender heiserer Stimme: »Jawohl, schäme Dich! Pfui! … Du erniedrigst mich vor jenem Menschen, zwingst mich, ihn heute um einen Dienst zu bitten, mich ihm morgen dankbar zu zeigen, ihn zu schonen für alle Zeiten, aus Furcht, daß er schwatzt, wie Du geschwatzt hast. Jenem Menschen, den nichts zur Discretion veranlaßt, sagst Du so deutlich, wie man es nur sagen kann: ›Ich bin der Geliebte dieser Frau, und ich fange Händel mit Ihnen an, weil ich eifersüchtig auf Sie bin.‹ So dankst Du mir für Alles, was ich für Dich gethan habe! Schäme Dich! Versuche es nicht, Dich zu rechtfertigen! Es würde Dir nie und nimmermehr gelingen! Was Du mir angethan hast, ist beispiellos! Indiscretion über die einst Geliebte ist das niedrigste Verbrechen, das ein Mann begehen kann! Ein Dieb, ein Mörder steht in meinen Augen höher da, als der Geliebte, der sein Geheimniß, ihr Geheimniß auf die Gasse schreit. Und das hast Du gethan! Du! Du, dem ich Alles gegeben habe!«
»Um ihm Alles in einer brutalen Caprice zu entziehen!« rief Hugo jetzt dazwischen. Leonies Schmähungen hatten zunächst gar keinen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte sie wie ein Unbetheiligter mit angehört, als ob sie ihn gar nichts angingen. Auch die Person, die sie hervorstieß, war ihm wie eine Unbekannte. Er hatte diese Stimme nie gehört, diesen megärenhaften Ausdruck nie gesehen. Erst allmählich fand er sich zurecht. Was! Diese rasende Furie hatte er geliebt – eben noch? Das war wirklich und wahrhaftig seine Leonie, zu der er dereinst schmachtend aufgeblickt, wie der verliebte Page zur jungen Königin? Mit der er im Walde am Wannsee lustwandelnd gesonnen und gedichtet hatte? Er fühlte sich wie von eisernen Fäusten gepackt, geschüttelt und gerüttelt – gewaltsam aufgeweckt aus einem süß bethörenden Traume zur häßlichen Wirklichkeit.
Das also war die echte Leonie, die ihm jetzt in ihrer unverhüllten Unschöne schreiend gegenüberstand, der die Wuth allen schillernden Schmetterlingsstaub erheuchelter Anmuth und berückender weiblicher Zartheit abgestreift hatte! Jene Leonie aber, die er bis zu diesem Augenblicke so wahr, so innig, so leidenschaftlich geliebt, war ein holdes Geschöpf seiner Phantasie gewesen, das im rauhen Hauche der Wirklichkeit elendiglich zerstoben war.
»Du hast mir Alles gegeben und hast mir Alles genommen!« fuhr Hugo, der sich endlich gesammelt hatte, fort. »Genommen, ohne Grund, – weil es Dir just behagte. Und du hast mir mehr genommen, viel mehr, als Du mir je hast geben können! Und wenn Du mich bis zur Besinnungslosigkeit marterst, wunderst Du Dich, daß ich die Besinnung verliere und mich in wahnwitziger Verzweiflung einen Augenblick so weit vergessen kann, an einem armen Schächer wie diesem Vallini mein Müthchen kühlen zu wollen. Aber nicht das hat Dich compromittirt! Sei unbesorgt! Compromittirt hast Du Dich, Du Dich ganz allein! Es ist nicht der polternde eifersüchtige Thor, der aus mir spricht; es ist der Wissende! Und wenn Du mir bei Allem, was Dir heilig ist, mit den fürchterlichsten Eiden das Gegentheil schwörst, es beirrt mich nicht: Du bist die Geliebte Vallinis, oder wenn Du sie noch nicht sein solltest, wirst Du sie werden. Und das ist Dein Verderben! Vallini ist ja freilich sehr viel bequemer, als ich es bin. Der nimmt Dich nicht so tragisch! Der wird sich sicherlich nie zu einer leidenschaftlichen Unvorsichtigkeit hinreißen lassen. Für den bist Du eben nichts Anderes als eine Feder mehr am Barett! Der hat Dich verdorben, der Bube! Der zerrt Dich hinüber aus dem Erhabenen in's Gemeine, aus der Liebe, die, wenn auch nach unseren Satzungen strafbar, immer etwas Heiliges ist, in die Sinnlichkeit, die immer gemein bleibt, der macht aus der Geliebten die Dirne! Mich wirfst Du jetzt weg! Es ist gut so! Denn das ist mir in dieser Stunde zur schaudernden Gewißheit geworden: zwischen uns ist fortan eine jede Gemeinsamkeit unmöglich! Du brauchst mich nicht zu verjagen! Mit meinem Willen wirst Du mich ohnehin nie wiedersehen! Was aus mir werden wird, hat Dich darum auch nicht zu kümmern. Und ich weiß es selbst nicht. Was aber aus Dir werden wird, wenn Du Dich nicht mit einer sittlichen Kraftanstrengung, deren ich Dich nicht mehr für fähig halte, aufraffst, – was aus Dir, der Geliebten Vallinis, werden wird, das will ich Dir sagen: ›Du fingst mit Einem heimlich an! …‹ Du verstehst mich schon! …«
Leonie hatte keuchend und zitternd, mit einem zu garstigem Lächeln verzerrten Ausdruck Hugo zugehört. Ihre Blicke huschten durch das ganze Zimmer, an der Thür hafteten sie länger, und als sie nun die Lippen öffnen wollte, ergriff Hugo seinen Hut und verließ mit den Worten: »Und ich verstehe Dich auch!« hastig das Zimmer, ohne ein Wort des Abschieds, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Während ihm Jean in den Ueberzieher half, sagte der Alles ahnende Diener kleinlaut: »Was soll denn aus der Bronze werden, die der gnädige Herr für Herrn Doctor bestimmt hat?«
»Sie werden noch Bescheid bekommen,« antwortete Hugo und trat auf den Corridor. Er war sehr erhitzt. Die frische Luft, die ihm im Thiergarten entgegenwehte, that ihm wohl. Er ließ sich neben einer Spreewälder Amme auf einer Bank nieder und betrachtete lächelnd das dicke rothwangige kleine Kind, das in ihren Armen schlief. Die Amme war ganz stolz darüber und rückte das Kind so, daß der fremde Herr es noch besser sehen konnte.